Rudolf von Gottschall
Parasiten
Rudolf von Gottschall

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Sechstes Kapitel

Wie viele liebende Paare sind in den Olivenhainen von Bordighera gewandert oder unter den Palmen Scheffels! Wie viele haben dem Wogenschlag an den Felsen von Ampeglio gelauscht, oder haben von der Höhe der neuen Römerstraße den entzückenden Ausblick auf das von zwei Vorgebirgen 310 eingerahmte Rundgemälde genossen, in welchem in anmutigem Wechsel sich Land und Meer, das alte Felsennest Bordighera, die neuen Villen und Hotels mit ihren Prachtgärten ablösten.

Doch ein glücklicheres Paar ist nie am gesegneten Strande der Riviera gewandelt, als jene beiden, die dort Arm in Arm einherschreiten in der Strada Romana, die dort beisammensitzen auf der Höhe von Ampeglio.

Mater dolorosa – in wie vielen Kirchen und Kapellen und Heiligenbildern, die an den Wegen stehen, hat die Christenheit seit Jahrhunderten dein schmerzentstelltes Antlitz gesehen, und emporschauend zu der Dulderin erkannt, daß der Schmerz der Mutter der größte Schmerz auf Erden ist; doch auch die Freude der Mutter ist größer als andere Erdenfreuden. Das ist die Verklärung, die aus den Zügen der Gebenedeiten auf allen Gnadenbildern spricht, die sie uns zeigen mit dem Jesuskindlein im Arm; doch selig ist auch die Mutter, die ihren Sohn nach Jahrzehnten wiederfindet, unverhofft, einen Sohn, der ihren Fehl verziehen hat und sie mit inniger Liebe umgibt.

Mrs. Bower und Edgar hatten sich viel zu erzählen! Welch freudiger Stolz blickte aus den Augen der noch immer anmutigen Mutter, wenn sie an dem Arm des jungen Herrn einherschritt, der hoch und schlank mit seinen schön geschnittenen Zügen, seinem sympathischen Wesen die Augen aller Frauen auf sich lenkte, an denen er vorüberging – und es war ihr Sohn. Die Braut ist stolz auf den Bräutigam, die Gattin auf den Gatten – aber höherer Art ist der Stolz der Mutter auf den Sohn! Jene rühmen sich 311 der glücklichen Wahl, diese des himmlischen Geschenkes, das aus ihrem eigensten Wesen hervorgegangen.

Alles, was sie erlebt, was sie verschuldet und gelitten hatte, erzählte die Mutter; da erfuhr Edgar auch zuerst den Namen des Mannes, der sie aus dem Kreise der Ihrigen entführt hatte. Es war der Hauslehrer von Sonsdorf, von einem Nachbargute, ein Doktor Steger. Hier in Bordighera hatte er sie verlassen, um einer reichen russischen Fürstin nachzuabenteuern, der er nach Rom folgte. Sie hatte seitdem nichts wieder von ihm gehört; ihm fehlte es nicht an blendenden Eigenschaften, er war ebenso geistreich wie gewissenlos, und sie, in Verzweiflung über die unwürdige Stellung, die sie im Hause des eigenen Gatten einnahm, war ihm in die weite Welt gefolgt, ziellos und lange Zeit reuelos. Nur daß sie den geliebten Sohn so verlassen hatte, das war der Stachel, der sie quälte, und wurde ihr immer mehr zu einer jener Unbegreiflichkeiten, wie sie ein späterer Rückblick in unserem eigenen Leben entdeckt.

Doch in diesen Augenblicken seligen Zusammenseins war das alles vergessen.

Edgar erzählte seine Erlebnisse, seine Reisen, seine Zukunftspläne; er verschwieg ihr auch nicht seine Liebe zu Ella, seine schönen Lebenshoffnungen. Es war ja die Mutter, der er alles beichten konnte. Welche Erleichterung für ein beklommenes Herz, das hier auf ein so unbegrenztes Mitgefühl rechnen durfte!

