Jeremias Gotthelf
Hans Joggeli der Erbvetter
Jeremias Gotthelf

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Stille wird es in einem Hause, aus welchem man einen Toten getragen, nicht nur, weil die Leidtragenden sich entfernt, sondern es wird stille wie in einem Leibe, aus welchem die Seele geschieden ist. Bleiben auch Lebende im Hause zurück, so ziehen doch, wo die Liebe wohnt, auch ihre Seelen mit dem Sarge, geben geistig das Geleite den sterblichen Resten des Geliebten. So war es auch im Nidleboden. Öde und leer war es auch dort geworden, es war, als ob der Schutzgeist entschwunden sei, der Geist, der Ordnung schafft, die getrennten Teile bindet und einem Zwecke dienstbar macht. Stille war es nicht, bitterlich weinten die meisten der Zurückgebliebenen, und kläglich miauend strich die schwarze Katze herum, bis sie endlich bei Bäbeli stillestand, an ihm herumstrich, zu ihm aufsah und noch jämmerlicher miaute: »Ja, schreie nur, du armes Tier!« sagte Bäbeli, von Mitgefühl ergriffen, »dir ists übel gegangen wie mir; der ist fort, der dich so lieb hatte, und was der mit dir anfangen wird, welcher nach ihm kommt, ist Gott bekannt. Ich weiß auch nicht, wo ich hinsoll, und was aus mir wird. Aber wer weiß, vielleicht nimmt der, welcher mir einen Aufenthalt anerboten hat, auch dich. Sie sind so gute Freunde gewesen, daß er dich sicher nicht im Stiche läßt, wenn ich es ihm sage.« Es war ordentlich, als ob das schwarze Tier den Trost verstehe. Es stellte das wehliche Geschrei ein, leckte des Mädchens Hände, legte sich endlich in dessen Schoß zur Ruhe und begann behaglich zu schnurren.

Wenn aus Ost oder Südost der Wind geht, so hört man im Nidleboden das Geläute von der Kirche her, hört das Mittagsgeläute, hört die Schläge der Totenglocke. Von dorther kam am selben Tage der Wind ums Haus, in den Baumgarten hinaus. Jedes für sich, damit keins das andere störe im Horchen und Sinnen, standen die Zurückgebliebenen, lauschten auf die Töne vom Kirchlein her, sahen einander fragend an, schüttelten verneinend die Köpfe. Das Läuten beginnt, wann der Sarg dem Kirchhof sich naht. Sie wollten im Geiste bei seinem Grabe sein, wollten beten ins Grab hinein, wollten mischen ihr Gebet mit der über ihm zusammenrollenden Erde, den andern gleich, die am Grabe standen. Da hob das Mädchen, welches als äußerster Vorposten auf einem großen Erdhaufen stand, die Hand empor und rief: »Hört, hört!« Da klang es wirklich durch die Lüfte, leise wie Geisterwehen, lauter schwebten dann einzelne Glockentöne heran, Geisterstimmen, welche die Kunde brachten, jetzt nahe der selige Kirchmeier seinem Grabe, jetzt werde der müde Leib in die Erde gesenket, um wieder zur Erde zu werden, aus welcher er genommen worden.

Da weinten alle laut, falteten die Hände und baten den allgütigen Gott um Ruhe für den toten Leib, um Seligkeit für die arme Seele.

Die Töne verklangen, man wußte, jetzt werde es stille über dem Grabe, stille auf dem Kirchhofe, in stiller Totenkammer schlafe jetzt ungestört der Selige und harre der Auferstehung. Stille verließ eins nach dem andern seinen Platz ein jedes schlich seinen eigenen Weg, und stille ward es überall, das große Haus schien zur großen Totenkammer geworden.

Endlich hörte man eine laute Stimme: sie rief zum Essen. So erfreulich sie sonst den meisten erklang, so erschrak doch diesmal mancher darob, erschrak wie ein Schlafender, ein Träumender vor dem Feuerruf, der durch die Bewußtlosigkeit des Traumes dringt.

