Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

*

»Heute hab' ich deine Freundin gesehen,« berichtete Wilhelm eines Tages, als er aus dem Kolleg heimkehrte.

»Solang du es gestehst, ist nichts dabei,« lachte Annemarie unbefangen zurück.

»Fändest du es schlimmer, wenn ich sie auch noch ein Stückchen begleitet hätte?« forschte er mit einem etwas verlegenen Lächeln.

»Ist es geschehen?«

»Ja,« bekannte Wilhelm.

»Da du es gestehst, will ich es diesmal nicht weiter ankreiden,« lächelte Annemarie, noch immer gnädig. »Einmal ist keinmal. Aber schon dir selbst zuliebe solltest du es nicht wieder tun. Die Männer, die man mit Mela sieht, kommen eben auch ins Gerede.«

»Sie blieb erst gar nicht stehen und sprach doch weiter,« berichtete er achselzuckend. »So zwang sie mich, mitzugehen.«

Annemarie zog die feinen Augenbrauen empor:

»Eine höfliche Verbeugung hätt' es auch getan. Aber lassen wir es nun!«

Einige Tage später erzählte Frau Krüger Annemarie gelegentlich eines Besuches, daß sie den Schwiegersohn in der Begleitung Melas gesehen habe. Annemarie horchte auf:

»Und Wilhelm?« fragte sie. »Glaubst du, daß er dich auch bemerkt hat?«

»Das könnt' ich nicht sagen. Und ich hatte so große Eile, daß ich mir nicht einmal Zeit nahm, es zu beachten.«

»Wilhelm hat mir schon erzählt, daß er Mela getroffen und begleitet hat,« bemerkte Annemarie. Doch es ging ihr nach. Hatte er vielleicht nur deshalb bekannt, weil er sich von ihrer Mutter beobachtet glaubte?

Als er später heimkehrte, sagte sie kein Wort von dem Besuch der Mutter. Erst beim Abendessen und ganz unvermittelt begann sie davon zu reden.

»Mama hat mir erzählt, daß sie dich neulich in der Stadt gesehen hat.«

»Warum ist sie mir denn ausgewichen?« klang es fast verletzt zurück und keinesfalls betreten.

»Sie sah dich mit Mela und wollte nicht stören.«

»Wenn das vielleicht ein – schwiegermütterlicher Wink sein soll,« lachte Wilhelm gereizt, »dann bitte deiner Mutter zu sagen, daß sie mich damals durchaus nicht gestört hätte – bloß heute und mit solchen, mehr oder minder verblümten Andeutungen.«

»Mama hat doch nicht die geringste Andeutung gemacht,« widersprach Annemarie. »Und noch eigens hinzugefügt, daß sie wohl auch selbst Eile gehabt –«

»Nadelstiche das!« zischte er plötzlich zwischen den Zähnen hervor, wie jemand, der nur mit Mühe eine lang zurückgehaltene Gereiztheit beherrscht. Dann erhob er sich und ging in seine Stube.

War es nur diese flüchtige Verstimmung oder die gegen Semesterschluß sich wieder von Tag zu Tag häufende Überbürdung? Die sonnige, fröhliche Übereinstimmung, in der Annemarie so blindselig nun lange Wochen mit dem Gatten dahingelebt hatte, war wieder einmal dahin.

Daß auch die Kommissions- und Fakultätssitzungen sich gegen Schluß zu vermehrten, wußte Annemarie von früher her. Auch die Frauen seiner Kollegen, mit denen sie verkehrte, hatten zuweilen darüber geklagt. Schlimmer war es, daß er aus all diesen Sitzungen, die oft bis gegen Mitternacht währten, immer so tief verstimmt heimkam. Und aller Groll, der sich über den Einwurf oder die Gegenrede irgendeines Kollegen in ihm angesammelt hatte, brach dann aufs neue hervor.

»Warum bleibst du denn immer auf, bis ich komme?« rief er einmal ungeduldig, als ihn Annemarie, die letzte noch wach, am Gartenpförtchen begrüßte.

»Es war auch so schön hier draußen,« wehrte sie mit zitternder Stimme ab. »Und Wilhelm schläft so ruhig. Da wollt' ich auch noch etwas von der Mondnacht genießen.«

»Nun geh' aber zu Bett,« sprach er. Es sollte milder klingen. Ihre Liebe aber, die ihn heute mit fast bräutlicher Sehnsucht erwartet hatte, hörte recht wohl den Zwang heraus, ja fast die Scheu, nun mit ihr allein zu bleiben.

»Du hast noch zu tun?« fragte sie demütig. Es klang wie ein Flehen. Nur etwas Güte, ein liebes Wort, der Kuß, den er ihr nun schon all die Tage zu geben vergaß, und sie wäre zufrieden gewesen.

»Ein Referat hab' ich noch zu schreiben,« gab er in kühler Sachlichkeit zurück. »Laß dich also nicht länger stören.«

Damit ging er nach seiner Stube ...

Als Annemarie im Laufe der Nacht einmal erwachte, war das Bett an ihrer Seite noch immer leer. Und weil auch gerade Bubi zu schreien begann, stand sie auf und spähte durch die nur für einen Augenblick geöffnete Tür nach Wilhelms Studierzimmer hinüber.

