Rudolf von Gottschall
Parasiten
Rudolf von Gottschall

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Drittes Kapitel

Schon zum zweiten Male machte Edgar der Försterswitwe und dem kleinen Suschen seinen Besuch. Am letzten Abend traf er Kurt nicht; er händigte dem Mädchen die Unterstützungsgelder aus, die er wieder flott gemacht hatte, und plauderte lange Zeit mit ihr. Er freute sich über das harmlose Kind und las in ihrer Seele wie in einem offenen Buch. Natürlich erzählte sie ihm viel von Kurt, und er wünschte lebhaft, ihn kennen zu lernen. War das eine annehmbare Zukunft für das gute, hübsche Kind? Davon wollte er sich selbst überzeugen – und deshalb kam er wieder. Kurt selbst erschien ja alle Tage und war neulich nur durch ein Sängerfest verhindert worden.

Suschen hatte zu Edgar volles Vertrauen gewonnen, und doch sah sie der Begegnung des neuen und des alten Freundes nicht ohne Herzklopfen entgegen. Sie hatte Kurt von ihrem Schießversuch und auch von dem ersten Besuch Edgars erzählt; doch waren diese Mitteilungen nicht mit sonderlicher Freude aufgenommen worden; auch daß Edgar Suschen Geld gebracht und wieder in Aussicht gestellt, machte ihn mißtrauisch; sie beteuerte zwar, daß das Geld nicht aus seiner Tasche komme, sondern aus derselben Quelle, aus der es zwei Jahrzehnte geflossen und die nur wieder flüssig gemacht worden sei. Das brauchte Kurt ja nicht zu glauben, wenn er nicht wollte – und er wollte nicht. Er wußte, daß über Suschens Geburt ein Dunkel schwebte. Die Mutter war tot, und es kümmerte ihn nicht, wie er sich 258 scherzhaft ausdrückte, ob der Vater je gelebt habe. Doch dieser fremde, nach der Beschreibung sehr elegante Herr, der noch jung an Jahren war, hatte damit nichts zu tun, und er mischte sich in Dinge, die ihn nichts angingen. Er hörte von seiner Weltreise. Wenn er doch dort geblieben wäre, wo der Pfeffer wächst; er muß wohl in die Nähe gekommen sein. Suschen war peinlich davon berührt, daß Kurt durch ihre Mitteilungen verstimmt wurde, und fürchtete eine feindliche Begegnung der beiden, wenn sie zusammentreffen sollten.

Die Frau Försterin hatte im Freien einen Kaffeetisch gedeckt, unter einem hohen, schattigen Lindenbaum, in dem umzäunten Garten des Forsthauses. In der Nähe summten ein paar Bienenkörbe, und hinter dem Holunderstrauch, der über den Zaun hinüberhing, stand lauschend eine Grünjacke, der Waldläufer Schaßler. Durch einen besonderen Glücksfall war er gerade bei der Frau Förster eingekehrt, als Doktor Guttmann seinen ersten Besuch machte, und er hatte allerlei mit angesehen, was er berichten konnte, und was er nicht selbst gesehen, das erzählte ihm die Frau Försterin. Daß das Mädchen von Doktor Guttmann Geld erhalten, war eine unleugbare Tatsache, und genäht hatte sie doch nichts für ihn, darüber war sich Schaßler ganz im klaren; dergleichen wird durch die Wirtschafterin besorgt. Der heutige Besuch des Doktors war vorher angemeldet worden; die Mutter Kurts hatte kein Hehl daraus gemacht – und so befand sich Schaßler rechtzeitig auf seinem Posten.

