Rudolf von Gottschall
Parasiten
Rudolf von Gottschall

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Zweites Kapitel

Das war ja noch das alte kleine Städtchen, mit den bunt angetünchten Häusern des Marktes, die mit dem altersgrauen Rathaus kokettierten, das in ihrer Mitte stand. Da war ja noch die baufällige Schule, die er besucht hatte, als es zu Hause nicht ganz geheuer war und man ihn bei dem schwindsüchtigen Lehrer in Pension gegeben hatte. Der Lehrer lag schon längst unter einem hölzernen Kreuz auf dem Kirchhofe, aber die Schule stand noch immer an der Straßenecke und war so baufällig wie immer, obschon die Väter der Stadt und der Kreisausschuß und auch 17 die zweite Abteilung der Regierung, welche das Schulwesen unter sich hatte, sich seit Jahren angelegentlich damit beschäftigten, das unscheinbare Äußere dieser invaliden Bildungsanstalt wenigstens vor vollständiger Zerbröckelung zu schützen. Und das war ja noch die kleine Sackgasse, rechts eine Mauer, links eine Mauer und hinten der große Torweg, der in den Hof des Zimmermeisters führte; da waren die Schlachten zwischen der ersten und zweiten Klasse der Schule geschlagen worden, welche damit endeten, daß die zweite sich im Hof hinter Balken und Holzlagern verpalisadierte, während die erste Sturm lief, wobei es an Hurrarufen und dem dumpfen Gedröhne einer alten Trommel nicht fehlte. Leider wurde durch diesen Kriegslärm der alte Zimmermeister selbst herbeigerufen, welcher die kriegführenden Mächte, Freund und Feind, aus seinem Besitztum hinausjagte. Und da war ja noch an der anderen Ecke des Marktes der kleine Weißwarenladen, dessen blonde Verkäuferin oft an Tür und Fenster stand, um dem melancholischen Anblick der vollen Fächer und des leeren Ladentisches zu entgehen, aus dem sie nur selten vor einem kauflustigen Publikum die von ihr bewachten Schätze auskramen konnte. Von der Schuljugend wurde sie wie eine Madonna verehrt und mit einer gewissen Andacht begrüßt. Ein dunkler Instinkt von der Macht des Schönen regte sich unter den Tornisterriemen der Schuljugend – und er selbst besann sich darauf, daß er einmal von ihr geträumt, und daß sie in seinem Traum Flügel gehabt und daß statt der weißen Nacht- und Taghemden, Kragen und Chemisettes ein silberweißes Gewölk sie umgab, das von sonnigem Glanze schimmerte.

18 Das waren Edgars Gedanken und Träume, als er vom Bahnhof durch die engen Gassen des Städtchens dahinfuhr. Es waren nicht allzuviele Jahre vergangen, seitdem er mehrfach dasselbe besucht; doch da war ihm alles so alltäglich erschienen; er hatte nicht geachtet auf diese Gassen und Häuser, die ihm so bekannt waren; er war gedankenlos an ihnen vorbeigegangen. Jetzt wo er aus fernen Ländern kam, andere Weltteile gesehen, große Ozeane durchfahren hatte: jetzt erschien's ihm fast wie ein Wunder, daß hier noch alles auf dem alten Flecke stand und diese kleine Ansiedelung bescheidener Leute, über welche nach wie vor der alte schmächtige Kirchturm ragte, hatte etwas Rührendes für ihn; es war um ihn her alles so unwandelbar, wie in einer von der Asche des Vulkans verschütteten Stadt, wo nach einem Jahrhundert noch alles lag und stand wie vorher und sich nichts vom Platze gerührt hatte.

Das Städtchen lag in einem Talkessel eng zusammengedrängt; doch nach allen Seiten hin auf Chausseen und Landwegen streckte es gleichsam seine Arme in die ländlichen Fluren aus; überall Scheunen und Scheuern der Ackerbürger, zu denen die Mehrzahl der Bewohner gehörte. Denn nur ein spärlich Gewerbe klopfte und hämmerte in den Gassen und Höfen. Als Edgars Gefährt auf der Höhe angekommen war, welche das Städtchen beherrschte, da tat sich ihm ein umfassender Fernblick auf – und hell schimmerte ihm das Wohnhaus von Schönheim auf seinem Hügel aus dem sommerlichen Duft der Landschaft entgegen. Lange duldete es ihn nicht mehr im Wagen; er ließ ihn vorausfahren und ging mit rüstigem Schritt die Wege, die er so oft gewandelt. Was er damals 19 gedacht und empfunden – es tauchte wieder in seiner Seele auf; es ist, als ob an diesem oder jenem Stück Erde die Erinnerung haften geblieben wäre, die sich wieder loslöst bei einer neuen Berührung. Da, am Saume jenes Birkenwäldchens – er hatte gerade einen Trauermantel gejagt – da war ihm auf einmal aufgegangen das große Unglück in seiner Familie, die Flucht der Mutter, die Vereinsamung des Vaters, das Hausregiment der Maria Magdalene – und er konnte sich zurückdenken in seine damaligen Gedanken, die noch so kindlich waren, aber auch so ahnungsvoll das Wahre erfaßten. Dort am Abhange des kleinen Hügels hatte er einmal gelegen, neben sich die Beute, die er dem über ihm schwankenden Haselnußstrauch geraubt und sein Blick ging über die wogenden Kornfelder und verfolgte die silbernen Krümmungen des Flusses bis in die Ferne. Und da war es über ihn gekommen, als sähe er in seine eigene Zukunft – ihn ergriff ein unbestimmtes Sehnen in die Ferne und ihm war zumute, als müsse er diesem Zuge folgen. Und er suchte sich das alte Plätzchen aus und setzte sich unter den Haselnußstrauch. Da schwebten wie damals die Pfauenaugen um ihn und um die blauen Waldglocken, da krochen die Goldkäfer an den Grashalmen in die Höhe – doch es waren andere als damals und er selbst war ein anderer geworden, doch tief in seiner Seele lag das alte Traumbild. Er hatte Riesenströme gesehen mit unabsehbarer Flut; das Fernste war ihm nahe gerückt worden, doch das in der Weite aufblitzende Silber des Flüßchens erinnerte ihn an die wehmütig engen Horizonte seiner Kindheit. War doch das Sehnen geblieben, das keine Weltferne zu befriedigen vermag!

