Rudolf von Gottschall
Parasiten
Rudolf von Gottschall

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Drittes Kapitel

»Alter Junge,« sagte die Petroleuse zu Tardini, der mit ihrem Bruder beisammensaß, vertieft in Redaktionsarbeiten – »du könntest einmal den ganzen Kram beiseite lassen und mit mir etwas frische Luft schöpfen. Es ist wieder so muffig in dem Prinzenhof.«

Rudolf Meisler war damit einverstanden; seine Schwester hatte stets so fatale Launen, daß sie ihn in seinen Arbeiten störte; er erfüllte gern ihre Wünsche, nur um Ruhe zu haben. Tardini hatte so viele internationale Makulatur bewältigt, daß er sich nach einer Ruhepause sehnte.

Die beiden gingen vors Tor; es war trübe, nebelig, kalt. Der Fluß begann Eis anzusetzen; was der Wind den Wandelnden ins Gesicht peitschte, war ein Gemisch von Schnee und Eiskörnern.

»Kein Wetter zum Lustwandeln,« sagte Tardini.

»Das ist auch nicht meine Absicht! Ich führe 355 dich dort in den ›Blauen Hecht‹ am Fluß; da erwarten mich einige Genossen.«

»Das ist wider die Abrede,« versetzte der Redakteur.

»Ich will nur dein Bestes, alter Junge! Du mußt einmal hören, was wir wollen! Von meinem Bruder erfährst du nichts! Der glaubt, es sei mit einigen Phrasen getan – und würde, wenn heute die ›Bremse‹ krachte, morgen die Redaktion des Reichsanzeigers und der evangelischen Kirchenzeitung übernehmen. Eine Überzeugung hat er nicht, haben sie alle nicht! Sie redigieren, um Gehalt zu haben, um zu leben, sagen dabei dem Volk einige Schmeicheleien, wie ein Hofschranze seinem Herrn. Es ist unglaublich, wie viele bei uns und der nahestehenden Partei ein solches Schmarotzerleben führen und dem Volk den Rahm von der Milch abschöpfen; für nichts erwärmen sie sich. Eine kalte Hundeschnauze ist ein Zeichen von Gesundheit – und auch diese Bestien fühlen sich um so wohler, je kälter sie sind. Sie wollen nichts als ihr tägliches Futter!«

»Doch du tust deinem Bruder unrecht!«

»Das ist ein guter Kerl! Er hat ja auch seine Theorien, von denen er überzeugt ist; doch sie sind sehr zahm Er ist ein Anarchist, wie der ›Einzige und sein Eigentum‹, so für sich, auf eigne Hand; er glaubt wenigstens, was er sagt und schreibt. Die anderen aber glauben es nicht und glauben an nichts. Du aber bist mehr wert, als die ganze Sorte, die nur an der Parteikrippe frißt, weil ihr sonst nirgend Futter aufgeschüttet wird. Du mußt aber belehrt werden, mehr ins Tiefe gehn. Du schreibst famos, und du mußt noch das reine Dynamit schreiben lernen.«

356 »Doch was soll ich im ›Blauen Hecht‹?«

»Da sind einige von drüben, auch aus Zürich und Brüssel! Da sollst du einmal hören, wie's in den Geistern gärt. Du wirst wild werden, wie sie; der eine ist ein alter Russe, der kannte noch den Bakunin! Der andere wurde drüben ausgelost, um irgend eine große Tat zu tun; die hat er noch in der Tasche, aber wir werden von ihm hören.«

»Ich sehne mich gar nicht danach, in diese Gesellschaft zu kommen.«

»Doch du mußt das kennen lernen, alter Freund! Wenn du eine Fahne trägst, mußt du doch sehen, was sie für Farben hat. Und dann . . .«

Ihre Augen leuchteten und sie schmiegte sich fester an ihn:

