Jeremias Gotthelf
Die Wassernot im Emmental
Jeremias Gotthelf

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War er verschwunden, so verschwand mit seinem Anblick auch der Scherz, und stiller Ernst begleitete die Besuchenden bis in ihre Heimat. Mit dem Verschwinden des erschütternden Anblicks des Tales trat an die Stelle der Ehrfurcht und Demut die Teilnahme und das Mitleid mit den unglücklichen Beschädigten. Nicht satt wurde man im Erzählen, wie übel es dem und diesem ergangen, wie Gräßliches diese und jene hätten ausstehen müssen. Ihre Teilnahme verbreiteten sie wie Missionärs über das ganze Land, und die meisten derer, welche zu geben und zu helfen gewohnt sind – und bei uns zu Lande ist diese Klasse weit größer als in Fürstenländern, sie geht von oben herab bis zum Tauner – griffen an ihre Säcke und durchstöberten Spycher und Schnitztröge. Freilich gibt es auch eine Klasse, die nie gibt. Diese beginnt auch weit oben, geht aber dann hinab bis auf die Hefe der Menschheit. Da ists, wo mancher Hochgeborne, der für nichts Gefühl hat als für das Steigen und Fallen der Staatspapiere oder etwas von Trüffeln, und mancher Hochgewordene, der gerne viel vertut und ungern etwas bezahlt, am ungernsten Ehrenschulden, Bruderherz sagen sollte zum schmutzigsten Saukerl, der zu allem fähig ist, nur zu keiner Wohltat. Viele warteten nicht, zu geben, bis auf den angesetzten Tag des Sammelns, der von uns gerne auf den Bettag gesetzt wird, im Glauben, der Christ, der bei einem milden Gott Versöhnung suche, wisse wohl, daß nur ein mildes Herz sie finden könne. Und als der Tag kam, fielen die Gaben reichlich und willig, sogar im Bistum etwas, heißt es. Es ist sehr schön von den Brüdern da hinten, daß sie uns auch andere Lebenszeichen geben als die Sucht, zu regentelen, zu despöteln und uns ehrliche Altberner über das Kübli zu lüpfen. Es gab mancher reichlich, der selbst beschädigt worden war; man gab reichlich ohne Unterschied der Farben; Schwarze und Weiße, getrennt durch Ansichten, wurden vereint durch Mitgefühl. Es wollte allerdings hie und da der Grundsatz auftauchen: »Aug um Aug, Zahn um Zahn!«, und Stimmen wurden laut, Torheit seis, den nach allem Bernergut, Stadt- und Partikulargut lüsternen Bauern, die mit Gewalt oder Agentenkniffen ihrer Lust den Weg zu bahnen suchten, noch freiwillige Gaben auf das Land hinauszuwerfen; bei denen sollten sie jetzt Hülfe suchen, die stets so große Worte schwallsweis hätten fürs Volk und mit Anweisungen auf fremdes Gut so freigebig wären und mit hohlen Versprechungen so verschwenderisch, so schändlich und schäbig aber, wo es gelte einen Kreuzer aus dem eigenen Sack.

Aber diese verdüsterten Stimmen verhallten an dem echt republikanischen Sinn, der Meinungsverschiedenheit in einer Republik als notwendig anerkennt, an dem klugen Sinn, der wohl weiß, daß Härte keine Versöhnung bringt, an dem schlauen Sinn, der die Laster nicht annimmt, die seinen Gegner verhaßt machten, an dem billigen Sinn, der Augen hat für die Fehler auf beiden Seiten, an dem christlichen Sinn, der den armen Verwundeten nicht frägt, ob er ein Jude sei oder ein Samariter, ehe er Balsam schüttet in geschlagene Wunden.

Wo Politik nicht trennte, nicht verhärtete, da tat es sogenannte Religion. Du lieber Gott, was mag das für eine Religion sein, die Unglücklichen Hülfe versagt, weil sie wohl den gleichen Gott anbeten, aber nicht mit den gleichen Gebärden, mit dem gleichen Augenspiel! Schon lange wußte man, daß viele sogenannte Fromme kein Herz hätten, keine Hand öffneten für christliche Zwecke, wenn man diese nicht mit ihren Farben übertünche; aber daß man Hungernde nicht speisen, Nackte nicht kleiden wolle, weil sie nicht von »üse Lüte« seien, und daß Lehrer diese Lehre öffentlich predigten, das wußte man nicht. Und jetzt weiß man nicht, auf welches Evangelium sich diese Menschen stützen. Menschen, habt ihr des Herrn Worte? Der Buchstabe töte, sagt ihr. Habt ihr dann den Geist dessen, der für seine Feinde betete? O Menschen, bedenkt, aus den Werken erkennt man den inwohnenden Geist; im Segnen oder Fluchen auch gibt er sich kund. O Menschen, bedenkt, von welchem Geiste seid ihr besessen!

Über sechzigtausend Franken flossen zusammen im Ländchen, über sechs Franken per Kopf. Will Östreich seinen Ungaren in gleichem Maße steuern freiwillig, ohne die Hülfe des Staates zu rechnen, so muß es über fünf Millionen zusammenlegen. Wo viele geben, wird die Summe leicht größer, als wo wenige viel geben, und, wo der Mensch leicht und frei atmet, da nur hat er Lust und Mut zum tätigen Mitgefühl.

