Jeremias Gotthelf
Hans Joggeli der Erbvetter
Jeremias Gotthelf

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Einmal in einer schönen Frühlingsnacht schwebte dieser Engel nieder, leise schlich ans Herz der Tod. Am Morgen, als Bäbeli bei des Tages erstem Schimmer oben an des Bettes Häupten lauschte auf die Atemzüge des teuren Paten, hörte es keine. Näher und näher bog es sich, faßte endlich die auf der Decke liegende Hand, sie war kalt, steif. Es schlief der alte Kirchmeier, aber nicht den Schlaf, aus welchem das Krähen des Hahns den Menschen weckt, sondern den Schlaf, aus welchem die Stimme Gottes die Schlafenden zum Erwachen rufet. Aber fast wie in gewöhnlichem Schlafe lag er da, unentstellt; leise mußte der Tod geschlichen sein, ohne Krampf und Zucken der Tod die Seele gelöst haben. Der Jammer des Mädchens, der, sobald es den Paten nicht schlafend, sondern tot erkannte, überlaut ausbrach, rief das ganze Haus zusammen. Es war wirklich, als ob Kindern an dem Totenlager das Herz brechen wollte, so aufrichtig und gewaltig brach der Schmerz bei allen aus. So weit hatte der weise Mann in seiner ruhigen, aber stetigen wortlosen Güte es gebracht, daß er in den letzten Tagen niemand im Hause hatte, der auf seinen Tod spekulierte, daß selten über eines Vaters Leiche aufrichtigere Tränen flossen als über seine.

Bäbeli war untröstlich, an des Seligen Befehle dachte es nicht, Benz mußte sie besorgen. Ein alter Freund des Gestorbenen, welcher zugleich Gerichtsmann war und die nötigen Förmlichkeiten vollziehen konnte, wurde geholt und erschien alsbald. Auch er war sehr betrübt, viele Jahre lang hatte er mit dem Kirchmeier in treuer, seltener Freundschaft gelebt, jetzt war ihm, als sei er alleine geblieben auf öder Insel; ein innig Sehnen, dem Freunde zu folgen in die seligen Gefilde, ergriff ihn; »ach, wer bei dir sein könnte!« seufzte er. »Hoffentlich vergißt der Herr mich nicht, holt bald mich nach. Doch nicht, wie ich will, sondern wie er will. Lebe ich, so lebe ich ja dem Herrn, sterbe ich, so sterbe ich dem Herrn.« Darauf ging er an seine Geschäfte, verrichtete dieselben mit der pünktlichsten Besonnenheit, fand alles in der ihm wohlbekannten Ordnung, nirgends die geringste Spur von Untreue, versiegelte allenthalben und nahm die Schlüssel zuhanden.

Kaum waren er und sein gesetzlicher Gehülfe mit der Arbeit fertig, so stellten bereits Verwandte sich ein. Es war, als ob Krähen geflogen übers Land, die Kunde ausgerufen hätten stundenweit: endlich tot sei der Alte im Nidleboden. Wie Friesländer und Schottländer an den Strand rennen, wenn an ihren unglückbringenden Ufern ein Schiff geborsten ist, wie sie rennen, um im Unglück Glück zu fischen, Beute zu nehmen von den Opfern des Todes, jeder der erste sein möchte und auch der letzte, alles alleine möchte, jeden, der mit ihm rennt, mit ihm fischt und packt, als Feind betrachtet, so kamen sie daher, die Erben, in Hoffnung, die durch den Tod verfallene Beute zu sichern, jeder angstvoll, er komme zu spät, das Beste sei vielleicht schon wegstibitzt, halb und halb entschlossen, ebenfalls zu machen, was sie könnten, wenn nämlich noch was da sei. Etwas mehr Anstand beobachteten sie jedoch als die Friesländer, wenn sie an den Strand laufen, das muß man sagen; die Weiber namentlich falteten unter des Hauses Türe Gesicht und Hände andächtig, weinten am Bette, worauf der Tote lag, ein Gsätzlein, doch meist nur ein kurzes, machten dann die Runde durchs Haus, musterten, ob wohl noch alles da sei, was sie früher angemerkt, nahmen von den Dienstboten, wen sie erhaschen konnten, nebenaus, wollten wissen, wie alles zu- und hergegangen, wer zuletzt bei ihm gewesen, wie lange man gewartet, um versiegeln zu lassen, und ob nicht vielleicht der alte Gerichtsmann der größte Schelm von allen sei. Die Männer taten im allgemeinen bedächtiger und vorsichtiger, besonders die, welche bäurische Kleidung trugen. Es war nicht, daß sie nicht auch Lust zum Aufbegehren hatten, aber sie wußten, je seidener und zufriedener sie täten, desto weniger nehme man sich vor ihnen in acht, desto eher kriegten sie einen guten Grund zum Aufbegehren.