Die Frau Försterin war eine praktische Frau. Es war eine Tat der Menschenfreundlichkeit, daß sie 259 das Mädchen bei sich aufnahm, dessen traurige Lage ihr Kurt geschildert. Sie hatte Suschen lieb gewonnen und war ganz darüber beruhigt, daß es sich nicht um ein unerlaubtes Liebesverhältnis handle. Doch wenn der Junge vielleicht ernste Absichten haben sollte – dagegen mußte sie einschreiten. Ihr Kurt war eben ein Genie, und er mußte etwas Großes heiraten, eine Gräfin oder sonst eine reiche Erbin. Sie war daher nicht mißvergnügt darüber, daß sich ein Herr eingefunden, ein Jagdgast des Kommerzienrats, der sich für das Mädchen interessierte, der für sie sorgen wollte. Und vor dem Golde hatte sie tiefen Respekt; man mag noch so tief im Walde wohnen, unter Blumen und Vögeln, das Klimpern des Geldes wirkt auch auf die harmlosesten Gemüter. Daß aber der gute Kurt seinen spärlichen Erwerb dem Mädchen opferte, das wollte ihr nicht in den Sinn, und sie freute sich darüber, daß jetzt ein vermögender Herr diese Sorge übernommen hatte.

Suschen sah mit ihrer blauen Schürze, dem weißen Umschlagkragen und dem rosa Bändchen im aschblonden Haar ganz anmutig aus – und selbst der Waldläufer hinter dem Holunderbusch konnte sich diesem Eindruck nicht verschließen. Er dachte einen Augenblick daran, ob er nicht selbst als Bewerber auftreten könnte. Das Mädchen hatte ja nichts und war ja nichts; sie paßten also recht gut zusammen, und zu dem vornehmen Herrn paßte sie gar nicht. Die pflückten wohl mal Brombeeren im Walde, aber sie brachten dieselben nicht nach Hause.

Edgar kam, von der Frau Försterin mit Knixen begrüßt; sie eilte sogleich fort, um Suschen zu rufen und den Kaffee zurecht zu machen. Edgar strich dem 260 Mädchen über das aschblonde Haar und drückte einen Kuß auf seine Stirne. Das genügte Schaßler zu seiner Berichterstattung; das weitere konnte er sich denken, und da er gerade für einen Dohnenstrich zu sorgen hatte, so ging er getrost von dannen, er hatte ja hier die zwei Vögel auch in seinen Schlingen gefangen.

Suschen schmiegte sich zutraulich an ihren Beschützer – auch das sah Schaßler noch von der Waldecke aus, die sich nach dem Förstergarten zu vorschob. Es war ein naives Dankes- und Freundschaftsgefühl, dem sich Suschen unbedenklich hingab; sie liebte ja ihren Kurt und dieser selbst werde sich bald überzeugen, welch ein prächtiger Herr ihr neuer Beschützer sei.

Edgar erklärte ihr, daß sie jetzt, wo bald die rauheren Tage kommen, ihre Ferien im Forsthause abbrechen und wieder in der Stadt zur Nadel greifen müsse, schon um das Bewußtsein einer nützlichen Tätigkeit zu haben; denn bei der Unterstützung, die ihr jetzt wieder zuteil werde, brauche sie sich nicht zu überarbeiten oder unwillkommene Aufträge zu übernehmen. Er habe ihr bereits in einem Vorort ein freundliches Zimmer gemietet, hell, gesund, mit dem Blick auf Gärten und schattige Anlagen.

Sie dankte ihm herzlich und war gerührt von seiner Güte.

Inzwischen brachte die Försterin den Kaffee herein und bald darauf erschien auch Kurt, welcher Herrn Doktor Guttmann höflich grüßte, da er ja hier der Sohn des Hauses war, doch mit jener reservierten Haltung, welche die Studenten zweier feindseliger Couleurs einander gegenüber beobachten. Auch gegen 261 Suschen war Kurt zurückhaltend; er hatte ja in Anwesenheit eines Fremden kein Recht auf Vertraulichkeit. Edgar beobachtete den jungen Mann und studierte seine Gesichtszüge, indem er nach den Angaben von Lavater und Carus daraus seinen Charakter zu entziffern suchte; er hätte am liebsten auch seinen Schädel untersucht nach den Theorien von Gall, der neuerdings wieder mehr zu Ehren gekommen ist, seitdem man in dem rätselhaften Gehirn gesonderte geistige Provinzen entdeckt hat.

