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9. Kapitel.

»Nun?« fragte der Hausherr, der, wie Neuling sofort mit tiefer Befriedigung feststellte, tatsächlich hinter einer Bowle saß, »ausgetobt, junge Gesellschaft?«

»Es genügt auch den höchsten Ansprüchen,« lachte Cornelius und nahm neben dem Hauptmann Platz.

»Mir durscht's,« bekannte der Berliner freimütig. Seine Augen glänzten.

Genia aber stieß einen begeisterten Seufzer aus.

»Es war himmlisch, Pa'. Wir haben »Detektiv« gespielt ...!«

»Gespielt?« sagte Hintze mit Betonung, nahm aber dann schnell einen Schluck.

Genia sah ihn mißtrauisch von der Seite an, fuhr jedoch arglos fort: »Nun denkt euch mal bloß, was wir gefunden haben ...!«

In diesem Augenblicke ließ Cornelius, der sich neben sie gesetzt hatte, wie von ungefähr sein Zigarettenetui fallen, bückte sich und flüsterte ihr hastig zu:

»Still! ... Les domestiques!«

Sie stutzte, sah ihn verständnislos an und bekam einen roten Kopf. Das war ihr in ihrem Leben auch noch nicht passiert, daß ein »fremder Herr« ihr so einfach den Mund verbot. Als sie aber aufsah, fielen ihre Blicke auf die beiden Engelkes, von denen der Junior damit beschäftigt war, die Fensterläden zu schließen, während sein Vater gerade mit einem Teller Gebäck zur Türe hereintrat. Da begriff sie und bat im Stillen dem vorsichtigen Warner ab.

»Was habt Ihr denn gefunden?« fragte Frau von Puttlitz lächelnd. Sie hatte ihren Aerger über die Zertrümmerung der ersten Garnitur Gläser wenigstens äußerlich überwunden und diese auf ein gewisses Konto gesetzt. Ein Konto, das die Ueberschrift: »Herbstrennen auf Unzingen« trug.

»Ach,« erwiderte die Tochter, »ich weiß nicht, ob es Euch interessiert.« Sie war jetzt ganz markierte Gleichgültigkeit.

»Was heißt heutzutage »interessiert«?« warf der Hauptmann ein und unterdrückte ein leichtes Gähnen.

»Hab dich nich so! Wir haben gefunden, daß »Hektor« schneller rennen kann als die faule »Andromache«,« schloß Genia und wechselte einen vergnügten Blick mit Cornelius.

Die Mutter schüttelte sprachlos den Kopf.

Herr von Puttlitz aber meinte: »Das ist allerdings welterschütternd, min Döchting. Aber weshalb mußte dies ausgerechnet über Mamas Bowlengläser hinweg festgestellt werden?« Sein Ton klang mit Rücksicht auf den Gast, der doch immerhin diesen »Blödsinn«, wie er es im Stillen nannte, mitgemacht hatte, nicht ganz so vorwurfsvoll, wie er beabsichtigt war.

Dieser Gast machte ein sehr reumütiges Gesicht. »Ich nehme den Tadel auf mich. Ich hätte als der ältere ... lassen Sie nur, gnädiges Fräulein! Aber ich glaube, wir waren der Ansicht, daß es für unseren Wettlauf im Freien nicht so viel interessante Hindernisse und hauptsächlich kein so lockendes Ziel gab, wie im Hause selbst ...« Er zwinkerte dem Hausherrn ganz unmerklich zu. Doch dieser war heute abend anscheinend nicht auf Zwinkern gestimmt.

»Lockendes Ziel? Meinen Sie damit das Service, hochverehrter Herr, oder die Schienbeine unseres in Ehren grau gewordenen Senior?«

»Keins von beiden,« lachte Cornelius ärgerlich und zwinkerte noch mehr, »ich hatte die Plattform des Turmes als Ziel gesteckt ...«

»Was machen Sie denn so für ein verkniffenes Gesicht? Es ist Ihnen da oben wohl etwas in's Auge geflogen?«

Cornelius seufzte schwer. Daß doch die beiden Diener, die bei diesen verkappten Redensarten sicher die Ohren spitzten, fortwährend hier herumgeistern mußten! Wenn der andere nicht begriff, so mußte er wenigstens das seinige tun. Deshalb sagte er: »Ach, Junior, wenn ich Sie auch so betiteln darf ... gehen Sie doch einmal nach meinem Zimmer. Auf dem Tische liegt eine Schachtel Zigaretten ... eine ganz neue Sorte, Herr von Puttlitz, die ich Ihnen vorführen wollte ...«

Der eine Diener war nunmehr außer Hörweite.