Er wollte zurückkehren, um ihr die Stätte zu bereiten. Er dachte an eine Aussöhnung mit dem Vater, die leider an Wert verlor, da sich immer mehr die Zeichen geistiger Verwirrtheit bei ihm einstellten; 312 er hoffte, daß Mrs. Bower, die Witwe eines angesehenen englischen Kaufmannes, deren Jugendsünde weit hinter ihr lag, ein längst vergessenes Abenteuer, sich die ihr zukommende Stellung in der Gesellschaft erobern werde; er glaubte, daß sie als seine Mutter überall Zutritt finden müsse; er wollte Schildwache stehen vor ihrer Ehre und jede Kränkung derselben abwehren.

Solche Zuversicht im Herzen schied er von der geliebten Mutter, deren anmutiges Wesen es ihm angetan hatte, die noch so jugendlich erschien, trotz des leisen vergrämten Zugs, der sich bisweilen in ihren Mundwinkeln, unter ihren Augen abzeichnete. Es gibt Naturen, denen das Alter nichts anhaben kann; es markiert sie nur, wie der Forstmann die zum Abhauen bestimmten Bäume; aber noch rauschen ihre Wipfel in vollem Laubschmuck und Vogelgesang tönt aus ihrem Gezweig.

Edgar hatte Fräulein Lietner ersucht, bei Ella vorzusprechen und ihr alles zu erzählen, was sie von seiner Mutter wußte. Einen besseren Anwalt und wärmere Fürsprache glaubte er nicht finden zu können. Und Hannchen hatte sich diesem Auftrag gern unterzogen. Die beiden Mädchen fanden Gefallen aneinander; freilich! Ella sah in der älteren Besucherin von Hause aus, trotz ihrer Sprachkunde, nur ein Naturkind von großer Unbefangenheit und geringer Menschenkenntnis, voll überquellender Lebenslust. Doch diese war sehr gedämpft, da sich ihre Hoffnungen trügerisch erwiesen hatten. Sie hatte den Baron von Perling für einen Ehrenmann gehalten, der ernste Absichten auf sie und ihre Hand hatte; Perling sah in ihr nur eine leichte Beute. Nach einer stürmischen 313 Szene, in welcher Hannchen die Leidenschaftlichkeit des Barons in ihre Schranken verwies und gleichsam das Gespenst des Standesamts heraufbeschwor, das auf Perling stets einen unheimlichen Eindruck machte, wurden die Beziehungen zwischen den beiden sehr kühl.

Desto glühender war die Eifersucht der Frau Lobach geworden, die, so oft sie auch bei dem Baron klingeln mochte, doch stets einer wachsenden Gleichgültigkeit, demselben entschiedenen Protest gegen ihre Scheidungsklage und dem Grabesschweigen über die von ihr ersehnte Zukunft begegnete. Da war ein anderes Weib im Spiele – und ihr Verdacht fiel immer mehr auf Hannchen Lietner, welche einige jener Eigenschaften besaß, die sie als gefährliche Anlockungen zum Verbrechen bezeichnete: üppige Formen, eine herausfordernde Sinnlichkeit und ein Lächeln, das alle sittlichen Grundsätze zu verspotten schien. Das war bei einem solchen jungen Ding geradezu empörend; bei einer erfahrenen Frau mußte man freilich ganz andere Maßstäbe anlegen.

Hannchen las mit der Frau Spange den »deutschen Alkibiades« von Cramer; »Die Löwenritter« von Spieß hatte sie eben beiseite gelegt; da fuhr wie ein Sturmwind Frau Lobach ins Zimmer. Hannchen erstarb das Wort auf den Lippen und die schönste Heldentat des »deutschen Alkibiades« blieb ungelesen. Die Vorleserin wußte, wie unangenehm sie der Frau Geheimrat war und sie räumte stets in aller Eile das Feld.

»Die Person mußt du fortschaffen!« sagte Frau Lobach.

»Doch sie ist mir unentbehrlich.«

314 »Wegen deiner Lektüre? Ich verschaffe dir einen alten Magister, der ebenso gut liest. Solch eine Schlange im Hause . . . Du hast doch einen Mann!«

»Allerdings!«

»Er ist freilich so viel im Klub; er wird sie gar nicht näher angesehen haben. Sobald er sie aber näher ansieht, könnte der Skandal fertig sein!«

»Der Skandal? Welcher Skandal?«

»Nun, du wirst es ja erleben! Wenn man sich nicht mit unansehnlichen und häßlichen Frauenzimmern umgibt, da hat man bald die Bescherung!«

»Nun, es gibt auch anderen Skandal in der Ehe,« versetzte Frau Spange, die bisweilen eine spitzige Bemerkung nicht unterdrücken konnte.

