Rudolf von Gottschall
Parasiten
Rudolf von Gottschall

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Fünftes Kapitel

»Es gefällt dir nicht bei uns,« sagte die Petroleuse zu Tardini, »alter Junge, du hast nicht übel Lust auszureißen; doch wir halten dich fest. Auch würde es dir nicht viel nützen; wer einmal bei uns in die Pfütze getreten ist, der wird bespritzt von oben bis unten, und die sogenannten anständigen Leute wollen nichts von ihm wissen.«

»Du irrst, wilde Hummel! Es gibt Philosophen genug, die unsern Standpunkt teilen. Freilich, greifen sie nicht gleich zu den Pflastersteinen oder zu den Dolchen und eure Orgien machen sie auch nicht mit.«

»Du ja auch nicht, alter Philister! Hast du Furcht, die Mänaden könnten dich zerreißen? Nun, du bist ja kein Orpheus, und an einem solchen alten Knaster ist wenig gelegen. Doch wir dulden's nicht, daß du dich für etwas Besseres hältst und von uns abspringst. Und dazu deine Ausflüge aufs Land – was treibst du da? Die dickköpfigen Bauern willst du doch nicht etwa bekehren? Diese Ackergäule bringt man nur in Trab, wenn man ihnen Bremsen unter den Schwanz setzt. Das weißt du so gut wie wir und mit so nutzloser Arbeit gibst du dich nicht ab. Nein, da steckt etwas dahinter. Du suchst dir irgend ein warmes Nest, in das du kriechen kannst – und wer weiß, ob nicht ein Frauenzimmer dabei mit im Spiele ist; denn auf das Nesterbauen verstehen sie sich.«

In der Tat war Tardini schon das zweite Mal in Schöndorf gewesen. Frau Wandow hatte ihn in das Häuschen an der Bleiche eingeladen, denn es 383 stand schlecht mit Herrn Guttmann; auch Edgar war hingerufen worden; doch der Schlaganfall ging besser vorüber, als man vermutete; nur in einigen Regionen des Gehirns schien eine gesteigerte Verwirrung eingetreten zu sein. Frau Wandow hatte es eilig damit, ihre Herzensangelegenheit ins Klare zu bringen; sie wollte offenbar eine vollendete Tatsache schaffen, um andere Bewerber aus dem Felde zu schlagen; denn es fehlte an solchen nicht, und einer war besonders dringlich, wie sie auch dem Auserwählten bei seinem letzten Besuch mitteilte.

»Du vernachlässigst deine Redaktion,« fuhr die Petroleuse fort, »ich habe ein Auge darauf, denn ihr Akademiker laßt euch von den Arbeitern bezahlen, da der Staat aus irgend einem Grunde keine Lust dazu hat. Deshalb müßt ihr auch fleißig sein, gehörig arbeiten mit der Feder und mit dem Kopfe, was viel bequemer ist als Handarbeit, wenn ihr den Leuten auch das Gegenteil eintrichtern wollt. Jetzt, wo mein Bruder auf ein paar Tage verreist ist zu einer Vorstandssitzung der Partei, nimm deine Grütze zusammen und erfülle deine Pflichten mit besonderer Gewissenhaftigkeit.«

Lambertine war eifersüchtig; ihr sagte ein dunkler Instinkt, daß Tardini irgendwo ein Liebchen habe und deshalb daran denke, sich aus ihren Kreisen fortzustehlen. Ihr gegenüber war er ja erstaunlich kalt, und die ganze Anarchie schwor doch Stein und Bein darauf, daß sie eine große Schönheit sei.

Der junge, gefährliche Anarchist, der den Namen Saint-Alban führte, obschon er ein Deutscher war, hatte die Buchdruckerkunst erlernt und war als Setzer in der Druckerei der »Bremse« tätig. Er war an 384 Intelligenz den anderen überlegen und als Metteur en pages angestellt. Er haßte Tardini, den er nur für einen Gaukler hielt, der in allen Farben und jetzt einmal zur Abwechslung in der blutroten schillerte. Er verachtete alle die sogenannten geistigen Führer der Partei, die nicht einmal in demselben Boden mit ihr wurzelten, sondern nur Luftwurzeln hatten, an ihrem Stengel emporkletterten und an ihrem Gezweig herabhingen; sie waren ihm zuwider. Dem Redakteur Meisler verzieh er vieles um seiner Schwester willen; auch lag die Molltonart in seinem gutmütigen Charakter, der dem Dur aus dem Wege ging; doch Tardini schlug nach Saint-Albans Ansicht nur den falschen Akkord an; seine Seele war nicht bei seinem Spiel; er war Anarchist geworden ohne Begeisterung, wie ein anderer Polizeiwachtmeister oder Nachtwächter wird, nur um einen Posten zu haben, der ihm seine Existenz sichert.

Sie verabredeten sich, diesem schwankenden Parteigänger seine Halbheit zu verleiden und ihm vor aller Welt das Gepräge des Anarchismus aufzudrücken.