Ganz auf die entgegengesetzte Weise betrug sich der wohlbekannte Vetter Hansli, welcher, weiß der Kuckuck, wie, die Nachricht auch vernommen und so gleichsam als wie im Vorbeifahren polternd daherkam und prasselte wie eine Bombe, welche in einen Ziegelhaufen fährt. Hansli war diesmal jeder Zoll ein Herr, von außen nämlich, von den Sprungriemen an bis zu den gebürsteten Haaren, tat nun auch wie ein solcher gemachter (es ist ein großer Unterschied zwischen gemachten und geborenen Herren) Herr zu tun pflegt. Er wollte imponieren, namentlich dem alten Gerichtsmann, und redete drein als wie vom Himmel herab. Man solle sich in acht nehmen, was man mache, sagte Hansli, sitze einer am Gericht oder nicht, er müsse ihm beim – ins Zuchthaus, wenn was Ungerades gegangen. Derselbe wäre nicht der erste, welchen er dahin gebracht, er wisse, was Ordnung sei, und habe niemand zu fürchten, am wenigsten so lumpichte Gerichtsmannleni. Er wisse, was dasein solle, der Vetter selig habe das Zutrauen zu ihm gehabt und ihm alles gesagt. Er wolle gewarnt haben, sonst könne man dann sehen!

Der alte Gerichtsmann dagegen war jeder Zoll ein Bauer, von den schweren, wohlbeschlagenen Schuhen weg bis zum Zipfel seiner weißen, baumwollenen Kappe. Der steckte sein kurzes Pfeifchen in den Mund, ließ es zwischen den Zähnen baumeln, nahm Feuerzeug aus der Westentasche, brach ein ganz klein Stückchen Zunder ab, schlug langsam am stumpfen Steine Feuer, mußte ihn manchmal wenden, ehe der Zunder Feuer fing, sagte derweilen: »Ich kenne dich nicht und fürchte dich nicht. Dem Anschein nach möchtest du ein Herr sein. Aber seiest du, wer du wollest, so hast du allweg hier nicht zu regieren, einstweilen geht dich die Sache halt nichts an, und es ist möglich, daß sie dich nie was angeht. Und geht sie dich einmal was an, was ich nicht weiß, so mach dann, was du willst! Aber erschrocken bin ich nicht, und wenn du noch zehnmal ärger schnaubtest als ein halb tauber Stier. Was in solchen Fällen gesetzlich und bräuchlich ist, das wußte ich, ehe du die Läuse zählen konntest, welche dir deine Mutter hinuntermachte. Und es dünkt mich, große Ursache zum Kummer, daß es nicht recht gegangen, solltest du nicht haben, denn es ist kein Herr dabeigewesen.«

Die Umstehenden lachten oder drehten sich um; in die Nase des Herrn roch die langsame, durch das Feuerschlagen unterbrochene Rede wie starker Tabak, er stieß einige Töne aus, welche drohend klangen, aber nicht verständlich waren, schoß durch das Haus, stieß unglücklicherweise auf das arme Bäbeli und schüttete über dasselbe den Vorschuß seines Zornes.

»Was hast du mit dem Bureauschlüsseli gemacht, als du den Vetter selig tot fandest?« frug er. An das Schlüsseli habe es wahrhaftig nicht gedacht, antwortete Bäbeli aufrichtig, es hätte nichts zu machen gewußt als weinen, bis der alte Gerichtsmann gekommen und ihns aufgerichtet hätte. »Das wird sich erzeigen«, schnaubte Hansli mit hoch aufgeblasenen Backen, »die Wahrheit wollen wir schon an den Tag bringen, die Finger mußt du aufheben, Mensch! Da ists schon manchem anders gekommen, und an den Tag kam, woran niemand gedacht. Ja, tue nur wie der heilige Feierabend, gerade solche sind gewöhnlich die Schlimmsten.«

