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Mit zartem Griff nahm sie eine der Rosen, die er ihr gebracht, aus dem Glas. Die Rose war tiefrot, gegen die Mitte des Kelches zu fast schwarz, und ein heißer Duft strömte ihr daraus entgegen. Ein Duft, der süß war und doch auch wieder herb.

Es war der letzte Tag vor ihrer Hochzeit. Draußen verdämmerte ein schwüler Juliabend. Fernes Wettergeleucht umzuckte den Horizont, und die Stadt lag wie in einem violetten Nebel, der immer dichter wurde, immer schwerer, daß einzelne Konturen dahinter verschwanden, andere fast ungeheuerliche Formen anzunehmen schienen. Während die Menschen in eine Dämmerung hineinschritten, die trostlos war und doch zugleich auch etwas geheimnisvoll Lockendes hatte. Wie das Gewitter, das dahinter stand und den Tod bringen konnte, oder die Schauer einer unsäglichen Erquickung.

Und morgen war ihr Hochzeitstag ...

Mit zitternder Hand setzte sie die Rose in das Glas zurück. Süß und herb war ihr Duft, strömte es auch aus ihrer Seele, wie sie dastand und in Gedanken sich hingab. Noch Jungfrau und doch schon das geweckte Weib. Denn sie liebte ihn, der morgen ihr Gatte werden sollte, und in ihren Pulsen fieberte schon etwas von dem heißen Atem der Nacht, die auch ihre Kelche ganz erschließen würde.

Und dann ging es immer weiter, immer tiefer hinein in das violette Dämmerland der Leidenschaft ...

Ob er immer derselbe bleiben werde, den sie jetzt in ihm liebte? Aber sie konnte ihn ja gar nicht anders denken! Wie der Bann seiner Nähe sie noch umwob und alles an ihm sie hinnahm, bis auf den feinen Geruch der Zigarette, die er rauchte, den vagen Duft seines Haares, den dunklen Funkelblick, der sie in unbekannte Abgründe zu reißen schien, sooft ihre Augen ineinander tauchten. War sie noch Mädchen? Doch bloß dem Leibe nach. Zu oft und zu heiß schon hatte ihr Blut diesem Blick geantwortet. Erst wie von einem fremden Grauen angeweht – dann in süßem Schreck zurückebbend, bis eine tolle, heiße Woge ihm alles entgegentrug, was vor ihm flüchten wollte.

»Da ist der Kranz, Annemarie!« sprach eine müde Stimme hinter ihr. Sie schrak zusammen. Dann irrte ihr Blick von den dunklen Rosen zu den weißen, keuschen Blüten, die wie hingehaucht auf dem seidenen Kissen lagen. Zart und rein, wie aus einem Traum gepflückt. In Form einer Krone sollten sie morgen den Flechtenkranz ihrer braunen Haare umschlingen. Die Krone des Lebens für das Weib und doch zugleich das Symbol seiner völligen Hingabe. Dieser Hingabe an den Einen, von dem schon die Ammen singen, die Dienstboten erzählen, wenn die kleinen Damen nicht schlafen wollen. Für den Mutter und Tanten die Reinheit der Jungfrau hüten, bis er eines Tages kommt und alles nimmt. Ruhig, lächelnd, wie selbstverständlich. Auch er würde morgen ein Sträußchen dieser Blumen im Knopfloch tragen mit einer weißseidenen Schleife, die sie selbst geknüpft. Aber mit dem, was er bis dahin erlebt, hatten die weißen Blüten nichts zu tun. Wie ein Abglanz der bräutlichen Reinheit adelten sie an diesem Tag auch den Bräutigam. Eine leise Mahnung, daß wenigstens sein künftiges Leben zur selben Reinheit verpflichte.

Ja ... das war es, das, worüber Annemarie so oft nachgedacht hatte! Da lag es begraben, das eigentliche Geheimnis der Geschlechter. Und dann kam ein Tag, der sie auf festlicher Straße zusammenführte. Sie, die von Höhen herabstieg, zu denen das Leben kaum emporatmete. Er, der vielleicht aus Tiefen und Abgründen kam, in denen es sich breit wälzte, scham- und reuelos, wie es nun eben ist. Und dann waren die beiden eins – –

»Weißt du, Mutter, was ich gern wissen möchte?« fragte Annemarie, ohne den Kranz mit einem Finger zu berühren.

Die Mutter sah sie bloß an, halb befremdet, halb unsicher. So seltsam kam es ihr vor, daß Annemarie nicht ein Wort fand für ihren Kranz.

»Wie es dir ums Herz war, als du – ein Jahr nach deiner Hochzeit deinen Kranz wieder in die Hand nahmst?«

Die Mutter riß die Augen auf, weit, fast erschrocken. Dann fielen die welken Lider wieder über die blassen Sterne. Schweigende Hüter der Geheimnisse, die aus glanzlosen Tiefen heraufstierten.