Der Lichtschein, der im Spalt der Schwelle lag, verriet ihr, daß er noch immer wache. Oder war er drüben eingeschlafen?

Es ließ ihr keine Ruhe! Das leise weinende Kind an der Brust, ging sie hinüber.

Da saß er, das Haupt in beide Hände gestützt und brütete vor sich hin – die Zähne in der Unterlippe, blaß, verdrossen, in Blick und Antlitz den Ausdruck einer Erschöpfung, die sie erschütterte.

»Wilhelm,« bat sie, in der geöffneten Türe stehenbleibend. »Willst du nicht endlich auch an dich denken?«

Er sprang auf, schlug mit der Faust in den Tisch hinein. »Nicht einmal hier hab' ich Ruhe! Und was soll ich denn drüben? Das Kind zahnt, und du nimmst es doch immer zu dir.«

»Wie du dich gleich erregst!« sprach sie entsetzt. Denn der ganze Mann war ein einziges Erbeben, vom Haupt bis zu den Füßen. Sie sah es.

»Ich meinte es ja nur gut mit dir, Wilhelm.«

Ein hartes Lachen war die Antwort.

Sollte sie ihn noch mehr reizen?

Das weinende Kind am Herzen, schlich Annemarie hinaus.

*

Einige Tage später fand sich Mela ein. Annemarie kam ihr mit ehrlicher Liebenswürdigkeit entgegen. Sie nahm an, daß es Melas Abschiedsbesuch sei, und wollte ihr, vor der wieder voraussichtlich langen Trennung, einige freundliche Worte mit auf den Weg geben.

Wilhelm war nicht zu Hause, als sie kam, und Annemarie mußte aus Bubis Stube gerufen werden. Mela aber war der meldenden Magd auf dem Fuß gefolgt und stand mitten in Annemaries Schlafgemach, als diese heraustrat.

»Verzeih, daß ich hier eingedrungen bin,« lächelte sie mit einem seltsamen Blick über Annemaries duftiges Morgenkleid. »Es ist ganz unabsichtlich geschehen. Weil ich aber schon da bin, darf ich mich wohl auch hier ein bißchen umschauen, ja?«

»Warum nicht?« lächelte Annemarie mit dem fröhlichen Selbstbewußtsein der Frau, die weiß, daß alles nicht nur wohlgeordnet, sondern auch schön ist in ihrem Heim.

Und erst dieses Gemach – wie lieblich war es! Ein Nest aus Seide und Spitzen und Blumen und weißen, kosigen Fellen, in die der Fuß fast bis an die Knöchel versank.

Die Fensterläden waren der Sonne wegen geschlossen, und eine goldige Dämmerung machte das Zimmer noch heimeliger. Wie ein Brautgemach sah es noch immer aus, mit den zierlichen Biedermeierkränzen in dem weißen Brokat der Vorhänge, den kostbaren Spitzendecken über der zyklamenfarbigen Seidenunterlage, der rosa Ampel, von der füllhorntragende Amoretten niederlächelten, den Finger am Mündchen, wie Schweigen gebietend – dem reich versilberten Toilettetisch mit den tiefroten Zentifolien, die aus allen Gläsern und Vasen blühten.

Die Lider halb gesenkt, mit einem erzwungenen, und wie über einer unlieben Entdeckung gleichsam stehengebliebenen Lächeln sah Mela in dem süßen Dämmer um sich. Ein erst leises, dann fast krampfhaftes Zucken der Mundwinkel zog ihre Lippen herab. Die feingantierte Hand, die noch immer das blaßgrüne Visitkartentäschchen hielt, begann leise zu beben.

›Wär' es möglich, daß sie mich beneidet?‹ dachte Annemarie, wie von etwas Feindseligem angeweht. Gleich darauf aber sagte sie sich, daß es wohl andere Gedanken sein mochten, die nun das Herz der Freundin bewegten, wenn auch vielleicht nur für einen Augenblick: ihre eigene unglückliche Ehe! Gewiß nur das.

»Hab ich dich noch nie hereingeführt?« fragte sie, wie nebenbei.

Mela lachte auf – kurz, herb. Und wieder schien es Annemarie, als vibrierte in diesem Lachen doch auch etwas wie ein versteckter Neid.

»Bewahre! Ihr seid gar heimliche Leute.«

Nun lachte auch Annemarie.

»Na hör' einmal!«

»Und das Kind?« fragte Mela nach einer Weile mit gleichsam stockender Stimme. »Wo hast du das über – über Nacht?«

»Es hat seine eigene Stube, und Anna besorgt es so treu, daß ich beruhigt sein kann. Freilich, wenn es schreit, hol' ich es mir immer ein Weilchen herüber.«

Mela schwieg und sah mit demselben versteckt-unfreundlichen Blick noch einmal in dem lieblichen Gemach um sich. Dann kehrte sie sich hastig der Terrasse zu und lachte noch einmal gedehnt auf:

»Hier also schläft – Dornröschen!«

Gewiß war es nur ein Scherz. In Annemarie aber rührte diese lachende Frage einen Schmerz auf, über den sie sich in der Reinheit ihres Herzens noch nicht einmal selbst bisher Rechenschaft gegeben hatte.