Darauf schoß er hinaus, befahl anzuspannen, stöberte unterdessen durch die Ställe, pfiff, schnaubte, fluchte abwechselnd, und hie und da ließ er eine verständliche Glosse laufen: »Verfluchte Ordnung! Sauberer Haushalt! Da möchte ich nicht Vieh sein! Wohl, da ists Zeit, daß es anders kömmt! Da kriegt einer Arbeit, ein Jahr hat er, bis er nur den überflüssigen Dreck weg hat!« So war er bis zu seiner gelieferten Kuh gekommen, da brach das Wetter, welches sich durch einzelne Stöße angekündigt hatte, im Zusammenhange los und zwar unmittelbar über Benzens Haupt. Was er für ein Nichtsnutz sei, und wie er nichts Besseres tun könne, als sich aus dem Staube machen, ehe man ihm seine schmutzige Wäsche vor die Füße werfe, war der Hauptinhalt von Hanslis salbungsreichem, mit Gewürz durchspicktem Zuspruch. Benz verstummte nicht, sondern meinte ebenfalls, das gehe ihn einstweilen nichts an, und wenn er ihm raten könnte, so sei es für ihn am besten, er mache sich zum Stalle hinaus, und zwar so schnell als möglich. Das fuhr Hansli ins Haupt; die beleidigte Majestät zu rächen, wollte er Benz zwischen die Kühe in den Kot werfen. Aber Benz, rasch von Hand und Fuß, wich aus, griff zur Mistgabel, und Hansli fand für gut, Benzens Rat zu befolgen und sich aus dem Stalle zu machen.

Es waren für die Hausbewohner trübe Tage, die drei Tage, während denen die sterblichen Reste des alten Kirchmeiers im Hause weilen und harren mußten auf die Ruhe im Grabe. Ehedem weilten Sieger drei Tage auf dem Schlachtfelde, ehe sie es verließen, harrten, ob jemand den Sieg ihnen zweifelhaft und streitig mache. Wohl dem, der als Sieger auf dem Totenbette ruht, drei Tage noch weilet in der Welt, welche er überwunden, ohne daß die Welt Klage erhebt über ihn, Zeugnis ablegt gegen ihn, daß er ihr Knecht und Sklave gewesen und von ihr überwältigt gestorben sei! Den alten Kirchmeier hatte die Welt nicht besiegt, und wenn er in sich den alten Menschen auch nicht vollkommen ertötet hatte, so war derselbe doch zusammengebrochen und hoch über ihn aufgewachsen der neue Mensch. Klage oder Fluch über den Daliegenden hörte man keine an seinem Bette, aber viel stilles Weinen, viele laute Klagen über sein Scheiden, und beides aus aufrichtigem Herzen. Was der Himmelstau im Frühling den erwachenden Blümlein ist, das sind solche Tränen den in jener Welt erwachenden Seelen. Aber für die im Hause Weilenden waren es trübe, trostlose Tage. Ein eigenes Gefühl kömmt über die Bewohner eines Hauses, in welchem eine Leiche liegt; es wird allen, als sei unter ihnen ein nach langer Krankheit süß Schlafender, dessen Ruhe man nicht stören dürfe. Leiser spricht man, leiser geht man, und doch zieht wiederum ein Gefühl der Leere, Öde nach dem Gestorbenen hin, es wird einem, als sollte man ihn wecken oder wachend finden in seinem Bette. Dazu mag man nicht arbeiten, muß bei allem, was man vornimmt, an ihn denken, fragen: »Wäre ihm das wohl recht, oder möchte er es anders?« Es ist einem, als sei mit dem erloschenen Leben das eigene Leben gelähmt, als sei ihm die beste Kraft entschwunden. Zu nichts hat man Mut und Lust, kaum hat man was angegriffen, so läßt man es wieder liegen, starrt ins Weite, geht zur Leiche. In das düstere Leben brachten einige Bewegung die Boten, welche mit Einladungen versandt wurden, und die, welche mit erhaltenem Bescheid zurückkehrten und dabei erzählten, was sie sonst noch gesehen, gehört, was sie gefragt worden, und was die Leute gedacht und gemeint.

