Jeremias Gotthelf
Die Wassernot im Emmental
Jeremias Gotthelf

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Mitten zwischen Röthenbach und Eggiwyl stunden zwei Häuser mitten im Tale, nicht weit von des Baches flacher gewordenen Ufern, »im Tennli« nannte man die beiden Häuschen, von denen das eine ein Schulhaus war, das andere ein Krämer bewohnte mit Weib und Kindern, von denen zwei die Gabe der Sprache entbehren. Die Wasser hatten des Krämers Haus umringt, ehe er fliehen konnte mit seinen Kindern, seiner Kuh. Durch die Fenster der untern Stube schlugen gewaltige Tannenbäume; er flüchtete sich mit den Seinen in die Kammern hinauf. Aber nun erst sahen sie recht die Größe ihrer Not, die Wut der Flut, die unaussprechliche Gewalt, mit welcher die größten Bäume wie Wurfgeschütze hochaufgeschleudert wurden und ihrem Häuschen zu, wie sie an den Fenstern vorbeifuhren und sogar das Dach über den obern Fenstern beschädigten. Sie sahen das oberhalb leerstehende Schulhaus aufrecht daherschwimmen und an der westlichen Ecke des Daches sich feststellen; es schien ein Schirm, von Gott gesandt, Holz stauchte davor sich auf, ein immer sicherer werdendes Bollwerk. Da betäubte die Hoffenden ein fürchterliches Krachen, eine Woge hatte das Schulhaus fortgerissen, mit ihm das schützende Holz. Aufs neue donnerten die Tannen Sturmböcken gleich an das schutzlose Häuschen; aufs neue gruben die Wellen dem Häuschen das Grab; es senkte sich mehr und mehr, und mit lebendigen Augen mußten die Armen immer näher schauen ins grause Grab hinab, das ihnen die wütenden Fluten tiefer und immer tiefer gruben. Sie ertrugen den Anblick nicht; er war fürchterlicher, als ein sterbliches Herz ertragen mochte. In der obern Ecke der Kammer knieten sie nieder, die Eltern die Kinder umschlingend, die Eltern von den Kindern umschlungen; dort weinten sie und beteten und bebten, und kalter Schweiß bedeckte die Betenden. Und die Kinder jammerten den Eltern um Hülfe, und die Stummen liebkosten und drängten sich an die elterlichen Herzen, als ob sie in denselben sich bergen möchten, und die Eltern hatten keinen Trost den armen Kindern als beten und weinen, und daß sie alle miteinander untergehen, in der gleichen Welle begraben werden möchten. Über drei fürchterliche Stunden harrten sie aus, betend und weinend, litten jede Minute die Todespein, litten hundertachtzig Male die Schrecken des Todes, und die Herzen schmolzen nicht, ihre Augen brachen nicht in dieser gräßlichen Not! Der Herr hörte das Beten. Das entsetzte, untergrabene und halbeingefallene Häuschen blieb stehen, und die armen Kinder mußten nicht trinken aus den trüben Wassern. Der Mann mit seinen Kindern wird sein Lebtag an seinen Herrn im Himmel denken, den mächtigen Retter in so großer Not; sonst verdiente er, daß der Herr auch seiner nicht mehr gedächte in einer andern Not.