»Ja, er hat mich wieder gepufft und geknufft; da ich wegen Mißhandlungen geklagt hätte, so wollte er noch etwas zugeben. Es käme auf eins heraus, das würde nicht so genau gezählt, und er hätte doch noch sein Vergnügen dabei. Der Elende!«

Frau Spange lächelte.

»Dergleichen kann mir nicht begegnen.«

»Ja, du hast auch eine Schlafmütze von Mann; da ist mir doch ein Ungeheuer wie der meinige noch lieber. Doch, was dein Fräulein betrifft, schicke sie fort!«

»Sie hat kein Verhältnis mit meinem Mann; Du lieber Gott! Davor bin ich sicher. Der hat keinen Sinn für die Liebe, das weiß ich am besten. Die Lietner macht mir keinen Kummer; sie verursacht mir nur etwas Neugierde; denn sie hat öfters Briefchen erhalten, die, wie unser Mädchen sagt, ganz wie Liebesbriefe aussahen. Und die versteht sich darauf, obschon ihr Unteroffizier ihr nur auf Packpapier 315 schreibt. Da hab' ich denn einmal den Papierkorb der Lietner durchgestöbert; sie ist unvorsichtig genug; sie zerreißt alles, statt es zu verbrennen.«

»Eine unsittliche Person – sie renommiert wohl noch mit den Fetzen ihres Liebesglücks! Dergleichen verbrennt man zu Asche.«

»Aus den Stückchen Papier läßt sich nicht viel herauslesen; das Zusammensetzspiel war mir zu langweilig! Nur zweimal las ich auf den Stückchen den Namen Perling – und einmal stand dabei etwas von inniger Liebe gekritzelt. Das ist ganz harmlos. Das ist der Freund des Kommerzienrats Sauber, der sie hierher empfohlen hat.«

Jetzt fuhr die Lobach auf wie eine gereizte Furie.

»Harmlos – harmlos! Das ist eine Liaison, eine strafbare Liaison. Und ein solches Weib duldest du in deinem Hause? Siehst du denn nicht, daß sie dich kompromittiert? Sie ist nur seinetwegen hierhergekommen; er hat sich sein Liebchen herbestellt! Und du gibst nur den Deckmantel her. Der neue Alkibiades . . . der Löwenritter – an ihn denkt sie nur, wenn sie dir dies Zeug vorliest; du bist nur die Kupplerin, ohne Wissen und Wollen freilich; doch du bist's! Ich bitte dich, ich beschwöre dich – jage sie fort, noch heute womöglich! Bei unserer Freundschaft – ich kann nicht in ein Haus kommen, wo eine solche Abenteurerin ihr Wesen treibt. Man hat doch auch seine Grundsätze!«

Frau Spange sah ihre Freundin erstaunt an.

»Das ist doch nichts so Aufregendes! Liebschaften sind ja das Alltäglichste! Und es ist nichts vorgekommen, was Anstoß erregen könnte!«

»Man hat dich betrogen, das empört mich! Fort 316 mit dem Mädchen! Sonst siehst du mich hier nicht wieder bei dir!«

»Nun, wenn dir so viel daran liegt – ich begreife zwar nicht! Meinetwegen . . . nun, ich finde auch eine andere; doch mein Mann wird sich wundern.«

»Siehst du, siehst du –«

»Nur weil ich so zufrieden bin mit dieser Gesellschafterin und es ihm oft gesagt habe.«

»Sag' ihm, was du willst – sag' ihm, sie habe silberne Löffel gestohlen; nur fort muß sie, fort um jeden Preis! Wenn ich wiederkomme, hoffe ich, wird die Luft rein sein.«

Während sich hier das Unwetter über der armen Lietner zusammenzog, war auch Perling selbst in bedrohter und bedrängter Lage. Die Gläubiger rotteten sich zusammen. Die Berichte von den Gütern lauteten höchst ungünstig; überall schloß die »unverschleierte« Bilanz mit einem Defizit ab. Eusebius begrüßte ihn auf der Straße mit einem verschmitzten Lächeln, als wollte er sagen, bald lege ich die Hand auf dich, und schlimmer noch war's, wenn die wildgewordene Frau Lobach die Hand auf ihn legte, um ihn an den Traualtar zu schleppen.