Da nahe Verwandte fehlten, welchen unmittelbar das Recht zustand, im Nidleboden zu befehlen, so hatte der selige Kirchmeier dieses Recht schriftlich dem alten Freunde übertragen. Derselbe sollte verwalten bis zur Eröffnung des Testamentes und namentlich das Leichenbegängnis beschicken, und zwar in alter, großartiger Freigebigkeit. Sonderbar ists, die großen Hochzeiten, an welchen bei dreihundert Personen teilnahmen und drei Tage dauerten, finden nicht mehr statt, die großen Leichenbegängnisse sind noch geblieben. Welcher Schluß ließe sich wohl daraus ziehen? Zu des Kirchmeiers Leichenbegängnis sollten eingeladen werden alle ärmeren Leute in der Gemeinde, alle, welche auf irgendeine Weise dem Hause dienstbar gewesen, sei es als Dienstboten, Tagelöhner oder Handwerksleute, alle Gevattersleute und endlich alle Verwandte bis zu Noah hinauf. Mit dem Leichenbegleit war nach alter Sitte, welche über alle Gesetze den Sieg davongetragen, ein Leichenmahl verbunden, üppiger oder knapper, nach den Umständen. Des Kirchmeiers Wille war, daß für das Essen alleine ein Franken bezahlt würde; der Wein, soviel man trinken möge, und so gut, als man ihn haben könne, besonders berechnet. Er wußte aus Erfahrung, wie glücklich ein Armer an einer solchen Mahlzeit lebt, wie sie zu einem Sterne wird, an dem er sich erfreut mitten in der schwarzen Nacht des Elends.

Die Verwandten, und namentlich die Gebildeteren unter denselben, welche aber leider in der Lage waren, auf ein solches Erbe nicht lange warten zu können, ebensowenig als gewisse Staatslichter auf einen zu hebenden Schatz, hatten darauf gedrungen, daß das Testament, welches sich vorgefunden, durch das außerordentlich zusammenzurufende Gericht gleich am Begräbnistag eröffnet werden solle. Da der Gerichtsmann anfänglich einige Bedenken hatte und auf das Unanständige dieses Nichtwartenmögens aufmerksam machte, so meinte Hansli, anständig und unanständig sei veraltet Zeug, es frage sich, was gesetzlich sei. Sei er nur etwas Meister, so müsse in die neue Verfassung ein Artikel, daß jegliches Testament dreiviertel Stund nach dem Tode eines Menschen eröffnet werden müsse, und zwar von Rechtes wegen und auf Staatskosten. Darauf hatte der Alte gesagt: »He nun, wann es so gemeint ist, so habe ich nichts darwider, es hätte mir nur geschienen, es möchten viele noch lange früh genug vernehmen, was im Testamente steht.«

Es war eben wieder ein schöner, freundlicher Frühlingstag, als der selige Hans Joggeli begraben werden sollte, so recht ein Tag zur Aussaat, ein Tag, welchen man als Pfand nehmen konnte, daß, was gesäet wird verweslich, auferstehen werde unverweslich, was gesäet wird in Unehre, auferwecket werde in Herrlichkeit, und in Kraft, was gesäet wird in Schwachheit. Ein duftiger Tag, wo man es so recht begreift, was Paulus sagt: »Es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferwecket ein geistiger Leib. Es ist ein natürlicher Leib, es ist auch ein geistiger Leib.«

Der Begräbnistag ist für viele Überlebende schwerer als der Todestag, und namentlich, wenn des Hauses Haupt zu Grabe getragen wird. Da ists, als ob des Hauses Bewohner Glieder eines Leibes wären und bei vollem Bewußtsein die Seele aus dem Leibe, durch welchen sie zusammenhingen, die Seele, durch welche der Leib bestand, müßten hinaustragen sehen, nun gewärtigen müßten, der erste Windstoß zerstreue die auseinanderfallenden Glieder nach allen Winden. Da ists, wo das innigste Gefühl, welches am Todestage ins Kämmerlein sich verbergen durfte, an die heiße Sonne muß oder an rauhe Winde. Brennen und zucken des Leibes Wunden so schmerzlich in der Sonne Glut, im Blasen der Winde, um wieviel heißer brennen und zucken wohl die Wunden der Seele in roher Kälte, in den Funken sprühenden Mißtrauens, im Sturme windigen Geredes!


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