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Unerhörtes, Unsägliches war über die alte Erde hinweggegangen.
Aber nun blühte doch wieder der Frühling!
In Nord und Süd, in Ost und West hatte man den heiligen Mutterboden zu klaffenden Spalten aufgerissen und sie mit Blut gedüngt und mit Toten angefüllt, als sollte sie künftig keine anderen Ernten mehr bringen.
Und nun sproßte doch wieder die junge Saat empor, die in gesegneten Halmen der Menschen Brot barg!
Geschöpfe, die halbe Tiere waren, hatte der Feind ins Land geführt, und sie hatten schlimmer als Tiere gehaust und gewütet – Brand und Mord und Raub und Schändung von einer Gemarkung zur anderen tragend ...
Aber nun spielten doch wieder die Kinder im Freien, flochten Kränze aus den ersten Blüten des Frühlings und sangen mit den jungen Vogelstimmen, als wär' es ausgemacht, daß die Tage, die nun kamen, wieder nur den Liedern und den Blumen und den Vögeln gehören sollten!
Noch lag die ganze Welt im Ungewissen, was die nächste Zeit bringen werde. Ob den Frieden oder ein weiteres Jahr voll Blut und Schrecken? –
Aber da gingen schon wieder die jungen Liebespaare Hand in Hand durch die blaue Dämmerung und bauten ihr künftiges Nest mitten zwischen die Sterne hinein!
Auch in der alten Schenke, die auf der Straße nach Grinzing stand, dem noch älteren Wegkreuz gerade gegenüber, fiedelten wieder die Musikanten, und der blaue Flieder blühte so dicht über die Hecke hinweg, als hätt' er überhaupt nie zu blühen aufgehört.
Eine in tiefste Trauer gekleidete junge Frau, die eben aus dem schmalen Hohlweg heraustrat, blieb wie mit einem Ruck stehen. Aber nicht, weil das lustige Gefiedel ihr allzu laut entgegenklang, das Lachen der Zecher zu roh und entweihend in den Schmerz hineinschrie, den sie auch hier mit sich trug.
Der blasse, stille Christus auf dem Wegkreuz dort hemmte plötzlich ihren Schritt, peitschte das Erinnern in ihrer Seele auf, daß die einsam Dahinwandelnde, die vielleicht ganz absichtslos wieder auf diese Straße geraten war, mit einem Male wußte:
›Hier bin ich schon einmal gewesen! Habe gebetet und Blumen niedergelegt. Und wie so anders war alles damals!‹
Und wenn Zither und Fiedel und »Klampf'n« jetzt drüben noch einmal so laut geklungen hätten und die »Samstag-Abend-Hetz« der durstigen Wiener noch einmal so hell aufgejauchzt – die blasse, stille Frau dort hätte doch nichts mehr den Gedanken entreißen können, die sie bestürmten, als sie nun wieder an diesem Kreuze stand: sich der leisen Stimme entsinnend, die zu Füßen desselben Christusbildes schon einmal in ihrer Seele laut geworden, sie förmlich ermahnt hatte, sich alles wohl einzuprägen hier. Als würde sie es eines Tages wiedersehen und in einer Stunde, die an einer Wende ihres Schicksals schlug.
Es war Annemarie ...
Aber was konnte ihr jetzt noch ein Schicksal werden? Nun das Gewitter über so viele schon hingestürmt war, auch über sie! Ihnen allen nichts zurückgelassen hatte als Gräber und Tränen und, wenn es gut ging, irgendein schüchternes Hoffen in ein neues Leben hinein?
Und wie eine Erwachende schüttelte sie das Haupt. Sie hatte nichts mehr zu erwarten! Sich bloß noch zu besinnen, was sie künftig mit ihrem Leben anfangen wollte ...
Tief unten in Serbien, bei Valjewo, war ihr Mann gefallen und gerade noch sterbend den Händen des entmenschten Feindes abgerungen worden. Schon auf der Schwelle des Todes aber hatte er seinem Burschen ein einziges Wort für sie auf ein Blatt Papier geschrieben:
»Gott!«
Der heiligste Abschiedsgruß, den er ihr senden konnte – der Friede für ihn und für sie.
Und nach ihm war Edwin gefallen – in den Karpathen.
Und hier? Ach!
Hier hatte das Wägelchen mit ihrem Kindchen gehalten, das nun dort drüben auf dem Döblinger Friedhof lag.
Und nichts, nichts mehr stand auf ihrem Wege, als das Kreuz!