Bäbeli war dem Willen des Gerichtsmannes nachgekommen, hatte ein Mahl bereitet, erfreute aber niemand damit. Die Bissen quollen im Halse. Es war allen, wie wenn sie Abschied nehmen sollten vom väterlichen Hause, von der Heimat für immer. Ein solcher Abschied stillt den Hunger, es sind andere Mächte, welche die Seele füllen und selbst dem Leibe gebieten, seine Muskeln zusammenziehen und öffnen die Quellen des Wehs. Gesprochen wurde ebensowenig, sein Bangen mochte niemand zur Schau legen und ebensowenig den stillen Zorn über die gefühllosen Verwandten. Bloß ein vorwitzig Knechtlein sagte: Wenn der alte Kirchmeier noch sehen könnte, wie es jetzt gehe, er würde sich verwundern. »Warum?« frug jemand. »He, darum, da könnte er sehen, wie es uns hier ist, und wie keins ein Stück hinunterbringt, nicht einmal Fleisch, und wie sie dagegen dort essen und trinken mögen, daß es einem übel darob grauset. Und dazu nicht warten mögen, wer die Arme in den Teig stoßen kann und wie tief. Da könnte er abnehmen, wer ihm am meisten anhing, ob die, welche alle Tage ihm vor der Türe waren mit falschen Worten, schlechtem Kram und ihn schon bei Lebzeiten gerne gerupft hätten wie einen alten Güggel, oder die, welche ihm gearbeitet, was es erleiden mochte, zu seiner Sache gesehen, als ob es ihre wäre, und sonst getan, was sie ihm an den Augen abgesehen.« Bäbeli meinte, er solle doch schweigen. Hätten sie recht getan bei Lebzeiten des Paten, so wollten sie sich nicht versündigen nach seinem Tode; es sei wohl gut, wenn man ein gut Gewissen habe, aber deswegen sei es einem nicht erlaubt, die andern zu richten. Seien sie, wer sie seien, so seien sie des Paten selig Verwandte, und seinetwegen müßten sie Respekt vor ihnen haben, seien sie daneben, wer sie wollten. Wenn sie nicht essen möchten, so wolle es nachher einen Kaffee machen, sie sollten machen, daß sie nicht weit weg seien, oder sich herbeilassen zu rechter Zeit. Gegen Abend werde es wohl ein Gestürm geben, daß man nicht wisse, wo einem der Kopf stehe, und niemand Zeit habe, an sich selbst zu denken.

Es war ein banger Nachmittag, welcher nun anbrach: in demselben wurde das entscheidende Wort abgelesen, wem der Nidleboden angehören solle. Dieses Wort hatte Einfluß auf alle Bewohner, gab dem Leben einzelner vielleicht eine ganz eigene Richtung. Vielleicht, so dachten es sich wenigstens mehrere, welche mit dem Gange eines solchen Geschäftes nicht bekannt waren, müßten einige noch selben Abend den Nidleboden verlassen.

Ob einige Hoffnungen hegten, wissen wir nicht, wenigstens niemand große. Der Selige hatte keine erweckt, niemand bevorzugt, sondern jedes für das behalten, für was er es angestellt hatte. Einen Jahrlohn oder zwei mochte wohl das Höchste sein, worauf, gestützt auf Vorgänge, kühne Seelen hofften.

Die Knechte vertrieben sich die Zeit in den Ställen, und frei von Bäbelis Zucht, erlaubten sie sich gar vielerlei Glossen und manch hart Urteil. Mehrere Verwandte, von weiterher kommend, waren in den Nidleboden gefahren, ob aus Bequemlichkeit oder in gewissen Hoffnungen, wissen wir ebenfalls nicht. Nun geht man auf dem Lande hinter den Leichen her, man fährt nicht. Wahrscheinlich glaubt man da noch, daß das Begleiten zum Grabe die beste Gelegenheit sei, den Menschen zu erinnern, daß man nicht in Kutschen gen Himmel fahre, weder zweispännig noch vierspännig, sondern daß man mit Angst und Not auf den eigenen Beinen dahin pilgern müsse, manchmal sogar, als wenn man Erbsen in den Schuhen hätte, und zwar ungekochte. Die zurückgelassenen Pferde nun mußten gefüttert, getränkt, geputzt werden. Die armen Tiere wurden als Repräsentanten ihrer Herren betrachtet, mußten die Achtung und die Zärtlichkeit entgegennehmen, welche man gegen ihre Herren im Nidleboden hegte, und zwar ohne all den Rückhalt, dessen in den meisten Fällen, die Türkei vielleicht ausgenommen, die Gesandten an fremden Höfen sich zu getrösten haben. Mißhandelt wurden die armen Tiere just nicht, aber erst wurden ihre eigenen Personen einer unerbittlichen Kritik unterworfen, selten ward ein Bein oder ein Auge tadellos, die Farbe gewöhnlich falsch, die Ohren zu lang befunden; dann der Pferde Herr noch viel unbarmherziger durchgenommen und zwar nicht bloß seine Person, sondern auch seine Geschichte. Die Pferde konnten nicht rapportieren, nahmen übrigens alle Schmähungen viel kaltblütiger auf, als sonst Repräsentanten zu tun pflegen; bloß allfälligen Fußtritten setzten sie wackern Widerstand entgegen und behaupteten in tüchtigen Auswürfen die Ehre ihrer Nation.