»Aber Annemarie!« wehrte sie ab. Heftig wie erschrocken. Und dann mit einem fast hysterischen Lachen:

»Wie komisch du oft fragst!«

Doch die jungen Augen gaben sie nicht mehr frei. Und wenn die Mutter auch nicht emporsah – ihre Seele fühlte den brennenden Frageblick der Tochter. Zwei rote Flecke traten auf ihre Wangen. Die welken Hände zitterten. Zitterten so heftig, daß selbst die grünen Blattspitzen des Kranzes miterbebten – trotz des weichen, seidenen Kissens.

»Siehst du!« lächelte Annemarie.

»Was, mein Kind?«

»Daß dir meine Frage durchaus nicht so – so komisch erscheint!«

»Gott – hab' ich denn komisch gesagt?« Und die blasse Rechte fuhr an die Stirn und strich dort wie hilfesuchend über zwei tiefe Falten hinweg.

»Nun also?« drängte Annemarie. Zugleich nahm sie mit einer raschen Bewegung den Kranz aus den Händen der Mutter und legte ihn an die Seite der Vase. So daß Frau Krüger noch hilfloser dastand, mit den wie erschrocken zusammengekniffenen Lippen und den mageren, blassen Händen, die nun nichts mehr hatten, um es Annemarie entgegenzuhalten.

»Wie es mir ums Herz war nach ... nach einem Jahr, willst du wissen –? Ja ...« – sie machte einen krampfhaften Versuch zu lächeln – »... wenn ich das nur selbst noch wüßte, Annemarie.«

»Jetzt lügst du, Mutter.« Leise, wie tastend kam das zurück. Und doch mit einer Bestimmtheit, die eine neue Blutwelle in das Antlitz der müden Frau jagte.

»Aber, Annemarie!« Ihre Stimme überschlug sich. Die welken Arme fuhren wie hilfesuchend in die Luft. Doch Annemaries Antlitz wurde noch härter, die Neugierde ihres Blickes immer grausamer.

»Doch, Mama,« und die jungen Lippen lächelten ein Lächeln, das selbst Frau Krüger noch nicht kannte. »Gerade, weil du dich so wehrst.«

»Weil ich mich so wehre ... so!«

»Das hab' ich dir schon als Kind abgeguckt.«

»Du?«

»Natürlich. Diese Lautheit, sooft du uns anlügen mußtest. Um des leidigen Friedens willen. Aber –«, und Annemarie stampfte auf, »ich will nicht auch so werden wie – wie du, Mutter, hörst du? Will nicht alles bloß so hinnehmen, nein ... wenn es auch zwischen uns einmal – so werden sollte. Und darum hab' ich dich gefragt.«

»Erlaub' mir – Ich hab' in fünf Jahren vier Kindern das Leben geschenkt. Das kam so nacheinander. Wie soll ich mich da noch entsinnen, welche Gedanken ich hatte, als ich meinen Kranz ein Jahr nach der Hochzeit wieder zur Hand nahm?«

»Nach einem Jahr, Mama?«

»Da ging ich gerade mit Fritzchen!«

»Das mußte dich ja doppelt selig machen.«

Frau Krügers Augen leuchteten plötzlich auf. In einem Glanz, wie Annemarie ihn noch nie darin gesehen. Mit einer Wärme, die wie eine einzige Welle der Zärtlichkeit auch über sie hinströmte und ihrer pietätlosen Neugierde einen fast fühlbaren Ruck gab. Die Mutter!

»Und ob mich das selig gemacht hat.«

»Nun – also?«

»Aber siehst du ... Wenn es einmal so weit ist, dann denkt man nicht mehr an den Kranz und an – an solche Dinge. Ernst und feierlich wie das Leben dann wird.«

Also kein Platz mehr für die Leidenschaft, für den Jubel. Für diese selige Einsamkeit zu zweien – Annemarie sprach es nicht aus, aber der Blick, mit dem sie ihre Mutter streifte, war so seltsam ernst, daß die arme Frau plötzlich mit beiden Händen zugleich nach ihr griff.

»Annemarie, du – du bist doch glücklich?«

»Doch, Mama, doch ... Noch bin ich es!« Und dann lächelte Annemarie, und Frau Krüger fühlte, daß sie zum ersten Male log. Genau so, wie sie selbst gelogen hatte, durch all die langen, langen Jahre. Mit diesem verschwiegenen Lächeln, das zuletzt eine Gewohnheit wurde und nicht hübscher aussah als all die vielen seinen Fältchen, die das Leben in ihr Antlitz gegraben.

Draußen rollte der erste Donner in die Nacht hinein. Und der warme Gewitterwind, der mit flatterndem Gelock vorüberfuhr, griff mit rauher Hand zum offenen Fenster herein und warf die schlanke Vase mit den Rosen zur Seite. Gerade ihren Kranz konnte Annemarie noch retten. Aber das seidene Kissen war schon durch und durch naß.

›Nach einem Jahr?‹ dachte sie.

Da klatschte draußen der Regen nieder.