Saint-Alban schrieb einen Artikel zur Verherrlichung der Attentate und man wartete, ob Tardini wieder einmal einen Ausflug machen würde, der ihn verhinderte, am Abend die letzte Korrektur zu lesen, ehe das Blatt unter die Druckpresse kam. Die Abwesenheit Meislers dauerte länger, als anfangs beabsichtigt war; Tardini zeichnete als sein Stellvertreter, als verantwortlicher Redakteur; darauf bauten die Verschwörer ihren Plan. In der Tat kam wieder eines jener rosa Briefchen, deren Adresse durch eine derbe Handschrift gegen die zarte Farbe des Papiers 385 zu protestieren schien. Der Redaktionsdiener, welcher die Briefschaften von der Post holte, legte diese Missionstraktätlein einer schönen Seele stets mit zufriedenem Grinsen in seine Mappe, denn auch er hatte eine Geliebte, welche verschiedenfarbiges Papier mit den kräftigen Zügen ihrer Handschrift bekritzelte, und er konnte sich in die frohen Empfindungen des Empfängers hineindenken.

Tardini aber hüllte sich gegen Abend in seinen Mantel und verließ das Redaktionsbureau in dem festen Vertrauen, daß die morgende Nummer, die er vor dem Abschluß nicht genau durchgesehen, so harmlos sein würde, wie ihre Vorgängerinnen; denn, immer auf dem Sprunge aus dem Redaktionsbureau, schlug er einen gemäßigten Ton an, um sich nicht noch zuletzt in Unannehmlichkeiten zu verstricken; Herzensergüsse der Fanatiker lagen zerrissen im Papierkorb neben den Briefen, in welchen sich die Ultras über die gemäßigte Haltung der Blätter beklagten. Kaum hatte Tardini das Haus verlassen, als sich die Petroleuse an seinen Schreibtisch setzte, den Artikel Saint-Albans abschrieb, in Gegenwart des Redaktionsdieners, ihn demselben übergab im Auftrage ihres Bruders mit der Weisung, ihn noch in der morgenden Nummer zu bringen, und den letzten Artikel über das Vereinsrecht, der den Raum einengte, aus den Spalten herauszunehmen.

»Tardini ist ausgegangen, er kann die Korrektur nicht mehr lesen; der Korrektor möge sie aufs sorgfältigste ausführen.«

Lambertine legte sich selbstgefällig lächelnd im Lehnstuhl zurück.

386 »Das ist allerdings ein Krach; doch der Schönfärber soll ins Gericht und wenn er da als Anarchist plombiert ist und die gebührende Strafe erhalten hat, so kann er nicht wieder von uns loskommen. Dann halt' ich ihn fest, den Satan, und er soll die Hexe kennen lernen. Zur Hochzeit auf dem Blocksberg läuten nur die Armensünderglocken. Ich kenne das Geläute, er soll sich daran gewöhnen. Die Adler über dem Throne für die Könige, die Raben über dem Hochgericht für die Anarchisten! Ich habe ein wildes Gelüste, mit ihm zusammen in die Hölle zu fahren. Er ist ein verfluchter Kerl, der mir's angetan hat; das heute ist nur der Anfang! Ich gebe ihm einen Schubbs, daß er in die rechte Bahn kommt, die wir zusammen wandeln werden – voraus geht Saint-Alban mit Dolch und Pistole!«

Nicht lange währte es, so kam der Korrektor heraufgestürzt, ein Mann mit grauen Haaren, dessen ganzes Leben aus lauter Druckfehlern bestanden hatte. Durch zwei Examen war er gefallen und er hatte ein Weib geheiratet, das nicht nur eine böse Sieben war, sondern eine noch höhere Ziffer für ihre Ehebrüche in Anspruch nehmen konnte. Der ganze Mann sah aus, als ob ihm das Deleatur einer Korrektur auf die Stirn geschrieben wäre.

»Dieser Artikel, Fräulein Meisler – das ist ein halsbrechender Artikel; ich habe Weib und Kind, wir Korrektoren sind auch verantwortlich. Das Preßgesetz schont uns nicht: es ist ungerecht, höchst ungerecht; denn uns kümmert doch der Inhalt nicht – ob es eine Brandschrift ist oder eine Enzyklika, das ist uns ganz gleichgültig, und wenn nur die Buchstaben nicht auf dem Kopfe stehen, die 387 Gedanken mögen drüber und drunter purzeln, so viel sie wollen.«

»Nun, Meister Mahler, Sie sind doch ein in der Wolle gefärbter Anarchist – beim Korrigieren sind Ihnen auch die Gedanken in den Kopf hineingekrabbelt, wenn Sie auch noch so harmlos tun. So lesen Sie die Korrektur nicht – Saint-Alban wird schon dafür sorgen, daß von den Setzern kein X für ein U gemacht wird. Wenn Sie den Druckfehlern aus dem Wege gehen wollen, so gehen Sie auch nicht nach Hause; da vermehrt sich das lange Register von Tag zu Tag. Gehn Sie, wohin Sie wollen, ich unterschlage Sie dem Staatsanwalt, er mag andere Sünder beim Schopfe fassen.«

Und lachend bugsierte sie den alten Herrn zur Türe hinaus.