Da gab es nur eine Abwehr . . . die Heirat mit Ella, durch deren Reichtum er die Gläubiger von sich abschütteln konnte, während das fait accompli dieser Ehe die aufdringlichen Heiratskandidatinnen fernhalten mußte.

Er konnte jetzt nicht länger warten auf die langsamen Wirkungen des Giftes, das er dem Mädchen eingeflößt; er war überzeugt, daß es in der Stille 317 schon ihre törichte Neigung zerstört, ihren Widerspruch gelähmt haben würde.

»Baron Perling wird morgen kommen und um deine Hand anhalten,« sagte Frau Schweiger zu ihrer Tochter, »du hast keinen anderen Bewerber, der vor meinen Augen Gnade finden würde. Es ist eine annehmbare Partie und du kannst sein Wappen vergolden. Dem Adel gebührt der Reichtum, dem Reichtum der Adel. Vereinigt sind beide stark genug, dem Ansturm des Pöbels standzuhalten.«

»Du kennst meine Ansichten,« sagte Ella.

»Und du kennst die meinen,« versetzte die Mutter; »ich werde neu aufleben, wenn ein geistvoller Kavalier unserer Familie angehört. Du wirst den Frieden unseres Hauses nicht durch Eigensinn und Trotz gefährden. Überleg' es wohl, es steht viel auf dem Spiele. Ich habe auch die Macht in Händen, ungehorsame Auflehnung zu bestrafen; gering ist dein väterliches Erbe. Du weißt, daß du von mir einst Reichtümer zu erwarten hast, die ich aber auch versagen kann. Einer liebenden Tochter alles, einer Tochter, die mich kränkt und mir Gram bereitet, nur den Pflichtteil! Mit dieser Waffe hat uns das Gesetz ausgerüstet; wir sind nicht wehrlos gegenüber undankbaren Kindern.«

Für diese Drohung hatte Ella nur ein leises Achselzucken.

»Du magst tun, was dir gut dünkt,« sagte sie und verließ das Zimmer.

Als sie oben in ihrer bei aller Eleganz traulichen Giebelstube angekommen war, setzte sie sich nachdenklich auf das Sofa. Gleichgültig war ihr der Bruch mit der Mutter nicht und doch schien er 318 unvermeidlich. Die unverwüstlich heitere Lebensanschauung der Mutter durch solchen Widerspruch trüben zu müssen, erschien ihr fast wie ein Verbrechen. Hatte sie doch durch ihre Anmut, ihre Jugendlichkeit, ihre Lebenslust ein Recht darauf, alles Gute und Schöne, was diese Welt zu bieten vermag, fröhlich zu genießen. Und hatte die Tochter nicht die Pflicht, alles von ihr fernzuhalten, was diesen Genuß stören könnte? Es kam fast wie eine wehmütige Rührung über sie, wenn sie so der Mutter gedachte, die in ihrem Denken und Empfinden noch so jugendlich war, jugendlicher fast als ihre Töchter, und die sich ihren einsamen Witwenstand so gern mit heiterem und glänzendem Verkehr schmückte.

Als sie so in Gedanken verloren dasaß, klopfte es an der Tür und Hannchen Lietner trat herein.

»Leider,« sagte sie, »habe ich von Bordighera keine günstigen Nachrichten! Meine Freundin ist erkrankt. Die freudige Aufregung, die sie beim Wiedersehen des so lange von ihr getrennten Sohnes empfand, vielleicht eine dazu kommende Erkältung; sie ist bettlägerig und sehnt sich nach mir, und wie gern möcht' ich hin, um sie zu pflegen.«