*

Als Annemarie an diesem Abend ihr Zimmer trat, blieb sie eine ganze Weile stehen und sah mit großen Augen um sich. Seit ihrem vierzehnten Jahre hatte sie diese Stube allein bewohnt. Nun war sie neunzehn. Fünf Jahre, die wie ein Traum dahingeschwunden waren, zwei Lebensalter, die ihrer scheidenden Kindheit hier die Hand gereicht. Die sinnenbange Nacht der Reife, die wie ein Frühlingsgewitter über sie hingegangen, mit ihren Schauern und Schrecken. Und jener unvergessene Spätherbsttag, der in der Jungfrau das liebende Weib geweckt. Bis dahin war alles Sehnsucht und Traum gewesen, eine große einzige Erwartung. Nun stand sie auf der Schwelle, die mit jedem Schritt weiter und tiefer in die Lande der Erfüllung hineinführte. Und morgen war diese Stube leer.

Wie ihr Blick aber noch einmal den lieben Raum umfing, kam es ganz seltsam wieder an sie heran. Weiche, innige, versonnene Erinnerungen ... Als tasteten schmeichelnde Kinderhände an ihr empor – leise, scheu, bis sie wieder an das Herz fanden, das hier einmal seinen Knospenfrieden gehabt und nun so ungestüm pochte, daß es den kleinen Heimgeisterchen wohl bange werden konnte.

»Du gehst wirklich? Und so leicht? Sieh doch noch einmal, wie schön es hier war! Ein letztes Mal.«

Und Annemarie begann um sich zu schauen und mit leisen, fast andächtigen Schritten den kleinen Raum zu durchqueren. Wie man nach langen, langen Jahren wohl wieder eine Kirche betritt und in scheuer Beklommenheit vor den blumengeschmückten Altären stehen bleibt, an denen man einmal voll Demut und Einfalt gebetet.

Da waren die Bilder ...

Die Seggiola, mit ihrer innigen Muttergebärde. Der Schutzengel, der die weißen Fittiche so fürsorglich über ihr weißes Lager gebreitet. Das goldflimmernde Kommunionbildchen mit dem Kelch und der Hostie. Auch damals war sie wie eine kleine Braut vor dem Altar gestanden: gang weiß mit gelösten Locken. In bebender Hand die hoch und klar brennende Kerze, die sie dem Heiland entgegentrug wie ihre in Liebe und Andacht erschauernde Seele.

Sie wandte das Haupt, jäh, unwillkürlich. Da, dicht an ihrem Lager, stand ein altersbrauner Betschemel. Pult und Aufsatz waren mit dunkelrotem Tuch bespannt. An dem mit allerlei Schnitzwerk verzierten Kruzifix hing ein elfenbeinerner Christus. Es war die Arbeit eines Künstlers, die mit dem Betschemel zugleich aus dem Nachlaß eines verstorbenen Bruders an Annemaries Mutter gekommen war. Der Verstorbene aber hatte ihn von einem Oheim geerbt, der in späten Jahren Priester geworden. Nach einem Leben voll schwerer Enttäuschungen, das er zuletzt ganz in den Schutz des Kreuzes geflüchtet ...

Allerlei Erinnerungen und Familienlegenden spannen sich um das alte Möbelstück und das blasse Kruzifix. Und obwohl Annemaries Vater in religiösen Dingen völlig gleichgültig gewesen, hatte er doch nicht gewagt, das fast unwillkommene Erbe zu verkaufen oder sonstwie von sich zu tun. So war's zuerst in das Kinderzimmer gewandert und später in Annemaries weißes Nestchen. Und da, ja – da hätte sich allmählich fast wieder ein feines Legendchen um den blassen Christusleib zu spinnen begonnen.

Wie in einem Traume schüttelt die junge Braut das Haupt. Wie es wohl kam, daß sie das, gerade das immer bei sich behalten? Es nie weiter geschwatzt im munteren Kreise ihrer Gefährtinnen, die doch auch damals fromm waren, wie sie? – –

Das Gewitter hatte eine blitzende Sternennacht zurückgelassen. Blau und klar stand der volle Mond in dem offenen Fenster der Stube. Aus fernen Straßen klang ein altes Lied herüber. Irgendwo kläffte ein Hund. Noch immer war Leben da draußen und die nur schwer zur Ruhe kommende Regsamkeit der Stadt. Hier aber schien es der jungen Braut mit einem Male so feierlich und seltsam still, daß sie es nicht wagte, die Hand nach dem Taster zu strecken und das Licht aufzukippen, das ihre Stube immer in einen einzigen rosigen Schein tauchte. Sondern mit gefalteten Händen stehen blieb und halb versonnen, halb bang nach dem bleichen Christusbilde sah, als müsse ihr gerade heute davon ein Zeichen kommen.

Denn ja – das hatte sie erlebt mit dem Bilde, das mußte sie! Wenn es auch immer ein Geheimnis geblieben war zwischen ihr und ihm. Aber war es darum weniger geschehen?