Wie lang war es her, daß sie von dem Gatten auch nur einen zärtlichen Kuh erhalten hatte? Bis heute war es ihr ganz natürlich erschienen, daß er für sie so wenig Zeit hatte, so lange aufblieb Nacht für Nacht, schrieb, las, bis ihm von all der Müdigkeit des Tages die Augen zufielen, wenn nicht das Kind zu schreien begann und sie rasch zu dem Kleinen eilte, damit sein Weinen nicht den lauten Unmut des so spät noch in seinem Studierzimmer arbeitenden Vaters wecke.

Kaum bedacht hatte sie das bis heute. Nun eine Fremde lachend und wie mit leisem Neid daran rührte, entsann sie sich plötzlich in einem jähen und schmerzhaften Erwachen all der Zweifel und Fragen, die sie bisher wie in schlummernder Angst von sich gewiesen.

Wer aber brauchte es zu wissen? Zuletzt dieses unselige Weib, dem die Liebe bloß Vergnügen war oder Lüge ...

»Du trittst wohl schon deine Sommerreise an?« fragte sie wie ablenkend, nachdem Mela zwischen den Palmen der offenen Terrasse Platz genommen hatte.

Die bronzefarbenen Lider Melas hoben sich langsam empor, und ihr Auge lachte mit einem irritierten Blick zu Annemarie hinüber:

»Nein, meine Liebe. So bald wirst du mich heuer nicht los!«

»Aber Mela!« wehrte Annemarie ab.

»Weil es nämlich nicht ausgeschlossen ist, daß ich diesmal den Sommer in der Nähe verbringe. Wenigstens den Juli!«

»So lange sind auch wir noch da. Später macht Wilhelm wieder eine kleine Reise.«

Mela kniff die Augen ein und blinzelte mit verzogenen Lippen in den sonnigen Garten hinaus. Als höre sie nicht oder interessiere sie nicht, was sie da höre.

»Du wirst mich also wenigstens einmal noch zu – überstehen haben!« sprach sie, sich plötzlich erhebend.

»Komm' nur!« lächelte Annemarie wieder gütig und versöhnt. »Und vielleicht einmal an einem Nachmittag, damit wir länger plaudern können. Im Garten ist es so schön an diesen langen Abenden!«

Annemarie fühlte, daß es Worte waren, die ihr nicht von Herzen kamen. Und ganz heimlich erschrak sie fast über die Eile und den sie selbst befremdenden Zwang, der sie zu diesen Worten veranlagte.

›Warum hab' ich das jetzt gesagt?‹ sann sie im gleichen Augenblick. Und im gleichen Augenblick hatte sie genau dieselbe Empfindung wie damals vor dem Kreuz am Wege: ›Schau' um dich und merk' dir alles genau: den Tag, an dem du das gesagt – die Stelle, an der du es gesprochen ... du wirst noch einmal ihrer gedenken!‹

Und wie Melas feingantierte, schlanke Hand sich zum Abschied in die ihre legte, durchlief ein leiser Schauer ihren Leib.

*

Als Wilhelm am Abend dieses Tages heimkam, saß Annemarie mit dem Kleinen im Garten. In dem zierlichen Wägelchen stramm aufrecht sitzend, ließ er sich von ihr seinen Griesbrei einlöffeln und jauchzte dem nahenden Vater schon von weitem mit vollem Mund entgegen.

Annemarie glaubte zu bemerken, daß Wilhelms Blick etwas ärgerlich über den Kleinen hinglitt. Er war die Nacht über wieder recht unruhig gewesen und sie selbst war einige Male hinübergegangen, um nach seinem kleinen Ach und Weh zu forschen. Zuletzt hatte sie den Liebling, im Vertrauen auf seine endliche Schlafsucht, zu sich genommen. Aber Wilhelms jäher Eintritt, der wieder bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte, mußte ihn wohl aufgeschreckt haben, daß er aufs neue zu lärmen begonnen hatte und kaum mehr zur Ruhe zu bringen war. Und doch hatte Wilhelm an sich gehalten. Nun schien er doppelt verstimmt heimzukehren, hatte kaum einen Blick für den kleinen Kerl und seine drollig-zärtliche Art, ihn willkommen zu heißen.

Er beginnt auch über das Kind wegzusehen, sagte sich Annemarie in jäh aufquellender Bitterkeit. Doch sie bezwang sich und hielt ihm herzlich die Hand entgegen.

»Mela läßt dich auch grüßen,« berichtete sie unbefangen. »Sie war hier –«

Er schien es zu überhören.

Klein-Wilhelm begann noch lauter zu lärmen.

»Befreien Sie mich, bitte, wenigstens einen Augenblick von dieser Qual!« schrie Wilhelm das Mädchen an, das ins Haus gelaufen war, um Bubis Bajazzo zu holen.

Annemarie gab ihr einen Wink. Sein Breilöffelchen in der einen Hand, Bajazzo in der anderen, sah Bubi mit groß und fragend geöffneten Augen den Vater an, während Anna das Wägelchen rasch in Bewegung setzte.