Zur Verteilung dieser Steuer wurde ein Grundsatz aufgesucht, sorgfältig beraten, und folgenden fand man:

Wer reich war und blieb, erhielt keinen Anteil an der Steuer; wer empfindlich geschädigt wurde, aber Vermögen behielt, zwei Zehntel seines Schadens; wer fast alles verlor, mit Mühe sich erhielt, drei Zehntel; die, welche ohne Vermögen waren, denen vielleicht der weggenommene Raub ihr einziges Besitztum war, fünf Zehntel. Bei Aufstellung dieses Grundsatzes dachte man sich in den Willen der Geber, die ganz sicher einem reichen Mann, der vielleicht reicher war und reicher blieb als sie, nichts gesteuert hätten sondern den Bedürftigen und auch diesen nach dem Maße ihres Bedürfnisses oder ihres Elends, dem ganz Entblößten mehr als dem nur hart Geschädigten. Und der, dem die Steuern zur Austeilung anvertraut worden waren, hatte volles Recht, eine Norm aufzustellen, und die gerechteste war sicher die, daß er soviel möglich nach dem Willen der Geber sich richtete.

Über den Grundsatz waren einige unzufrieden; sie hatten unrecht. Dem armen Ghusmann, der seinen Zins geben mußte und alle seine Pflanzungen verlor, dem Schuldenbürli, dem der ganze Ertrag seines kleinen Heimwesens vernichtet worden, ging es sicher tiefer ins Leben als dem, der Tausende verlor, aber doppelt soviel Tausende behielt, oder dem reichen Bergbesitzer, der nur einige Kühe weniger sömmern, oder selbst auch, wenn er fortan nur Schafe statt Kühe auf seine Alp treiben kann. Und doch gibt es Arme, die klagen, die Reichen erhielten alles und sie nichts. Allerdings erhalten Besitzer, die um die Hälfte ihres Eigentums geschädigt worden, vielleicht tausend Franken verloren und fünfhundert Franken behielten, mehr als der, welcher nur ein klein Stücklein Land bepflanzt hatte und alles darauf verlor; aber ists nicht recht so? Doch wer will dieses Leuten, die nie fassen konnten, daß zweimal zwei vier sei, begreiflich machen?

Eine größere Unzufriedenheit noch entstund über die Schatzungen des Schadens in den verschiedenen Gemeinden. Gar viele hielten alle Schatzungen für zu hoch, nur die ihre zu niedrig. Eine Schatzung, welche man am Morgen nach der Überschwemmung machte, vielleicht noch mit der Laterne, mußte natürlich ganz anders ausfallen als eine andere, die Tage oder Wochen später vorgenommen worden. Daß später Schätzer an einigen Orten in die Schatzung einen bleibenden Schaden einrechneten, während andere Schätzer nur den verlornen Raub anschlugen, weil sie glaubten, das Land selbst hätte eher gewonnen als verloren, konnte nicht vermieden werden und wurde auch nicht aufs Papier gebracht.

An einigen Orten nahm man die Schätzer aus den Gemeinden, weil ihnen der vorige Zustand am besten bekannt war; denen wirft man Parteilichkeit vor. An andern Orten wurden sie aus fremden Gemeinden genommen, damit man ihnen nicht Parteilichkeit vorwerfen könne; die nun beschuldigt man, daß sie das, was sie geschätzt, nicht gekannt hätten, indem ihnen der frühere Zustand nicht bekannt gewesen sei.

So findet der Unzufriedene Stoff, zu klagen, man mag es machen, wie man will. Vielleicht wäre eine unparteiische Revision aller Schatzungen nicht übel gewesen; aber wer hätte sie mit Sachkenntnis machen wollen der ganzen Emme nach?

Die Austeilung der Steuer begann so schnell als möglich, und wenn es schon manchem lange zu gehen schien, so bedachte er nicht, daß an andern Orten in ähnlichen Fällen es noch weit länger ging, daß hier doch nicht wie an andern Orten in ähnlichen Fällen Korn, Schnitze, Erdäpfel schmählich verdarben bei solcher Zögerung, ohne einem Menschen zugut zu kommen, und daß für viele diese Zögerung eine große Wohltat war; denn sonst hätten sie längst alles gebraucht, schon für den Maien nichts mehr gehabt, geschweige denn für den langen Brachet, der vor der Türe ist.

Daß die Austeilung eine treue ist, daran zweifeln nur Mißtreue, und es behaupten zum Beispiel nur Niederträchtige, es kämen geschenkte Hammen vor der Austeilung abhanden. Wer wird wohl die Million müssen gestohlen haben, die nicht kömmt aus England? Wird sie vielleicht ein ehrlicher Polizeier in seiner Ledertäsche verkräzt haben müssen? Wenn schon ein solcher, den die Gemeinde in allem Wind und Wetter herumpostet und ihm seine Kutte nie plätzen läßt, in Versuchung käme, etwas für einen ganzen Rock beiseitezuschaffen, zum Beispiel eben die Million aus England, so würde den armen Schelm sicher niemand deshalb hängen wollen.

