Jeremias Gotthelf
Die Wassernot im Emmental
Jeremias Gotthelf

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Aber wenn der Menschenfreund sein Angesicht verbergen will, so trittet ihm wieder das Aufrichtende entgegen; wenn das Häßliche im Menschengeschlecht am grellsten sich darstellt, so taucht gegenüber seine Herrlichkeit leuchtend auf; wenn die Schuld, die den Menschen vor Gott verwerflich macht, am gewaltigsten hervorbricht, so stellt sich ihr entgegen eine reine, versöhnende Tat, die das Bewußtsein uns erhält, daß denn doch noch etwas Göttliches in uns sei trotz allen widrigen Erscheinungen.

Bei Kirchberg auch war man mit dem Freimachen der Brücke beschäftigt. Man war so erschreckt, daß nun alle Abende ein Anlauf der Wasser erwartet wurde; man suchte daher in der größten Eile das hemmende Holz wegzuschaffen. In die trübe und noch nicht kleine Emme fiel ein Knabe und wurde fortgerissen. Die Gefahr, in welcher ein Menschenleben schwebte, durchzuckte wie ein elektrischer Schlag fünf wackere Männer, daß sie vergaßen jede Bedenklichkeit, jede Bedächtlichkeit, sich selbst, und über sie kam einer der göttlichen Augenblicke, ein Augenblick, in dem der Mensch aus sich heraustrittet und zum Boten Gottes wird. Lebendig ward der Emme der Knabe entrissen; aber einer der fünfe, Jakob Zingg, geachtet und Vater, verlor das eingesetzte Leben, und Waisen wurden seine Kinder. Er ward ein Opfer seiner Menschenliebe, aber war er nicht auch ein sühnend Opfer, das er Gott und Menschen für seine irrenden Brüder brachte, die aller Liebe vergaßen, ein Opfer den Bitten zum Siegel: »Vergebet, so wird euch vergeben! Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!«

Die Kunde von dem fürchterlichen Gewitter und der Emme Wüten durchflog das Land, und die Schrecken des Augenblicks mit der Größe des Schadens, den grausen Anblick des Tales mit gänzlicher Zerstörung verwechselnd, redete man von zugrunde gegangenen Millionen, und, je weiter vom Tale, desto größer wurde der Millionen Zahl. Der Wunsch, den Schauplatz des Unglücks zu sehen, drängte sich Tausenden auf, und wenn man sagt, Tausende führten ihn aus, sagt man nicht zu viel. Dieser Wunsch drängte sich den mittleren und besonders den unteren Ständen auf, und sie führten ihn aus. Die obern Stände sind Sklaven der Mode, sie spazieren und reisen nach dem Zuge der Mode. Ein neues Naturereignis kömmt nicht alsobald in die Mode, und ehe es dareinkömmt, ist sein Charakter verwischt; doch gibt es auch Ausnahmen wie zum Beispiel Goldau.

Um solche Ereignisse aufzufassen, braucht es ein offenes Gemüt, einen gesunden Sinn; auf den Anblick desselben kann man sich in keinem Handbuche vorbereiten, darum getrauen sich viele nicht hin. Goldau steht aber in jedem Handbuch, darum wandern dort die meisten Wanderer. Zudem ist man in höhern Ständen zu vornehm, um neugierig zu sein, zu gleichgültig für alles, was außer den eigenen Kreisen liegt, zu bequem für einen beschwerlichen Tag.

Möglich auch, daß es Menschen gibt, die nicht gerne dahin gehen, wo eine überirdische Macht so Ungeheures vollbracht. Ein dunkles Gefühl sagt ihnen, daß in der Nähe Gottes jede irdische Größe verschwinde und zwischen dem Bettler und dem Kaiser kein Unterschied mehr sei, und welcher Unterschied dann zwischen irgendeinem Knecht und irgendeinem Schreiber, meinethalben Gemein- oder Staats- oder Kompanieschreiber?

Es gibt ja Menschen, die nicht dahin zu bringen sind, wo sie nicht allein reden können, oder wo nichts von ihnen geredet wird, sondern vielleicht nur von Gott, Menschen, die um ihre teure Person eine solche Blase von Dünkel aufgetrieben haben, daß sie sich unendlich groß vorkommen und möglicherweise andern auch. Sie mahnen mich an ungeborne Kinder in der Wasserblase, nur daß sie deren Unschuld nicht haben und eben aus der Blase heraus am heftigsten schreien. Kann ein Kühner die Blase zersprengen, dann schweigen sie kleinmütig. Die Kinder haben es umgekehrt. Begreiflich wagen sich solche nicht in ein so enges Tal, an dessen schroffen Seiten die teure Blase zerspringen könnte, sie verstummen müßten. Sie gehen nicht dahin, wo Gott so nahe war, müßten sie doch da zusammenschrumpfen wie Käfer an der Sonne; sie fühlen es doch, daß Gott einen nicht für das nimmt, für was man sich selbst ausgibt, oder was der Schneider aus einem gemacht. Solche Kreatürchen fliehen Gott oder leugnen ihn gar.

