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Warschau und die Lebensarten daselbst zu preußischer Zeit.

Man denke sich eine ganze Stadt fast von Kirchen und Palästen, mitten inne öffentliche Prachtgärten, freie Plätze und begitterte Prachträume vor den Palästen. Man denke sich diese Scenerie belebt von allen Spektakeln des orientalischen Luxuslebens, eines Adels von königlichem Geblüte, von Woiwoden und Starosten, die, wenn auch ohne politische Bedeutung, ihre frühere Herrlichkeit und Gewohnheit nicht vergessen und ihre Reichtümer noch nicht verloren hatten. Auf den Gassen und Marktplätzen immerdar ein Gewimmel von Schacherjuden, Soldaten und national gekleideten Edelleuten vom Land, von Fremden, von politischen Abenteurern, Glücksrittern und Virtuosen aus allen Sphären und aus allen Enden der Welt. Ein Babel von allen Sprachen und ein lebendiges Museum von allen Lebensarten und Trachten in Europa, um nicht zu sagen, in Asien und Afrika; denn auch von daher waren die Proben nicht selten in Zigeunern, Russen, Türken und Armeniern, und auf einer Staatsequipage saß sicherlich ein Mohr. Desselbigengleichen zwischen russischen Kibitken und zwischen Karren mit blaugrauen podolischen Ochsen bespannt, jagende Doroschken und Prachtkutschen, zuweilen mit Läufern vorauf und mit fahrendem oder berittenem Gefolge wie mit einem Kometenschweif angethan; hinter und vor jedem zu Fuß stolzierenden Edelmann oder auffallend gekleideten Fremden aber ein Andrang von Juden, Faktoren, deren jeder seine Dienste, Waren und Wissenschaften rekommandiert. In allen Straßen Ungarweinkneipen, Kawiarnien (Kaffeehäuser) und Restaurationen auf Flacki und Zrases (eine Art Beefsteaks oder polnischer Klops). Für die Bürgerklassen Gartenvergnügungen, Bierhäuser auf Luftbier und süßes Haferbier (mit Zucker und Reismehl zum Moussieren gebracht). Vor allen Hotelportalen, in allen Durchgängen, in allen Winkeln, auf allen Plätzen Obst-, Wurst- und Brotbuden, Buden mit warmen Volksmahlzeiten, dann wieder mit Pfefferkuchen, mit Mackakigi (Mohn mit Honig zu kleinen Plätzchen gebacken), mit Johannisbrot, Apfelsinen, Feigen, Datteln und Lambertsnüssen, Schnaps- und Metschenken aber für Juden- und Christenpöbel eine Million! Hoi da dinna dinna juchzende Bauersleute und kleine Schlachtschitzen (drobna Szlachta) die ganze Welt voll. An Sonn- und Feiertagen eine wogende See von gleißend bunt geputzten Landleuten hinter all den Kirchenprozessionen mit Fahnen und tragbaren Muttergottesaltären und mit brennenden Wachskerzen unter Glockengeläut. An allen Werkeltagsabenden auf allen Gassen die Schimka und scharmanta Kathrinka, das ist: Leierkasten, Guckkasten, Schattenspiel an der Wand, Puppentheater hinter dem Schirm. In allen Kneipen Bierfiedler und Judenmusik, besoffne Mazurken und Krakowiaken, was die Absätze und Lungen herhalten wollen. Zur Abwechselung mit all dem christlichen Spektakel auch noch Juden- oder Zigeunerhochzeiten, wenn die Bauernhochzeiten eben ausgingen. Endlich als Intermezzos Hinrichtungen, Mord, Prügeleien und Spitzbubengeschichten ohne Abreißen, die Kriegs-, Occupations- und Einquartierungshistorien nicht zu vergessen. Und zu dem allen eine liberale, mitlebende, stets bestechliche Polizei. Das war mal eine Wirtschaft, das war ein Leben, das war der Himmel auf Erden, wenn man da so mitten drunter und drinnen sein konnte! Und das machte sich für meine neugierige und auf Abenteuer stets erpichte Kindheit durch Vermittelung des Gesindes, der ältern Geschwister und der mancherlei Hausfreunde ganz wundervoll und wie von selbst!