Das aber paßte dem Kleinen keineswegs. Es schien ihm eben ein Bedürfnis, gerade jetzt in der Nähe des Vaters zu bleiben. Und während er den Bajazzo und das Löffelchen fallen ließ, machte Bubi Miene, sich während des Fahrens im Wägelchen aufzustellen, daß Annemarie mit einem lauten Schrei nach dem Kinde sprang.

Auch Wilhelm war aufgesprungen. »Also bleiben Sie, bleiben Sie,« schrie er dem Mädchen zu. »Aber ich kann das nicht länger mit anhören!«

»Er will doch nur dich!« erinnerte Annemarie mit bebender Stimme. »Gib ihm den Zeigefinger, und er ist zufrieden.«

»Ich hab' wohl noch anderes zu tun, nicht?« klang es gereizt zurück. Und ohne weiter ein Wort zu verlieren, schritt er dem Hause zu ...

Als der Kleine endlich zur Ruhe gebracht worden war, und Annemarie zum Abendbrot auf der Terrasse erschien, sagte Wilhelm, über die Zeitung hinüber, wie nebenbei:

»Ich habe Anna den Auftrag gegeben, von heute an meine Polster und Decken auf das Ruhebett im Studierzimmer zu legen. So kann ich schlafen, ohne dich durch meine Nervosität kränken zu müssen. Aber du wirst verstehen – ich bin nun einmal herunter!«

Es klang so ritterlich, so echt ...

Warum traten ihr nur die Tränen in die Augen? Den Blick fest auf ihren Teller gerichtet, damit er diese Tränen nicht sehe, zwang sich Annemarie zu einem freundlich-stolzen Nicken:

»Ich selbst wollt' es dir schon lange vorschlagen, Lieber, denn du brauchst Ruhe, und Bubi –,« ihre Stimme zitterte – »Bubi braucht jemanden, der ihn liebt.«

»So ist allen geholfen!« kam es kurz zurück.

›Wenn Mela mich jetzt weinen sehen könnte!‹ dachte Annemarie, als sie an diesem Abend zur Ruhe ging.

»Dornröschen?« Ja. Auch ihr Glück war in einen tiefen und wie verzauberten Schlaf gesunken, und wer weiß, wie lange dieser Schlaf noch währen mochte – wer weiß?

*

Eine Woche später erkrankte das Kind. Der Arzt, der in aller Frühe kam, zeigte gerade keine Besorgnis und führte auch das Fieber nur auf die heftige Zahnarbeit zurück. Doch empfahl er große Ruhe und möglichste Beachtung der heftigen Reizbarkeit des Kleinen.

Da lag nun ihr Liebling mit mattem Blick und geröteten Wangen, und Annemarie griff jeden Augenblick nach der kleinen Hand, um den Puls zu fühlen, streichelte kosend über das weiche Puppenärmchen hin, sang mit leiser Stimme ein Schlummerlied nach dem anderen, bis ihrem Prinzlein endlich die Augen zufielen und ein wenn auch unruhiger Schlummer wenigstens für den Augenblick die stundenlange Erregung des Kindes einzulullen begann.

Der Arzt hatte die Möglichkeit dieses Schlummers als eine Wohltat gepriesen, weil bei den Schmerzen und der heftigen Reizbarkeit des Kleinen ein Schüttelfrost zu befürchten war. Nun saß Annemarie mit gefalteten Händen vor dem kleinen Bettchen und sprach in der goldigen Dämmerung des verhängten Gemaches aus tiefster Seele ein Dankgebet. Das erste, seit langer, langer Zeit!

Wenn sie ihren Gottesglauben auch nie ganz verloren hatte – es lag an der Nähe des Mannes, den sie liebte, mit dem sie lebte, daß ihre Seele so lange stumm geblieben war, ihr Glaube immer nur in einem Dämmer gewohnt hatte, sein und scheu und ohne den Mut des Bekennens. Kalb Scham vor ihm, der so groß und frei tat mit seinem Wissen; halb stumpfe Angst vor dem Unbekannten, Unabwehrbaren, das vielleicht gerade deshalb über sie alle hereinbrechen konnte.

Liebt Wilhelm uns alle nicht? fragte sie sich oft. Oder ist er wirklich auch innerlich überzeugt von dem, was er lehrt?

Ihrem Weibes- und Mutterherzen schien es unfaßbar, daß jemand, der liebte, nicht zugleich in ewiger Angst und Sorge lebte und wie ein Kind aus den Finsternissen des Daseins nach dem ewigen Vater rief ...

Noch zitterte der Schreck der bewegten Nacht in ihrem Herzen nach. Jetzt – jetzt bricht sie über uns herein, die Strafe! Wie oft hatte sie sich das während all der Stunden der Angst nicht vorgesagt und den starren Blick nach oben gewandt – suchend, abbittend, flehend?

Der Arzt hatte erklärt, daß keine unmittelbare Gefahr bestehe, aber doch wenigstens einige Stunden der Ruhe als Notwendigkeit bezeichnet, damit Schlimmeres ausgeschlossen bleibe. Nun schlief ihr Einziges – schlief fest, tief. Und wenn es vorerst auch nur der Schlaf des Fiebernden und Erschöpften war, es war doch der Schlaf, die Ruhe. Gott hatte sie erhört.

