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Zur Kinderphysiognomie.

O über die Kindermärchen!

» Wer bricht mein Haus, wer bricht mein Haus?« ruft die alte Hexenmutter den im Walde verirrten Kindern zu, die auf dem Pfefferkuchendach sitzen und sich's gut schmecken lassen; und das Brüderchen und Schwesterchen antworten mit ihrer Unschuld himmlischem Witz: » Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!« Welcher Professor oder moderne Poet kann heute noch so ein Kardinalmärchen erfinden!

Ein Pfefferkuchendach und auf demselben ein Paar im Walde verirrte Kinderchen, in Hunger und Luft. – Welcher Magisterverstand vermag so im Sinn und Bedürfnis der Kinderphantasie zu erdichten, und dann wieder die mutterwitzige, kindlich schöne, echt idealisierte Antwort »der Wind, der Wind, das himmlische Kind!« Ich hab' es nie klar verstanden, und doch in meiner Kinderphantasie so wunderbar überdichtet, so tief empfunden, in Herzensschauern, in Gesichten von Himmel und Erde zugleich, daß ich's nicht sagen kann!

Die Metapher war meinem Verstande, aber sie war nicht meiner in Naturempfindungen verzückten Seele zu kühn! Daß der Wind was Göttliches und Himmlisches sein müsse, empfand ich schon in dem wirklichen Wind, der Wind im Märchen war aber von einer ganzen Geister Scenerie accompagniert. Meine Phantasie hat immer eine Mondnacht dazu gedichtet, denn es mußte schon spät sein, als die Kinder an das Haus kamen, und nun trieb der Wind die leichten Wolkenschleier der geisterblickenden, silberglänzenden Mondscheibe vorüber, und es war mir so, als müßten die Seelen der Kinder irgend wie mit Himmel, mit Mond und Winden in Zusammenhang und im Einverständnisse stehen, und sie selbst waren die Engel, die den Wind aus ihren Backen bliesen, wie ich das auf Kirchenbildern gesehen hatte. So war mir das, und viel schöner, als ich es heute versteh'.

Soeben höre ich eine köstliche Naivetät. Ein klein Schwesterchen schenkt ihrem zur Akademie gehenden Bruder Studiosus ihren ersparten Sechser, mit dem ernsthaften Bedeuten: » hier hast du drei Thaler, lieber Ludolf (Rudolf), tauf dir dafür acht doldne Dutaten (kauf' dir dafür acht goldne Dukaten).« Das arme Dingelchen konnte nur bis Achte zählen, und goldene Dukaten waren ihr von der Amme als das köstlichste Geld und Gut vorgestellt worden.

Was ist das doch für eine himmlische Zeit, wo einem ein Stück Geld so viel gilt, als man eben will und mit Worten benennt, also in casu ein Sechser drei Rthlr. und dann wieder auch acht goldene Dukaten; was ist das für eine echte Märchenpoesie, wo ein Ding eben zu dem wird was der Sinn denkt, das Herz wünscht und das unentweihte Wort sagt, das es eben sein soll. Es ist aber ein charakteristischer Zug kleiner Kinder, daß sie meinen, ein Geldstück könne für so viel ausgegeben werden, als man seinen Wert ganz ernsthaft mit Worten benennt und angiebt.

O du Kindermund!
Vogelsprache kund!


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