Mein Vater war Stadtgerichtsdirektor, zugleich Anwalt und Notar, er hielt eine große Kanzlei, und wir hatten ein apartes Haus und Hinterhaus inne, mit Stallungen und Remisen, auf dem Tlomacke Hof. Wir hatten ein Landgut, eine Stadtequipage, Kutscher und anderes Gesinde, und auch die Hausoffizianten thaten mir schon einen Gefallen, da ich hinterdrein von den Abenteuern kurios und lebendig genug zu berichten verstand, und im Notfall wußt' ich sogar meiner Mutter Amme, die alte Neumann, meine ordentliche Pflegemutter, so lange zu persuadieren, daß sie mit mir ging, wohin ich wollte. Ach, es war eine bunte, eine köstliche, eine überall aufgelöste Zeit!

Jedermann vom ersten bis zum letzten, Kinder und große Leute, Herren und Diener, Fremde und Einheimische schienen stillschweigend darin übereingekommen und nur der einen Lebensphilosophie beflissen, daß eben eine Übergangszeit, eine Interimshistorie absolviert und ausgefüllt, daß von der Oberfläche geschöpft und schnell gelebt werden müsse, ohne viel Vorbereitung, Sittlichkeitskrupel und Pedanterie. Eine alte Zeit war von Napoleon, dem welthistorischen Philadelphia, vollends kopflos gemacht, eskamotiert und über Seite gebracht worden, und jetzt spekulierte der moderne Saturnus auf die altgläubigen, altbackenen Deutschen und ihren historischen Zopf. Scilicet: die Zöpfe hatten sie sich wohl Skandals halber abgeschnitten, aber der eine Zopf, der Urzopf, den ihnen der deutsche Gott und die deutsch-vorsündflutliche Weltgeschichte gemacht hat, der hing ihnen hinten wie von Anbeginn, und der konnte dem heroischen Toilettenkünstler ebensowenig Stich halten wie die Zöpfe und die Herzen, die dazumal vor dem Helden von Europa bekanntlich allesamt in die Hosen fielen. Das fühlten alle, und so verzweifelte, resignierte, verbrüderte, übertäubte, entpuppte oder verpuppte man sich. Alles das je nach Lebensalter, Temperament, Bildung, Aussicht, Ansicht, Einsicht, Zuversicht, Courage oder Desperation.

Wie meine lieben Eltern und großen Geschwister gesonnen und gestimmt waren, könnte ich nur aus fragmentarischen Äußerungen späterer Zeiten und aus einem Allerlei von farbenschillernden Eindrücken sehr unzuverlässig erspekulieren, darum mag es auf sich beruhen; aber so viel kann ich wohl mit Bestimmtheit vermelden, muckerhaft, pedantisch, sittenrichterlich, schismatisch und kopfhängerisch waren meine Eltern keinen Augenblick ihres Seins. Für Reformatoren und Propheten hielten sie sich auch nicht. Zum schlappen juste milieu gehörten sie nie, und so werden sie wohl nicht schlimmer wie die Schlimmsten und auch nicht besser wie die Besten gewesen sein.

Aber das lohne ihnen Gott im Himmel, daß sie mich durch ihr Beispiel Kameradschaft und Menschenliebe lehrten, daß sie nicht Umgangsekel mit Volk und Gesinde thaten und sich von meinem Gaffen- und Gesindeverkehr keine Vornehmigkeit affektierenden, sittlichkeitsprüden Pädagogenskrupel ergrübelten, sondern nach Möglichkeit meinen natürlichen Inklinationen und allen unverfänglichen Gelüsten und Natur-Geschichten in mir so lange den Zug ließen, bis es eben an der Zeit war, am Steuer mit einem guten Ruck die vernünftige Laufbahn und Lebensart zu markieren. Probatum est, es hilft gewiß, wenn man die Natur nicht vornherein zum Narren macht, mit einem sublim ausgeklügelten Popanz von gefaselter Objektivität, von Schulvernunft und leidiger Konvenienz.


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