»Dann führe ich dich auch einmal zu unserem Hexensabbat – da geht es toll zu, da wird die Welt auf den Kopf gestellt. Ich und die Athenais, wir führen da den Reigen. Kinderei – der alte Blocksberg und der Satan mit dem Pferdefuß und die Böcke . . . da sollst du erst sehen, was teuflische Lust ist. Doch heute wollen wir uns mit dem ›Blauen Hecht‹ begnügen.«

Das kleine Wirtshaus steckte in den Uferweiden drin; um den Tisch in der verräucherten Stube lagerte sich eine Gruppe, die Köpfe wie aus einem Verbrecheralbum herausgeschnitten. Nur einer, ein sanfter Blondin mit schwärmerischen blauen Augen, schien nicht hierherzugehören, und doch war gerade er mit einer mörderischen Mission begnadigt.

»Sieh dir diesen an,« sagte Lambertine, die mit Jubel begrüßt worden war, zu ihrem Begleiter. »Das ist ein herrlicher Junge, sieht aus wie ein 357 weißgekleidetes Mädchen, hat einen Teint wie Alabaster. Doch er hat's in sich, der Bursche! Er flötet nur so mit seiner süßen Stimme; doch wehe den Gewaltigen der Erde, die in seine Nähe kommen!«

»Du führst mich in eine Mördergrube,« sagte Tardini leise.

»Sag' lieber, in ein Feldherrnzelt, wo die Würfel der Schlachten geworfen werden. Das ist ja alles Mord, wenn das auch einen anderen Namen hat. Wir singen wenigstens kein Tedeum, wenn wir gut getroffen haben.«

Sie gingen auf und ab, um noch ungestört flüstern zu können; die anderen beratschlagten mit lauten Stimmen; einer stand als Posten vor der Türe.

»Ich liebe Männer wie dich,« sagte Lambertine, »kräftig, reif, ausgegoren; doch bisweilen hat man auch Gelüste nach unreifen Früchten, und ich wünsche oft, dieser zarte Jüngling dort, dieser Musterheld fürs Pantheon, wäre mein Sklave – wie wollt' ich ihn martern. Die römischen Damen kreuzigten bisweilen ihre Sklaven – o warum bin ich keine Römerin!«

Tardini zuckte die Achseln. Diese Petroleuse war ihm unheimlich. Solch eine Messalina, die um Jahrtausende sich verspätet hatte! Und doch hatte sie etwas Wildschönes – Schlangenhaftes, Löwenhaftes. Es waren mehrere Bestien zusammengeschmolzen zu einem schönen Weibe.

»Ist der Mann sicher?« fragte der sanfte Jüngling.

»Du frägst? Führ' ich ihn nicht ein? Er sollt' es wagen – du kennst die Petroleuse!«

Man setzte sich in der Runde um den Tisch. 358 Da wurden Reden geführt, Pläne entwickelt, welche Tardini in Staunen versetzten! Er sprach nicht mit, doch man sah es ihm an, daß er mehr Verwunderung als Begeisterung zeigte.

»Tardini,« fragte man. »Ah, das ist der Redakteur aus dem Schafstall der ›Bremse‹! Warum schleppt sie uns dies Lamm daher, das sie, wie es scheint, mit ihren Geierkrallen gepackt hat?«

»Ihr werdet bald Farbe bekennen müssen,« sagte der Jüngling; »das lauwarme Zeug, das Ihr uns vorsetzt, wirkt wie ein Vomitiv.«

»Was nützt denn eine konfiszierte Zeitschrift?« sagte Tardini, »das ist die rechte Makulatur!«

»Was nützt uns eine, welche die Hand vor den Mund hält? Sie will nur das Gähnen verbergen, zu dem ihre eigene Langweiligkeit sie zwingt. Nun, da gähnen wir alle zur Gesellschaft mit.«

Diese Genossen waren nicht nach dem Geschmack Tardinis; sie legten außerdem einen verzweifelten Mut an den Tag – und das war gerade nicht eine Charaktereigenschaft, die ihn selbst auszeichnete. Der wüste Tatendrang verstimmte ihn aufs äußerste; denn mit Taten wollte er nichts zu tun haben, höchstens einmal ein gedrucktes Verbrechen begehn.