»Doch Ihre Stellung bei der Kommerzienrätin hier –«

»Gewiß . . . ich möchte sie nicht aufgeben. Und doch – ich weiß nicht, was ich gesündigt haben muß: es scheint fast, als wäre man meiner überdrüssig! Einige Andeutungen der sonst recht gutmütigen Dame lassen mich vermuten, daß sie mich forthaben will. Sie ist sehr zaghaft und es kommt dazu, daß wir den Rinaldini von Vulpius noch nicht zu Ende gelesen haben. Ehe das Geschick dieses tapferen 319 Räuberhauptmannes entschieden ist, wird sie sich schwer von mir trennen. Dann aber fürchte ich, wird sie nach allen Plänkeleien einmal mit schwerem Geschütz vorrücken – und ich bin entlassen.«

»Ich begreife aber nicht, was sie auf einmal so umgestimmt hat. Mein Onkel sagte mir doch, daß sie sehr mit Ihnen zufrieden sei.«

»Ich begreife es ebensowenig,« sagte die Gesellschafterin; »doch besitze ich Takt genug, um jene Andeutungen zu verstehen, und ich würde meine Stellung schon gekündigt haben, wenn mich nicht noch etwas anderes hier festhielte.«

»Eine Herzensneigung?«

»Sie haben es erraten! Doch auch hier ist manches ins Schwanken gekommen – und ich ringe danach, mir Klarheit zu verschaffen.«

»Und wer ist's, der Sie hier fesselt?«

»Derjenige, der mich hierher empfohlen hat.«

»O ich besinne mich . . . wohl Baron Perling?«

»Ja! Ich lernte ihn in Bordighera kennen.«

Ella erhob sich, ging eine Zeitlang im Zimmer auf und ab; dann reichte sie der Besucherin die Hand.

»Ein Vertrauen ist des anderen wert! Ich kann Ihnen die Klarheit geben, nach der Sie sich sehnen; Baron Perling hat bei meiner Mutter um meine Hand angehalten!«

Hannchen wurde totenbleich:

»Und Sie wollen . . .«

»Ich raube Ihnen den Baron nicht! Das kann ich Ihnen feierlichst geloben!«

Hannchen bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und rief laut schluchzend:

»Er hat mich betrogen.« Und nach einer Pause 320 fügte sie hinzu: »Jetzt ist alles aus . . . Jetzt kann ich nach Bordighera reisen.«

Und weinend und schluchzend nahm sie Abschied von Ella.

Es war ein trüber Abend; Regengewölk hing am Himmel, und wo es niederplätscherte, nahm es die letzten welken Blätter von den Bäumen. Berta war aus einem Tanzkränzchen gekommen; Stuhl, Tisch und Kommode waren mit den Orden und Ehrenzeichen bedeckt, die sie mit nach Hause gebracht. Sie war stets die Ballkönigin, denn sie war ein hübsches Mädchen und eine gute Partie, und sie hatte außerdem ihre zahlreichen Verehrer als ein schlauer Kobold. Jetzt schlief sie fest und träumte – nicht von Leutnant Zitzewitz und den anderen, die sie so unermüdlich dekoriert hatten, sondern von dem jungen Philosophen, der nie auf einen Ball kam, dem aber die absonderlichsten Gedanken durch den Kopf tanzten.

Ella konnte kein Auge schließen; Mitternacht war vorüber; sie öffnete das Fenster; die frische, regenfeuchte Luft erquickte sie. Der Mond war aufgegangen; das Gewölk zerstreute sich; wo sich der Nachthimmel zeigte, war er von seltener Klarheit, als wäre alles Trübe, das ihn verdeckt hatte, niedergeregnet, und nichts übrig geblieben als der geläuterte Äther, der wie eine Glasglocke die ungezählten Brillanten der Sternenkrone umfing. Der Schlag der mitternächtlichen Glocken war längst verhallt; mit jener Ungenauigkeit, die allem Irdischen eigen, auch der von den Menschen bestimmten Zeit, schlug bald die nächste Kirchenuhr, bald die fernere die Viertelstunde an, und auch der eine Schlag, der die nächste 321 abgelaufene Stunde verkündete, wurde von den Kirchenuhren, sowohl der alleinseligmachenden, als auch den ketzerischen, gleichsam in eine Reihe von Schlägen zerlegt. Die Schläge des Herzens verstummen einmal, aber der Glockenschlag der Zeit setzt sich ins Unendliche fort.

