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Warschau von Sonst und von Jetzt.

An Warschau, meinen Geburtsort, knüpfen sich meine frühesten Erinnerungen. Wundersam ist es, was in der Kinderseele von den ersten Eindrücken aus einer großen Stadt für ein Allerlei der disparatesten Dinge zurückbleibt, wie scharf und physiognomievoll eben das Geringfügigste und Zufälligste gefaßt wird, und wie nichtsdestoweniger die schreiendsten Kontraste, ähnlich der Traumwelt, in einem und demselben Grundton ausgefärbt und abgedämpft sind, wie alle die Konfigurationen der illusorischen Kinderwelt von demselben Klima und Evolutionsprinzip, von derselben Vegetation und Existenzart Zeugnisse geben.

Das ist aber eben der wunderbare Grundcharakter der Naivetät. Im Traume wie im Kinderdasein ist die grellste Mannigfaltigkeit durch eine und dieselbe Lebensfühlung und Stimmung zur Einheit gebildet. An dem einfältigen, liebenden Sinn, an dem naturheiligen Organe des Kindes hat auch der tollste Metamorphosenwechsel das gesunde Gegengewicht, welches nicht sobald eine moralische oder logische Verwunderung aufkommen läßt; wogegen die gelehrten und erwachsenen Leute, selbst bei heiligen und poetischen Gelegenheiten, Prinzip, Zusammenhang, Übergang, Vermittlung und Möglichkeit auf profane und Ärgernis gebende Weise in Rede stellen und kontrollieren. Was auch immer an Kuriositäten, Dissonanzen und Überraschungen in den Gesichtskreis des Kindes springt und in seine Phantasie, das wird, ähnlich wie es von einfältigen Landleuten in der Feenoper geschieht, ohne kritisch-historische Vertretung der Einzelmomente, nämlich in Bausch und Bogen und wie wenn alles ebenso und nicht anders sein müßte, entgegengenommen. Vom absoluten Wunder des Lebens ist die Seele des Kindes, wie des Menschen aus dem Volke, ein für allemal erfüllt, und die Grundbewegung ist von Haus aus Glaube, Andacht und Wundergefühl. Somit kommt es denn in dem einen massiven Wunder des Lebens, in welchem alle Dinge wie in ihrem angestammten Elemente bestehen und auf ihrer Wurzel wachsen, nicht mehr auf eine skrupulos vergleichende, analysierende, auswägende und klassifizierende Wunderkritik an.

Das Kind greift sich allerdings mehr noch wie der große Mensch aus der großen Welt eine kleine und aus dem großen Weltwunder ein besonderstes Schoß- und Lieblingswunder heraus; aber die Grundstimmung und Lebensfühlung ist dabei immer eine und dieselbe und das Kopfzerbrechen nie ein kritisch-profaner Prozeß, der das Wunder in Vernunftverschiß erklärt, nachdem er das Leben inquiriert, inkriminiert und abgeschlachtet hat.

Wenn ich nun so in meine Warschauer Kindheit als in meine erste Heimat zurückpilgere, und die Seele von dazumal sich wieder zu der Seele von heute heranfindet; so giebt das, um beim Bildlichen zu beginnen, ein fabelhaftes und doch ein wunderbar einheitlich geformtes und gefärbtes Chaos von Riesenpalästen, Kirchen und Schindelkabaken, von Prachtstraßen, großen Plätzen und kotigen Gassenquirlen, von bekaftanten Juden und Schlachtschitzen, desgleichen von Doroschken, Kibitken und Equipagen, von Äpfelweibern, Brotbuden und Prunkkaufläden, von Schnapsbutiken, Straßengarküchen und fürstlichen Hotels, kurz, eine Welt aus aller Welt Elementen, Lebensproben, Lumpen, Fetzen und Kulturfragmenten zusammengepascht, und so ist es mit Ausnahme der Baulichkeiten in den Hauptstraßen auch noch diesen Tag.

Die himmelschreiendsten Existenz- und Bildungskontraste, verzweiflungsvoll romantisch Stirn an Stirne gerückt, sinken und steigen, sticken und gurgeln da in demselben giftigen Miasma, gären, brodeln und brauen sich da in demselben scheußlichen Hexenkessel zu einer europäisch-orientalischen Staatsmenage und Politik.

Zu preußischer Zeit hatte sich das slawische und katholische Prinzip auf ganz unaussprechliche Weise an der deutschprotestantischen Bildung und Lebensart kontrastiert, und beide Elemente erschienen wiederum in einem leisen Duft von orientalischem Sein ausgefärbt, der das Schisma differenter Existenzen wie in einem poetischen Nebel entrückte.

So hatte ich instinktmäßig das Leben der polnischen Hauptstadt im Spiegel meiner Seele reflektiert, und so repetierte ich es in den ersten Tagen meiner Wiederkehr, bis vor der entsetzlichen Wirklichkeit die Illusionen und Morgenträume der Kindheit verschwanden wie Fata Morgana hinter dickem Nebel und Rauch. Ach, dieses Warschau ist heut' ein Rendezvous von aller Welt Schaudermysterien, von Bildungsprätensionen und Bestialität, von Üppigkeit und Hungerleiderei, von Bildungsessenzen und Bildungsexcrementen, von Schmutz und von Prunk, von Damendelikatesse und Prostitution, von Affektationen und Excessen. Ein Sprachenbabel ist diese wundersame Stadt, ein Labyrinth von verzweifelten Politiken und Intriguen, von Resignation und Sybaritismus, von politischen Martyrien und solchen Verbrechen, von Lebensvergeudung und Lebensverkümmerung, von Freiheits- und Sklavensinn, von wahnwitzigen Zuversichten und einem verzweifelten Atheism. Alles in denselben Sündenbrodem, in dasselbe Chaos getaucht! Ein scheußlicher Quirl von Juden, Spionen, Hetären, Glücksrittern und Kupplerinnen, von Barbaren der Barbarei und der Civilisation in ein und denselben Subjekten, alle dem Acheron entgegentreibend. Das sind die Radikale, das ist der Fünftelsaft, die Physiognomie und die Nativität der unglückseligen Stadt.

Wie ich seit meiner Kindheit zum erstenmal wieder und zwar als schwabenmündiger Mann, als brütender Gedankenfabrikant, seine Gassen durchwanderte und mit den alten Palästen und Scenerien die alten Lebensarten und Traumseligkeiten aus der Kinderzeit nach und nach wieder aus dem Seelenabgrund herauftauchten, da war es mir auf Augenblicke, als wenn ich das alles auf einem andern Planeten erlebt hätte.

Wie viel Tage, wie viel Monden und Jahre, wie viel Herzpulse, Lebensprozesse und Lebensgeschichten können sich doch in wenige Stunden, ja in einen Augenblick konzentrieren!

Und doch wiegte mich dieses Warschau in süße Träume, und doch schmeichelte mir dieser Brodem und Kot wie Lüfte und Äther aus Eden; denn es ist ja mein Geburtsort, der Ort, wo meine Wiege stand.

Der Genius meiner Kindheit, ihre unschuldigen Historien liegen da begraben; mit ihnen wandelte ich durch das moderne Sodom und Gomorrha, durch das jüngste Chaos europäischer Schauergeschichten und erblickte nur die guten Geister einer heiligen Kinderzeit.


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