Und dazu das gefährliche Weib, das sich seiner zu bemächtigen drohte, das eine grausame Freude empfand, wenn sie andere mit hinabzog in einen Abgrund, in Tod und Verderben! Da lag alles um ihn bald in gespenstiger, bald in blutroter Beleuchtung, und er hatte nur das eine Gefühl, er müsse sich, koste es was es wolle, von dem Druck dieser Umklammerung befreien. Im »Blauen Hecht« reifte dieser Entschluß in ihm, und beim Nachhausegehen hörte er 359 schweigend auf die wilden Phantasien der Petroleuse, welche durch die geistigen Getränke des »Blauen Hechtes« in eine erhöhte Stimmung versetzt worden war. Sie sang Verse aus der Carmagnole und Marseillaise, dazwischen Liebeserklärungen für ihren Begleiter, den sie mit verzehrenden Blicken ansah. Tardini trennte sich alsbald von ihr, als sie die Promenaden der Stadt erreicht hatten. Ihre Begleitung war ihm unheimlich, und doch ging von ihr ein dämonischer Reiz aus.

Zu Hause überdachte er seine Lage; mit Boglars hatte er gebrochen; es war auch nur ein Sklavendienst – und dazu diese minnigliche Jungfrau Anastasia mit dem sauersüßen Gesicht, hinter dem die rachlustige getäuschte Liebe lauerte. Seine italienischen Lektionen hatte er vernachlässigt; sie gaben auch einen gar zu dürftigen Ertrag. Er blätterte das Album seines Lebens durch – was war eigentlich aus ihm geworden? Glänzende Zeugnisse auf der Schule, auf der Universität, eine bequeme, einträgliche Hauslehrerstelle, das sinnlose Abenteuer mit Frau Guttmann, bei welchem er sein bescheidenes Vermögen bis auf den letzten Rest opfern mußte, und dabei wurde die junge Frau anspruchsvoll und unbequem. Sie mußten beide Stunden geben, sie waren zum geistigen Proletariat herabgesunken; da kam die russische Fürstin an die Riviera – ein Lichtblick für ihn! Frau Guttmann machte ihm Eifersuchtsszenen; er sagte sich von ihr los, und folgte als Gesellschafter als Majordomus der reichen russischen Dame nach Rom. Das waren die Tage des Glanzes! Doch die Russin hatte bei glänzenden Vorzügen eine fatale Schattenseite: sie hatte einen Gatten, und als dieser 360 nach Italien kam, da hatte die entzückende Novelle ein Ende. Der Russe verstand sich nicht auf den Boccaccio, und Tardini hatte die dunkle Erinnerung, daß er eines Tags aus dem Hause des russischen Grandseigneurs hinausgeprügelt worden sei. Kümmerlich fristete er dann sein Leben; mit seinem glänzenden Sprachtalent war er des Italienischen bald so mächtig geworden, wie ein Landeskind; er gab Stunden, übersetzte Artikelchen aus deutschen Blättern; doch das war kein regelmäßiger Verdienst – da gab es Tage bitterer Not, und er besann sich darauf, daß er damals eine Zeitlang Kellner in einem Café war, wo deutsche Künstler verkehrten, ja, daß er sogar als Modell auf der Treppe des spanischen Platzes stand, wozu ihn die Natur hinlänglich begünstigt hatte, daß er als Räuber in einer Banditengruppe oder auch als Pifferari der versagenden Phantasie eines deutschen oder italienischen Malers zu Hilfe kommen konnte. Später begleitete er einen italienischen Künstler nach Deutschland als Dolmetsch, da diesem die deutsche Sprache stets eine unüberwindliche Schwierigkeit bot, und sie zu studieren eine Arbeit schien, wie diejenige, die dem tapferen Herkules aufgetragen war. Und hier in Deutschland wurde Tardini Lehrer des Italienischen, und suchte daneben Stellung in den Kontoren der Spediteure, welche ihre Frachten nach Italien spedierten, bis er im Hause des Herrn Boglar eine sichere und einträgliche Stellung fand . . .