So wenig aufdringlich Edgar auch seine Untersuchungen anstellte, so hatte Kurt doch das peinliche Gefühl, daß er unter die Lupe genommen werde, und er fühlte sich unbehaglich, um so mehr, als er nicht wußte, ob er es nicht mit einem Nebenbuhler zu tun habe. Und er fühlte bei diesem Herrn eine geistige Überlegenheit heraus, die ihm bedrückend auf die Nerven fiel.

»Sie sind Künstler?« fragte Edgar.

»Künstler – ja, ich sage es mit Stolz, Jünger einer Kunst, die ich von allen am höchsten stelle.«

Und in seinen lehrhaften Ton verfallend, fügte er hinzu:

»Die Musik hat nichts Greifbares, nichts Faßbares, wie die anderen Künste; selbst die Poesie braucht noch das Wort, und das Wort kann ebenso gemein, wie erhaben sein. In der Musik erzittert die innerste Seele des Alls; sie regt sich in den Schallwellen, welche die Tonkunst ebben und fluten läßt.«

Das klang sehr schwülstig; doch es war nicht ohne Sinn, und man konnte an Schopenhauer denken. Irgend ein begeisterter Harmonielehrer mochte seinen Schülern diese Anschauung vermittelt haben.

262 »Und welche Instrumente spielen Sie?« fragte Edgar.

»Flöte und Violine!«

»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft?«

»Sehr bescheiden, mein Herr – wenigstens zunächst! Ich habe jetzt ausgelernt, gebe Stunden, komponiere, schreibe Kompositionen in andere Tonlagen um, wirke auch hier und dort in einem Orchester mit; doch ich bin zu sehr ein freier Jünger meiner Kunst, um mich in die vollständige Sklaverei eines Orchesters zu geben. Ich verdiene mir mein täglich Brot; das ist freilich ein Erfolg, den die Kunst mit dem Handwerk gemein hat. Doch der Fernblick in die schöne Zukunft – den hat nur sie. Kapellmeister eines großen Theaters, Komponist großer Opern – o da kann man es auch zu Bildsäulen bringen.«

»Lassen wir zunächst die Bildhauer aus dem Spiel! Es ist schön von Ihnen, daß Sie fleißig arbeiten, um sich ehrenvoll durch die Welt durchzuschlagen, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mit Ihren bescheidenen Mitteln hier diesem kleinen Aschenbrödel durchgeholfen haben!«

»Wir waren Hausgenossen, und ich brachte sie, als sie obdachlos zu werden drohte, zu meiner Mutter: Ich bin für Dank sehr empfänglich; aber ich weiß in der Tat nicht, wie Sie dazu kommen, mir im Namen dieses Mädchens, meiner jungen, lieben Freundin, zu danken.«

»Sie wissen doch, daß sie Unterstützungen erhält, die in letzter Zeit versiegten. Ich habe diese Quelle wieder flüssig gemacht, und ich bin bereit, oder wenn Sie wollen, beauftragt, fernerhin für Fräulein Suschen Miecke zu sorgen.«

263 Kurt nahm eine herausfordernde Stellung ein.

»Ich will nicht fragen, wie das alles zusammenhängt. Am liebsten sorgte ich selbst nach wie vor für dieses Mädchen.«

»Gut! So vereinigen wir unsere Sorgen. Ich hab' ihr in der Auenvorstadt ein Zimmer gemietet.«

»Was, ein Zimmer gemietet?« brauste Kurt auf.