Inzwischen hatte Tardini die nächste Bahnstation bei Schöndorf erreicht. In seinen rotgefütterten Abellinomantel gehüllt, den er aus Italien mitgebracht, und welcher den vollen Beifall der Petroleuse hatte, schritt er wieder den Weg am Flusse entlang. Es war ein unheimliches Wetter; der Himmel lag dick und trüb auf der Erde; der Sturm jagte die Wolken und schüttelte die Wälder; ein dumpfes Brausen kam von ihnen her, wie von einem fernen Volkstumult; wo aber der Weg durch ein Gehölz von Erlen und Silberweiden führte, da wühlte er in ihren Wipfeln, durch die ein Knarren und Krachen ging, und abgebrochene Zweige, die auf die Erde fielen, kündeten das Werk der Zerstörung. Um die alten Weidenstümpfe, welche im Dämmerlicht Gesichter zu schneiden schienen, tanzten Irrlichter, und der Flußspiegel warf trübe und verdrießlich das Bild der 388 Wolkenfetzen zurück, die der Sturm von dem schwarzen Trauerkleid des Himmels losgerissen. An einigen Stellen war der Fluß über das Ufer getreten und hatte Lachen zurückgelassen, aus denen das Gequak der Frösche tönte.

Tardini schritt durch die freudlose Landschaft mit einer ungetrübten Heiterkeit; denn er hatte das Recht, sich frohen Hoffnungen hinzugeben. Wenn es die vorgeschobenen Berg- und Waldkulissen erlaubten, so sah er das Schloß von Schöndorf oben auf dem Hügel, das ihm freundlich zunickte, ein Zauberschloß, ein Märchenschloß, und kein château d'Espagne; dafür sorgte Maria Magdalene, die dort das Szepter führte. Sie hatte in ihrem Briefe mitgeteilt, daß die entscheidende Stunde sich nahe; die Kräfte des Herrn Guttmann seien im Abnehmen begriffen; es habe sich eine Herzschwäche eingestellt, die Schlimmes befürchten lasse. Sein Testament werde sie zur Herrin des ganzen Besitzes machen, und sie sei bereit, ihn zu teilen mit dem Mann, der ihr seinen Namen gäbe. Mochte der Sturm jetzt über die Stoppeln fahren, die Ernte des künftigen Sommers werde ihm gehören, dem Anarchisten Tardini, der aus dieser trostlosen Verpuppung herausschlüpfen werde als ein farbenprächtiger Schmetterling, ein Grandseigneur mit vielen Hektaren Landes, ein Agrarier, der in seinem Grund und Boden einen festen Halt hatte für seine politische Überzeugung, die sich lossagen werde von dem Gesindel der Umsturzparteien, zu welchen ihn die Mißgeschicke seines Lebens verschlagen hatten.

Und bald stand er vor der Zauberin, die er einst so schmählich verkannt hatte. Die böse Fee hatte sich in seinen Schutzengel verwandelt; sie sprach das 389 erlösende Wort und darum liebte er sie, nicht mit der törichten Liebe wie der Mann das Weib liebt, sondern wie man sein Glück liebt, das sich ihm in Gestalt dieses Weibes verkörpert hatte.

»Es geht zu Ende,« sagte sie, »freilich, er erholt sich oft wieder in überraschender Weise; doch der Tod steht immer hinter ihm und kann ihn jeden Augenblick am Kragen fassen. Nur eins ist ausgeschlossen; seine geistigen Fähigkeiten sind im Erlöschen; er ist unfähig, einen Willensakt zu unternehmen, etwa sein Testament zu ändern, wenn ihn der Sohn dazu beschwatzen wollte; es würde alles ungültig sein, was er jetzt veränderte, aufsetzte, diktierte, unterschrieb. Ich bin und bleibe die Testamentserbin und niemand kann mir mein gutes Recht streitig machen.«

Tardini drückte ihr liebevoll die Hand.

Der Sturm tobte draußen um das Häuschen, als wollt' er's von der Wiese fortfegen; durch Spalten und Ritze blies er herein, und hätte das Licht, das den dunklen Raum spärlich erhellte, ausgeblasen, wenn es nicht in einer Laterne vor ihm gesichert gewesen wäre. Der Sturm hatte mit dem schwarzen Gewölk eine zu frühe Nacht heraufgeführt; ungläubig hörte man auf die Schläge der Glocke im dicken Kirchturm des Dorfes; sie verkündete zwar nur, was die Zeiger der Kirchenuhr anzeigten; doch diese Finsternis war wie eine Naturerscheinung, die sich um die Zeit nicht kümmert und die trügerischen Messungen derselben in ihrem Schoße begräbt.

Die Laterne stand auf dem Holztisch; die beiden Liebenden brauchten ihr Licht für ihre Küsse und Umarmungen nicht. Und nun kam das Gespräch auf 390 ernstere Dinge, auf die Bewirtschaftung des Gutes, die sich Maria Magdalene freilich allein vorbehielt; doch sie wollte den künftigen Gatten so weit einweihen, daß er ihrem tatkräftigen Wirken Verständnis entgegenbrachte. Sie hatte eine Flurkarte des Gutes mitgebracht und während Tardini die Laterne hochhielt, um den Aufzeichnungen des Planes, den Strichen und farbigen Linien folgen zu können, setzte Maria Magdalene ihm die Einteilung der Äcker und den Fruchtwechsel auseinander, machte ihn auf Fehler aufmerksam, die sie künftig vermeiden wollte, deutete an, daß in letzter Zeit bisweilen eine Ebbe in den Einnahmen eingetreten sei, daß sie aber lieber zu Wucherzinsen ihre Zuflucht genommen, statt ihre eigenen Ersparnisse, die, wie sie bekennen müsse, recht ansehnlich seien, aufs Spiel zu setzen. Die Erträgnisse des Gutes würden aber in den nächsten Jahren sich wieder sehr günstig gestalten.