Von da bis zur Mündung in die Emme liegt noch manches schöne, fruchtbare Heimwesen, liegen Mühle und Säge und gerade oberhalb der Mündung Eggiwyl. Dieses Tälchen herunter brauste die wütende Flut, durch Ströme aus jeder Bergesrinne immer höher anschwellend, in ganzer Talbreite, zerstörte die Säge, nahm im wohlbesorgten Leimegut ein Scheuerchen mit zwei Kühen weg und stürzte nun auf Eggiwyl zu. Auch hier hatten die wilden Wetter getobt auf unerhörte Weise, und als nun von obenher das Schnauben und Brüllen der Wasser den Donner überstimmte und die Blitze immer feuriger zuckten, da ergriff alle der heilige Schrecken des jüngsten Tages. Sie glaubten, der Posaune Ruf zu hören, sie gedachten ihrer Sündenschuld, ihre Kniee wankten, trugen sie kaum auf den nächsten Hügel, kaum vermochten sie zu beten, nicht um ein gnädiges Gericht, sondern um des Vaters Erbarmen. Unten im Dorfe hatte des Sagers Familie vor dem strömenden Regen sich in die Stube geflüchtet, nur der alte Vater war noch draußen geblieben, zu sehen, was da kommen werde. Seiner alten Frau war nicht wohl in der Stube ohne Ätti, der nicht mehr flink auf den Beinen war, sie wollte ihn holen unten im Baumgarten, wo der Alte, auf seinen Krückenstock gelehnt, in die Wetter schaute. Da brachen plötzlich die Wasser ein, erfaßten die beiden alten Leute und trugen sie der brüllenden Emme zu. Der alte Mann wurde an einen Baum geschwemmt, und kaum hielt er sich an demselben fest, sah er sein altes Fraueli bei sich vorbeitreiben, bittend die Hände aufheben, glaubte, zu hören, wie sie »Ach Gott! » sagte – und er konnte nicht helfen, konnte seinem alten Fraueli nicht helfen, das seinetwegen in den Wassern schwamm, mußte es in den Fluten begraben sehen, während er selbst gerettet wurde. Hat der Mann wohl die Lösung der Fügung gefunden, warum der liebe Gott sein Fraueli zu sich genommen, ihn selbst noch auf Erden gelassen hat?

Das Dorf Eggiwyl war bis hinauf zum Pfarrhaus überflutet, die Mühle beschädigt, aber besonders die untere Säge dem Flutendrange ausgesetzt, wo des alten Sagers Sohn mit Weib und Kind in der Stube war. Sie retteten sich mit schwerer Not hinauf auf das Futter; aber als sie die Häupter ihrer Lieben zählten, fehlte ihnen ein teures Haupt, ein rosenrotes dreijähriges Mädchen. Sie suchten es, so gut sie konnten, glaubten es endlich in den Fluten vergraben und jammerten laut um den Liebling. Den Jammer hörte endlich ein tüchtiger Mann, der, von dem Wasser überfallen, auf einem Baume geborgen saß. Der Drang, zu retten, stieg ihm zu Herzen, und er kletterte vom Baume, über wankende Trämel weg durch die schäumende Flut und durch ein Fenster in die Stube, in welcher Stühle schwammen und Tische. Er suchte da das Kind und fand es nicht. Er rief, aber kein Stimmchen antwortete ihm. Er suchte endlich im Nebenstübchen. Da fand er das Kindlein erstarrt, bis an den Hals in Schlamm und Sand eingemauert, das Köpfchen in den Unrat gesenkt, zwischen zwei Betten, wohin es die Eltern so oft getragen hatten, wenn ihm die Schlafnot angekommen war, und wo es jetzt Rettung gesucht haben mochte in seiner Wassernot. Der unerschrockene Mann machte sachte das Kindlein los, trug es den gleichen Todesweg zurück, ohne daß der Fuß ihm bebte oder stärker das Herz ihm klopfte. Erst als er das Kindlein legte in der Mutter Schoß und dem Vater die stille Freude aus den Augen glühte («als der Vater ihm um den Hals fiel«, pflegte man sonst in solchen Fällen zu schreiben; aber ein Eggiwyler nimmt wohl den andern bei dem Hals, aber daß ein Eggiwyler dem andern um den Hals gefallen sei aus Zärtlichkeit, weiß man sich seit Mannesdenken nicht zu erinnern), da klopfte dem mächtigen Manne doch stärker das Herz und trieb ihm die Röte ins Gesicht. Ein inneres Etwas sagte ihm, der himmlische Vater hätte gesehen, was er getan, und das werde ihm wohlkommen an jenem Tage, dessen Einbrechen sie heute erwartet, der jeden erreichen wird zu der Stunde, die der Vater festgesetzt hat.

Das Mädchen kam wieder zu sich, blühte noch in selber Nacht einem Röschen gleich und verlangte dringend zu Großmütti ins Bett. Ach, das arme Kindlein wußte nicht, wie naß und kalt dem Großmütti gebettet worden war.