Und jetzt? Er mußte das Netz zerreißen, in das er sich törichterweise verstrickt hatte. Doch welchen Lichtpunkt bot ihm seine Zukunft?

Da lag ein Brief auf dem Tisch – kräftige Buchstaben – das war eine Hand, die gewiß energisch 361 zuzugreifen wußte. Er kam von Frau Wandow; sie lud ihn, wie sie es verabredet hatten, zu einer Unterredung im Häuschen auf der Flußbleiche ein. Sie war eine Feindin der Frau Guttmann gewesen, ihn aber hatte sie begünstigt, als er wie ein Marder in den Taubenschlag eingebrochen. Doch das waren alte vergessene Geschichten. Tardini hatte sich überzeugt, daß sie jetzt ihm wärmere Teilnahme entgegenbrachte; dieser Brief war ein neuer Beweis dafür.

Frau Wandow war eine gute Partie, darüber wußten Boglars genau Auskunft zu geben. Der alte Guttmann hatte sie zur Universalerbin gemacht; sein Sohn mußte sich mit einem Pflichtteil begnügen. Die künftige Besitzerin des prächtigen Gutes Schöndorf – sie sollte nicht begehrenswert sein? Das war ja ein Anker für sein steuerloses Lebensschiff!

Er hatte keine Illusionen mehr. Frau Wandow war eine etwas angejahrte Schönheit, recht sommerlich. Die Liebesfrühlinge lagen weit hinter ihr, doch auch hinter ihm. Immerhin war sie eine stattliche Frau, nicht wie Fräulein Anastasia, ein mit Bildung ausgestopftes Skelett, und die Energie ihres Wesens gab ihr einen Zug jugendlicher Frische. Alle seine Gedanken lenkten sich jetzt auf dies Weib, das er einst mit so feindseligen Augen betrachtet hatte; ob er ihre ganze Neigung gewonnen, das sollte die bevorstehende Begegnung zeigen. Er rüstete sich dafür mit der ganzen Eleganz aus, die eine winterliche Toilette zuließ; ja, er besuchte sogar einen Friseurladen, um Haar und Bart, seine männlichen Zierden, in geschmackvolle Ordnung bringen zu lassen. Auf seinem Haupte zeigte sich noch keine Tonsur, der üppige Haarwuchs war sein Stolz – hatte derselbe doch viel 362 dazu beigetragen, daß die Maler am spanischen Platz in Rom ihn zum Modell gewählt.

Als er aus dem Waggon gestiegen war, der ihn bis an die Nachbarstation von Schöndorf brachte, wanderte er mit hastigen Schritten dem unter entlaubten Bäumen ruhenden Dorfe zu, das einen sehr nüchternen Eindruck machte. Desto trostreicher war der Blick auf das Schloß, welches mit hellem Anstrich, von den Parkbäumen nicht verschattet, oben auf der Höhe blinkte. Ein Abendsonnenstrahl glitt darüber hin – war dies der goldene Lichtblick seiner Zukunft? – Fragen wollte er die Dorfbewohner nicht nach der herrschaftlichen Bleiche; er wußte, daß sie jenseits des Flusses lag; er tastete sich den Fluß entlang auf einem Fußweg, der bisweilen mit Hecken überwachsen war, bisweilen durch bäurische Gehöfte führte, bis an die Brücke. Hier hielt er Umschau. Da drüben die weite Fläche den Fluß entlang – und dort im Winkel unter Buschwerk das Häuschen, ein pavillon d'amour für die Sultanin von Schöndorf. Er konnte sich nicht irren. Die Sonne neigte sich zum Untergang; es war die festgesetzte Stunde. Er fand Frau Wandow schon dort; sie kam ihm entgegen und reichte ihm freundschaftlich die Hand. Sie hatte ein dunkles Kleid mit Pelzbesatz an; den Hut hatte sie abgenommen, er lag neben ihr auf dem Holztisch. Ihre gescheitelten noch dunklen Haare, die hohe Stirn, die scharfen, stechenden Augen, die kräftige breit sich auslegende Gestalt – das hätte für eine Semiramis oder Katharina gepaßt, und das alles mußte hier verkümmern in einem solchen ländlichen Erdenwinkel, unter der Schürze einer Wirtschafterin.