Noch glaubt sie es zu hören ... wie in jener Nacht, da es zum ersten Male laut geworden: jenes leise, unsäglich geheimnisvolle und doch gleichsam weckende Knistern, das von dem Kreuze ausging! Als erwache der tote Schmerzensmann dort oben und strecke noch einmal so qualvoll die gepeinigten Glieder aus, oder ziehe sie an sich im letzten Schauer seines mystischen Liebestodes ...

Annemarie hatte immer einen tiefen Schlaf gehabt, und doch war sie damals sofort erwacht und hatte in einem gewußt, daß der seltsame Laut von dem alten Betschemel herübergekommen war. Auch damals war der Mond voll und blau im Fenster gestanden wie heute, und draußen hatte der Frühling geblüht.

Müd und schlummertrunken war sie bald wieder in die Kissen zurückgefallen. Da war dieses Geknister noch einmal laut geworden. Aber sie hatte sich damals noch nichts dabei gedacht.

Dann fing es an, sich auch unter Tags zu melden. Immer aber nur, wenn sie allein in der Stube war ...

»Du Armer!« hatte sie da einmal ausgerufen. Und war ans Kreuz gestürzt und hatte die weitklaffenden Wunden an Händen und Füßen geküßt, von einer Zärtlichkeit überwallt, die ihrer anerzogenen Beherrschung sonst völlig ferne lag.

Bis zu jener Stunde hatte sie noch immer geglaubt, daß es bloß das Holz sei, das »sich rühre«. Obwohl es schon, wie sie wußte, ein uraltes Möbelstück war. Unter ihren Küssen aber hatte das Kruzifix dann noch einmal jenen seltsamen Laut von sich gegeben. Daß es ihrem frommen Kinderherzen wie eine Offenbarung schien und wie ein geheimnisvolles Versprechen:

»Willst du bei mir sein, will ich bei dir sein!«

Und mit Tränen in den Augen hatte sie ihrem Erlöser gelobt, immer die Seine zu bleiben ...

Ihr Vater freilich durfte nichts ahnen davon. Die Straße, die er rüstig und gottunbekümmert einherschritt, lief weit jenseits des stillen Weges, den Annemaries Mutter mit ihren heimlichen Tränen netzte, an beiden Händen die Kleinen führend, die mehr beklommen als ahnungsvoll zwischen den häuslichen Gewittern dahinlebten. Annemarie war die einzige von den Vieren gewesen, die klug und frühreif den inneren Bruch dieser Ehe erwittert hatte. Des Vaters Sucht, sich brutal auszuleben, der Mutter Ohnmacht, ihm wenigstens Etwas zu sein. So hatte sie auch der Mutter gegenüber geschwiegen. Ob es auch zuweilen geschah, daß die tiefgekränkte Frau, händeringend und tränenüberströmt, vor demselben Gottesbild auf den Knien lag. Ihr aber blieb es stumm ...

Dann war der Vater gestorben. Aber wenn er die Seinen auch sorgenlos hinterlassen hatte – in der großen Stille, die hinter dem Tod durch die Stuben zu schreiten begann, schien Annemaries Kreuz noch beredter zu werden. Wenn sie noch unter den Schauern des kaum Erlebten schlaflos dalag, kam leise, ganz leise jener Ton an ihr Lager geschlichen. Wie eine Stimme, die weich und tröstend zu dem Geheimsten sprach, was ihre Seele in sich barg. Gleichsam erinnernd, daß nicht bloß der Tod und die Angst die Herrscher dieses Lebens wären, daß auch die Hoffnung und die Liebe ihr Teil daran hätten und eine Güte, so weltengroß und himmelsweit, daß kein Menschenherz sie ausdenken könne. Und da geschah es, daß Annemarie sich immer öfter von ihrem Lager erhob. Inmitten der Nacht, dem lieben Rufe folgend, der sie zu den Füßen des Heilands führte – und wundersam getröstet wieder entließ. Bis sie Schlaf fand und Träume, die wie aus anderen Gefilden in ihr Leben herüberwinkten.

Einer dieser Träume aber kam immer wieder. So seltsam und zauberschön, daß Annemarie ihn bis heute nicht vergessen hatte.

Ein blühendes Stück Land mit frühlingsgrünen Auen und Blumen, die mit weit geöffneten Kelchen dicht aneinanderlagen, weiß und purpurn und von einem balsamkühlen Hauch umweht, dem kein irdischer Duft sich vergleichen ließ. Mitten unter den Blumen aber stand der Herr in einem leuchtendem Gewande, nickte ihr zu und sprach: »Mein Garten ist groß. Engel betreten ihn. Sein Name ist Eden.« Wort für Wort hatte Annemarie behalten, bis heute. Keines davon vergessen, keines hinzugetan. So lang dies alles auch schon her war ...

Wie es kam, daß sie das gerade heute wieder sah? Gerade jetzt daran denken mußte?

Sie war seit ihrer Verlobung so oft hier aus und ein gegangen. Hatte kaum einen Blick mehr gefunden für den alten Betschemel und das bleiche Kruzifix. Hätte noch gestern gelächelt, wenn ihr ein anderer von der süßen Torheit ihrer noch ungeweckten Sinne gesprochen.