Solche Zerstreuung war dem weiblichen Geschlechte nicht geboten. Die Mägde hatten bloß mit einheimischem Geschirr zu verkehren und die Küche bestmöglichst in Glanz zu stellen. Als dies geschehen war, gingen sie in ihre Kammern, musterten ihre Habseligkeiten, dachten sich aus, auf welche Weise, ob in Säcken oder Kisten, sich im Fall der Not ihre Kleider am besten fortschaffen ließen, stürzten die Kasse, wie die Kaufleute zu sagen pflegen, rechneten, was sie anfällig noch einzuziehen hätten, überschlugen, wie sie sich durchhelfen, wie lange sie im Falle der Not ohne Verdienst sich durchschlagen könnten, weinten zwischenhinein, überwallt von ihren Gefühlen. Die armen Mägde dachten nicht in ihrer Demut, daß sie akkurat wie viele sogenannte Staatsmänner sich gebärdeten, welche der Strom der Zeit auf den Strand wirft, mit dem Unterschiede jedoch, daß, wenn die Staatsmänner weinen, sie über ihre Dummheit, ihr schlechtes Steuern weinen müssen und nicht wie die Mägde aus Anhänglichkeit an das Schiff, welches sie verlassen zu müssen glaubten, weil eine fremde Macht es eingenommen.

Doch ob seinem Schmerz vergaß Bäbeli seine Pflicht nicht. Noch dachten die andern nicht daran, als es zum Kaffee rief, welchem Ruf willig entsprochen wurde. Es dünkte ihn doch, sagte das vorwitzige Knechtlein, man sollte bald was vernehmen, schon habe es drei geschlagen. »Was denkst!« meinte Benz, »vor zwölfe kamen sie nicht zu Tische, und eine Stunde ists bis hieher.« Da klopfte es draußen, alle fuhren hochauf, man schoß hinaus, ein alt Mütterchen stand draußen, kam auf allseitiges Geheiße hinein, wußte aber nichts vom Testamente, wollte nur ihren Regenschirm abholen, welchen sie hier gelassen, weil Regen nicht zu fürchten gewesen. Sie erzählte bloß, welch schöne Aufwart es gewesen sei, wie sie nie so dabeigewesen, und doch hätte sie keine Freude dabei gehabt. Schafvoressen sei dagewesen, sogar Pasteten, Rindfleisch, Speck, Braten, Schinken, Torten, ganz weißes Brot, goldgelber Wein, süßer Tee, so habe sie es nie gesehen, und doch sei sie wohl alt. Und doch sei ihr ganz angst dabei geworden, und wie sie sich auch gewehrt, das Wasser sei ihr immer die Backen abgelaufen, denn immer habe sie denken müssen, das sei der Armen Henkersmahlzeit, und wenn die vorbei sei, dann sei es aus, dann könnten sie die Welt auslaufen wie der ewige Jude nach seinem Tode, ehe sie einen fänden wie den alten Kirchmeier, der ihnen Holz gebe und Land und Trost in jeder Not. Ihr sei immer gewesen, wenn sie nur daheim wäre und beten könnte für den Kirchmeier in ihrem Stübchen; denn wie gut einer sei, so sei er doch allweg ein sündiger Mensch und hätte das Beten nötig. Indessen weil es doch einmal dagewesen sei, so hätte sie auch genommen, eben nicht viel, bloß was sie wohl habe beißen mögen, und Gott wisse es, sie wäre mitten darausgelaufen, wenn jemand hätte mit ihr kommen wollen. Denn oben am Herrentisch, wie sie ihn genannt hätten, da hätten sie gelacht und geredet, man hätte es in der ganzen Stube gehört, und keine einzige sündige Seele hätte dort eine Träne vergossen, und der Wirt habe sich die Beine ablaufen müssen mit Weinholen, so streng seien die Flaschen leer geworden. Wenn der Kirchmeier selig das hätte sehen müssen, er hätte sich noch im Grabe umgekehrt. Da habe es auf einmal einen Aufstand gegeben. Die Leute hätten gesagt, jetzt gehe es mit dem Testamente und dem Erben an. Da sei über sie plötzlich ein Grausen gekommen, niemandem hätte sie »Behüte Gott!« gesagt, niemanden gefragt, ob er mitwolle, sie hätte fortmüssen, ob sie habe wollen oder nicht, und sei hergelaufen, so schnell als ihre armen alten Beine es vermocht hätten.

Während die einen über die Gefühllosigkeit derer am Herrentische sich ärgerten, die andern davon redeten, wie übel es vielen ergangen, die jetzt noch nicht daran dächten, vielleicht lustig heimkehrten, guckte plötzlich eins am Tische auf und rief: »Du mein Gott, wer kömmt da gelaufen?« Während alle die Hälse streckten, polterte es draußen schon über die Schwelle, brach zur Tür ein, stürzte mitten in die Stube und stand da atemlos und wie versteinert, ein Knabe nämlich, welcher sehr oft im Nidleboden war und dem Leichenbegängnis beigewohnt hatte.


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