›Und ich‹ – sagte sich Annemarie wie in leiser Selbstverachtung, ›ich! Nicht einmal ein Kruzifix ist in meinen Stuben, so viele ich auch habe. Reichtum, Kunst, Schönheit, aber alles dem Leben zugewandt, dem Genuß – wie manches Bild bloß dem Kitzel der Sinne!‹

Nichts, aber auch nichts erinnerte an ihn – den ewigen Herrn des Todes und des Lebens. ›Selbst wenn derjenige, der für uns am Kreuze gestorben ist, wirklich nur ein Mensch gewesen wäre‹ sagte sich Annemarie – ›selbst dann hätt' er einen Altar der Ehrfurcht in unserem Herzen verdient und eine Ecke in unseren Stuben!‹

Und das alles hatte sie vergessen, es aufgegeben, ohne Kampf, fast ohne Gegenwehr. Nur im Vertrauen auf das selbstbewußte Lächeln des geliebten Mannes und einige Schlagworts die ja für alles mögliche reichen mochten, solang es glatt weiterging, nur nicht für eine große Not und eine innerlichste Bedrängnis ...

Nun hat der Herr mich zum Zweiten Male heimgesucht, dachte sie. Aber noch immer in Liebe und Geduld!

Ihr erstes Kind fiel ihr ein, das ein Opfer ihrer unbeherrschten Leidenschaft und der wenn auch nur scheinbaren Untreue ihres Mannes geworden war. Aber doch ein Opfer der selbstsüchtigen Triebe, die den Menschen, der so weit von Gott lebt, zu einem Knecht des Lebens und der eigenen Sinne machen.

Wie wollte sie nun wachen und beten und Tag für Tag ihre Seele zu Gott hinflüchten!

Der alte Betschemel in ihrer Mädchenstube fiel ihr ein, den sie so leichten Herzens daheim gelassen hatte, trotz des innig-schönen, fast legendenhaften Erinnerns an das, was sich einmal von dem bleichen Heiland seines Kruzifixes zu ihrer reinen Mädchenseele hinübergesponnen. Und jenes Kreuz am Wege, unter dem das Wägelchen mit ihrem Kind gestanden und ihr selbst einen Augenblick so eigen zumut geworden war, als stünde sie da vor einer Wende ihres Lebens und blicke ahnungsdurchschauert in eine Zeit hinein, die erst kommen sollte ...

Und nun schlief ihr Kind! Immer tiefer, immer ruhiger. Selbst der Brand des Fiebers, der solange den kleinen Körper durchloht hatte, ebbte langsam zurück.

So gut war Gott!

Und mit gefalteten Händen schlich Annemarie von dem kleinen Bettchen nach dem Fenster, um wenigstens mit einem Blick in das leuchtende Blau hinein dem Gott zu danken, der sie nur mild erinnert hatte, nicht zürnend getroffen ...

So fand sie der heimkehrende Gatte und schloß sogleich wieder die Türe – achselzuckend, auf den Lippen ein vages Lächeln, im Antlitz den Ausdruck einer fast herablassenden Nachsicht.

›Nicht einmal sehen kann er das!‹ dachte Annemarie in beklommener Sorge. ›So weit sind unsere Seelen auseinander!‹

Aber sie gelobte sich, ihn mit keinem Wort zu reizen ...

Als der Arzt am Abend zum zweiten Male kam, erklärte er, daß die Möglichkeit einer ernsteren Gefahr nunmehr wohl ganz geschwunden sei.

»Gott!« sprach Annemarie leise, als sie mit Wilhelm zugleich an das Bettchen des Kleinen trat, der wieder und nun fest und ruhig schlief.

»Es wäre auch ohne ihn so gekommen!« lächelte Wilhelm überlegen.

Und ihr fiel auf, wie vollkommen ruhig, ja fast zerstreut er wieder beim Abendessen war.

*

Die Tage wurden immer länger und goldiger, Blühen der Rosen nahm kein Ende. Wenn der Sommerwind nicht gar so hastig von den Bergen über die Ebene einhergefahren wäre, hätte der Arzt dem kleinen Patienten schon den Aufenthalt im Freien gestattet. So munter und eßlustig war das Kind bei Tag, so ruhig waren seine Nächte. Und was Klein-Wilhelm über sein erstes Werdeleid bei Nacht versäumt hatte, holte er in stundenlangem Schlummer nun bei Tag ein. Nur reizbar war er noch und durch jede Kleinigkeit aufzuschrecken und in Unruhe zu bringen, weshalb der Arzt das kleine Wägelchen vorerst auf die sonnige Terrasse fahren ließ, wo sich's bei halbgeöffneten Fenstern und wohlig durchwärmter Luft noch einmal so gut schlafen ließ.

Annemarie aber saß unentwegt bei ihrem Kinde – irgendein Buch oder eine kleine Arbeit in der Hand. Selig, daß ihr Liebling nun wieder blühen und gedeihen könne, wie draußen die Blumen.

Wieder stand es fest bei ihr, daß sie auch diesen Sommer dem Kleinen zulieb im eigenen Heim verbringen müsse. Wilhelm konnte ja wieder irgendeine Reise machen. Und er war einverstanden; hatte sich merkwürdig rasch damit abgefunden, Frau und Kind für einige Wochen zu entbehren.