Kurz vor seinem Wiedereintreten hatte Cornelius, der wie auf Kohlen saß, endlich auch Gelegenheit gefunden, mit Hilfe Genias den Senior auf eine nicht allzu auffällige Weise aus dem Zimmer zu entfernen.

In Eile teilte er die Entdeckung der Requisiten des alten Schloßherrn den Anwesenden mit, sprach seinen Verdacht, daß der »Geist« diese Dinge benützt haben müsse, aus und erklärte die Hetzjagd durch das Haus, die allerdings ungehörig und seltsam hätte erscheinen müssen.

Herr von Puttlitz wie Gattin erteilten nunmehr selbstverständlich Indemnität für alles Geschehene. Er meinte aber mit einer Geste des Unmuts, daß er dem Hofmeister gehörig den »Marsch blasen« werde; denn nur durch dessen Nachlässigkeit könne der »Kerl«, der seinen Ahnherrn imitiert, in den Georgenbau gelangt sein.

»Sagen Sie das nicht!« erlaubte sich Cornelius einzuwerfen. »Sie haben den Schlüssel zum Turmzimmer doch mindestens in ebenso guter Verwahrung gehabt. Unser Mann arbeitet zweifellos mit falschen Schlüsseln. Und dies läßt mich sicher erscheinen, daß wir es nicht mit einem flüchtigen Scherz, sondern mit einem wohlüberlegten Plane zu tun haben ...«

»Aber zu welchem Zwecke nur!« fragten Puttlitz und Hintze gleichzeitig.

Auf diese Frage zog Cornelius nur die Schultern hoch.

Da mischte sich Gisela in die Unterhaltung.

»Ihr wißt, daß ich hin und wieder ein wenig grüble und, wie Curt behauptet, über dem realen Boden in den Wolken schwebe. Ihr sprecht immer von einem »Kerl« und von eurem »Mann«, wir wollen doch einmal bei der »Erscheinung«, bei dem »Geiste« bleiben und prüfen, ob man nicht auf natürlichem oder besser gesagt wissenschaftlichem Wege uns als übernatürlich erscheinende Vorkommnisse erklären kann ...«

»Ich danke!« unterbrach sie da ihr Gatte entschieden, »die Beule an meinem Kopfe ist außerordentlich natürlich und unwissenschaftlich!«

»Lieber Curt, bitte nicht heftig. Ich will deiner Beobachtung ja nicht zu nahe treten. Aber ich habe von vornherein mit der Möglichkeit gerechnet, daß du über die »Erscheinung«, oder wie ich sie bezeichnen soll, maßlos erschreckt zu Boden gestürzt und dich dabei verletzt haben mußt ... Denn in diesem Hause, unter diesem Dache wohnen keine Feinde!« Sie sprach überzeugt und ihre blauen Augen leuchteten auf.

Daß bei ihren letzten Worten auf der anderen Seite des Tisches zwei graue Augen in einem kurzen Auflodern erglühten, bemerkte keiner der Anwesenden.

»Gut!« sagte der Hauptmann und bezwang sich, »dann war wirklich die Pfirsichbowle neulich daran schuld, obwohl heute mittag deine eigene Schwester gelinde Zweifel deutlich geltend machte ...«

»Lassen wir das!« versetzte Gisela mit einer energischen Bewegung ihrer schmalen Hand. »Während Ihr vorhin über alle Treppen dieses Rennen veranstaltetet nach einem Menschen, den man mir aber erst noch bringen müßte, damit ich an seine Existenz glaube, habe ich etwas gefunden, das mir den Geist näher bringt ...«

Cornelius blickte sie überrascht an. Ein merkwürdiges Gesicht hatte die junge Frau. Ueber den sonst so klaren Augen lag ein leichter Schleier, der sie übernatürlich groß und dunkel erscheinen ließ. Zu beiden Seiten des feinen Mundes hatte sich eine Linie eingegraben, die Cornelius mit Interesse bemerkte.