»Aber, Kurt,« sagte Suschen besänftigend, »er meint es doch so gut.«

Auch die Frau Försterin, welche ihren Hitzkopf von Sohn kannte, drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder auf seinen Stuhl, »Kurt, der Herr ist unser Gast!«

»Ich will das Gastrecht nicht verletzen! Doch ich frage Sie, Herr Doktor, spielt in Ihre Bemühungen zu gunsten Suschens etwas von dem mit herein, was man so Liebe nennt? Haben Sie Absichten auf das Mädchen? Wollen Sie sich desselben unter irgend einem Vorwand bemächtigen? Sind Sie nicht vielleicht selbst der Geldgeber, der eine Maske vornimmt? Wenn das so wäre – ich kann Ihnen sagen, mir juckt der Fiedelbogen in der Hand, und einem solchen Beschützer möcht' ich etwas vorgeigen, wozu ich die A- und E-Saite nicht brauchen kann.«

»Ums Himmels willen, Kurt . . .« rief Suschen abwehrend.

»So ist er bisweilen,« sagte die Mutter, »entschuldigen Sie, bester Herr! Er ist eben nervös; alle Musiker sind nervös – das sagt er selbst; alle Genies sind nervös. Die Musik prickelt und kratzt die Nerven auf, und solch ein gesunder Förster, wie mein Mann war und wie alle Waldleute sind, die können keine Genies sein; die müssen trainiert werden, wie die 264 Rennpferde, sonst laufen sie nicht gut, und solch ein trainiertes Rennpferd, das spitzt die Ohren bei dem leisesten Geräusch, während man einem Karrengaul eine Kanone vor der Nase abbrennen kann, ohne daß er sich rührt. Genie – das ist Rasse! Woher's der Junge hat, weiß ich nicht! Von mir gewiß nicht; denn ich vertrage einen Puff und rege mich so leicht nicht auf!«

»Lassen Sie ihn gewähren, liebe Frau! Schlafmützen mag ich nicht leiden. Ihr Sohn hat Temperament – und das ist eine gute Mitgift für einen Künstler. Er wird keine Opern komponieren, bei denen man schon im ersten Akt einschläft. Doch er mag sein Pulver nicht verschießen, sondern trocken halten. Ich freue mich, daß Suschen eine so gute Schildwache hat, die mit geladenem Gewehr auf Posten steht.«

»So ist's,« sagte Kurt.

»Ich erkläre Ihnen hiermit, daß von Liebe zwischen mir und diesem Mädchen nie die Rede sein kann und daß ich für sie sorge nur wie ein Vormund, wenn Sie es so nennen wollen.«

»Dann bin ich beruhigt,« versetzte Kurt, »und nehme Gewehr bei Fuß.«

»Doch wir sind noch nicht fertig, mein junger Herr! Gerade der Vormund hat jetzt ein Wort mitzusprechen. Sie erlauben mir, daß ich den Spieß umdrehe! Wie steht es denn mit Ihnen? Was sind Sie diesem Mädchen und was wollen Sie ihm sein? Ich werde nicht dulden, daß sie mit Ihnen ins Leben hineinabenteuert, und Sie können mit dem Mädchen nicht so verkehren, wie bisher, ohne ihren Ruf zu gefährden. Suchen Sie sich zu Ihrer Begleiterin 265 irgend eine langhaarige Musikschülerin aus, die am Morgen das Pedal und am Abend die Moral mit Füßen tritt; dies Mädchen aber ist nicht geeignet, Ihre Kunstpausen auszufüllen.«

»Was ich mit meinen Pausen mache,« versetzte Kurt, »das geht niemanden etwas an. Ich zähle meine Takte richtig – darauf können Sie sich verlassen.«

Suschen war feuerrot geworden; jetzt ergriff auch die Försterin das Wort:

»Ein gutes Kind, ich hab' es lieb gewonnen, aber das ist nichts für Kurt! Daß er mir nicht mit ernsten Absichten komme, sonst gerate ich aus dem Häuschen.«