»Vielleicht braucht er es wirklich!« dachte Annemarie, die über der Freude, das Kind wieder langsam genesen zu sehen, in der ersten Zeit kaum mehr etwas beachtet hatte.

Nun aber mit jedem neuen Tag sich wieder ein Stück der alten Ordnung einfügte und in die Freude über das Behauptete wieder langsam ein wehmütiges Sehnen nach dem Entbehrten sich zu mischen begann, sah Annemarie doch etwas aufmerksamer um sich.

»Nun wird der Kleine mich nachts bald ganz entbehren können,« berichtete sie eines Tages dem Gatten. »Er schläft fast ununterbrochen, seit die Zähnchen heraus sind, und Anna ist auch so vortrefflich eingeschult ...«

Sie sagte es gelegentlich und gleichsam ganz nebenhin und lauschte doch in innerster Seele auf seine Antwort.

Er war gerade daran, in die Stadt zu fahren, und hatte wie immer Eile. So große Eile, daß er nun schon seit Wochen keine Zeit mehr fand, ihr auch nur einen flüchtigen Kuh auf die Lippen zu drücken.

Auch jetzt wandte er sich kaum zurück, sah nicht die rührende Sehnsucht in den wartenden Augen, hörte nicht die zitternde Hingebung in der Stimme seines Weibes.

»Da bin ich wieder und ganz dein!«

Die zerstreuten Blätter seines Vorleseheftes langsam in die Mappe einordnend, bemerkte er nur: »Um so besser für dich, wenn du wieder Ruhe hast! Ich selbst hab' mich jetzt drüben schon ganz eingewohnt, und da ich noch immer bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten habe, bleib' ich auch drüben. So wirft du in keiner Weise gestört.«

»Ich?« wollte Annemarie sagen. Doch Stolz und Scham schnürten ihr die Kehle zusammen.

Hatte Wilhelm vergessen, daß er es gewesen, der sich von ihr geschieden hatte, um nicht gestört zu werden? Nun schob er ihr in erheuchelter Rücksicht den eigenen Wunsch und die eigene Schuld zu. Wohl missend, daß ihr Stolz zu groß war, ihn auch nur mit einem einzigen Wort noch an ihre Seite zu rufen.

Dann schied er von ihr, wie er all die Wochen gegangen war: mit einem flüchtigen Scherz und einem pflichtgemäßen Handkuß – immer gleich liebenswürdig, gleich ritterlich und gleich unangreifbar.

›Ist es wirklich nur sein Amt und sein neues Werk, das ihn so weit wegführt von mir?‹ dachte Annemarie.

Er trug einen berühmten Namen und wußte, was er seinem Ruhm schuldig war. Aber daneben blühte ihm doch auch der Garten der Liebe und Weib und Kind darin! War es dem Ehrgeiz des Mannes wirklich möglich, so ganz und gar alles zu vergessen, was des Weibes Glück ausmacht?

Es schien. Und weil sie nun einmal eines solchen Mannes Weib geworden, war es ihre Pflicht, ihn zu verstehen, wenn sie nicht ein Hindernis werden wollte auf seinem Weg.

So quälte sich Annemarie mit hundert Zweifeln und Fragen, um zuletzt doch noch immer einen Grund zu finden oder eine Antwort, die ihn entschuldigte. Und doch stand es die ganze Zeit über wie eine einzige schwarze Wolke vor ihr – ob ihr Kind auch wieder lachte und ringsum alles blühte und jeder Tag. der heraufstieg, noch einmal so sonnig und leuchtend schien.

*

An einem dieser Tage war es, daß Annemarie, der ernsteren Sorgen um das Kind enthoben, sich wie erwachend der eigenen Schönheit besann und all des anmutigen und gefälligen Tandes, den ihr die Putzmacherin und Kleiderkünstlerin ins Haus getragen.

Auch ihre herrlichen Haare, die sie seit Bubis Geburt in mütterlicher Eile oder in hausfraulichem Eifer etwas vernachlässigt hatte, suchte sie wieder gefälliger zu ordnen. Bis sie, nach einer kaum halbstündigen Mühe, sich mit unbefangener Freude gestehen konnte, daß sie noch immer gleich jung und schön war. Wie viel auch in der letzten Zeit an ihrer Seele vorübergegangen ...

Es war gegen Ende Juni, und Wilhelm hatte, wie jährlich um diese Zeit, wieder fast täglich eine andere Sitzung. Annemarie wußte, daß er auch heute spät heimkam: gewiß erst um eine Stunde, da das Kind schon schlief und das Mädchen wachend bei ihm sah, bis Annemarie selbst zur Ruhe ging. Und weil morgen wieder der Tag herankam, an dem sie sich vor Jahren zum erstenmal gesehen, beschloß Annemarie, dem Gatten ein kleines Fest zu rüsten und ihn mit all der Anmut und Schönheit zu empfangen und zu umgeben, die ihn damals an ihr und ihrer Art so entzückt hatte.