Frau Wandow wuchs gleichsam in den Augen Tardinis durch alle diese Mitteilungen, und wenn der zudringliche Schein der Laterne, der nicht bloß auf die Flurkarte, sondern auch auf ihr Gesicht fiel, dort einige Runzeln und Falten erkennen ließ, die nicht recht verträglich schienen mit einem jungen Liebesglück, so konnte das den freudigen Aufschwung in Tardinis Seele nicht niederdrücken. Das nahm er gern mit in den Kauf, da in der andern Wagschale der große Wandel in seinem Leben lag; er wurde ja aus einem Besitzlosen ein Besitzender – und erreichte in seinem eigenen Lebensgang das große Ziel der ganzen sozialen Bewegung.

Da hörte man einen heftigen Windstoß; auf das Dach des Häuschens polterte ein Ast hernieder von 391 der überschattenden Buche. Die Scheiben klirrten – das Licht der Laterne verlosch – das Echo eines Schusses verklang in den Windstößen – und mit einem Schmerzensschrei sank Maria Magdalene zu Boden. Tardini warf die Laterne weg, schloß sie in seine Arme. Er sah den Tod nicht, der über ihre Züge schlich; er hörte nur ihr Stöhnen und ihren letzten Seufzer.

Draußen verschlang der Orkan die Schritte des Mörders, der die tödliche Kugel abgefeuert. Was sollte Tardini tun? Er mußte ins Dorf hinüber, um Hilfe herbeizuholen. Er eilte über die Brücke; er rief alle zusammen, denen er in der Dorfstraße begegnete, Bauern und Bäuerinnen; die Kunde, daß Frau Wandow tödlich verwundet sei, verbreitete sich rasch; der Schulze kam mit dem Gemeindediener. Alle warfen indes mißtrauische Blicke auf den Fremden, dessen im Sturm flatternder Mantel mit seinem aufgedeckten Unterfutter einen höchst befremdlichen und verdächtigen Eindruck machte.

Mit Fackeln und Laternen strömten alle herbei, und als man in das Häuschen hineinleuchtete, sah man neben den Glasscherben des Fensters und der Laterne ein totes Weib liegen – die gefürchtete Herrin von Schöndorf. Bald kam auch der Ortsgendarm hinzu, der zufällig im Wirtshaus weilte, und in Ermangelung eines Arztes der Barbier, der ihm dort Gesellschaft geleistet hatte und früher als Lazarettgehilfe tätig gewesen war. Doch wenn auch der Obermedizinalrat selbst mitgekommen wäre, er hätte doch nichts anderes konstatieren können, wie der Bartscherer – den Tod der Frau Wandow, die ins Herz getroffen war.

392 Man brachte die Leiche zunächst ins Gemeindeamt, und Boten eilten hinauf nach Schloß Schöndorf, um dorthin die Schreckenskunde zu bringen. Inzwischen wurde Tardini ausgefragt – ein für ihn sehr peinliches Verhör; er verwickelte sich in Widersprüche; er wollte Frau Wandow nicht bloßstellen und wußte seine Anwesenheit in der Bleichhütte um diese Stunde nicht recht zu erklären. Was er vorbrachte, waren allerlei leere Ausflüchte. Der Schulze als Gerichtsherr mußte sich freilich sagen, daß Frau Wandow dort unten jetzt doch nichts zu suchen hatte; er vermutete ein Liebesabenteuer; doch es war ja nicht das erste Mal, daß ein Liebhaber seine Geliebte erschossen hatte. Selbst in Schöndorf war dergleichen vorgekommen. Tardini wurde zunächst in Haft behalten; es gab im Schulzenamt ein kleines Loch, das als Arrestzelle benutzt wurde. Hier wurde der verdächtige Mann eingesperrt, und während der Landgendarm auf seinem rasch gesattelten Braunen in die Stadt sprengte, konnte der Gefangene beim spärlichen Licht einer halbheruntergebrannten Talgkerze seinen Gedanken nachhängen.

Und diese Gedanken waren trübseliger Art. Vor dem hochnotpeinlichen Halsgericht fürchtete er sich nicht; aber alle jene Zukunftshoffnungen waren mit einem Schlag vernichtet. Wieder war er der Besitzlose, der Enterbte, und er mußte zusehen, wie er sich weiter durchs Leben tasten konnte. Er war daran gewöhnt, unglücklich zu sein; diesmal aber war er der Narr des Glückes; im letzten Augenblick schlug es die Pforten vor ihm zu, die ihn zu einem ersehnten schönen Ziele geführt hätten. Doch wer war der Mörder? Wer hatte dies Weib getötet und mit ihm 393 seine Zukunft vernichtet? Eine alte Schulerinnerung tauchte in ihm auf; Cicero hatte in seiner Rede pro Sexto Roscio es als erste aufzuwerfende Frage bei der Untersuchung einer Mordtat hingestellt, wem dieselbe zum Nutzen gereicht habe? Und da lautete hier die unwidersprechliche Antwort: den gesetzlichen Erben. Diese wurden durch das Testament des Herrn Guttmann um ihre Erbschaft gebracht, und sie setzten sich durch diesen Pistolenschuß selbst wieder als Erben ein. Das Pulver hat das Testament verbrannt, mochte es auch irgendwo im Schranke bei Gericht liegen und einen gutbezahlten Handlanger des Mords würde der junge Doktor Guttmann leicht aufgetrieben haben. Der Verdacht der Blutschuld fiel auf ihn und auf ihn allein. Der Scharfsinn der Polizei und des Staatsanwaltes würde schon die rechte Spur entdecken. Freilich fehlte jeder Anhalt; ein Schuß aus dem Dunkel, in welchem der Täter sogleich wieder verschwand, ließ keine Spur zurück, und das Opfer selbst konnte keinen Verdacht aussprechen, kein Zeugnis ablegen.