»Aber, Frau Försterin,« wandte Edgar ein, »ich sollte glauben . . .«

»Ja, Sie haben sehr recht, wenn Sie das glauben, was ich Ihnen sagen will. Ein solcher junger Mensch darf sich nicht mit einer Braut belasten, mit einem Mädchen, das gut und brav ist, aber von dunkler Herkunft und gänzlich mittellos. Ein Künstler kann arm sein, wie eine Kirchenmaus; er hat ja sein Genie – und das kann ihm Schlösser bauen; aber ehe es dazu kommt, da hat er oft böse Zeiten durchzumachen, da soll er sich nicht eine Kette an den Fuß hängen. Nur keine ernsten Absichten . . . das ist das Schlimmste, was passieren kann, nicht wahr, Herr Doktor?«

»Wir verstehen uns nicht, Frau Försterin. Sie meinen, daß ich Ihnen zustimme; doch es ist ungefähr das Gegenteil, was mir auf den Lippen schwebt. Bei Ihren Ansichten ist es wohl das Beste, wenn das Mädchen sofort in die von mir gemietete Wohnung zieht. Mein Wagen steht auf dem 266 Schloßhof; sie mag ihr Bündel schnüren und ich nehme sie sogleich mit mir.«

»Das ist ja eine Entführung, Herr Doktor,« rief Kurt aufgebracht, »und wer bürgt mir dafür . . .«

»Meine Erklärung, mein junger Herr Musikus; wenn Sie eine noch bessere Bürgschaft haben wollen, so wäre es ein Verlobungsring an Ihrem Finger und am Finger dieses Mädchens – denken Sie darüber nach!«

Die Frau Försterin drückte das Mißbehagen, das ihr dieser Vorschlag verursachte, durch eine ablehnende Bewegung aus, Suschen aber suchte Kurt zu beruhigen:

»Niemand wird uns trennen, Kurt, wenn wir zusammenhalten wollen, und dazu bedarf's der Ringe nicht. Und was nützen die Ringe, wenn das Vertrauen fehlt!« Kurt nickte zustimmend und drückte Suschens Hand.

»Ich gebe zu, es war ein falsches Vorzeichen, und darum stimmen die Akkorde nicht; doch ich werde es korrigieren von jetzt ab, ich glaube und vertraue.«

Suschen schnürte ihr Bündel und ging dann mit dem Doktor durch den Wald, dem Schlosse zu, nachdem dieser der Frau Försterin eine beträchtliche Summe für ihre Unkosten, die ihr die Bewirtung des Mädchens verursachte, in die Hand gedrückt hatte. Kurt wollte Protest erheben, doch die Mutter machte ein so zufriedenes Gesicht, daß er ihr Glück nicht stören wollte.

Schaßler war kein Detektiv von Talent, obwohl er die Vogelnester im Laub bis hoch zu den Wipfeln hinauf und den Beginn des Raupenfraßes und anderer Waldvernichtungen mit scharfem Auge entdeckte; 267 aber diesmal war ihm der Zufall hold; er begegnete dem Doktor und seiner Begleiterin gerade bei einer schwierigen Passage am Waldbach, wo der Steg abgebrochen war, und Edgar das Mädchen bei einem kühnen Satz in seinen Armen auffing. Eine Stunde später hatte er die Genugtuung, sie zusammen in einem Einspänner durch die von dem Schloß zur Stadt führende Lindenallee fahren zu sehen, und mit solchen reichlichen Wahrnehmungen gesegnet, trat er am nächsten Tage seinen Weg zum Baron Perling an. Doch er traf ihn nicht zu Hause; er versprach dem Bedienten, seinen Besuch am nächsten Tage zu wiederholen, wo er beim Wildprethändler Geschäfte hatte.