20 Jetzt war er an dem Brückchen angekommen, das über den Grenzbach führte – hier begann sein väterliches Besitztum. Hier hing er nicht mehr seinen Träumereien nach; hier musterte er mit dem scharfen Blick des Naturforschers, der sich besonders der Pflanzenkunde gewidmet, den Stand der Saaten auf den Feldern, die Einteilung der Äcker, die Gemüsefelder, die dicht bei den Baulichkeiten des Vorwerks ihre kleinen Rechtecke an die abgeernteten Roggen- und Weizenäcker lehnten; auch ein schüchternes Tabaksfeld und weiterhin ein großes, mit hochragendem Mais bepflanztes Areal zeugten von dem Bestreben der Wirtschaft, auch koloniale Erzeugnisse zu pflegen. Edgar mußte sich sagen, daß alles gut im Stande war, und auch die Kirschen- und Pflaumenbäume an den Straßen zeigten kein von Raupenfraß zerfetztes grünes Gewand, sondern dichte Laubkronen warfen ihre Schatten auf die Wege. Gewiß, Maria Magdalene hatte für diesen Besitz aufs beste gesorgt – für ihren Besitz; denn Edgar zweifelte nicht daran, daß das Gut einmal in ihre Hände fallen und daß er selbst sich mit einem Pflichtteil werde begnügen müssen.

Der leere Wagen war inzwischen vorgefahren; es war eine Enttäuschung für den Vater, der schon hinausgeeilt war, um den Sohn zu begrüßen. Die Norne war ihm langsam gefolgt und setzte sich kopfschüttelnd wieder an das Spinnrad.

»Das sind die Launen des jungen Herrn! Er will immer seine eigenen Wege gehen, er verachtet unser freundliches Entgegenkommen.«

Es dauerte geraume Zeit, bis Edgar erschien. Vor dem Hoftor war ihm noch Dore begegnet und hatte ihm einen Strauß von Gartenblumen überreicht, die 21 sie dem Gärtner Hans abgeschmeichelt. Sie hatte das Gefühl, der junge Hausherr müsse nach so langer Entfernung begrüßt werden und da keine Girlanden angemacht werden durften, so wollte sie wenigstens mit Blumen in der Hand die Honneurs machen. Edgar erkannte sie wieder.

»Ei, hast du dich herausgemacht, Dorchen! Du warst ja noch ein kleines dummes Mädchen, als ich das letzte Mal hier war.«

»Viel gescheiter bin ich seitdem auch nicht geworden, Herr Guttmann! Ich freue mich, Sie wieder zu sehen – schon weil Sie ein hübscher junger Herr sind; ich hab' immer was für Sie übrig gehabt, doch zeigen darf man das hier nicht – und es ist schon sehr wenig gescheit von mir, daß ich Ihnen diesen Blumenstrauß überreiche. Frau Wandow wird mir's schon anstreichen, doch ich habe bisweilen meinen eigenen Kopf, wenn auch nicht viel dran und drin ist!«

»Ich danke dir, Dore.«

Und er gab dem hübschen Mädchen einen Kuß! Zwei Stallmägde, die es von ferne sahen, hielten sich die Schürzen vor die Augen.

Da kam aber noch ein lebendes Wesen zur Begrüßung herbei. Watzmann hatte von ferne die Ankunft des Fremden mit dumpfem Grollen begrüßt. Dann war er mit lautem Gebell und böser Absicht herangesprungen. Da auf einmal erkannte er den jungen Herrn – das Bellen ging in jene Freudentöne über, welche auf der Gefühlsskala der Hunde nicht fehlen, und schweifwedelnd sprang er an Edgar in die Höhe.

Das Schauspiel war dem Inspektor Wickel nicht entgangen, der anfangs nicht recht wußte, was er aus 22 dem fremden Eindringling machen sollte. Watzmann's Freude zeigte ihm, der für das Seelenleben der Hunde mehr Verständnis hatte als für dasjenige der Menschen, daß das der erwartete junge Herr sein müsse. Und der Riese trat näher, nahm respektvoll seine Mütze ab – Maria Magdalene hatte ihn an Respekt gewöhnt – und schlug mit den Hacken aneinander, wie eine Ordonnanz oder wie ein Mazurkatänzer.

»Sie sind« – fragte Edgar.

»Wickel, gnäd'ger Herr – Wirtschaftsinspektor.«

Edgar reichte ihm die Hand:

»Ich habe Ihre Bekanntschaft schon gemacht, Sie sind mir aufs beste empfohlen.«

»Vielleicht von dem Amtsrat Burmeister, bei dem ich vorher in Diensten war?«

»Von keinem Amtsrat, mein Herr, sondern von den Äckern, Saaten und Bäumen des Dominiums, die Ihnen ein ehrenvolles Zeugnis ausstellen.«

Einige Zeit währte es, bis ein Schimmer des Verständnisses in den verquollenen Zügen des Wirtschaftsriesen aufleuchtete, dann aber flog ein breites Lachen über sein Gesicht und er griff salutierend an die Mütze.