Im Gutshof zu Schöndorf herrschte allgemeine Bestürzung. Der Wirtschaftsinspektor selbst war nicht anwesend; er war in die Stadt geritten; doch zwei Eleven, der Oberknecht und der Reitknecht, zwei Mägde und die kleine Dore machten sich auf den Weg, nachdem sie eine Tragbahre, die in einer Mansarde lag, gesucht und gefunden. Darin war man einig, Herrn Guttmann nichts von der Ermordung der Wirtschafterin mitzuteilen. Wer konnte die Folgen absehen? Maria Magdalene war nicht mehr da, um ihn zu pflegen. Unten erfuhren sie freilich, daß sie die Leiche nicht aufs Schloß tragen dürften, 394 bis der Amtsrichter und der Gerichtsschreiber aus der Stadt gekommen – und so schlossen sie sich der Menge der Wartenden an, die eine harte Geduldprobe zu bestehen hatten. Denn nur wenigen bot das Schulzenhaus Obdach; die meisten mußten auf der Straße harren, wo der Orkan ihnen den ganzen Abhub der Dorfstraße, alles, was da an Strohhalmen und Heubüscheln herumlag, um die Nase blies und an den Röcken der neugierigen Evastöchter herumzauste. Das Gesinde vom Schloß oben blickte ziemlich gleichgültig auf die Leiche der gestrengen Herrin; es wollte nicht recht daran glauben, daß eine solche Gewalthaberin das Los der gemeinen Sterblichen teilen könne, und zerbrach sich den Kopf darüber, wer die unglaubliche Verwegenheit besessen habe, einer so gefürchteten Person den Garaus zu machen. In unbewachten Augenblicken hatte wohl schon mancher die Faust geballt und Drohungen ausgestoßen, daß man ihnen eine solche schwarze Tat hätte zutrauen können; doch es blieb bei dem guten Willen, und jetzt, wo ein anderer diese Tat vollbracht hatte, wandelte sie doch ein Schauer an vor dem Tode, den sie ihr gewünscht und angedroht hatten. Doch mitleidlos standen sie herum, nur die kleine Dore warf sich weinend auf die Leiche. In der Tat, wenn Maria Magdalene noch einige Reste von Gemüt besaß – auf dieses Mädchen waren sie niedergetropft.

Die Dorfuhr schlug eine Viertelstunde nach der anderen; man zählte die Schläge, so weit es das Heulen des Sturmes erlaubte, doch die hohe Justiz hatte auch der heftigste Windstoß nicht herbeigeweht. Endlich kam der Gendarm auf seinem Braunen herangesprengt und teilte der harrenden 395 Volksmenge mit, daß wohl noch vor Tagesanbruch die gerichtliche Kommission sich hier eingefunden haben würde. Der Amtsrichter sei aber bei einer L'hombrepartie auf einem benachbarten Gute gewesen, und hätte dort erst abgeholt werden müssen, noch ehe man die letzten Ziffern in den Kessel schrieb. Da er verloren, so war er bei übelster Laune und beeilte sich nicht, an den Schauplatz des Mordes zu kommen. Eine halbe Nacht habe man ihm gestohlen, um ihm sein Geld abzunehmen, und die andere halbe Nacht stehle man ihm damit, einem ganz zur Unzeit begangenen Verbrechen auf die Spur zu kommen. Das sagte er in Gegenwart des Gendarmen zu seiner Wirtschafterin, und es sei geradezu unmenschlich, daß er wieder in diese barbarische Sturmesnacht hinausgejagt werde. Er ließ inzwischen den Gerichtsschreiber wecken, der aber erst mit einem schweren Kopf von einem Bierskat nach Hause gekommen; beide wollten dem Gendarmen, den sie ins Dorf zurückbeorderten, baldmöglichst nachkommen. So rasch, meinte der Gendarm zum Schulzen, würde das indes doch nicht gehen; ehe ihm der Löwenwirt und sein auch bei Tage schläfriger Knecht den Wagen zur Verfügung stellen würden, könnte noch eine geraume Zeit vergehen, und dann müßten sie gegen den Sturm fahren, was auch dem alten Schimmel gegen den Strich gehen würde. Die Dorfbewohner wurden durch die Mitteilungen etwas ernüchtert, viele suchten in Haus und Stall ihre Lagerstätte auf, nur wenige hielten dem Sturme noch länger stand neben den Leuten vom Schloßhof droben, die es für ihre Pflicht hielten, den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten.