»Was willst du noch von mir, Herr?« Ganz leis und unwillkürlich murmelten es ihre Lippen. Ja, was konnte er noch wollen? Sie hatte nichts mehr zu geben ...
»Annemarie!« sprach da jemand in ihr versonnenes Schweigen hinein.
Konrad! Er war es wieder, wie damals ...
Unsäglich zart, fast behutsam griff er nach ihrer Hand:
»Ich hab' mir wohl gedacht, daß ich dich wieder einmal hier finden werde, Annemarie,« ... sprach er mit einem beklommenen Blick in ihr schmerzstarres Antlitz und über die schwarzen Schleier. Und dann, wie in einem plötzlichen Besinnen: »Du gestattest doch, daß ich dich noch immer so nenne, wie damals, als wir – als wir noch Spielgefährten waren?«
Sie nickte – leise, schmerzlich.
»Warum nicht, Konrad? Da die Kindheit nun doch für mich das einzige bleibt, woran ich ohne Qual zurückdenken kann?«
»Ich weiß alles!« stieß er gepreßt hervor. »Du hast – Unsägliches erlitten. Ich selbst den besten Freund verloren!«
Sie schwieg und sah mit einem herben Blick in die Erde hinein.
»Ja,« murmelte er, wie verstehend. »Das blüht nun wieder und hat dir doch alles verschlungen!«
Sie hob die tränenfeuchten Augen müde zu ihm empor:
»Ja, Konrad – alles!«
Er atmete befangen auf und griff dann wie suchend in seine Rocktasche, zog ein dünnes Blatt hervor –
»Das hab' ich zwar für mich gemacht, Annemarie. Aber nun –«, er stockte und hielt ihr das kleine Ding entgegen – »nun ist mir doch, als hätt' ich es bloß für dich so lange herumgetragen –«
Es war ein Bild – eine Photographie: Annemarie, das Mädchen und das Wägelchen mit dem schlummernden Kind darin. Über ihnen der Gekreuzigte und die Blumen, die sie damals zu seinen Füßen niedergelegt ...
In tiefster Seele erschüttert, stand Annemarie da. Rang nach Worten und brachte doch kein einziges hervor, bis ihr ein Strom von Tränen das arme Herz befreite und mit den Tränen wieder die Sprache kam:
»Ich danke dir ... O, wie ich dir danke, Konrad! Es war alles, was ich besessen habe.«
Er hatte, den Hut in der Rechten, wie in stiller Ehrfurcht den Ausbruch ihres Schmerzes miterlitten. Nun hob er wieder den Blick, sah sie an. Und eine leise Röte stieg in seine Schläfen, als er gleichsam erinnernd sagte:
»Ich hab' es auch für mich gemacht, Annemarie!«
Sie senkte das Haupt, schwieg.
»Und ich wollte dich bitten,« fuhr er leiser fort, »daß du es so lange behältst, bis du – bis du vielleicht eines Tages mir hier, vor demselben Kreuze, noch etwas anderes sagen kannst als jetzt.«
Dann hob er ihre Hand an die Lippen und ging.
Das Bildchen in der Hand, stand Annemarie da und sah dem Enteilenden nach, bis die nächste Biegung des Weges ihn ihren Blicken entzog und die ersten Dämmer des Abends grau und schwermütig auf sie fielen und auf das Bild in ihrer Hand und das Kreuz, dessen Schatten lang und dunkel vor ihr lag.
Dann schüttelte sie leise das Haupt.
Glaubte er wirklich, daß das Leben für sie noch einmal beginnen könne? Mit der Hoffnung und einem neuen Frühling? Er, der dort hinging, mit einer Liebe im Herzen, die nur darum noch so stark und frei war, weil sie nie aufgehört hatte ein – Traum zu sein?
Annemarie wußte es besser!
Und wie sie das Bild jetzt in ihr Täschchen schob, geriet ihr aufs neue das weiße Blatt in die Hände, auf das ein Sterbender in seines Lebens letzter Not das letzte Wort für sie geschrieben:
»Gott!«
Da hing er ja wieder vor ihr, nur an ihres Weges Ende, wie er einmal an seinem Anfang gestanden, und wies sie auf die Straße, die weitab lag von dem täuschenden Schein dieser Welt und von jedem eigenen Glück:
Fremde Not zu lindern, fremde Tränen zu stillen – mithelfend die Wunden einer Zeit zu heilen, die so namenloses Elend über die Menschen gebracht, weil ihr die Ehrfurcht gefehlt und die Liebe.