Perling befand sich in der Brunnenstraße, in der Wohnung seines Freundes, des Jünglings mit dem Totenkopf, des verunglückten Diplomaten, des Herrn von Stillwitz, der ihm sein Absteigequartier in der Stadt angeboten hatte. Und dort erwartete er einen sehr angenehmen Besuch, der ihm die Zaubergärten der Riviera ins Gedächtnis zurückrief, und nebenbei dazu helfen sollte, auf seinen Nebenbuhler einen tödlichen Pfeil zu schleudern. Hannchen Lietner war angekommen; sie hatte dem Baron ihre Ankunft in einem rosa Briefchen gemeldet und war auch bald seiner Einladung zu einem Rendezvous gefolgt; er hatte ihr mitgeteilt, daß sie in der bezeichneten Etage ganz sicher sei vor jedem Verdacht, er sei allein dort und habe alle Schlüssel in seinen Händen.

Es klingelte; der Baron öffnete und freute sich, sein üppiges Hannchen wiederzusehen. Er hätte sie gern mit einem feurigen Kuß der Begrüßung empfangen; doch sie wollte sich mit einem freundschaftlichen Händedruck begnügen. Das verstimmte den 268 Baron; da bedurfte es also einer längeren Belagerung, ehe die Festung kapitulierte. Oder hatte die Schöne gar Heiratsgedanken? Schielte sie nach dem Standesamt? Das wäre fatal, hing doch noch immer wie ein Damoklesschwert die Heiratsdrohung der Geheimrätin Lohbach über seinem Haupte. Nun, so blieb sie nur ein Mittel zum Zweck; doch das Mittel war eigentlich zu reizend für eine so nüchterne Gebrauchsanweisung. Hannchen sah so blühend aus, hatte ein so südliches Kolorit, daß ein Duft aus den Ölwäldern und Orangegärten von ihr auszugehen schien.

»Haben Sie sich eingerichtet in Ihrer neuen Häuslichkeit?« fragte Perling.

»Dazu ist es noch zu früh, Herr Baron,« erwiderte Fräulein Lietner. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir diese Stelle verschafft haben, um so mehr, als ich dadurch die große Freude habe, Sie wiederzusehen.«

Perling nahm eine sauersüße Miene an; mit dieser großen Freude scheint's doch nicht weit her zu sein und überhaupt, eine Kokette ist, wer anlockt, ohne zu gewähren.

»Der Herr Kommerzienrat, bei dem Sie mich einquartiert haben, ist ein sehr trockener Geschäftsmann und ein schlechter Gesellschafter für seine Frau. Die Dame scheint sehr nervös zu sein, außerdem etwas eifersüchtig; ich glaube, ich schien ihr zu gut zu gefallen. Doch ich werde mich einrichten. Ich habe wenig Mühe, großen Gehalt und alles um mich atmet einen Komfort, den ich seit langer Zeit entbehren mußte. Es ist eine neue Etappe auf meinem Lebenswege . . . vielleicht führt sie zu meinem Glücke.«

269 Hannchen warf dem Baron einen fragenden Blick zu, für welchen dieser mit einem leichten Achselzucken quittierte; es war doch vielleicht gefährlich sich solch ein Reiseabenteuer auf den Hals zu laden. Dafür ging er nun festen Schrittes auf sein Ziel los.

»Was macht denn Ihre Freundin, die Mrs. Bower?«

»Sie gibt Stunden, nachdem ihr Mann sich in Monte Carlo erschossen hat.«

»Stammte die Dame nicht hier aus unserer Gegend?«

»Ja, sie ist hier schon einmal verheiratet gewesen.«

»Und der Gatte ist gestorben?«

»Nein, er lebt noch; es fand eine gerichtliche Scheidung statt!«

»Also ein abenteuerliches Leben!«

»Sie ist keine Abenteurerin! Unglückliche Verhältnisse haben sie aus geregelten Bahnen herausgerissen!«

»Also – eine Abenteurerin wider Willen! Doch bei allem Unglück ist Schuld mit im Spiele.«

»Ich leugne es nicht, sie hat sich verleiten lassen, ihre Flucht aus dem Heim der Familie in Gesellschaft eines jungen Mannes anzutreten, der sich später als ein Unwürdiger erwies. Doch sie ist hinausgedrängt worden durch ein fremdes Weib, welches sich des Gatten bemächtigte, den Hausstand tyrannisierte, und so das ungeliebte, gedemütigte Weib in die Ferne trieb! O sie ist sanft und gut!«