Endlich langte der Wagen mit der gerichtlichen 396 Deputation an. Der Amtsrichter wahrte, da Publikum vorhanden war, die erforderliche Amtswürde, und nur der Gerichtsschreiber erlaubte sich einige Menschlichkeiten, indem er gähnte und sich streckte, und erst als das Auge seines Vorgesetzten sich ihm zuwendete, suchte er seinen Gähnkrampf durch den emporgehaltenen Aktenstoß zu verbergen. Zunächst wurde die Leiche in Augenschein genommen; es war eine ganz perfekte echte Leiche, und das Gutachten des Barbiers versagte ihr jede Hoffnung auf eine Auferstehung, wenigstens in diesem irdischen Leben. Dann wurde Tardini aus der Haft herbeigeholt; der Gendarm behandelte ihn schon wie einen Verbrecher; denn ein richtiger Instinkt greift der Justiz vor. Der Amtsrichter sah bald, daß er es mit keinem Strolch, sondern mit einem gebildeten Mann zu tun hatte, und wenn ihn dies günstig stimmte, so erregte doch manches sein Bedenken: einmal der italienische Name, den er auf seinen deutschen gepfropft; denn ein talentvoller Verbrecher hat stets mehrere Namen zur Verfügung, die ihm ein vielseitiges Wirken an verschiedenen Orten erlauben, und das Verzeichnis von Vorbestrafungen nicht zu einer bedenklichen Länge anwachsen lassen, sondern in schicklicher Weise verteilen. Verdächtiger aber noch schien es dem Mann der Themis, daß Tardini zwar erklärte, eine Zusammenkunft mit Frau Wandow verabredet zu haben, aber über den Zweck derselben keine Auskunft geben wollte, sondern sich darauf beschränkte zu erklären, es habe sich um eine wichtige Angelegenheit gehandelt, über die er Schweigen beobachten müsse. Der Amtsrichter nahm eine Prise – ein Zeichen, daß er über eine schwierige Frage nachdachte; auf diese Angelegenheit kam es 397 vielleicht gerade an. Dann fand eine Lokalbesichtigung statt; der Sturm hatte sich gelegt, und einige Fackelträger aus der Gemeinde, welche der Schulze mobil gemacht, leuchteten über die Brücke den ganzen Zug hinüber bis an das Häuschen. Dort sah man, daß der Schuß durch das Fenster gekommen und die Scheiben bezeugten es noch. Tardini behauptete, er habe neben Frau Wandow gestanden und es hätte wenig gefehlt, so hätte ihn selbst die Kugel getroffen; es wäre auch nicht unmöglich, daß der Schuß ihm selbst gegolten, denn er habe viele Feinde. Der Amtsrichter beschloß trotzdem ihn in Gewahrsam zu nehmen, bis der Staatsanwalt entweder die Anklage erhoben oder sie zu erheben abgelehnt haben würde. Zunächst solle er in das Gerichtsgebäude des Städtchens folgen, wo in einem alten Turm die Untersuchungsgefangenen ein bequemes Zimmer erhielten, allerdings mit Schloß und Riegel versehen, aber sonst sehr menschenfreundlich eingerichtet, so daß jede Perspektive auf Galgen und Rad fehlte. Für den Inkulpaten wurde ein Wägelchen herbeigeschafft, an dessen Seite der Gendarm ritt. Der Amtsrichter aber saß in tiefen Gedanken neben dem Gerichtsschreiber im Wagen des Löwenwirtes; Tardini, der seinen Lebenslauf in sehr flüchtigen Umrissen zu Protokoll gegeben, hatte auch erwähnt, daß er jetzt Redakteur der »Bremse« sei. Der Amtsrichter war mit der Journalistik und Publizistik der großen Städte wenig vertraut; er wußte nicht, was die »Bremse« für eine politische Richtung verfolgte, und entschloß sich endlich, nach einigem Zögern, den Gerichtsschreiber danach zu fragen, von dem er wußte, daß derselbe gern die Nase in alle Zeitungsspalten steckte und 398 auch mit der staatsgefährlichen Makulatur ganz vertraut sei.

»Sagen Sie, Gärtner, die ›Bremse‹, die ›Bremse‹ – ist Ihnen das Blatt bekannt?«

»Wohl, Herr Amtsrichter –«

»Konservativ – liberal?«

»Nichts von dem, Herr Amtsrichter.«

»Also wohl gar sozialdemokratisch?«

»Nein, Herr Amtsrichter.«

»Würden Sie vielleicht Auskunft geben, ohne daß ich Sie mit einer neuen Frage belästigen muß?«

»Gewiß, Herr Amtsrichter – das ist ein Anarchistenblatt!«

»Und das sagen Sie jetzt erst?«

»Wir Subalternen schweigen, bis wir gefragt werden.«

»Teufel noch eins – das macht ja diesen Tardini besonders verdächtig. Und solche Blätter lesen Sie?«

»Es ist doch ganz nützlich für den Dienst, wie Sie sehen. Man hat keine Sympathien mit diesen ruchlosen Leuten, aber es gefällt einem doch, wenn man sieht, was in der Welt alles gesagt werden kann, wenn wir auch immer den Mund halten müssen.«

»Ein Anarchist,« sagte der Amtsrichter, »ein sehr erschwerender Umstand – das Attentat steht in ihrem Programm. Nun ist zwar Frau Wandow kein gekröntes Haupt gewesen; doch wenn sie mit diesem Tardini verkehrte, so gehörte sie vielleicht zur Bande, und man weiß ja, daß diese Leute untereinander gelegentlich aufräumen und alle erdolchen oder niederschießen, von denen sie irgend einen Verrat befürchten können.«

399 In dem Städtchen angekommen, gab der Amtsrichter strengen Befehl, Herrn Tardini ja nicht entwischen zu lassen, und es wurde ihm eine besondere Wache vor die Türe gestellt.