»Ich kann Sie in keinem Salon empfangen,« 363 sagte sie zu Tardini, »doch Sie wissen ja, Raum ist in der kleinsten Hütte . . . setzen Sie sich auf diesen Holzstuhl und verwickeln Sie sich nicht in die Wäscheleinen, die noch von der Decke herniederhängen. Wenn man nicht überall sein Auge hat, schleicht sich sofort Unordnung ein; das liegt dem Volk hier im Blute. Es ist alles Gesindel in der Welt, man muß es mit eiserner Faust darniederhalten.«

»Gewiß!« versetzte Tardini zögernd; denn es fiel ihm auf einmal ein, daß er Anarchist sei und daß er sich gegen solche Gewaltherrschaft empören müsse.

»Nun erzählen Sie mir einmal Ihre Reiseabenteuer mit Frau Guttmann. Das liegt zwar weit hinter Ihnen, doch dergleichen prägt sich dem Gedächtnis ein.«

Tardini berichtete genau und gewissenhaft; er versenkte sich ganz in seine Vergangenheit und schilderte seinen Liebesrausch mit den wärmsten Farben. Als er dann weiter erzählte, wie Frau Guttmann nach ihrer Scheidung ihn habe heiraten wollen und wie er dann, um dieser Ehe voll voraussichtlicher Not zu entgehen, sich der lockenden russischen Fürstin mit ihren Reichtümern zugewandt habe, sagte Frau Wandow:

»Das war nicht schön von Ihnen, ich kann solche Untreue nicht billigen. Hätte ich das voraus gewußt, wer weiß – ich wäre vielleicht liebenswürdiger gegen die arme Frau gewesen, hätte sie nicht zur Flucht gezwungen, und Ihnen, mein Herr Doktor, hätte ich in Schöndorf den Stuhl vor die Türe gesetzt.«

Sie sprach dies mit leisem Spott, zugleich im Vollgefühl ihrer Allmacht, die damals in Schöndorf gebot, ganz wie auch jetzt noch.

364 »Ich bin nicht glücklich gewesen,« fuhr sie fort, »die Freude wollte nicht einziehen in unser Haus; Guttmann gedachte allzuoft seiner Frau – ich suchte diese Erinnerungen zu übertäuben, indem ich ihm Gelegenheit bot, hübsche Mädchen und Frauen kennen zu lernen, natürlich nicht als Ehestifterin; denn ich traf eine geeignete Auswahl – das war alles keine Ware, die man in der Ehe auf Lager legen konnte.«

»Und dachten Sie nicht daran, ihn selbst zu heiraten?«

»Sollte ich, die ich Herrin war, zur Sklavin werden? Die Ehefrau ist eine Sklavin; das Gesetz macht sie dazu; Guttmann selbst wollte sich nicht binden; ihm gefiel sein freies Leben, wenn es ihm auch Kopf und Herz verwüstete. Und ich hätte ihn dann doch nicht mehr auf die Weide gelassen, sondern im Stall angekettet. Er liebte mich übrigens nicht, er fürchtete mich.«

»Sie sind zu gefährlich, Frau Wandow.«

»Nicht immer, wo ich es sein möchte,« sagte sie mit einem leisen Seufzer und vielsagendem Blick.