Die Giebelstube der Töchter war über den Gemächern der Mutter; von diesen führte ein kleiner Seitengang zu einer Türe, von welcher ein Treppchen in den Garten hinabging.

Rings herrschte tiefe Stille; nur das ferne Rollen eines Bahnzugs unterbrach sie, und der Gang einer Patrouille draußen, die von einer Torwache nach der anderen marschierte.

Da hörte Ella, wie unten das kleine Türchen aufgeschlossen wurde, leise, vorsichtig, und wieder zugemacht, als würde es angelehnt. Die Treppe hinunter huschte eine dunkle Gestalt, und eilte einer unter Hecken verborgenen Nebentür des Gartens zu.

Ella erschrak . . . es war kein Dieb, kein Einbrecher, kein Gespenst; es war der Baron Perling, der von ihrer Mutter kam. Sie sah näher hin; sie konnte sich nicht irren. Schon drehte sich ganz leise der Schlüssel im Schloß des grünbewachsenen Gartenpförtchens um.

Das war wie ein Blitz, der durch schwarzes Nachtgewölk fährt und es unheimlich erhellt . . . Ella empfand es wie einen schmerzhaften Riß, der durch ihr ganzes Leben ging.

Sie stand wie betäubt, wie vernichtet.

Dann aber faßte sie einen raschen Entschluß.

Berta schlief so ruhig und tief, daß sie nicht bemerkte, wie Ella alle Schrank- und Kommodentüren 322 aufriß, wie sie den Koffer aus dem Vorsaal hervorholte und die ganze Nacht kramte und packte.

Noch in der Dunkelheit stieg sie die Treppe hinunter, schlich sich in den Stall, weckte den Kutscher und ließ anspannen, in möglichster Stille, um die Hausbewohner nicht zu wecken.

Sie küßte die noch schlummernde Berta – mochte diese von einem Leutnantskuß hinter den Vorhängen einer Fensternische träumen! Dann glitt sie im Reisemantel die Treppe hinunter.

Trotz aller Vorsicht des Kutschers stampften die Hufe der Pferde das Pflaster. Kaum konnte sie der Kutscher zügeln; sie hatten tagelang im Stall gestanden; sie stürmten übermütig hinaus und der Wagen rasselte dröhnend durch den Torweg.

Sidonie Schweiger rieb sich die Augen. Das konnte nur ein Traum sein oder irgend ein nach dem Frühzug fahrender Hotelwagen. Ärgerlich über die Störung wandte sie sich nach der anderen Seite um; das Zimmer war ja leer, aber im Traum lag sie bald wieder in den Armen des Geliebten.

Ella war nach dem Schlosse des Onkels gefahren, der aber selbst abwesend war; er hatte sich mit einer Deputation der Handelskammer zum Minister in die Residenz begeben.

Sie ließ sich Feder und Tinte geben und schrieb in aller Eile zwei Briefe:

Der erste war an die Mutter gerichtet; sie ergreife die Flucht vor einer Werbung des Barons von Perling, der sie stets habe aus dem Wege gehen wollen, die ihr aber jetzt, infolge eines bösen Traums, als ein Frevel und ein Verbrechen erscheine.

Um vor jeder Verfolgung sicher zu sein, werde sie 323 erst später der Mutter ihren Aufenthaltsort mitteilen.

An Fräulein Lietner aber schrieb sie, daß sie dringend um ihre Begleitung bei einer Reise nach dem Süden bitte; sie wolle mit ihr zusammen in Bordighera die Mutter des Doktor Guttmann pflegen. Im Bahnhofshotel der nächsten Eisenbahnstation erwarte sie die Begleiterin, welche umgehend mit ihr die Reise antreten möge.

Hannchen hatte kaum den Brief erhalten, als sie sich reisefertig machte. Der Abschied wurde ihr nicht schwer gemacht. Der Kommerzienrätin tat es leid um ihre Vorleserin, doch der leidenschaftlichen Frau Lobach, vor der sie eine gewisse Angst hatte, konnte sie ja jetzt mit beruhigtem Gewissen entgegentreten.

Schon am Tage darauf saßen die beiden jungen Damen im Waggon, und die schnaubende Lokomotive trug sie aus dem frostigen Spätherbst den Frühlingsgefilden der Riviera zu. 324

 


 


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