Der Zusammenfluß der Emme und des diesmal mächtigeren Röthenbachs war fürchterlich, der ganze Talgrund ward angefüllt mit wütenden Wassern, bedeckt mit Holz und Häusern, zwischen denen eine Kuh oder ein Pferd seinen betäubten Kopf nach Rettung emporhob. Wie die tausend und tausend Stücke Holz, ganze Tannen mit ihren Wurzeln, ästige Bäume, hundert Fuß lange Bautannen, Trämel von drei Fuß im Durchmesser, die Schwellen- und Brückenhölzer, die Hausdächer, die Spälten alle den Weg fanden im engen Bette der Emme durch das dichte Schachengestrüpp, das meist an beiden Seiten des Flusses sich hinzieht, könnte niemand begreifen, wenn man nicht bedächte, welche ungeheure Gewalt die Holzmasse riß durch dick und dünn, eine Gewalt, entstanden eben durch die unnennbare nachdringende Holzmenge und die furchtbare Wassermasse, geschwängert mit fetter Erde und darum doppelt so schwer und doppelt so gewaltig.

Keine Tentsche schützten das Land, hie und da brach auch kein Schachen mit seinem Unterholz den Zug des Stromes, darum wankte in der Holzmatt das dortige Krämerhaus im Wasserstrome, darum überschüttete er das schöne Dippoltswyl, riß dem reichen Zimmezeier ein Scheuerchen um und zahlte ihn dafür mit Sand und Steinen aus. Untenher wendet sich die Emme von der rechten Talseite auf die linke in kurzer Beugung. Wenige Schritte untenher der Beugung, ohne Schutz, fast in gerader Richtung mit der Emme oberm Lauf stunden zwei Häuser, von denen eins wieder ein Schulhaus war. Hier nun stürzte die Hälfte der Emme, krumme Wege hassend, gerade fort, zertrümmerte das eine Haus, jagte durch das Schulhaus Trämel, als ob es Kanonenkugeln seien, und ergoß sich über das fruchtbare Horbengut, mehr als zwölfhundert Korngarben mit sich schwemmend.

Der andere Teil der Emme stürzte sich unter der schönen Horbenbrücke durch, wo kein Joch den Wasserstrom hemmte, das Anhäufen des Holzes erleichterte. Und doch war es der halben Emme zu eng unter dem weiten Bogen, sie wühlte sich um die Brücke herum, würde in kurzer Zeit den Brückenkopf weggerissen, die Brücke in die Wellen gestützt haben, wenn nicht jede irdische Gewalt ihr Ende fände und also auch der Emme Macht und Gewalt. Sie rührte bei der Aschausäge das Holz untereinander und strömte durch Stall und Stuben, sie erbarmte sich des schönen Ramseigutes nicht, wurde erst recht wild, als der noch nicht abgebrochene mittlere Satz der unglücklich angefangenen Bubeneibrücke ihren Lauf hemmte, und überströmte dort fürchterlich.

Wie es den armen Leuten allen durch alle die Schächen nieder in all den schlechten, ärmlichen Häuschen ward, als der gestrige Schreck in dreifachem Maße wiederkam, als der Strom so plötzlich sie überflutete, Leben und Habe gefährdend, und niemand wußte, wohin sich retten, welches Ende der Vater da oben der Not gesetzt, das kann ich nicht beschreiben. Ginge einer aber von Häuschen zu Häuschen, er würde vieles vernehmen und in jedem Häuschen Neues, Rührendes und Schönes, Heldenmut von Mann und Weib, Gottesfurcht bei jung und alt; er würde hören von manchem Gewissen, das aufsprang im Donner der Fluten, von manchem Glauben, dem die gewaltigen Wogen nicht nur des Hauses Türe, sondern auch des Herzens Pforten sprengten zu offenem, weitem Eingang. Aber das alles so recht schön und treu zu erzählen, wäre schwer.

Ich aber bin nicht gegangen von Häuschen zu Häuschen, sondern nur der Emme nach, sah, wie furchtbar sie wider Schüpbach anrannte und wieder in der dortigen Beugung die Säge teilweise zerstörte, die Brücke zerriß, in immer wütenderem Laufe den Emmenmattschachen überschwemmte, die dortige Straße durchbrach und, die heute mattere, schwesterliche Ilfis verächtlich beiseiteschiebend, der Zollbrücke zustürzte, um dort das gestern angefangene Werk zu vollenden.