»Der Frieden des Hauses wurde aber durch den Sohn Edgar gestört, der mich mit seinem minorennen Hasse verfolgte. Ihn mußte ich vor allem beiseite schaffen. Es gelang mir; er hat uns in den letzten Jahren wenig mehr gestört. Nur neuerdings ist er wieder einmal aufgetaucht, doch zu spät! Guttmann verzeiht ihm niemals seine jahrelange Auflehnung gegen seinen Willen, den Trotz, womit er mir gegenübertrat. Und was der alte Herr jetzt denkt und fühlt, ist gleichgültig.«

»Sie meinen –«

»Nun ja, sein Geist ist im Verlöschen und flackert 365 nur noch ganz unstet hin und her. Er wird täglich unzurechnungsfähiger und die Ärzte machen bedenkliche Gesichter. Es wird nicht mehr lange mit ihm dauern.«

»Sie beklagen ihn?«

»Gewiß! Man muß dankbar sein. Im ganzen wird uns ja wenig Gelegenheit dazu geboten. Er hat mich zu seiner Haupterbin eingesetzt und es wird für mich ein stolzes Gefühl sein, wenn dieser schöne Besitz mir gehört.«

Tardini konnte einen Glückwunsch nicht unterdrücken, der ihm von Herzen kam.

»Man beachtet mich jetzt,« sagte Frau Wandow, »ich muß mich bisweilen im Spiegel sehen, um nicht eitel zu werden; ich weiß ja, wonach die Bewerber schielen; ich habe Bewerber, Herr Tardini . . .«

In diesem Augenblicke raschelte es im Laub, welches, von den vorgeschobenen Waldbäumen herabgeschüttelt, dicht gehäuft hinter dem Häuschen lag.

»Wer mag das sein?« sagte Maria Magdalene, das Fenster aufreißend; doch von hier ging der Blick nur seitwärts. Die Hinterwand des Häuschens war fensterlos – und vor die Türe wollte Frau Wandow nicht treten. Sie vernahm indes sich entfernende Schritte, die das Laub aufwühlten. Ein Krähenschwarm stob mit lautem Gekrächze von den Buchenwipfeln herüber auf die Wiese.

Es war fast dunkel geworden, nur ein Nachschimmer der versunkenen Sonne glomm am Westhimmel.

Frau Wandow schlug das Fenster ärgerlich zu.

»Man ist hier nirgends vor Vagabunden sicher,« sagte sie.

366 Tardini hatte sich in der Zwischenzeit zu einem kühnen Entschluß ermannt.

»Sie irren gewiß, Frau Wandow,« versetzte er, »wenn Sie allen Bewerbern um Ihre Hand nur die niedrige Absicht zutrauen, sich eines Besitzes bemächtigen zu wollen, der Ihnen mit Sicherheit zufallen muß. Da denken Sie doch zu gering von sich selbst. Sie sind begehrenswert und alles andere ist gleichgültiger Zubehör. Doch Ihr Mißtrauen muß entmutigend auf alle wirken, die sich edler Absichten bewußt sind, wenn sie Ihnen näherzutreten wünschen. Ich leugn' es nicht, ich würde selbst mich denselben anschließen, wenn die Ungunst Ihres Vorurteils mich nicht zurückschreckte.«

»Sie mißfallen mir nicht, Herr Tardini! Sie sind ein Mann von Geist. Ich bin zwar keine gelehrte Dame; doch ich kann die Flachköpfe nicht leiden. Der ländliche Kohl ist ganz gut, doch in manchen Köpfen wächst ja nichts anderes. Würden Sie sich nicht ins Deutsche zurückübersetzen, nicht wieder den Doktortitel annehmen, der Ihnen zukommt?«

»Gewiß, liebe Frau Wandow; sobald es mir irgend welchen Nutzen bringt, sobald es gewünscht wird von jemand, dessen Wünsche zu erfüllen mir Freude macht.«

»Wenn ich zu diesen gehörte – ich würde es wünschen.«

»Darf ich so kühn sein, aus diesem Wunsch für mich eine frohe Hoffnung zu schöpfen?«

»Stellen wir's der Zeit anheim . . . das bedarf der Überlegung.«

»Und darf ich nicht ein kleines Unterpfand dieser Hoffnung mit mir nehmen?«

367 Er schlang den Arm um Maria Magdalene und drückte einen Kuß auf ihre Lippen.

Da raschelte es wieder draußen im Laube. Diesmal fuhren beide erschreckt zusammen.