»Danke, mein Herr! Frau Wandow und ich halten alles gut zusammen, das meiste ist das Verdienst meines Vorgängers.« Jetzt sah Edgar dem Gutsverwalter aufmerksam unter den Mützenschirm; das war ja kein Übermensch, trotz seiner sechs Fuß Höhe; das war ja ein bescheidenes Menschenexemplar, wie man es in den heutigen Erdschichten nur noch in seltenen Versteinerungen findet. Wer erkennt heutzutage noch das Verdienst seines Vorgängers an? Das fällt selbst einem Minister schwer – und 23 für diesen ungeschlachten braven Mann hier scheint es etwas Selbstverständliches zu sein. Edgar schüttelte ihm jetzt die Hand als Zeichen seiner Hochachtung. Dann schritt er in den Hausflur und unangemeldet ins Zimmer.

Guttmann sprang beim Eintritt Edgars auf – und nach einigem Zögern schloß er den Sohn, der unbefangen auf ihn zuging, ans Herz. Frau Wandow erhob sich langsam von ihrem Sitz und machte einen wenig hoffähigen Knix, zeigte aber in ihrer ganzen Haltung, daß sie eine Beleidigte war, die sich auf die Formen der Höflichkeit beschränkte, welche sie dem Sohn des Hausherrn gegenüber nicht verleugnen durfte. Edgar grüßte nicht weniger höflich, aber doch etwas beiläufig, indem er sich gleich wieder dem Vater zuwendete.

»Ich freue mich – die letzten Jahre haben dich nicht verändert. Du siehst wohl aus.«

»Die frische Landluft . . .«

»Bist rüstig und gesund . . .«

»Die gute Pflege.«

Das Spinnrädchen, das wieder im Gang war, wurde lebhafter.

»Du selbst aber,« sagte der Vater, »bist ganz sonnverbrannt, tiefdunkelbraun –«

»Das macht die Tropensonne!«

»Doch den Scheitel hat sie noch nicht gelichtet. Ich kann zwar nicht sagen, daß du diesen vollen Haarwuchs von mir geerbt hast.«

Im Hintergrunde ein leises Kichern, das sich in das Schnurren des Rädchens mischte.

»Gewiß nicht – doch das weiß ich ja längst und habe auch nicht erwartet, daß du inzwischen mit einer 24 Haarwuchspomade gespielt haben wirst, wie auf dem Reklameplakat das unglückliche Kind, das in einem Wald von Haaren erstickt.«

»Doch, Frau Wandow, ich bin verhungert, als wäre ich tagelang durch die Pampas geritten, ohne eine Estancia zu treffen.«

»Was wünschen der gelehrte, junge Herr?«

»Nun, ein baldiges Mittagessen, Frau Wandow! Sie würden mich verbinden, wenn Sie in der Küche nach dem Rechten sehen wollten.«

Frau Wandow schob mit einem verdrießlichen Ruck die Spindel beiseite – wurde sie doch selbst als störend und überflüssig beiseite geschoben. Der junge Herr wollte freies Feld haben; doch er gab sich vergebliche Mühe; es war töricht, ihre Macht brechen zu wollen; sie ruhte auf zu fester Grundlage.

»Da wir nun allein sind, lieber Vater, ohne lästige Lauscherinnen . . .«

»Sie gehört zur Familie, die Frau Wandow! Wir brauchen keine Geheimnisse vor ihr zu haben – und doch – ja, mein Sohn! Es ist besser, daß sie hinausgegangen ist. In ihrer Gegenwart hätte ich dich nicht gern zur Rede gestellt. Wie konntest du, schon ehe du deine große Reise antratest, zwei Jahre mir und deinem Vaterhause fernbleiben? Wie konntest du Briefe an mich schreiben, in denen du die brave Frau auf das heftigste anklagst? Und auch mich – mich, deinen Vater?«

»Jahre liegen dazwischen und in der Weltferne ist alles, was mich damals beengte, so klein geworden, so zusammengeschrumpft, daß ich zögern muß, darauf zurückzukommen; jenseits des Ozeans dachte ich dieser Verstimmungen nicht mehr; nur die Liebe zu 25 dir erfüllte mich ganz – und als es heimwärts ging, die Sehnsucht, dich wiederzusehen –«

»Das ist brav –«

»Und für dich zu sorgen.«

»Wozu? Ich sorge schon für mich selbst! Und ich habe im Hause eine treue Freundin und Pflegerin.«

»Doch mir ist sie feindlich gesinnt gewesen, so lange ich atme, so feindlich wie meiner armen Mutter!«

»Lassen wir diese Erinnerungen.«

»Und was hatte mich so verstimmt, so verbittert, daß ich selbst die lange Zeit fernblieb? Du verweigertest mir das Geld für meine Promotion, das ich wiedererstatten wollte, früher oder später, das mir schlimmstenfalls von meinem Erbteil oder Pflichtteil, abgezogen werden sollte. Frau Wandow schützte die notwendigen Ausgaben der Wirtschaft vor.«

»Wir waren damals selbst in Verlegenheit!«

»Und es klang wie Hohn, wenn sie sich dem jungen Herrn Doktor empfehlen ließ, der besser daran getan hätte, eine landwirtschaftliche Akademie zu besuchen, um dann, mit den nötigen Kenntnissen ausgerüstet, die Bewirtschaftung des väterlichen Gutes zu übernehmen. Und das hätte ich nur wagen sollen – in den ersten Monaten wäre ich hinausgeärgert worden. Doch mir halfen gute Freunde; so konnte ich mir den Doktorhut erwerben und Professor von Zelden nahm mich sofort auf seine große Reise mit, wo ich ihm bei seinen Forschungen und Sammlungen hilfreiche Hand leisten konnte.«

»Du hast Glück, mein Junge, siehst du! Da fällt der Apfel weit vom Stamm, denn ich bin zeitlebens ein unglücklicher Mensch gewesen. Man sieht mir's 26 nicht an; ich sehe so zufrieden aus. Man lebt so hin von Tag zu Tag; man hat keine Sorgen, man hat auch keine Wünsche mehr, die Zukunft ist uns gleichgültig; sie kann uns nichts bringen, nichts nehmen; doch die Vergangenheit – das ist's! Das nagt am Herzen, ein ruhiges, stehendes Wasser das Leben – doch es versumpft! Aus dem Grunde quillt die Trübsal hervor und Schlamm, nichts als Schlamm, das ist das Ende!«

»Du bist hier zu einsam, lieber Vater! Du fängst Grillen! Ich hab' mir das lange überlegt – ich will dir einen Vorschlag machen.«

Da trat Frau Wandow herein und lud zu Tische.