»Das sind sie alle, diese ungetreuen, leichtsinnigen Frauen, die doch gerechter Verurteilung nicht entgehen.«

270 Die sittenrichterliche Miene, die Baron Perling annahm, schien Fräulein Lietner zu befremden.

»Tout comprendre« sagte sie, »c'est tout pardonner.«

»Mag sich Ihre Freundin,« versetzte der Baron, »dort ihre Verzeihung holen, wo sie gesündigt hat; dann würde auch die Gesellschaft vielleicht mildere Saiten aufziehn. Wir sind aber unerbittlich, wenn wir zu Gericht sitzen.«

Der Baron war doch kein Cato – warum nahm er diese gestrenge Miene an? Sie lächelte ein wenig schelmisch.

»Wenn die Palmen Scheffels plaudern könnten, sie würden Ihnen vielleicht ein milderes Urteil auf die Lippen legen.«

»Im Paradiese, wo die Äpfel oder Apfelsinen hingen, da hat eine Eva leichteres Spiel – und warum verweigern Sie mir hier eine Gunst, die Sie mir dort gewährt haben?«

»Wir sind hier in einem sittenstrengeren Klima, das merke ich ja auch Ihnen an.«

»Ein Wort von Ihnen – und der ewige Frühling der Riviera wacht wieder in meinem, in unseren Herzen auf.«

»Lassen Sie mich zögern, das Wort zu sprechen. Die Welt ist hier eine andere, und ich muß mich erst in ihr zurechtfinden.«

»Dafür gibt es in Nord und Süd, in allen Weltteilen nur einen Wegweiser – die Liebe!«

»Wenn's die rechte Liebe ist,« sagte Hannchen.

Ja, die Liebe vom Standesamt, dachte Baron Perling, man kennt das.

»Nun, ich will milder über Ihre Freundin 271 urteilen; sonst stoß' ich Sie zurück durch meine Herzenshärtigkeit, und damit ist's nicht so schlimm bestellt; auch liegt dies nicht in meiner Absicht! Doch erzählen Sie mir noch mehr von Ihrer Freundin; vielleicht nehm' ich meine Anklagen gegen sie zurück.«

»Der junge Mann, mit dem sie von dannen ging, hat sie verlassen. Es kamen finanzielle Bedrängnisse hinzu; sie wurde ihm eine Last; er benahm sich unwürdig gegen sie, und als sie in Not und Elend geraten war –«

»Das sind die Folgen unvorsichtigen Tuns.«

»Wer ist vorsichtig, wenn er liebt?«

»Nun, es gibt doch Beispiele.«

»Da gewann sie die Neigung eines Engländers, der ihr volles Vertrauen besaß und verdiente. Trotz des Widerspruchs der Familie heiratete er sie; jahrelang weilte sie mit ihm in England; dann kehrte sie zurück nach der Riviera, wo sie das letzte schwere Unglück traf – – der Selbstmord des Gatten!«

»Und wie hieß ihr erster deutscher Gemahl?«

»Es war ein Gutsbesitzer, Guttmann.«

»Und sie hat einen Sohn?«

»Ja, sein Name ist Edgar! Sie weiß nichts von ihm; der Gatte hat sich seiner bemächtigt und sie durch die strengste Quarantäne abgesperrt. Sie wagte nicht, sich aus der Ferne an ihn zu wenden, sie fürchtete eine Ablehnung, eine Demütigung; gewiß war der Haß oder die Verachtung, welche der Vater gegen sie hegte, auch dem Sohne eingeimpft worden, und so wurde das Muttergefühl, das sie nicht äußern durfte, für sie eine neue Pein, denn ihr Herz hängt an dem Sohne, den sie nicht wiedersehen darf, und oft bedeckt sie sein Aquarellbild mit ihren Küssen und 272 benetzt es mit ihren Tränen. Er lebt und ist doch tot für sie, und doch gelten ihm ihre Wünsche und Gebete!«