»Ein Liebesabenteuer,« sagte Frau Wandow, »man wird mich auslachen.«

Mich vielleicht auch, dachte Tardini, doch wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Er eilte indes an die Tür und sah sich nach allen Seiten um; ihm war's, als verschwinde hinter den Baumstämmen eine dunkle große Gestalt, eine Art von Übermensch – war es der Vexierspiegel des Schrecks, der diese Gestalt so in die Höhe zerrte?

»Wir haben hier im Dorfe ein paar Bauern, welche Flügelmänner bei der Garde waren,« sagte Frau Wandow, »ich glaube, sie sind ganz zufällig auf dem Fußpfad hinter dem Häuschen vorbeigegangen. Diebsgesindel findet hier nichts.«

»Und doch,« versetzte Tardini scherzend, »man kann sich hier einen Kuß stehlen.«

Maria Magdalene drohte wie ein schalkhaftes Mädchen mit dem Zeigefinger.

»Und wann kann ich wiederkommen?«

»Heute über acht Tage, um dieselbe Stunde, an demselben Orte. Es gibt Entschlüsse, die wie Lagerobst reifen müssen. Es dauert vielleicht länger als acht Tage, doch man kann ja nachsehen.«

Sie trennten sich mit einem warmen Händedruck. Tardini tastete sich mit Hilfe eines Taschenlaternchens den Weg am anderen Ufer, den er gekommen war, zurück. Die Hunde schlugen in den Gehöften an und er fuhr zurück, wie ein Strolch, der ein böses Gewissen hat, weil er irgendwo eingebrochen ist und 368 jetzt seinen Raub in Sicherheit bringen will; auf dem Weg durch die Hecken aber zerfetzten ihm die Dornen die Kleider; seine Laterne war verloschen, und er geriet oft in die Sträucher hinein, die ihn links mit Ruten peitschten und rechts mit ihren Dornen festzuhalten suchten. Er kam sich vor, als wäre er zum Spießrutenlaufen verurteilt; doch was war dies kleine Leid im Vergleich mit den frohen Aussichten, welche ihm jetzt die Zukunft bot? Im Wartezimmer des kleinen Bahnhofs, den er endlich glücklich erreicht hatte, dachte er mit Ruhe darüber nach; es lag wie heller Sonnenschein auf allen seinen Lebenswegen.

Frau Wandow schritt den Hügel aufwärts nach dem Schlosse zu. Es hatte lange nicht geregnet; der Staub lag dick auf der Straße und puderte die Bäume am Wege.

Da kam eine dichte Staubwolke hinter ihr her, die sie fast ganz verhüllte. Rosseshufe wirbelten ihn empor, und aus der Wolke löste sich ein wilder Rappe los und ein stürmischer Reiter.

»Bist des Teufels, Thomas Wickel?« rief sie dem Inspektor zu.

»O man möchte oft des Teufels werden,« rief er vom hohen Pferd herab, »es ist so viel Kroppzeug in der Welt.«

»Das ist doch nichts Neues, Tom.«

»Sehr viel Staub heute – ich bin nicht schuld daran! Ein Regenguß möchte ihn löschen, ein Wetter dreinschlagen.«

Er hielt sein Pferd einen Augenblick an, und faßte Frau Wandow ins Auge, so weit es der verfliegende Staub zuließ.

»O man sollt' es nicht glauben, man sollt' es 369 nicht glauben,« rief er dann, und gab seinem Roß die Sporen, indem er durchs Hoftor sprengte. Kopfschüttelnd folgte ihm Maria Magdalene.

 


 


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