»Nachher, Vater,« sagte Edgar, »wir trinken doch in der Laube Kaffee, wie früher; da können wir hoffentlich ungestört plaudern.«

Frau Wandow saß mit bei Tisch und machte die Honneurs mit sauersüßer Freundlichkeit; sie bemerkte, daß die Blicke des Vaters mit einem gewissen Stolz auf dem Sohne ruhten – und das steigerte ihre böse Laune, um so mehr, als sie auch sich selbst sagen mußte, daß dieser Doktor Edgar Guttmann ein sehr stattlicher junger Mann war mit einem oft seelenvoll leuchtenden, oft geistreich blitzenden braunen Auge, einem von dunklem Haar umrahmten Gesicht, das ohne die Anmaßung einer Adlernase und eines stark gezeichneten Profils doch ausdrucksvoll war, dem das kleine Schnurrbärtchen ganz reizend stand. Und dazu eine schlanke und doch kräftige Gestalt! So verwahrlost war Frau Wandow nicht, daß sie solche Vorzüge nicht zu schätzen wußte. Und wenn er sprach, belebten sich seine Züge – und was und wie er alles erzählen konnte! Er hatte ja so viel erlebt zu Land 27 und See und wenn er auch nichts dazu erfand, keine Kannibalen, die ihn umtanzten, als er am Feuer schmorte, keine Meerungeheuer, die sich über das zerkrachende Schiff wälzten – es gab noch genug spannende Abenteuer und bei diesen Berichten zeigte sich die ganze jugendliche Lebhaftigkeit seines Temperaments. Sie war aufs äußerste empört, daß sie im stillen solche Zugeständnisse einem verhaßten Menschen machen mußte, den sie so gern abstoßend und unausstehlich gefunden hätte.

Nach Tische ging's in die Geisblattlaube – da plauderte man bei einer Zigarre, bis der Kaffee kam. Frau Wandow drängte sich hier nicht dazu; sie wußte ja doch, daß sie alles, was sie wissen wollte, später erfuhr.

»Du lebst hier zu einsam,« sagte Edgar zu seinem Vater.

»Du irrst – ich erhalte oft genug Besuch aus der Nachbarschaft. Eine regelmäßige Whistpartie ist im Gange; der Pfarrer, der Nachbar Hildberg von Groß-Mergenheim, der Baron von Kostewitz, der jetzt bei seinem Schwager in Bohlau wohnt, früher Offizier, er hat auch die Feldzüge mitgemacht, besitzt auch Orden, aber kein Geld – gleichviel! Es sind alles sehr artige Leute!«

»Doch immer hier so festgenagelt zu sitzen, hier wo du alles auswendig kennst – höre meinen Vorschlag! Der junge Doktor Biesner ist mein bester Freund; ich wohne in seiner Villa – einer geräumigen Villa bei der Stadt, sie gehört ihm ganz allein. Er ist ein junger Gelehrter, ein Philosoph, der aber mancherlei Passionen hat. In seinem Namen lade ich dich ein, auf einige Wochen zu uns zu kommen; du 28 sollst alle Bequemlichkeiten haben wie zu Hause. Du sähest einmal andere Gesichter als die Wandow und den Watzmann.«

»Aber Edgar – –«

»Du kannst die schönen Sammlungen der Universität, des ethnographischen Museums besichtigen – das ist ja Wasser auf deine Mühle!«

»Nicht ganz – nicht ganz! Das ist allzu reichhaltig, das ermüdet! Und dann kommt man sich so klein und unbedeutend vor – da verschwindet ja alles, was man selbst gesammelt hat.«

»Und dann will ich dir auch meine Sammlungen zeigen – es ist ein kleiner Schatz, den ich aus Amerika mitgebracht!«

»Das wäre ja sehr schön – doch kannst du diese Sammlungen nicht hierher bringen?«

»Ich brauche sie zu meinem Studium!«

»Das ist ja unangenehm, recht unangenehm! Kannst du denn nicht hier studieren?«

»Nein, Vater! Ich brauche die Hilfsquellen der Bibliothek – hier ist man ja von allem abgeschnitten! Und dann – Frau Wandow würde es nicht gern sehen, wenn ich hier über den Büchern säße; sie ist für mein Studium nicht eingenommen, sie hat mir ja auch den Doktorhut nicht gegönnt.«

»Du hast ihn ja jetzt, das freut mich!«

»Hierher kann ich nicht ziehen; doch ich wiederhole: Komm zu uns! und bleibe, so lange du willst, so lange es dir gefällt.«

Herr Guttmann schüttelte nachdenklich den Kopf: doch es war ein vorsichtiges Nein, das, wie es dem Sohne schien, sich noch leicht in ein Ja umwandeln konnte.

29 »Was dich aber besonders interessieren wird, lieber Vater, mein Freund hat eine großartige Briefmarkensammlung, er hat viele seltene und kostbare Exemplare. Er hat einen Onkel in Argentinien, einen reichen Kaufmann, der mit allen Ländern Südamerikas in Verbindung steht. Von ihm erhält er vierteljährlich eine reiche Sendung. Da könntest du durch Tausch, durch Ankauf deine Sammlung vervollständigen; er wird dir über vieles Auskunft geben können. Ihr könntet Gespräche führen, denen ich freilich aus dem Wege gehen würde, denn für meinen Laienverstand wäre das zu viel Weisheit, aber für Fachmänner sind solche Unterhaltungen entzückend.«

Der alte Guttmann hatte schon die Zigarre ausgehen lassen; er schob den Gartentisch beiseite, er erhob sich von der Bank und schritt vor der Laube auf und ab. Der Kies knirschte unter seinen Füßen, er war in großer Aufregung. Desto behaglicher blies Edgar die Wölkchen aus seiner Zigarre und blickte, sobald sich dieselben verzogen hatten, mit Genugtuung auf den Vater, der, statt ihm zu antworten, in innerer Erregung auf und ab ging. Das war seine Art – er mußte erst mit sich selbst fertig werden.