»Dürften wir erfahren, gnädige Frau,« sagte er mit verhaltener Stimme, »was Sie über den »Schloßgeist« unterdessen in Erfahrung gebracht haben?«

Sie griff nach einem Buche, das sie beim Eintritt der Drei aus der Hand gelegt hatte, schlug das Titelblatt auf und zeigte es Cornelius mit einem kleinen Lächeln. Es war ein Roman der Adlersfeld-Ballestrem.

Cornelius hatte ihn früher einmal gelesen. Er beschäftigte sich mit den von dieser Schriftstellerin mit Vorliebe geschilderten »Erscheinungen« in alten Gebäuden, Schlössern und Dogenpalästen.

»Sie lachen natürlich, Herr Cornelius,« meinte Gisela, als sie das Zucken in dem Gesicht des Gastes bemerkte, »ich nehme es Ihnen nicht übel. Die Männer sind im allgemeinen kritischer, nüchterner als wir Frauen, müssen es für den Alltag und seinen Kampf ja auch sein. So neigen wir auch leichter zum Sinnieren, Grübeln und zum ...«

»Aberglauben!« platzte Genia hinein, die mit ihren braunen Wangen und klaren Augen sichtlich auf dem Boden der Wirklichkeit stand. Sie lächelte spöttisch über die Schwester, die ihr in der letzten Zeit nachdenklich und »träumerisch« vorkam.

»Du nennst es Aberglauben. Ich sprach von Wissenschaft und fand in diesem Buche ein Problem bestätigt, auf das ich einmal selbst in einer schlaflosen Nacht gekommen bin und ...« sie zögerte. In diesem Augenblicke betrat Karl Engelke das Jagdzimmer wieder und brachte Cornelius die gewünschten Zigaretten.

»Danke!« sagte dieser und stellte die Schachtel vor sich hin. Dann fuhr er, das Gespräch mit Absichtlichkeit an sich reißend, an Stelle der jungen Frau fort:

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, gnädige Frau. Auch die andern Herrschaften werden Ihnen beipflichten. Die Dame, die dieses Buch geschrieben hat, ist übrigens nicht die Erfinderin dieser interessanten Theorie. Sie hat eine Schrift des Amerikaners Hudson, deren Titel mir augenblicklich entfallen ist, benutzt.«

Genia machte den Mund auf, als ob sie etwas sagen wollte. Doch ein Druck, den eine Männerhand unter dem Tische auf ihre im Schoße liegende Hand ausübte, ließ sie nicht dazu kommen, ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben. Cornelius sprach schnell weiter.

»Dieser Hudson setzt folgendes auseinander: Es gibt Menschen, die gewisse Gespenster sehen und solche, welche sie auch trotz angestrengtester Aufmerksamkeit nicht entdecken können. Dies beruht einfach auf einer empfindlichen Membrane im Menschen, die man auch »Seele« nennen kann. Wenn zum Beispiel in einem Raume irgend eine Tat geschehen ist, die im Täter, wie im Opfer, denken Sie an einen Mord, eine ungewöhnlich hochgradige Erregung hervorrief, so wird nach Hudson dieser Raum von der Erregung »imprägniert«, weil ein gasartiger Stoff, der seinen Sitz im Gehirn hat, sich den Wänden, dem Holze, den Tapeten mitteilt. Er haftet daran und erfüllt auch den Raum.

Je kürzere Zeit seit dem Ereignis verstrichen ist, umso kräftiger. Kommt nun ein Mensch dorthin, dessen seelische Eigenschaften besonders sensitiv entwickelt sind, der zum Beispiel für Hypnose leicht empfänglich ist, so bringt die Imprägnierung seine Membrane zum »Erklingen«, setzt sie in Schwingungen. So sieht er das Bild, das sich dem Raume eingeprägt hat. Aber umgekehrt wie beim gewöhnlichen Sehen. Also erst mit dem Gehirn und dann erst mit den Augen ...«

»Donnerwetter!« sagte der Berliner.