Der Geliebte hatte sie ja nicht bloß zum Weibe wachgeküßt. Mit der kühlen und selbstsicheren Art des Gelehrten hatte er ihr langsam auch den Schleier von diesen Dingen genommen. Durch seinen überlegenen Blick, sein bloßes Lächeln, in dem sich die ganze Sattheit beruhigten Wissens barg.

Er war noch jung und doch schon ein berühmter Mann. Wem sollte sie glauben, wenn nicht ihm, dem Tausende und Tausende das Vertrauen ihrer Seele liehen?

Und in einem einzigen Sommer war dies alles geschehen! Daß die Liebe, die sinnenwarme, heiße, sie für immer an die Erde gebunden hatte und der Glaube ihrer Kindheit von ihr gewichen war, wie der balsamkühle Blumenatem jenes Traumes ...

Sie war zum Leben erwacht, zum Leben berufen worden. Groß und heiß und hell stand es über ihr, wie ein ewiger Sommertag. –

*

Annemarie liebte es, bei offenem Fenster zu schlafen. Sie hatte keine Nachbarschaft. Wenn sie das Licht aufkippte, konnte sie sich sorglos entkleiden und die nackten Arme und Schultern in der weichen Blütenkühle der Nacht baden, während sie langsam die lichtbraunen Flechten löste.

Wie achtlos, wie gleichgültig sie das früher immer getan hatte! Mit den Gedanken Gott weiß wo, nur nicht gerade dabei. In jener sicheren Geborgenheit jungfräulicher Scham, die nur das fremde Auge fürchtet.

Das war so ganz anders geworden, seit sie liebte. Und mit den ersten heißen Küssen war es gekommen. Daß sie die Schönheit des eigenen Leibes entdeckte und wie mit fremden Blicken besah. Mit den Blicken des Geliebten.

Schon war sie sich aller Reize bewußt, die ihn betört hatten, ihn festhielten – ihn berauschten oder träumen machten. Ganz von selbst war das so langsam gekommen – über die Blicke, mit denen er sie nahm, unter dem erregten Gestreichel seiner Hände, mit dem trunkenen Lächeln, das ihr nachging. Bis sie wußte: meine langen, goldbraunen Haare sind es ... und die Beuge meines Nackens und die Linie, wenn ich mich erhebe und dann langsam strecke – sooo! Meine Arme aber kann er nicht sehen, ohne die Zähne in die Lippe zu graben. Ganz verstört sieht er dann aus, fast blöde.

Aber alles war noch ihr Eigen. Alles, was er so heiß, so sinnlos, so beklommen begehrte. Selbst mit ihren Küssen hatte sie ihn so lange gequält wie möglich. Mit diesen kühlen, jungfräulichen, scheu zurückgehaltenen Küssen. Dann freilich war es eines Tages auch über sie gekommen, hatte sie gleichsam entwaffnet. Seine Lippen hatten ihr diesen tödlichen Brand in die Seele geküßt und mit der Ohnmacht das Mißtrauen und die Zweifel.

»Wie wird es sein, wenn ich einmal nichts mehr zu geben habe?«

Immer wieder kam sie darauf zurück über allen Jubel der Seele, durch die ganze Schwüle der erregten Sinne. Bis es sie heute gepackt hatte und nicht mehr losgelassen. Daß ihr die eigene Mutter Rede stehen mußte.

Doch die war ihr entglitten! Mit einer ganz merkwürdigen Kunst. Wenn diese Kunst nicht eine einzige Schwäche war. Die Angst, in der die arme Frau während eines ganzen Lebens vor der Brutalität des Gatten einhergeflohen war. Sich wie zum Schutze hinter die Schleier der Lüge und die Masken des Schweigens geflüchtet hatte, daß sie nie und nimmer zu dem Selbst zurückfand, das sie doch auch einmal gewesen. Das Weibchen blieb, das sich zwei starke Mannesfäuste zurechtgeknetet.

Wie aber, wenn die Mutterschaft wirklich alles so ganz anders machte, so wegnahm? Das Glück und den Rausch durch die Pflicht ernüchterte und ersetzte?

Es war noch nicht allzulange her, daß Annemarie selbst ein Kind gewesen. So konnte sie sich nicht recht vorstellen, daß es möglich wäre, über dem Besitz eines Kindes ohne Tränen eine Seligkeit entweichen zu sehen, die das einzige schien im Leben.

So viel glaubte Annemarie von sich zu wissen. Von dem Geliebten aber wußte sie gar nichts. Und doch sollte morgen auch nicht eines Schleiers Faden mehr zwischen ihnen sein. Seele in Seele sich ergießen und Leben in Leben.

»Sie werden ein Leib sein und eine Seele –«

Wie nah sie das mit einem Male hörte! Wie nah und wie laut. Obwohl es aus den Bibelfernen ihrer gläubigen Jugend herüberfand. Und morgen würde sie's noch einmal hören, am Altar. Dann stand es hinfort wie ein Gesetz über ihrem Leben. Das Wort des Herrn von der Heiligkeit der Ehe. Sie war unlöslich, ein Sakrament – die katholische Ehe ...