»Das ist zu erwägen,« sagte er, an den Tisch zurücktretend; »meine Lieferanten sind unzuverlässig und prellen mich. Das wäre ein großer Gewinn für mich, einem solchen Sammler näherzutreten. Doch es geht nicht – es geht nicht!«

»Wegen der Oberaufsicht hier? Nun, du hast ja die Wandow!«

»Die Wandow – ja das ist es eben! Ich meine, du hast recht, doch ich kann mich so rasch nicht entscheiden. Schwierige Entschlüsse muß ich mir stets 30 überschlafen. Man muß nichts übereilen. Ich werde dir morgen früh mitteilen, wie ich darüber denke.«

Die Wirtschafterin brachte jetzt selbst den Kaffee. Es kam ein sehr friedliches Gespräch zustande über das Wetter, die Ernteaussichten; nichts Störendes kam dazwischen als einige Wespen, welche der selbstgebackene Kuchen anlockte. Auch eine schwerfällige Hummel summte und brummte durch die Laube. Frau Wandow war heute nervös; es rumorte in ihr und diese kleinen überflüssigen Lebewesen versetzten sie in eine Unruhe, daß sie mehrmals jählings aufsprang mit einem Kernfluch auf den Lippen, mit dem sie sonst nur die Knechte und Mägde beehrte und der ihr hier zu ihrem eigenen Schrecken entschlüpfte.

»Man weiß oft nicht, was man spricht,« sagte sie, um sich zu entschuldigen; »doch es ist heute ein Unglückstag, als ob das ganze Ungeziefer der Welt einem auf den Hals käme!«

Edgar empfand diesen kleinen Wespenstich ohne sonderliche Schmerzen. Er trank seinen Mokka aus und forderte den Vater auf, mit ihm einen Spaziergang über Feld zu machen. Frau Wandow warnte zwar vor einem drohenden Unwetter und zeigte auf eine schwarze, schwere Wolkenmasse am Horizont; doch Vater Guttmann fühlte sich heute besonders rüstig und unternehmungslustig; er erklärte, sie würden sich in der Nähe des Vorwerks halten und ging ins Haus, um sich für einen Spaziergang zu rüsten.

»Herr Doktor – so muß man wohl jetzt sagen,« begann Frau Wandow »gehen Sie ja recht langsam mit dem alten Herrn; er ist etwas kurzatmig und an weite Spaziergänge nicht gewöhnt.«

»Doch die Luft hier im Hause bekommt ihm nicht,« 31 sagte Edgar, »mehr die Fenster aufmachen, Frau Wandow! Sie sperren ihn zu sehr ab von Luft und Licht, und das kann ihm Ihre angenehme Gesellschaft doch nicht ganz ersetzen.«

Edgar war erstaunt, wie wenig der Vater Bescheid wußte auf seinen Feldern; er mußte selten den Weg herausgefunden haben; doch die freie Luft tat ihm offenbar wohl; er begann zu plaudern, erkundigte sich nach des Sohnes Beschäftigung, Absichten und Aussichten und versprach ihm eine jährliche Unterstützung zu gewähren, die aber nur klein sein könne und sich nach den Erträgnissen der Wirtschaft richten müsse. Es sei eine schwierige Zeit für die Landwirte, die jetzt nicht mehr von ihrem Fleiß und von dem Wetter abhingen, sondern von den Gesetzen und Tarifen, die sie da oben an ihren grünen Tischen oder in ihren lärmenden Versammlungen machten.

»Ich bin dir dankbar für jede Hilfe,« meinte Edgar, »bis ich an der Universität fest im Sattel sitze. Doch berauben will ich dich nicht, am wenigsten deinen häuslichen Frieden stören; ich werde für mehrere Blätter schreiben, nicht bloß die wissenschaftlichen, denn darunter bergen sich keine Früchte für den Lebensunterhalt, nein, auch für Familienblätter, welche ansehnliche Honorare zahlen: Reisebilder, Anekdoten aus dem Tier- und Pflanzenreich, profanes Zeug, wodurch man kein Mitglied einer Akademie wird. Und vielleicht bekomme ich auch bald eine Anstellung als Kustos am ethnographischen Museum –«

»Das würde mich freuen,« meinte der Vater, »doch diese Naturwissenschaften . . . es ist eigentlich keine rechte Karriere. Ich sehe mich noch immer mit einer Blechbüchse und dem Schmetterlingskasten aufs 32 Feld und in den Wald laufen – da war man ja selbst Naturforscher und etwas anderes tun ja auch die jungen und alten Herren nicht, die das Metier betreiben: pflücken und fangen, trocknen und spießen, in den Mappen und Kasten ordnen. Nun, sie mögen mehr Latein verstehen, hundert Unterarten aufzählen können und der Natur auf die Finger sehen, die so feine Arbeit macht, hier und dort, eine neue Schattierung anbringt, doch im Grunde ist's immer dasselbe. Und ein Humboldt kann nicht jeder werden, da muß man zum mindesten ein Tegel besitzen. Du hättest Theologie studieren sollen – das war mein Wunsch und auch der Wunsch von Frau Wandow. Da weiß man doch, was man hat, eine Gemeinde, ein Pfarrhaus, eine Kanzel – und unterm Kirchturm sitzt man sicher und fest auf Lebenszeit.«

»Ich hatte keine Neigung und kein Talent dazu!«

Das Gewitter war inzwischen näher gekommen – schwarze Wolkenmassen wälzten sich über die Waldwipfel: Blitze sprangen über die verhüllten Horizonte – und beim Grollen des Donners wurde der Wald immer stiller, an dessen Rand sie dahingingen; kein lebendes Wesen regte mehr die Flügel. Edgar erstaunte über des Vaters Angst – bei jedem Blitzstrahl, bei jedem Donnerschlag zuckte er zusammen, faßte ihn beim Arm und drängte ihn auf einen Seitenpfad, der nach dem nahen Vorwerk führte. Bald öffnete auch der Himmel seine Schleusen und sie hatten kaum das Vorwerk erreicht, als eine Sintflut sich aus den zerrissenen Wolken ergoß, während in den Zwischenpausen des Donners ein Tumult von Tierstimmen aus den Ställen ertönte.