»Hm!« meinte der Hausherr, »Sie glauben wirklich ...«

»Glauben ist eine Gewissensfrage. Gesehen habe ich auf diese Weise noch keine Gespenster, vielleicht bin ich nicht suggestibel genug. Aber bei Ihrem Schwiegersohn haben Sie doch den besten Beweis für die Möglichkeit der Verwirklichung dieser Theorie. Er hat gesehen, das ist zweifellos. Ich bin fest davon überzeugt, daß er auch leicht zu hypnotisieren ist. Warum sollte die Phantasie, verstärkt durch die geschilderte »Imprägnierung«, nicht vor seinen Augen die Gestalt des Herrn Kuno Franz von Pottlitz, wie er leibte und lebte, erscheinen lassen. – Zweifeln Sie etwa daran, Junior?« wandte sich der Erzähler unvermutet dem Diener zu, der mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Munde am Buffet stand und bemüht war, sich kein Wort dieser Erklärungen entgehen zu lassen.

Nunmehr fuhr er zusammen, man hörte seine Absätze knallen und »Zu Befehl!« sagte er mit Schwung.

Alle lachten. Diese stereotype Antwort hatten sie nach den interessanten Darlegungen des Doktors nicht erwartet.

Genia lachte am meisten. Es klang, als ob man ein silbernes Glöckchen sehr lebhaft schüttle.

»Sie sind unbezahlbar, Junior! Ob Sie wohl auch stramm stehen und »Zu Befehl« sagen, wenn Ihnen einmal der »Schloßgeist« begegnet und sich nach Ihrem Befinden erkundigt?«

»Oh, ich habe sehr wohl verstanden, was der Herr Doktor erzählt haben. Es kommt nur auf die »Membrane« an, gnädiges Fräulein,« versuchte er sich eifrig zu verteidigen.

»Na, dann sagt Ihnen jetzt meine »Membrane«, daß Sie nachsehen möchten, ob das Haus vorschriftsmäßig verschlossen ist,« schmunzelte der Hausherr gutgelaunt.

»Zu Befehl!« sagte der Junior unwillkürlich und verschwand schnell unter dem Gelächter der im Zimmer Zurückbleibenden.

»Es ist ja etwas ganz schönes um den unbedingten Gehorsam,« meinte Cornelius, »aber Ihr Diener sieht mir nicht so aus, als ob er hinter seinem unbeweglichen Gesicht und seinem ewigen »Zu Befehl« nicht auch eigene Meinungen und Ansichten hätte.«

»Ich glaube, du tust ihm Unrecht,« versetzte der Hauptmann und sah mit einem unterdrückten Gähnen auf die Uhr.

»Wenn er diese eigenen Ansichten bei sich behält, kümmern sie mich nicht.« Der Hausherr trank sein Glas aus und stellte es energisch auf den Tisch zurück.

Neuling wollte zu diesem Thema auch etwas beitragen, verschluckte sich aber und nickte nur mit glänzenden Augen. Die von dem alten Herrn selbst angesetzte Bowle war schwer und seine, des Berliners, Zunge darum nicht leicht.

Genia sah ihn von der Seite an und begann wieder zu lachen. Diesmal aber, ohne ein Ende finden zu können.

»Ich glaube gar, du hast einen niedlichen, kleinen Spitz!« bemerkte ihre Schwester, »es wird wohl Zeit, daß du ...«

»Ach, Gischen,« wehrte die vergnügte lustige Genia ab, »ich überlege mir immer, wo bei Herrn Neuling wohl die sympathische Membrane sitzen mag ...«

»Eugenia!« unterbrach sie die Mutter mit einem scheuen Seitenblick auf den Gast. Doch der war aufgestanden und machte eine höfliche Verbeugung: »Darf ich allerseits eine recht angenehme Ruhe wünschen!«

Genia wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wenn er aber heute nacht wieder umgeht ...?«

Ein ungemütliches Gefühl überkam die andern. Soeben war man doch noch so vergnügt und ausgelassen gewesen, hatte Scherze über diesen Jemand da oben gemacht und nun erinnerte sie dieses halb in drolliger Angst gesprochene Wort mit einem Male wieder an die seltsame, unheimliche Erscheinung, deren Natur noch immer nicht enthüllt war und die sie alle bedrohte.

Nur Cornelius machte ein unbefangenes Gesicht, als er sagte: »Sonntags spukt es nicht, da ist Ruhe in jedem Gewerbe!« und löste damit die Spannung wieder.