Es war Morgendämmerung, als die Leiche der Wirtschafterin auf einer Tragbahre ins Schloß hinauf gebracht wurde. Noch immer zögerte man, dem Hausherrn Nachricht von dem Vorgefallenen zu geben. Dagegen schrieb der neue Volontär, welcher die landwirtschaftliche Akademie besuchte, und die Intelligenz von Schöndorf vertrat, an den Doktor Guttmann, teilte ihm die Ermordung der Frau Wandow mit und bat, er möge sofort in Schöndorf erscheinen und mit seinem Vater Rücksprache nehmen; dieser sei jetzt ohne Pflegerin und niemand wage ihm eine aufregende Kunde zu überbringen. Edgar traf auch schon mit dem nächsten Zuge auf der Station ein und ließ sich in Schöndorf über alle Vorgänge genauen Bericht erstatten. Nicht ohne Bewegung sah er die Leiche seiner erbitterten Feindin und den düstern Eindruck verscheuchte nicht die leiseste Freude über sein wiedergewonnenes Erbe. Man teilte ihm mit, daß ein Anarchist, der den Namen Tardini führe, als des Mordes verdächtig in Haft genommen worden sei. Seinen Vater fand er sehr geistesschwach und teilnahmslos; er sah alle Ereignisse nur durch einen Schleier, Traum und Wirklichkeit verschwammen ineinander. Die Ermordung der Frau Wandow beschäftigte ihn eine Zeitlang, er hatte sie schon an diesem Morgen vermißt, fand sie aber jetzt in hinreichender Weise entschuldigt. Nach dem Mörder fragte er weiter nicht; es treibt sich jetzt so viel Raubgesindel auch in unserer Gegend herum; dann nach 400 einer langen Pause seufzte er: »arme Frau«, und nachdem er im Zimmer auf- und abgegangen, fügte er hinzu: »Nun kann die andere ja wiederkommen.«

Immer noch war Thomas Wickel nicht aus der Stadt zurückgekehrt. Das mußte befremden; er war ein pflichtgetreuer Beamter und kein Nachtschwärmer – sollte auch er das Opfer eines räuberischen Anfalls geworden sein? Er war mit der Wirtschafterin so befreundet gewesen – sollte dieser Tardini ihn gleichzeitig aus dem Wege geräumt haben? Edgar zog bei den Knechten und Mägden Erkundigungen über ihn ein; am meisten wußte die kleine Dore zu erzählen, die ja wie eine Klette an Maria Magdalene hing. Es war keine Frage, Thomas Wickel war ein sehr intimer Freund der Maria Magdalene gewesen. Edgar erwog allerlei Möglichkeiten, die sich aus diesem Verhältnis ergaben; doch er konnte zu keinem Schluß kommen.

Da wurde am Nachmittag der Schloßhof von Schöndorf in neue Aufregung versetzt; das Haus und die Küche und alle Ställe leerten sich; der Hof bevölkerte sich mit neugierigen und erstaunten Gesichtern; denn auf einer Tragbahre brachten Bewohner des Nachbardorfes Zülgau eine Leiche herauf, welche der Fluß dort an das Wehr geschwemmt hatte; es war die Leiche des gewaltigen Riesen Wickel. Die alten Weiber bekreuzigten sich; so viel Unheil war an einem Tage über das Schloß Schöndorf hereingebrochen; da war es doch besser, anderswo zu kochen, zu scheuern und das Vieh zu füttern; denn das ganze Schloß war offenbar verhext und in allen Winkeln lauerte ein neues Unheil.

Inzwischen war der Staatsanwalt telegraphisch 401 von dem Amtsrichter herbeigerufen worden; er nahm mit ihm zusammen eine Lokalbesichtigung der Mordstelle vor, beschloß gegen Tardini die Anklage zu erheben und verfügte seine Überführung in die Untersuchungshaft der Hauptstadt. Auch in Schloß Schöndorf stellte er sich ein, nachdem ihm der Unglücksfall oder der Selbstmord des Wirtschaftsinspektors angezeigt worden war, und verhörte alle Knechte und Mägde. Eine Leichenschau nach der anderen; doch welche Fäden da herüber- und hinübergingen, das konnte sein Scharfsinn nicht ergründen; er mußte sich mit Vermutungen begnügen.