Sie traten in das erste Haus im Hof, das Haus 33 des Oberknechtes, und wurden von der Frau desselben teils mit bäurischer Höflichkeit, teils mit Verwunderung begrüßt.

»Ei der Tausend, der Herr, und bei dem Wetter!« An ihrer Schürze hingen drei Kinder, welche sich bei jedem Donnerschlag ängstlich an sie anschmiegten.

»Sie gewähren uns wohl ein Unterkommen, meine liebe Frau!«

»Der Herr haben ja hier nur zu befehlen. Artig, ihr Rangen, gebt dem Herrn die Hand!« Die Kinder gehorchten, doch ein neuer Donnerschlag schreckte sie zurück, noch ehe die beiden Mädchen dem Beispiel des Bruders folgen konnten, der den Gast mit einem herzhaften Handschlag begrüßt hatte.

»Verhängen Sie doch etwas die Fenster, liebe Frau; die Blitze blenden so, es wird den Kindern wohler zumute werden.«

Frau Becker suchte ein großes Tuch hervor und nahm auch noch einige Unterröcke zu Hilfe. Da löste sich aus dem Dunkel noch eine Gestalt los, die hinter dem hochaufgetürmten Bett hervorkam und ebenfalls mit einer Decke die Blitze abzusperren half, die den Kindern und auch dem Herrn Guttmann so in die Nerven fuhren.

»Meine Nichte,« sagte die Frau.

»Käthe Mierken aus Oberammerheim,« versetzte das Mädchen.

»Aus Oberammerheim?« fragte Herr Guttmann befremdet und ängstlich.

»Ich komme mit einem Brief an die gnädige Frau Wandow, ich wollte hier erst das Wetter abwarten.«

»Heben Sie ihn nur gut auf, den Brief!« sagte 34 Guttmann und fuhr zusammen, als ein heftiger Schlag die Luft erschütterte. »Aus Oberammerheim – ich weiß, Frau Wandow hat dort Geschäfte. Wo haben Sie den Brief?«

»Hier in der Rocktasche.«

»Stecken Sie ihn wo anders hin – oben hin in den Brustlatz – da wo's am sichersten ist! So über Land zu gehen mit wichtigen Briefen – das ist immer gefährlich, noch dazu, wenn man ein Frauenzimmer ist, das sich sehen lassen kann, auch wenn die Fenster nicht verhängt sind. Ein solcher Schlag – das Gewitter ist über uns! Man ist ja seines Lebens nicht sicher, und wenn's einschlägt – erst neulich sind im Dorf mehrere neue Scheunen abgebrannt.« Ein nervöses Zittern kam über den Hausherrn, er setzte sich an den Holztisch. Edgar war besorgt um den Vater – wie konnte er hier bei diesem stillen Leben, in dieser gesunden Luft so nervös werden? Und alles was mit dieser Frau Wandow zusammenhing versetzte ihn in solche Aufregung. Ging ihn denn die Nachricht etwas an, welche die stumpfsinnige Käthe Mierken aus Oberammerheim brachte? Er besann sich darauf, daß schon in früheren Jahren bisweilen ein solcher Verkehr mit dem Orte stattfand, ein geheimer Verkehr, denn Frau Wandow hatte ihn mehrmals unsanft beiseite geschoben, als er ihr im Wege stand, wenn sie die Überbringerinnen solcher Botschaften empfing! Und warum ging dieser Briefwechsel nicht durch die Post? Da gab es wohl auch manche mündliche Mitteilung, manches Frage- und Antwortspiel, welches den Inhalt der Schriftstücke ergänzen mußte.

Das Unwetter hatte sich inzwischen verzogen, die 35 letzten Blitze leuchteten matt aus der Ferne herüber und das mißvergnügte Murmeln des Donners erstarb in dem zerstreuten Gewölk. Vater und Sohn traten den Rückweg an. Frau Wandow kam ihnen schon vor dem Hause entgegen; sie war besorgt um den Hausherrn, der selten solche Ausflüge machte und gerade heute von dem Unwetter überrascht werden mußte.

»Ich bringe ihn wohl und heil zurück,« sagte Edgar und konnte sich nicht enthalten, hinzuzufügen, »auch eine Brieftaube für Sie ist unterwegs, die Käthe Mierken aus Oberammerheim. Sie tat sehr geheimnisvoll, sie hat gewiß einen Liebesbrief für Sie in der Tasche!«

Frau Wandow war durch diese Mitteilung sehr peinlich berührt; erst mußte sie sich etwas fassen und konnte dann für den Nachsatz mit Achselzucken und einem bösen Blick quittieren. Nach dem Abendessen leuchtete sie als höfliche Wirtin dem Gast in sein Zimmer hinauf.