Es gibt aber auch eine Menge Menschen und besonders in der sogenannten ungebildeten Klasse, denen die Aufregung ihrer Gefühle wahre Wonne, eigentliche Wollust ist, und wenn sie zur tiefsten Demütigung führen sollte. Ein Instinkt läßt sie die hohe Bedeutung ihrer Gefühle ahnen, und daß ein kindlich Gemüt sehe und vermöge, was dem Verstand der Verständigen unsichtbar, unmöglich bleibt. Zu Aufregung ihrer Gefühle haben sie keine künstlichen Anstalten, wo der Grad der Erwärmung am Thermometer haarscharf abgemessen wird; Gott sorgt ihnen aber für lauter natürliche, und zu denen drängen sie sich: zu Krankenbetten, Leichenbegängnissen, Brandstätten, Naturereignissen überhaupt; ja, ich glaube, das Strömen zu Hinrichtungen sei bei sehr vielen eine Folge dieses Instinktes. Wenn nur diese Gefühle nicht Nebel blieben, nicht zu Rauchwolken würden, sondern zu Hebeln des Lebens sich gestalteten! Der ist ein Herr der Menschen, der diese Gefühle zu erregen, bis zur Begeisterung zu steigern und dann, mit kundiger, sicherer Hand sie meisternd, in Taten zu verwandeln weiß. Aber ein niederträchtiger Schuft, ein verachtungswürdiger Pinsel ist, wer diese Erregbarkeit mißbraucht zu eitlem Spiel, zu eigner Ehre, zu selbstischen, sündigen Zwecken. Ach und solcher Schufte oder Pinsel ist voll die Welt!

Aber am Sonntag den 20. August sah man solche Pinsel nicht in dem unglücklichen Tale oder nur verstummte; da redete Gott selbst zu den geöffneten Herzen. Eine feierliche Stimmung hatte eine große Menge Menschen ergriffen weitumher und schwebte die ganze Woche durch über ihren Gemütern. Früh am Sonntag machten sie sich auf, und immer feierlicher ward ihnen ums Herz, je näher sie dem Schauplatz der Taten Gottes kamen. Es ward ihnen im Gemüte wie manchmal, wenn sie in verhängnisvollen Augenblicken des Lebens mit ergriffener Seele im Klang der Glocken ein hehres Gotteshaus betraten, in welchem volltönend die Orgel rauschte. Und wie zu einem berühmten Gotteshaus an heiligem Feste wallfahrteten von allen Seiten her Menschenmassen und drängten sich ins Tal.

Diesmal war die Sonne über dem unglücklichen Gelände heiter aufgegangen, sie freute sich, den andächtigen Seelen zu beleuchten das Walten des Allmächtigen und dem Allmächtigen zu zeigen die andächtige Menge. Wie mit heiligem Schauer wehte es die Besuchenden an. Mit leisem, bebendem Schritt wandelten sie dem Brennpunkte der Zerstörung entgegen und hemmten in tiefem Staunen ihn oft; es verstummte das Schwatzen, und nur in einzelne Ausrufungen brach ihre Ehrfurcht aus. Ein kindlicher Glaube kam über sie, und keine Zweifel an das Wunderwürdigste, was die betäubten Bewohner ihnen erzählten, selbst es glaubend, stiegen in ihnen auf; daß große Kommoden und Schränke zu kleinen Türen und Fenstern herausgeschwommen, wurde mit dem gläubigsten Vertrauen angenommen und weitererzählt. Wo die Verwüstung am gewaltigsten hervortrat, stunden die Wanderer in tiefer Ehrfurcht still wie an Altären Gottes und beugten in tiefer Ehrfurcht ihre Herzen vor des Herrn unendlicher Macht.