»Das ist eine sehr rührende Geschichte,« versetzte Baron Perling gelangweilt, »weiß Gott, eine Magdalena, die auf dem Bauche liegt und in der Bibel liest! Sie ist ja oft genug gemalt worden.«

»Ich leugne nicht,« fuhr Fräulein Lietner fort, »daß ich, als ich mich von Ihnen hier anwerben ließ, auch von dem Wunsche bestimmt wurde, meiner Freundin Nachrichten über ihren Sohn zu geben; ich würde glücklich sein, ihn sehen und sprechen zu können, und zu erfahren, ob er für seine Mutter noch ein Gefühl kindlicher Teilnahme hegt.«

»Ich glaubte allerdings, daß Sie zu Ihrer Herreise nur ein einziger Wunsch bestimmte, und ich schmeichelte mir, daß mein armes Selbst der Gegenstand dieses Wunsches war; ich sehe jetzt allerdings, daß Sie allerlei Geschäfte hier zu besorgen haben. Mein Selbstgefühl leidet darunter; ich bin im Preise herabgedrückt, doch wie ich hoffe, Ihnen nicht ganz wertlos geworden; ich rechne auf eine Kurssteigerung, wenn ich Ihnen als guter Kamerad an die Hand gehe. Wohl denn, ich kenne diesen jungen Herrn; er treibt sich hier in der Stadt und in der Gegend herum.«

»Doch nicht ein Vagabund, nicht ein verkommenes Subjekt?«

»Keineswegs! Er hat studiert, er ist ein junger Gelehrter mit dem Doktorhut. Ich liebe ihn nicht, er hat den Dünkel dieser jungen Herren, welche sich darüber ärgern, daß Gott die Welt erschaffen hat und nicht sie selbst, die sie doch das Zeug dazu 273 besitzen und ja auch einiges wohl besser gemacht hätten. Verbittern Sie mir also die Stunde des Wiedersehens nicht durch die Beschäftigung mit so unliebsamen Gegenständen. Nähere Auskunft gibt Ihnen jedes Adreßbuch. Wenn Sie mich sonst noch aufschlagen wollen – Sie sollen finden, was Sie suchen, aber wir wollen nicht länger dabei verweilen, als unumgänglich notwendig ist.«

»O ich hoffe, ich werde eine frohe Botschaft nach Bordighera melden können.«

»Bordighera – das ruft mir die schönsten Erinnerungen wach! O Sie sind reizend, üppig, schön und ich leide Tantalusqualen. Wir sind hier so einsam wie im traulichsten Versteck des Olivenhaines. Und Sie sind zu mir gekommen in diese Einsamkeit – und nun versagen Sie mir alles Glück, auf das ich hoffen durfte.«

»Lieber Freund, auch die Hoffnung ist Glück, und man muß ihr nicht alles vorweg nehmen. Die Freude des ersten Wiedersehens hat ihren eigenen Reiz, er soll ungestört nachzittern in unserem Gemüte.«

»Einen Kuß denn auf Abschlag.«

Diesmal weigerte sich Hannchen nicht, aber als der Baron zu feurig wurde, flüchtete sie aus seinen Armen und aus dem Zimmer.

Der Baron war mit seinem Abenteuer in der Brunnenstraße wenig zufrieden, desto mehr mit den Enthüllungen über Edgars Familie und die Vergangenheit seiner Mutter, und als ihn am nächsten Tage der Waldläufer aufsuchte und ihm Mitteilungen machte über des Herrn Doktors Spaziergänge im Walde und seine Spazierfahrten mit dem 274 zweifelhaften Mädchen aus der Stadt, glaubte er seinen Revolver hinlänglich geladen, um mehrere Schüsse auf seinen Gegner abfeuern zu können, welche genügen sollten, ihn aus dem Wege zu räumen.

 


 


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