Ja, was wußte sie von ihm?

Gerade ein knappes Jahr kannte sie den Geliebten. Vorher hatte sie ihn nie gesehen, gerade nur da und dort zuweilen seinen Namen gehört. Seine Eltern waren tot. Er hatte sie schon als Kind verloren. Geschwister hatte er nie besessen. Einige ferne Verwandte lebten im Ausland. Er selbst war unter fremden Menschen aufgewachsen. Vor Sorgen und frühen Kämpfen hatte ihn ein großes Erbe bewahrt. So war der Ernst wohl niemals in sein Leben getreten. Er hatte sich immer alles leisten können, alles.

In dieser Vorstellung lag es! In ihr verankerten sich Annemaries Mißtrauen und Eifersucht. Die Mutter wollte nichts davon hören. Ihre älteren Brüder fanden sie lächerlich.

»Er macht dich zu seiner Frau – was willst du mehr?«

Den Männern durfte man mit solchen Anliegen nicht kommen. Es war, als rede man in eine andere Welt hinein. Und allzu deutlich zu werden verbot ihr die Scham.

Man hatte sich über seine Verhältnisse erkundigt, über seine Stellung. Alles in bester Ordnung. Dazu ein schon jetzt berühmter Name. Gewiß tat sie ihm unrecht! Wer seine Jugend so früh und ausschließlich bei den Büchern verbracht, hatte für das Leben wohl wenig Zeit gefunden.

Und doch und doch ... Sie wurde die Qual nicht los. Die Fragen, die Zweifel, die oft geradezu wild auflodernde Eifersucht.

Aber es war wohl nur ihre Liebe, die kein Maß mehr kannte. Ganz toll geworden war an der eigenen Sehnsucht. Im Besitz mußte die Ruhe kommen und die Erlösung.

Einige Male hatte der Geliebte ihr von seiner Kindheit erzählt. Tolle Schuljungenstreiche, vage Träumereien, die später von einem fast irren Drang in ferne Länder abgelöst wurden. Aber der Anstalt, der sein Vormund ihn anvertraut, stand ein strammer Pädagoge vor, der eine fast militärische Zucht hielt, nicht einen überflüssigen Groschen in den Händen der Jungen litt und ihren gesunden Trieben gerade so viel Zeit ließ, sich in Garten und Wald und zwischen Spiel und Studium heilsam auszutollen. So gingen auch die Jahre der Reife ohne Fährnis vorüber. Sein Erbe aber war durch die fast unverbrauchten Zinsen noch größer geworden.

Schon während seiner Studentenjahre hatte er den Grund zu seiner wertvollen Bücher- und Handschriftensammlung gelegt. Dafür war auch sein Vormund immer zu haben gewesen.

»Selbst ein alter Bücherwurm!« hatte er ihr lachend erzählt. »Dann freilich – eines Tages, hatt' ich alles auf einmal.«

Im ruhigen Fluß des Gespräches war ihm das so entglitten. Und vielleicht hatte er mit diesem »Alles« wirklich nur sein Erbe gemeint und das Recht, endlich ganz darüber zu verfügen. Sie aber hatte plötzlich und wohl auch unerwartet von ihrer Stickerei emporgeschaut – gerade bei diesen Worten. Und hatte die seine Röte gesehen, die sich mit einemmal über seine blassen Schläfen breitete. In seinem Blick aber hatte es wie von einem verlorenen Funken geleuchtet. Ein Glimmen und Glosen, das Annemarie früher nie darin gesehen. Zuletzt war alles hinter den blauen Rauchringeln seiner Zigarre verschwunden. Vielleicht hatte ihn auch nur ihr plötzliches Aufschauen irritiert. Vielleicht ...

Sie warf die gelösten Flechten zurück und ließ die knisternde Goldflut langsam über den schauernden Nacken rieseln, eh' sie nach dem durchsichtigen Schildpattkamm griff.

Ach, was wollte sie denn? Warum quälte sie sich so? Was auch einmal mit ihm gewesen sein mochte – sie war ihm ja doch verfallen! Mit Leib und Seele, mit jedem Tropfen ihres Blutes, das sie wie in einem einzigen Sturm der Sehnsucht wieder zu bedrängen begann.

Daß man sich so ganz und gar an einen anderen Menschen verlieren konnte! Sich so willig vergessen und wehrlos auftrinken lassen ...

Wie in einem Traume schüttelte sie das Haupt.

*

Er aber hatte mit großer Kunst alles mögliche aus ihr herausgefragt. Hatte fast nicht glauben wollen, daß außer der Schulmädelschwärmerei für einen ihrer Lehrer niemals eines anderen Mannes Nähe vor ihm ihre Seele bewegt.

Und doch hatte sie die Wahrheit gesprochen und ihm voll und offen dabei ins Antlitz sehen können. Er aber hatte gelacht. »Da hab' ich also wieder Glück gehabt!«

»Wieder –?«

Es klang noch lang in ihrer Seele nach ...