Die andächtige Menge sammelte sich in und um die beiden Kirchlein im obern Tale, und offene Ohren und offene Herzen fanden die Worte der Diener Gottes; aber eigentlich war das ganze Tal ein Gotteshaus geworden, eine heilige Kirche, jeder Wandelnde ein Beter und jeder Beter unaussprechlicher Seufzer voll. Es zog der Mann mit dem Weibe, die Braut mit dem Bräutigam, der Schatz mit dem Schätzchen, der Spaßvogel mit seinen Kumpanen; aber im Gefühl ihrer Niedrigkeit in der Nähe Gottes waren alle anderen Gedanken untergegangen, der Spaß vertrocknet, das Lachen verstummt und alles eins geworden im Bewußtsein, Staub zu sein in des großen Herrn Hand.

Es war ein heißer Tag, der Wein Bedürfnis geworden; aber seine sonstige Gewalt hatte er nicht, er weckte weder Scherz noch Streit, vertrieb die Andacht nicht. Niemand vergaß den heiligen Boden, auf dem er wandelte.

Die Scharen wogten feierlich wie Welle auf Welle das Tal auf und nieder, unübersehbar, ungezählt. Wahrlich, die Herzen des Volkes sind noch nicht flach- und hartgetreten, sind noch für die schönsten Gefühle empfänglich; aber leider verflüchtigen sich diese gar zu gerne in luftigen Dunst, werden nicht genährt und großgezogen, um als Taten die Herzen zu verlassen.

Aber wie im menschlichen Leben mitten in das Leid die Freude trittet, mitten in die Freude das Leid, so sprudelt oft in den tiefsten Ernst hinein das Lächerliche und umgekehrt. Hier erschien auf einmal mitten in der andächtigen Menge ein Engländer, über seinen glotzenden Augen der bekannte Strohhut und in den bekannten Armlöchern der Weste die glacierten Daumen. Woher er kam, und wohin er ging, ist bereits zur Sage geworden, denn nach den einen soll er das Tal hinauf-, nach andern hinabgegangen sein. Er erschien in Röthenbach, wollte zu Fuß nicht weiter und verlangte nun in schwer zu beschreibender Sprache Transportmittel für seinen teuren Leib. Schwer war ihm begreiflich zu machen, daß man weder fahren noch reiten könne.

Nun forderte er eine Sänfte; verdutzt sah man einander an, aber man besann sich lange nicht, was das eigentlich sei. Endlich fiel es jemandem ein; aber was half das, da man in Röthenbach keine Sänfte hatte! Aber der Engländer wollte getragen sein, möge nun eine Sänfte dasein oder nicht. Die Leute waren zum Glück nicht auf den Kopf gefallen, sie stellten sich vor, jeder Sessel, auf dem man jemanden trage, werde zum Tragsessel, also zur Sänfte. Sie dachten an einen alten Lehn- oder Nachtstuhl und zogen den aus seinem Winkel hervor; sie rissen von einem Mistbücki die Stangen weg und befestigten sie mit guten Seilen an den Nachtstuhl.

Um diese Anstalten versammelte sich eine bedeutende Menge, vergaß die Andacht, ergötzte sich an dem eigentümlichen Wesen des Engländers. Lachen war auf allen Gesichtern, und Witzworte flogen hin und her, reichlich und lustig. Er aber stund mitten in der lachenden, spottenden Menge mit den Daumen in den Armlöchern da, echt lordmäßig, stumpf oder erhaben; daß die gemeine Menge über ihn lache, daß er ihnen vorkomme wie den Spatzen ein Kauz am Tage, was kümmerte ihn das! Oh, so ein Engländer hat es in seiner Erhabenheit unendlich weiter gebracht als alle unsere vornehmen Söhnchen zusammengenommen; die begehren auf wie Rohrspatzen und Frösche im Teiche, wo so ein Engländer unbewegt bleibt wie ein Gott über den Kreaturen. Endlich unter großem Jubel setzte er sich mit hängenden Beinen und verschränkten Armen in den alten Sessel. Von zwei handfesten Burchen aufgehoben, von spaßtreibenden Scharen begleitet, begann er die Reise, und der Spott zog hinter ihm drein, kam auf allen Gesichtern ihm entgegen. Er aber blieb unbewegt, versuchte nur zuweilen seine ihm schwer werdenden Beine in eine andere Lage zu bringen und teilte hie und da ein Geldstück aus. Er verschwand, wie er kam, man weiß nicht mehr recht, wohin; aber hinter ihm blieb das Gerücht, er hätte gesagt, er verreise jetzt nach England und wolle es dort seinem Vetter sagen, wie übel es ihnen hier ergangen, und der müsse ihnen dann eine Million schicken, und diese Million wird noch heutzutage und in allem Ernst erwartet.


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