»Ihre frühere Wohnstube habe ich für den Inspektor einrichten lassen, man hat die Untergebenen gern im Hause. Dies Zimmer, in das ich sie jetzt führe, hat, wie Sie wissen, vor Jahren Ihre Mutter bewohnt; ich habe dort mancherlei hinstellen lassen, was sonst im Wege war, doch heute ist ausgeräumt worden. Ich wünsche Gute Nacht, Herr Doktor, und wenn Sie wieder einmal bei guter Laune sind und aufgelegt zu studentischen Exzessen, so lassen Sie freundlichst mich aus dem Spiel. Sparen Sie Ihre Scherze für Ihre Damen auf; ich bin zu alt, um jungen Leuten zur Zielscheibe zu dienen.«

Er war allein und öffnete die Fenster; es herrschte eine dumpfe Luft in dem lange nicht 36 gelüfteten Raum. Die Fenster gingen auf den Garten; draußen atmete alles Erquickung, in den rauschenden Wipfeln lag frische Lebensfreude – das Ungewitter hatte sie aus dem schwülen Schlummer geweckt. Der Abendwind schüttelte einige verspätete Regentropfen von den flüsternden Blättern und nur die vollen Rosen hatten ihren Blütenschmuck auf die nasse Erde verstreut.

Die Kerzen flackerten im Lufthauch; in der unsicheren Beleuchtung krochen die Schatten hin und her. Da schloß Edgar die Fenster – er wollte allein sein, ruhig allein sein mit seinen Gedanken, und sie verweilten mit andächtiger Erinnerung bei der Mutter! Oft hatte er ihrer gedacht; still, wehmütig, und in den Bildern der Knabenzeit, die an der Seele des Träumenden und Wachenden vorüberzogen, fehlte nicht das sanfte liebliche Gesicht, das ihn oft so gütig angelächelt. Die holde Gestalt neigte sich zärtlich über ihn, ihre Umrisse mochten ihm verschwimmen, doch in seiner Seele war ein unauslöschlicher Eindruck zurückgeblieben. Es war wie ein Nachempfinden der Mutterliebe, das oft in einem langen Leben nicht verloren geht. Doch es waren nur flüchtige Augenblicke; der Strom des Lebens rauschte bald darüber hinweg. Und sie war so lange verschollen; er hatte nie etwas von ihr gehört; es durfte ja im Hause nicht von ihr gesprochen werden. Hier aber überkam ihn jenes Gefühl mächtiger als sonst, hier wo sie jahrelang geweilt. Bleibt doch an solchen Stätten etwas von unserem Wesen hängen, das sich erst loslöst, wenn es von einem innigen Gefühl berührt wird. Diese Stäubchen und Fäserchen von einer früheren Existenz erkennt kein Mikroskop der Naturforscher.

37 Edgar kannte dies Zimmer nicht; es war verschlossen, seitdem die Bewohnerin verschwunden war; Frau Wandow hatte eine Art von Rumpelkammer daraus gemacht. Auch heute war nur die eine Wand des Zimmers für das Nachtquartier des Gastes geordnet, Bett, Stuhl, Waschtisch an die rechte Stelle gerückt worden. Gegenüber herrschte noch das alte Chaos. Da lag alles übereinander, Bettstellen und herausgerissene Schrankschubladen; aus einem Wirrsal bestaubter Teppiche und Tischdecken guckten einige Tisch- und Stuhlbeine hervor und ein lahmes Nähtischchen, das sich an eine dicke Rolle von Reservetapeten lehnte, machte einen besonders wehmütigen Eindruck.

Edgar glaubte in diesem Haufen wehleidiger Dinge und außer Dienst gestellter Gerätschaften eine Leinwand zu erkennen, welche den Rücken eines Gemäldes zu bilden schien; er wühlte darin herum, bis er dasselbe herausgegraben. Es war ein Landschaftsbild, doch die Staffage war die Hauptsache. Er besann sich darauf, dies Bild als Knabe öfter gesehen zu haben, es hing hier an der Wand. Schloß und Park – das war die frühere Heimat seiner Mutter – ein längst in Verfall geratener Besitz einer in der Welt zerstobenen Familie; auch die beiden kleinen Mädchen, die im Vordergrund Ball spielten, ja die Kleine im blauen Kleidchen mit den blauen Augen, das war seine Mutter als Kind. Armes Kind, wie hat das Schicksal mit dir Ball gespielt! Jetzt nahm er das Nähtischchen in die Hand und suchte es aufzustellen, doch das verkrüppelte Ding gehorchte nicht! Im Schube stak noch der Schlüssel – er öffnete; der Schub war voll Zeitungspapier. Er kramte und wühlte darin 38 herum – vielleicht fand sich noch irgendein Bändchen, ein blasses Erinnerungszeichen. Das wäre ein Talisman für ihn gewesen. Doch nein, nichts als modriges Zeitungspapier, mit nichtigen Nachrichten, welche seinerzeit die Gemüter beschäftigt, nach denen jetzt kein Hahn mehr krähte! Er warf es auf die Erde, nichts als Papier! Doch sieh, als der letzte Stoß in seiner Hand knisterte, da fühlte er irgendeine festere Einlage heraus. Er zog sie hervor; es war ein Aquarellbild ohne Rahmen, ein junger Mann!