Wie Regen auf vertrocknetes Land flossen die Steuern aller Art in die mangelbare Talschaft, taten wirklich unsäglich wohl, hielten die Leute aufrecht, hielten ferne dringende Not, und mildtätige Gläubiger machten mit Warten und Schenken ihren Schuldnern neuen Mut. Aber wie die Steuern den Leib erquickten, ihn nährten, gesund erhielten, so sollten sie auch das Herz erwärmen zur Dankbarkeit, es begeistern, die empfangenen Zeichen der Liebe an Gott und Menschen zu vergelten mit Liebe und Treue. Sie sollten allen schreiben ins Herz hinein: der Herr, der den Wassern ihre Kammern geöffnet zur Wohltätigkeit, dieser Herr habe damit auch ihre Herzen öffnen wollen der Erkenntnis, daß er der Herr sei, nehmen und geben könne nach seinem Wohlgefallen, daß er der Herr bleiben, die Kammern seiner Herrlichkeit öffnen werde, je nachdem die Geprüften ihm ihre Herzen aufgetan, ihn kindlich aufgenommen in dieselben und kindlich seinem Walten sich ergeben.

Wo die erhaltenen Gaben aufgenommen wurden mit Freude und Dank, da tun sie nicht nur dem Leibe wohl, sondern gereichen auch der Seele zur Seligkeit; wo sie aber ein ungenügsames Herz finden, Neid und Mißgunst, da bringen sie den Unsegen ins Haus und in die Seele hinein neue Schuld.

Eine süße Sache wird bitter im Munde, wenn gallicht die Zunge belegt ist; so erzeugt die schönste Gabe in sündigen, verbitterten, eigensüchtigen Herzen nicht reine Freude, nicht lautern Dank, sondern ganze Heeresscharen von bittern, sündigen Gefühlen, und diese Gefühle brechen dann aus in Vorwürfe aller Art, in harte Worte gegen Geber und Mitbeschenkte. Es gibt wahrhaftig nichts, das wohltätige Menschen schwerer prüft und sie dringlicher vom Geben abmahnt als die Art und Weise, wie bei großen Unglücksfällen reich gespendete Steuern empfangen, besprochen, gebraucht werden. Solche Steuern fallen oft wie eine wahre Hadersaat unter die Besteuerten, und die Geber hören nicht sowohl Dank für das Empfangene als Klagen über das, was die Besteuerten zu wenig erhalten, mehr Äußerungen des Mißvergnügens als der Freude; ja, manchmal scheint es den Leuten kaum der Mühe sich zu lohnen, die Geschenke abzunehmen; und am Ende wird gar nicht oder erst nach Jahren Bericht gegeben, ob man die Geschenke habe verfaulen lassen, ob sie verteilt worden oder sonst abhanden gekommen seien. So eine ehrliche Frau, wenn sie tief in Säckel und Schnitztrog greift, ergötzt sich wohl in Gedanken, wie die armen Leute luegen werden, wenn ihre Gabe kömmt, wie sie mit tränenden Augen den Wagen umstehen, Gott und der Geberin mit gerührtem Herzen danken und jede herausgehobene Gabe aufs neue preisen und loben werden. Hie und da mag ihr Traum in Erfüllung gehen, aber wenn sie andere Male sehen könnte, wie die Leute sich zanken um den Wagen herum, wie sie nur darin eins sind, die Gaben auszuführen, wie man sie fast nicht abnehmen mag und doch keins dem andern seinen Teil gönnt, und wie leichtsinnig man damit umgeht, es würde der guten Frau ein andermal sicher eine schwere Überwindung kosten, ebenso tief in Säckel und Schnitztrog zu greifen.

Für den eigentlichen Menschenfreund ist es wahrhaftig ein erschütternder Anblick, zu sehen, was die Herzen von Unglücklichen gebären, nicht sowohl in der Stunde des Unglücks, als wenn die Hülfe kommt von guten Leuten. Es ist da, als ob der Bodensatz jedes Herzens aufgerührt würde und Zeugnis ablegen müßte auch über das innere Elend. Ich will nicht näher das traurige Tun bezeichnen, nicht mit einzelnen Zügen es belegen, nicht sagen, daß es gerade jetzt in Eggiwyl oder Röthenbach so zugeht, aber bei dieser Gelegenheit möchte ich den Beschädigten aller Art und aller Orten dringend zu Gemüte führen, daß sie ja doch ihre Herzen bewahren möchten vor Neid, Ungenügsamkeit, Mißtrauen, Selbstsucht, Unredlichkeit. Denn wo diese zutage treten, verurteilen sie nicht nur die Herzen und bringen den Unsegen über die Gaben, sondern sie töten bei vielen das Mitleid, oder es bildet sich wenigstens das Urteil, daß die Begabten keine Gabe verdient hätten. Ich kenne einen verunglückten Ort, wo das wüste Betragen der Leute an den Steuern mehrere tausend Franken schadete und die meisten Geber reuig wurden, daß sie die milde Hand aufgetan.


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