Die Mutter wußte etwas mehr zu erzählen. Annemaries Schönheit war früh und viel bemerkt worden. Ihre kühle Hoheit, die madonnenhaft und königlich zugleich war, hatte noch mehr in Bann gehalten. Jeder Ball war ein Siegeszug geworden und Annemaries Art, sich zu kleiden, eine ernste Angelegenheit der weniger Reizvollen.

»Sie hat keinen an sich herankommen lassen,« berichtete die Mutter stolz. »Oder wenigstens nicht näher, als es ihr paßte. Und es paßte ihr eben keiner. Und der, den sie am längsten litt, und dem ich fast schon selbst gern etwas Hoffnung zugesprochen hätte, der blieb ihr eben immer bloß der Jugendgespiele. Bis es den Ärmsten aus der Sonne trieb, die ihn fast ganz versengt hätte!« lachte Frau Krüger mit mütterlichem Stolz.

»Das hättest du nicht sagen sollen,« wehrte Annemarie damals ab. »Ein Mann erleidet es nur schwer, daß der Glücklichere um seine vergeblichen Mühen weiß.«

Fast in einen Eifer hatte sie sich damals hineingeredet, der schön war und edel und die Lande der gemeinsam verlebten Jugend wie mit einem flammenden Schwert verteidigte.

Der Geliebte aber hatte sie noch heißer in die Arme genommen.

*

Nun sollte Annemarie auch den anderen morgen wiedersehen; nach zwei langen Jahren. Frau Krüger wollte der Tochter das Hochzeitsmahl im eigenen Hause rüsten und hatte selbst die Einladungen verschickt. All die Jugend, die während der vielen Jahre in ihrem gastlichen Hause aus und ein gegangen, sollte Annemaries hohen Tag noch einmal mit ihrem sonnigen Glanze umleuchten. Darunter war auch der Verschmähte. Aber er hatte es wohl schon lange überwunden, hatte in vollem Eifer seither seinen Doktor gemacht und, einer der ersten, von Freiburg aus die Gespielin zu ihrer Verlobung beglückwünscht und zu dem berühmten Gatten, dessen ernstes Heim ihre Anmut und Jugend verschönen sollte. Er war nun wohl auch schon darüber hinaus, wenn er sich auch noch nicht gezeigt hatte seit seiner Heimkehr. Ihn durfte man also zuletzt so vom Tisch fallen lassen.

Unter den vielen Spenden, die der jungen Braut seit gestern zugegangen, hatte sich auch ein Strauß von ihm befunden. Ein Tafelkorb voll großer, duftender Lilien. Die Lilie, er wußte es, war immer ihre Lieblingsblume gewesen. Aus diesem Wissen heraus kam seine Spende und band sich zugleich an den bräutlichen Glanz des Festes. Es war eine ganz unverfängliche Gabe. Dazu eine Karte, daß er in der Kirche anwesend sein werde, um Gottes Segen für sie zu erflehen.

»Welch ein komischer Passus für einen Mann!« hatte der Geliebte gelächelt. Annemarie war ernst geblieben. Sie wußte, daß Konrad von jeher tiefgläubig gewesen war. Das erfahrene Leid schien gerade diese Saite seines Gemüts noch höher gestimmt zu haben. Es nahm sie wunder, daß man über so etwas lächeln konnte.

Daß er der Hochzeitstafel fernblieb, fand sie selbstverständlich. Auch ihre Mutter hatte nicht im Ernst daran gedacht, daß er wirklich kommen könne, mit der Einladung eben bloß einer Form genügt. So war alles aufs beste geordnet.

»Wie sieht er denn eigentlich aus, dieser Troubadour?« hatte der Geliebte heute mit leisem Spott gefragt.

Und Annemarie war, ohne es zu merken, errötet: »Du wirst ihn ja morgen in der Kirche sehen.«

»Wer weiß, ob er sich dort aufzuschauen traut,« hatte der andere weitergeneckt. »Wenn er so fromm ist und so – so täppisch.«

Annemaries Röte war immer tiefer geworden, bis sie selbst den Brand ihrer Wangen empfand und den wehen Unwillen, der ihr plötzlich aus der Seele stieg.

»Was findest du so täppisch an ihm?« hatte sie gefragt.

»Erlaub' mir! Wenn einer neben einem so schönen und geliebten Weib jahrelang herläuft und nicht einen Weg findet, nicht ein Wort?«

»Das lag an mir.«

Da hatte der Geliebte sie mit einem Blick angelächelt, den sie noch nie in seinen Augen bemerkt, und dann mit wippenden Fingerspitzen die Asche seiner Zigarette weggestäubt: »Der Oberst meines Regiments sagte einmal: ›Der Kerl, der eine halbe Stunde mit einer schönen Frau allein ist und keinen Kuß kriegt oder keine Ohrfeige, ist ein Esel.‹«

»Da war ich ihm eben zu heilig für den Angriff,« hatte Annemarie gereizt erwidert. »Und er sich zu gut für den Schimpf.«

Der Geliebte aber hatte sie wie ein schmollendes Kind in die Arme genommen und ihr mit klingendem Lachen den Trotz von Lippen und Augen geküßt.