Die Lösung des Rätsels sollte Edgar bald in Händen haben; es war ein Brief, den Sebastian Wickel, seines Zeichens Schullehrer in Oberammersheim, ein Bruder des Verstorbenen, an ihn gerichtet. In diesem Schreiben, das nur wenige Zeilen des Lehrers enthielt, der ein Unheil, wenn noch möglich, abwenden oder mindestens erklären wollte, lag ein anderes ziemlich umfangreiches, da die gewaltigen Buchstaben vielen Raum einnahmen; es war ein Brief von Thomas, der also lautete:

»Lebe wohl, lieber Sebastian! Mich hält nichts mehr im Leben; ich quittiere den Dienst; ich bin betrogen worden, alle meine Hoffnungen sind zerstört; ich wollte nicht zeitlebens Frondienste für andere Leute verrichten; ich wollte mich selbständig machen und man bot mir die Hand dazu. Frau Wandow, die nach dem Tode des Herrn Guttmann Besitzerin von Schöndorf wird, gab meiner Werbung Gehör; nach dem Tode des Herrn Guttmann, der in kurzer Zeit erwartet wird, wollten wir uns heiraten. Da fiel mir Geld und Gut in reichem Maße zu, alles 402 andere Glück hatte ich schon vorweg genommen, sie auch – und das war das einzige, was sie von mir erwarten konnte, da ich doch ein armer Schlucker bin. Doch ich hatte mir meine Zukunft gleichsam festgenagelt und wer diese Nägel herausziehen wollte, dem schlug ich auf die Finger, doch das Weib ist eine Kanaille, Sebastian! Je schwächer Herr Guttmann wurde, je näher der Zeitpunkt kam, wo ihn der Tod abberufen mußte, desto schlechter behandelte sie mich, desto weniger wollte sie auf einmal von der festabgemachten Heirat hören. Solch einen plumpen Koloß, solch einen bäurischen Erdkloß wolle sie nicht zum Manne haben, er bleibe doch immer ein Lakai; es habe Königinnen gegeben, die ihre Lakaien geliebt, aber weil sie sich dieser Liebe geschämt, einen nach dem anderen dem Tod geweiht hätten. Dies hielt ich für schlimme Reden, um mich zu kränken; daß sie damit Ernst machen könne, wollte ich nicht glauben. Und doch machte sie Ernst – sie hatte einen anderen gefunden, der ihr Liebe vorlog, und dabei nach ihrer bald fälligen Erbschaft angelte. Es war ein Stadtmensch; ich habe ihn gesehen; ich kenne die Stadtleute nicht, doch das schien mir ein wunderlicher Gesell zu sein. Ich lauerte ihr auf, denn es war mir verdächtig, daß sie auf die Bleiche hinunterging, wo es jetzt nichts zu bleichen gibt. Und in der Tat, in dem Häuschen da unten fanden die Begegnungen statt; mein Rappe trug mich sturmschnell hinunter; ich band ihn an einen Buchenast und umschlich das Häuschen: ich hörte genug von ihren Gesprächen, um zu erfahren, daß er jetzt der Auserwählte ist, dem sie Herz und Hand reichen will, daß ich beiseite geschoben und die Zielscheibe ihres Spottes 403 geworden bin. Was soll aus mir werden? Immer Bücklinge machen, wenn man ein Kerl ist, wie ich? Wenn ich immer gehorchen soll, nie befehlen kann, so streiche ich mich lieber aus, und bei der Kontrollversammlung des lieben Gottes antworte ich mit keinem ›Hier‹ mehr. Ich überleb's nicht, wenn alles zusammenbricht, was ich mir so schön aufgebaut; das Glück, das ich für sicher hielt, das wurde zunichte! Doch ehe ich Abschied nehme, soll die Kanaille fortgeputzt werden, die mich zum Narren gehabt. Das freche Weib soll erfahren, daß man mit Männern nicht sein Spiel treibt; sie soll nicht das Ziel erreichen, das sie mit den Lügen und Schwindeleien ihres ganzen Lebens erstrebt hat. Es wird zwei Tote geben – einen, der freiwillig aus dem Leben scheidet, und eine sehr unfreiwillige, der man einen Strich durch die Rechnung macht. Du wirst von mir hören, Sebastian! Wir haben uns stets gut vertragen, wie sich's für brave Leute ziemt; ich habe Dich stets lieb gehabt; Männer lieben sich wahrhaft und von Herzen. Frauenliebe ist Lug und Trug, ist ein Skandal – das ist mein letztes Wort. Lebe wohl, Sebastian.«

Kaum hatte Edgar diese Zeilen gelesen, als er anspannen ließ, um sofort den Staatsanwalt aufzusuchen, der noch in dem Städtchen war. Der Brief war ein entscheidendes Beweisstück. Edgar hatte ihn den Volontären gezeigt, welche die Handschrift des Wirtschaftsinspektors ganz genau kannten; sie bestätigten die Echtheit dieses Schreibens, wenn es noch einer solchen Bestätigung bedurft hätte. Die beiden Toten legten ein beredtes Zeugnis dafür ab. Der Staatsanwalt und der Amtsrichter schüttelten den 404 Kopf; die Justiz war wieder einmal auf falscher Fährte gewesen. Tardini wurde sofort freigelassen; mit dem nächsten Bahnzug fuhr er in die Hauptstadt zurück; er fragte nicht einmal, wer der Mörder war, den sie doch nun entdeckt haben mußten; erst aus den Zeitungen erfuhr er das Nähere, und sie alle waren rücksichtsvoll genug, dem Manne, mit dem Frau Wandow ein Stelldichein hatte, sein Inkognito zu lassen.

 


 


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