Was der Spiegel der Eitelkeit des Weibes zugeflüstert, als Annemarie zum erstenmal nach so langer Zeit wieder ihre herrlichen Haare gelöst und dann mit ungezwungener Kunst hochgesteckt hatte – es klang wie ein liebliches Lied noch immer in ihrer Seele nach:

»Du bist schön und begehrenswert ... schön und begehrenswert! Zeig' es ihm, bis er es fühlt.«

Und so sollte es sein:

Mit keinem Wort, keiner Koketterie, keiner einzigen Sentimentalität wollte sie den Geliebten zurückrufen.

Nur durch sich selbst siegen, wie einst, wie damals!

Unter den neuen Kleidern, die man ihr gebracht, war eines, das einen fast bräutlichen Glanz hatte: leichte, weiße, rieselnde Seide, mit duftigen Spitzeneinsätzen, die über Zarten, maigrünen Bändern lagen. Der herzförmige Ausschnitt ließ ihren schönen, schlanken Hals wie durchsichtigen Alabaster hervorwachsen, und der raffinierte Laliqueschmuck mit dem großen, blaßblauen Aquamarin, den ihr Edwin vor zwei Jahren aus Paris mitgebracht, schien den weichen Schimmer ihrer Kaut noch zu erhöhen. Ihre Wangen, von der Freude der Erwartung mit einer süßen Röte überhaucht, leuchteten im Purpurschein der Rose, die sie in dem Ausschnitt des Kleides trug. Nilgrüne Schuhe aus kostbarem Antilopenleder umspannten den kleinen Fuß. Im Gürtel stak das spinnwebdünne Spitzentaschentuch, das sich der Geliebte als erstes Geschenk von ihr erbeten.

Das Abendmahl hatte sie auf der Terrasse zurechtstellen lassen. Kaltes Geflügel, das zarte junge Grün auserlesener Salate, und die ersten Himbeeren, in kostbarer Kristallschüssel über dunklen Rebenblättern aufgeschichtet. In dem silbernen Eiskübel daneben kühlte der goldige Asti des Gardasees.

Still und fast feierlich leuchteten die mattgeschliffenen Lichttulpen in die schwüle Mondnacht hinaus und in die Einsamkeit des Gartens, der von all dem Glück wußte, an das die junge Frau heute wieder in so heißer Sehnsucht dachte ...

*

Mit keinem Schritt werd' ich ihm entgegengehen! sagte sich Annemarie, als sie den Gatten in den Garten treten und dann langsam die Treppe emporsteigen hörte.

Er sollte ganz überrascht sein!

»Ist meine Frau noch auf?« hörte sie ihn draußen fragen.

»Die Gnädige wartet mit dem Abendessen auf der Terrasse!« berichtete die Magd.

Er hätte auch in der Vorhalle ablegen können. Doch Annemarie mußte, daß er immer erst nach seiner Stube ging, schon lange nicht mehr vorerst zu ihr kam, wie einst.

›O du!‹ dachte sie mit wehmütigem Schmollen.

Aber heute?

Sie hob noch einmal rasch das Taschenspiegelchen empor, das an der Gürtelkette hing.

Ja, sie war schön, ganz seltsam schön heute! So schön, daß man auch das größte Wert einen Abend darüber vergessen mußte, wenn man ein Mann war.

Da konnte sie auch warten.

Langsamen Schrittes kam er, trat ein und blieb einen Augenblick fast betroffen stehen.

»Haben wir Gäste?« hörte sie ihn fragen.

Annemarie war dem Gatten mit einer anmutigen Bewegung entgegengeglitten. Nun griff sie nach seiner Hand, hielt sie fest und lächelte süß und doch traurig:

»Nur einen, Wilhelm!«

Er sah um sich, blickte sie wieder an ...

»Die Erinnerung!« sprach sie leise in sein ratloses Schweigen hinein.

»Ach ja, ich weiß,« nickte er, fast betreten. »Und habe vor einigen Tagen selbst daran gedacht. Aber über all dem Wirrwarr des Semesterschlusses es natürlich wieder vergessen. Verzeih'!«

Und die Hand, die sie noch immer in der ihren hielt, schloß sich mit einem jähen Druck um ihre Finger. Dann ging sein Blick über sie hin:

»Du bist schön, Annemarie!«

Sie fühlte, daß ihr ein flüchtiges Erröten in die Wangen stieg. Die Genugtuung, daß er es sah und sagte. Und doch auch noch eine andere, fast schamhafte Empfindung: Als hätte ein Fremder diese Worte zu ihr gesprochen! Daß ihr einen Augenblick der Atem ausblieb und es wie ein leiser Schreck, wie ein staunendes Bangen über ihre Seele kam –

So lange waren sie sich ferne gewesen!

Aber sofort gewann sie ihre natürliche Unbefangenheit zurück.

»Es sollte durchaus keine Feierlichkeit sein, Wilhelm,« lächelte sie dem Gatten zu. »Bloß ein stilles, inniges Gedenken des Tages, der unsere Wege zum erstenmal zusammengeführt hat. Ihn wollen wir leben und leuchten lassen; mit dem Wein, den du liebst, und den Rosen, die auch damals so reich geblüht haben! So, und nun – nun nimmst du Platz, und wir lassen's uns munden. Um mich –«, sie lächelte schalkhaft – »brauchst du dich ja nicht mehr zu bemühen. Mich – hast du.«

Und schon begann sie ihm vorzulegen. Dann schob sie den Salat und die eingemachten Früchte an seinen Teller.