Erst als er schied, um sie zum letzten Male im Elternhaus zu lassen, waren seine Worte wieder lebendig in ihr geworden. Unter dem Druck des Gewitters; in der Beklommenheit der tiefvioletten Abenddämmerung, unter dem heißen Geflüster, das zwischen ihren Sinnen und ihrem Mißtrauen sich aufs neue entsponnen hatte.

Und nun saß sie da und dachte an den anderen.

*

Vielleicht hatte er nicht umsonst diese schlaffen, lichtblonden Haare, die großen, schwimmenden Träumeraugen. Schon an dem Knaben war alles zart und scheu gewesen. Leise die Stimme, weit und versonnen der Blick, maßvoll und an sich gehalten jede Bewegung. Nicht einer der Jungen, die mit ihm zur Schule liefen, traute ihm eine wehrhafte Tat zu. Einige wetteten ganz insgeheim, daß der Konrad beim ersten Angriff davonlaufen werde. Da kam aber die Überraschung. Der schlanke Junge hielt nicht nur stand, er wußte die ephebenhafte Geschmeidigkeit seines Leibes im Kampfe sogar zu siegreicher Geltung zu bringen, daß die plumpe Roheit seiner Angreifer daneben einen unsäglich gemeinen und tristen Eindruck machte.

In jener Stunde hatte er sich die Achtung seiner Gefährten gewonnen und die Herzen von Annemaries Brüdern. Seit jenem Tage ging er bei ihnen aus und ein.

Als Konrad älter wurde, hatten seine Kameraden ihn lange im Verdacht, daß er heimlich Verse mache. Die Art, wie er den jungen Mädchen begegnete oder auch – auswich, vom Leben sprach und von der Liebe und oft schon vom Tode, brachte sie darauf. Aber er studierte bloß Philosophie. Ganz heimlich natürlich, denn sein Vater war Rechtsfreund und wünschte, daß sein Einziger heute oder morgen die reiche Klientel übernehme. Nur Annemaries Brüder wußten, wie tief der arme Junge unter dieser Aussicht litt. Aber der unbeugsamen Forderung des Vaters gesellte sich das heimliche Flehen einer leidenden Mutter – und was hätte Konrad nicht getan, ihr zuliebe?

Und doch war nun alles anders gekommen! Sein Rechtsstudium hatte er zwar vollendet und auch seinen Doktor gemacht. Aber Vater und Mutter waren ihm unterdes gestorben, und schon wußte man, daß er die Sorglosigkeit, die ein reiches Erbe ihm sicherte, nun ganz an das Studium der Philosophie wenden wolle.

So war ihm ein Traum wenigstens in Erfüllung gegangen. So bitter ihn das Leben auch dafür geprüft hatte.

»Jetzt wird er wohl ganz allein sein!«

Annemarie wußte selbst nicht, daß sie es vor sich hingesprochen. Nun erschrak sie über den Laut der eigenen Stimme und sah mit wachen Augen um sich.

Das Fenster ihrer Stube öffnete sich nach dem Garten, in dem ein mächtiger Akazienbaum im bräutlichen Glast seiner weißen Blüten stand. Wie blaues Silber leuchteten sie im Mond, und die ganze Luft zitterte von ihrem schwülen Atem, bis tief in Annemaries Stube hinein.

»Wie eine Braut steht der Baum da!« dachte Annemarie. »Nur daß ihm mit jedem Frühling dieselbe Schönheit zurückkommt und alle seine Blüten!«

Sie neigte das Haupt zurück, schloß die Augen. Auch ihr Kranz hatte solche weiße Blüten; die seidenen Bahnen ihres Brautkleides denselben bläulichen Silberglanz ...

»Morgen!«

Es war so nahe, und all ihr Sehnen bebte jener Stunde entgegen, deren bloßes Ahnen sie schon wie mit zärtlichen Armen umfing. Daß sie den Geliebten auch körperlich nahe empfand – den trinkenden Blick der Augen zu sehen meinte, mit dem er sich beim Küssen über sie beugte; den feinen Duft seiner Haare spürte, der da irgendwo in ihren eigenen Locken hängen geblieben war; den tiefen Glockenton seiner Stimme zu hören glaubte ... Wie in einer Vision die hohe Gestalt sah – den Mann!

Nein. So gut sie auch von dem Jugendgefährten dachte, so weh ihr auch noch im Erinnern tat, was er heimlich um sie erlitten haben mochte – mit keinem Atemzug ihrer Seele, keinem Tropfen ihres Blutes hätte sie jemals ihn erwählt neben dem anderen. Das wußte sie nun. Und so war es auch heute wohl nur die Liebe, die selbstvergessene, trunkene Vollliebe des Weibes, vor der sie heimlich und wie ahnend erzitterte, am letzten Tag ihrer Freiheit.

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