*

Und: »Sonntags spukt es nicht,« murmelte er vor sich hin, als er wenige Minuten später in seinem Zimmer stand und sich langsam auskleidete. Mit mechanischen, langsamen Bewegungen machte er diese gewohnten Griffe. Eigentlich hatte er keineswegs die Absicht gehabt, die ausgegebene Parole der allgemeinen Ruhe auch auf sich zu beziehen. Es mußte doch endlich etwas geschehen. Er wollte, wenn es sein mußte, die ganze Nacht aufbleiben und im Hause, vor dem Turmzimmer oder auf der Treppe wachen. Aber die Müdigkeit, die ihn kurz nach dem Verlassen des Jagdzimmers jäh überkommen hatte, schien ihm einen Strich durch diesen Plan zu machen. Eine unerklärliche Schwere lag in seinen Gliedern und nahm seinen Kopf befangen. Und so zog er sich, ohne daß er dies eigentlich wollte, bedächtig und in einem halben Traumzustande aus.

»Verfl... Bowle!« sagte er ärgerlich mit einem letzten Rest von Energie. »Der alte Herr hat es gut mit seinem Schlummerpunsch gemeint! Schlafen vor dem Feind wird mit dem Tode bestraft. Meinethalben, ich ...« Er gähnte krampfhaft und das Beinkleid fiel ihm aus der Hand. »Sieh mal einer an, was die Hosen müde sind! Können sich nicht einmal mehr auf dem Stuhle gerade halten. Wo ist denn mein grünes Mützchen?«

Er schrak leicht zusammen und sah sich im Zimmer um. Nein, es hatte ihn niemand gehört. Etwas munterer geworden, schlüpfte er in seinen Schlafanzug und knöpfte die Jacke zu. Daß er damit nicht recht zu Wege kam und daß das Gewand zuletzt schief geknöpft war, daran war wohl nur die Bowlenschwere seiner Glieder schuld.

Mit halb geschlossenen Augen setzte er sich in einen Korbsessel, der an der Tür stand und bemühte sich vergeblich, einen Gedanken festzuhalten, der ihm vorhin gekommen, aber wieder davon geflattert war. Die brennende Zigarette schwankte in seiner Hand leicht hin und her und knisterte leise. Dann fielen ihm die Lider zu und das Monokel, das er beim Eintritt in das Zimmer aus der Tasche geholt und aufgesetzt hatte – soweit war die Erziehung zur »Natur« durch eine energische kleine Dame schon gediehen! – glitt zu Boden, rollte schwirrend über den Teppich und blieb vor dem Bette mit einem vorwurfsvollen Leuchten liegen.

Und draußen sanken die Schleier der Nacht immer dichter nieder. Sie spannen die ragenden Giebel in ihr feines Netz ein, woben sich um den ragenden Block des dicken, ungefügen Turmes.

In dem dunklen Viereck des Hofes wanderte eine rotglühende Laterne schwankend hin und her, verschwand in der Tür des Kuhstalles, erleuchtete dann wieder dort drüben für kurze Zeit glänzend gestriegelte Pferderücken. Dann fiel mit einem dumpfen Knall die Tür des Inspektorhauses zu und damit erstarb jedes Geräusch in dem mächtigen Anwesen.

Jedes Geräusch? Knarrte nicht soeben im ersten Stockwerk irgendwo eine Tür? Ganz vorsichtig und behutsam von zögernder Hand geöffnet ...

Huschten nicht jetzt auf dem Gange des zweiten Stockes weiche Sohlen flüchtig vorüber und brachten da eine morsche Diele, dort eine mürbe Stufe zu leichtem Aechzen? Es war wie ein Hauch, kaum für ein lauschendes Ohr vernehmbar ...

Doch dieses Ohr, das solche Laute auffangen wollte, war durch das summende Rauschen und Klingen einer tiefen Betäubung benommen. Doktor Cornelius, dessen feine Sinne sonst auch im Halbschlafe jedes Geräusch auffingen, sah und hörte nichts mehr.

So war es möglich, daß die Tür seines Zimmers nach einiger Zeit vorsichtig geöffnet wurde, daß der Schatten eines Kopfes für eine Sekunde in dem Spalt erschien und sich sofort wieder zurückzog. Ein Vorkommnis, das selbst für einen »Jagdgast«, gar nicht zu reden von einem Detektiv, rätselhaft und äußerst beachtenswert gewesen wäre.