»Du wirft wieder recht müde sein?«

Er nickte bloß und begann, wie in ratloser Haft zu essen.

»Ich weiß, daß alles, was in solch einer Sitzung erledigt wird, mehr oder weniger Amtsgeheimnis ist,« plauderte Annemarie in sein Schweigen hinein. »Aber ein wenig könntest du mir doch zuweilen erzählen von all dem, was dich jetzt wieder so in Atem hält.«

Das nervöse Zucken, das schon einige Zeit um seine Lider und Mundwinkel spielte, wurde heftiger. Die tiefe Blässe, die bisher sein Antlitz bedeckt, wich einem jähen Rot.

»Das wäre kaum der Mühe wert,« sprach er, ohne den Blick vom Teller zu heben. »Und die Ferien stehen ja auch vor der Türe.«

»Hoffentlich erholst du dich besser als voriges Jahr!« meinte Annemarie besorgt.

»Ach, lassen wir das,« entgegnete er mit einer fast ungeduldigen Bewegung. »Das Essen mundet mir noch und –,« er sah, gleichsam suchend, nach ihr hinüber –

Annemarie streckte die Hand nach der Lüsterklingel –

»Du willst jetzt den Schaumwein? Anna soll ihn öffnen –«

Seine Hand langte nach ihrem Arm, zog ihn leis und mit einem jähen Ruck hinab.

»Das werd' ich selbst tun – heute ...«

Wie ein verhaltenes Beben ging es durch seine Stimme.

Annemarie reichte ihm die Korkschere von der Servante. Auch ihre Finger bebten, ihr Herz begann heftig zu pochen. Wie einer Braut war ihr wieder zumut. Und doch! Warum kam sie über dieses schamhaft-befremdende Bangen nicht weg?

»Er sieht wieder, daß ich schön bin,« fühlte sie. »Aber er sieht es mit anderen Augen.«

Da sprang der Pfropfen mit einem lauten Knall in die Luft und geradeswegs zu dem offenen Fenster hinaus.

Gleich darauf schäumte der Wein in die Kelche.

Annemarie hatte sich vorgenommen, nicht kokett zu sein. Und nun, was überkam sie nur?

Die Art, wie ihr Auge beim Anklingen der Gläser in das seine sank – ihr Mund ihm zulächelte – die Lider während des Trinkens sich langsam und genießend schlossen ...

»Du bist noch immer so schön wie damals, Annemarie!« hörte sie ihn plötzlich an ihrer Seite flüstern.

Mit zwei hastigen Schritten war er um den Tisch an sie herangekommen, legte den Arm um ihren Leib, zog sie auf seinen Schoß.

»Soll ich wirklich wieder glücklich werden?« zuckte es in schmerzlicher Luft durch ihre Seele. »Das Weib, das er liebt und sucht ... nicht bloß so hingehen läßt neben sich?«

Seine Lippen berührten ihr Haar, glitten langsam an ihren Wangen nieder. Auch ihr Mund brannte ihm entgegen. Aber sie hatte zu lange gelitten, sich zu schmerzlich gesehnt. Und wie sie da in seinen Armen lag und auf seinem Schoß, sie konnte selbst jetzt die Empfindung nicht los werden, daß es auch heut nur ein flüchtiger und vielleicht entwürdigender Sinnenrausch war, der nach ihr griff. Nicht mehr die Liebe, der sie dieses Fest gerüstet!

Und plötzlich quollen zwei Tränen zwischen ihren geschlossenen Lidern hervor und rannen kühl über ihre brennenden Wangen.

Hatte er sie gesehen?

Er sprach kein Wort. Aber seine Arme gaben sie frei. Sein Mund fand sich nicht mehr zu dem ihren. Hastig und fast verlegen erhob er sich.

»Es ist schon recht spät geworden heute!«

Er war schon längst in seiner Stube und glaubte sie gewiß bei dem Kinde, während der Mond noch immer auf ein junges Weib hinabsah, das wie eine Braut geschmückt, leis und trostlos in die Nacht hinausweinte ...

Was ist es nur – was ist es? sann Annemarie. Doch sie kam nicht zu Ende, mit all ihren Fragen. Weder die Nacht, noch die Nähe ihres Kindes, noch irgendein greifbarer Argwohn konnten die ratlose Qual von ihrer Seele nehmen.

Und die eine Frage, die alles auf eine Karte setzte, wie in einem törichten Spiel mit der Hoffnung auf den Gewinn auch vielleicht den Einsatz verlor – die wollte Annemarie noch immer nicht stellen. Nicht einmal sich selbst.

Es war, es konnte keine andere sein, die ihr des Gatten Herz entwendet! Bloß an ihm lag es, an seiner Art. Und das wollte, das mußte sie eben weiter ertragen.

Ich selbst war wohl auch recht töricht, sagte sie sich. Eine Frau, die zwei Kinder gehabt hat, wird nicht mehr wie ein Mädchen umworben.

Und sie sagte sich's vor, bis sie einschlief.

Aber noch in ihren Träumen hörte Annemarie das eigene Weinen. – –


 << zurück weiter >>