Sie kam gerade noch zu rechter Zeit, um den dortigen Arbeitern die Mühe des Abbrechens zu ersparen und einer Schar Neutäufer tückisch den Übergang zu wehren, boshaft ihnen Wasser um die Füße wirbelnd zu abermaliger Taufe, trübes freilich, aber wie es zu ihrer Lehre paßt, nach welcher der O...bach-Sameli bald ihr heiligster Heiliger werden wird.

Mit gewaltigen Armen riß sie die Brücke weg, trug sie spielend fort, als ob sie dieselbe bei der berühmt gewordenen Wannenfluh aufführen wolle; doch zertrümmerte sie dieselbe obenher. Bei der Wannenfluh erbarmte sie sich Menschen und Vieh, spülte die damals zu schmale Straße, auf der Menschen den Hals, Pferde die Beine gebrochen hätten, teilweis fort und nahm den Rest von zirka zwanzigtausend bis dreißigtausend Franken Lehrgeld, welches der gute Stand Bern ihr zahlte, damit sie seine mit zweitausend bis dreitausend Franken besoldeten oder betaggeldeten Ingenieurs schwellen und straßen lehre, in Empfang.

Der teure Kot, den sie da verschluckt hatte, würgte sie, sie spie ihn zu beiden Seiten wieder aus, rechts, wo der sich alles einbildende X. keine Schutzmauer nötig gefunden hatte, über das Ramseigut, links über den Schnetzischachen, wo ihn die liebe Republik noch einmal bezahlen mußte und wahrscheinlich wieder teuer. Dem aber frug die wütende Emme nichts nach, wahrscheinlich ebensowenig als die, für welche der Staat das Lehrgeld bezahlt.

Wo keine Felsen ihr im Wege stunden, ging sie in nie gesehener Fülle über beide Ufer weg, trug die größten Tannen über die höchsten Tentsche und jagte sie mit rasender Gewalt durch die Schächen. Eben diese Wasserfülle hauptsächlich bewahrte die untere Gegend vor unendlichem Unglück, vor einem Durchbruch der Emme, einem Ergießen des Hauptstromes durch eingerissene Schwellen und Dämme ins freie Land hinaus. Wäre der erfolgt, dann wären Dörfer zugrunde gegangen und viel mehr Menschenleben, indem man in Ebenen dem Wasser nicht entfliehen kann wie in Tälern, wo die zwei Seitenwände wenig hundert Schritte auseinanderliegen. So ergoß die Emme nicht an einem Orte, sondern fast allenthalben und zu beiden Seiten ihren Überfluß, so entlud sie sich auch einer Masse Holz, die, im Strome geblieben, noch manche Brücke zerrissen hätte. Auf die armen obrigkeitlichen Schwellen und Arbeiten hatte es die Emme mit besonderer Bosheit abgesehen, wahrscheinlich weil die für den Staat Schwellenden sie frecherweise ein klein Mühlebächlein genannt hatten. Am Fuße von Lützelflüh lag auch eine Schwelle, die trotz allem Warnen auf neue Mode, das heißt auf Sand gebaut worden war; schon lange lag sie im traurigsten Zustande, aber man sagte es nicht gerne, und zu klagen hielt der Respekt die untern Besitzer ab. Aber der verhöhnte Eggiwylfuhrmann kannte keinen Respekt, er zerstörte die letzten Reste dieser traurigen Schwelle und nahm eine Ecke Land mit sich. Zum rechten Einreißen hatte er keine Zeit, sonst hätte diese teure, aber traurige Schwelle auch noch ein teures Ende genommen.

Auf der Brücke zu Lützelflüh stund eine bange Menge. Hier und obenher hatte man ein Anschwellen der bereits verlaufenen Emme nicht geahnet. Wohl sah man seit drei Uhr einen schwarzen Wolkensaum an den obern Bergen, sah Regen dort und Blitze und hörte hie und da einen dumpfen Donner; kleine Tropfen waren gefallen, ein schöner Regen strich gegen Abend übers Land, und gelassen rüsteten die Männer ihre Tubakpfeifen, um einem Schoppen nachzugehen. Oh, wenn der Mensch wüßte in jeder Stunde, wie es andern Menschen wäre zur selben Stunde, dann wäre ihm selten mehr eine glückliche Stunde vergönnt!


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