Er betrachtete ihn lange: er hatte zurückgestrichenes blondes Haar, regelmäßige Züge, die an manches antike Profil in den Werken der Bildhauer erinnern mochten, doch ein unstetes Auge, einen etwas schielenden Blick. Der starke blonde Schnurrbart hatte etwas Soldatisches; doch dazu paßte nicht der übrige Charakter des Gesichtes. Der Schnauzbart eines Kavallerieoffiziers, der seiner Schwadron das Einhauen befiehlt, hatte sich in Züge verirrt, die wohl die Schlauheit eines Diplomaten verrieten. Edgar las in diesen Gesichtszügen und was er daraus las, das war das Schicksal seiner Mutter. Keine Frage, das war der Friedensstörer, der sie aus diesem stillen Heim herausgerissen; wie oft in ihren Tränen mochte sie noch die Zweige der alten Linde ans Fenster klopfen hören, wie gerade jetzt, wo der Abendwind sich lebhafter regte! Wie oft mochten ihre Gedanken in der stillen Geisblattlaube geweilt haben, wenn das rötliche Abendlicht daneben sich über die weißen Trauerrosen ergoß. Und war dies eine Stütze des Friedens? O nein, diese Idylle war nur ein Vexierbild und wenn er näher hinsah, nahm der Rosenflor und das Gezweig ein Gesicht an, und es war das böse Gesicht der Frau 39 Wandow, das ihm entgegengrinste. Die arme Mutter! Was sie auch verschuldet haben mochte, es faßte ihn ein großes Mitleid mit ihr. Und das Bild, das in der Eile der Abreise verkramt und vergessen worden, es war eine res nullius und er durfte es sich unbedenklich aneignen. Er suchte lange vergeblich den Schlaf; durch das Gezweig der Linde vor dem Fenster krochen einzelne Mondstrahlen wie tastende Geisterhände ins Zimmer. Zwischen Traum und Wachen sah er einen Nebel von Gestalten aus allen Ecken quellen, und die unheimliche Gestalt des Verführers reckte sich wie ein Riesenschatten an der Wand in die Höhe. Da fuhr er auf von einem Lärm auf der Treppe. Die Stiege dröhnte. Es war der ungeschlachte brave Tom, der sein Nachtlager aufsuchte, der seltene Mann, der seinen Vorgänger im Amt rühmte und der mit seinem Grundbaß die nächtliche Ruhe erschütterte, als er vom Treppenabsatz herab seinen Gute Nacht-Gruß ertönen ließ und von drunten klang es so wenig gebieterisch: Gute Nacht, Tom!

Am nächsten Morgen wartete Edgar lange Zeit am gedeckten Kaffeetisch in der Geisblattlaube auf den Vater. Auch Frau Wandow erschien nicht, als er endlich ankam und dem Sohn etwas zögernd die Hand reichte. Das beunruhigte Edgar, denn er sah, daß sie es nicht mehr für nötig hielt, zu rekognoszieren, daß die Schlacht schon geschlagen war. Das Aussehen des Vaters deutete auf eine Niederlage. Dieser begann die Unterhaltung mit Erkundigungen über den Getreidebau in Argentinien und Paraguay und dann über wichtigere Gegenstände, über die Wappen der beiden Staaten, bis Dore den Kaffee brachte. Der edle Mokka übte auf den alten Guttmann denselben 40 Einfluß aus, wie der Alkohol auf die deutschen Kämpen in den großen Feldzügen nach den Aussagen unbefangener Zeugen, welche die Wirkung des Alkohols über diejenige der Vaterlandsliebe stellten. Er machte ihn mutiger und unternehmungslustiger, und kaum hatte er die erste Tasse geschlürft, so begann er die Einleitung eines Gesprächs, welches Edgar an diesem Morgen angeregt hatte.

»Was die Einladung betrifft, deine Einladung oder vielmehr die deines Freundes, so tut es mir leid, wirklich sehr leid – du weißt, es ist meine Passion, diese Sammlungen, Pflanzen und Schmetterlinge, besonders aber Briefmarken; es wird mir freilich sehr schwer, ablehnen zu müssen; du wirst einsehen – ich habe mir's überlegt, man ist auch sonst hier dieser Ansicht; ich bin es doch meiner gesellschaftlichen Stellung schuldig – ich kann die Einladung eines jungen Herrn nicht annehmen, den ich gar nicht kenne. Und diese Verbindlichkeiten könnten mir nur lästig sein, ich kann die Einladung nicht erwidern, und was sollte ein Fremder hier bei uns machen? Wir sind alle so beschäftigt; die Wirtschaft nimmt uns alle so in Anspruch.«

»Das erwartete mein Freund gar nicht.«

»Gleichviel, es geht einmal nicht!«

»Ich hätte dich gern einmal von hier entführt; du solltest einmal etwas anderes, auch andere Gesichter sehen; man rostet ja ein, wenn man sich nicht vom Flecke rührt. Doch wenn's Frau Wandow nicht erlaubt –«

»Nicht erlaubt, was heißt das?«

»Ich meine nur, wenn's ihr nicht paßt, wenn sie fürchtet, die Wirtschaft könnte hinter sich gehen, 41 wenn du mal nicht an der Scholle klebst, sondern auf einige Zeit dich freimachst! Freilich: ihr alten Herren seid Gewohnheitsmenschen und wir machen eher eine Reise um die Welt, als ihr einige Kilometer per Dampf zurücklegt! Doch meine Zeit ist um; ich habe mir gestern den Kutscher mit seinem Wägelchen um acht Uhr bestellt und eben schlägt's an der Dorfglocke unten acht Uhr; als Sohn des Hauses maßte ich mir das Recht an und wie es scheint, rasselt der Wagen schon über das Hofpflaster.«

Der Vater war verstimmt, nicht gegen den Sohn, sondern gegen das Schicksal, das sich so gegen seine liebsten Wünsche empörte. Es gab immer Hindernisse, beachtenswerte Hindernisse, auf welche Frau Wandow zur rechten Zeit aufmerksam machte. O hätte er diese Frau nicht an seiner Seite, wie viele Unbesonnenheiten hätte er sich schon zu schulden kommen lassen! Diesmal aber erschien sie nicht, um sich von dem jungen Herrn zu verabschieden. Der Vater entschuldigte sie; sie sei unten bei der Wäsche auf der Flußwiese. Wohl aber war Dore da mit einem dicken Blumenstrauß; er gefiel ihr ausnehmend, der junge Doktor, und er war doch auch der junge Herr des Hauses.

»Der Herr des Hauses,« – das dachte auch Edgar mit einem wehmütigen Seufzer, als sein Gefährt über die Feldwege an den abgeernteten Äckern vorbei ihn den Dampfsäulen entgegentrug, welche den Bahnhof ankündigten. 42

 


 


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