Nachdem die Klinke wieder behutsam hochgezogen worden war, verging wiederum eine schwingende, lähmende Zeit.

Sekunde auf Sekunde verrann in der Ewigkeit ...

Da scholl mit einem Male ein gellender Schrei durch das schweigende Haus. Ein Schrei der höchsten, fürchterlichen Angst. Aus einer weiblichen Kehle ...

Cornelius fuhr jäh aus seiner Betäubung in die Höhe. Er riß die schweren Augen auf und fuhr mit der Hand über die schmerzende Stirn. Das Echo des Rufes schwang sich noch über Treppen und Gänge und verhallte vielfältig in der weiten Diele, da war er auch schon zur Tür gestürzt, hatte diese aufgerissen und stand taumelnd auf dem dunklen Gange. Wohin sollte er sich wenden? Wo war Hilfe nötig? Denn nach Hilfe hatte dieser Schrei geklungen.

In der nächsten Sekunde kamen auch schon von der Turmtreppe her eilende Schritte. Ein hastiges Atmen drang an sein Ohr. Er breitete instinktiv beide Arme aus und – hielt ein weibliches Wesen umschlungen, das mit einem leisen Wehlaute der Angst und Bestürzung zusammenbrach, zu Boden gesunken wäre, wenn er es nicht gestützt hätte.

Aus seiner Tür, die halb offen stand, fiel ein schwacher Lichtstrahl heraus. Er genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß an seiner Brust – Genia von Puttlitz lag! In einem dunklen Mantel über dem weißen Nachtkleide ...

Tausend Gedanken durchzuckten sein Hirn, stachen in seinem Herzen, das stürmisch zu klopfen begann. Es kam ihm vor, als ob das Glück selbst an dieses klopfende Herz gesprungen sei. Er fühlte die schlanke Gestalt des lieblichen Mädchens an seiner Brust, fühlte an seinem Körper ganz dicht einen warmen, weichen Mädchenleib und vernahm den rasenden Pulsschlag des anderen Herzens. War ein Traum, der ihn seit jenem kleinen Erlebnis am Wannsee unablässig verfolgt hatte, zur Wirklichkeit geworden?

Seine Augen überflogen das blasse und schmerzverzogene Gesicht der Ohnmächtigen, deren blutleere Lippen sich wie in stummem Trotze aufeinanderpreßten.

Und bei diesem Anblicke kam ihm die Ueberlegung wieder. Das doch immerhin etwas Peinliche der Situation drängte sich ihm auf. Da stand er in der äußerst dünnen Gewandung eines – wenn auch eleganten – Schlafanzuges in tiefer Nacht als Gast in einem fremden Hause und hielt die Tochter dieses Hauses in seinem Arme ...

Beunruhigt blickte er sich um und sann auf Erlösung aus dieser Situation, die auf die Dauer der Verfänglichkeit nicht entbehren mußte.

Doch da kam schon Unterstützung und löste ihn aus der Bänglichkeit, die der ersten freudigen Hochspannung der Gefühle Platz gemacht hatte.

Die Tür gegenüber öffnete sich und der Hauptmann stand im Nachthemd, an den Füßen gestickte Samtpantoffel, auf der Schwelle.

Mit einem betroffenen Ha! wich er erst zurück, faßte dann aber das Paar, das in seiner Umschlingung unbeweglich vor ihm stand, schärfer ins Auge.

»Waldemar und Genia!« formten seine Lippen zögernd.

»Sehr richtig bemerkt,« sagte Cornelius mit trockenem Humor, »ich für meine Person kann die Identität nicht in Abrede stellen. Wenn du aber deine arme Schwägerin möglichst schnell mir abnehmen wolltest, wäre ich dir sehr verbunden ...«

»Ich verstehe nicht,« sagte Hintze und trat einen Schritt näher, »aber um Gotteswillen! Genia ist ja bewußtlos ... wie ...?«

»Sie muß im Turme gewesen sein, dort irgend etwas gesehen haben. Hast du nicht ihren Schrei gehört? Ich fing sie hier gerade noch zur rechten Zeit auf ...«

»Donnerwetter!«

»Damit kommen wir jetzt nicht weiter. Kannst du nicht deine Frau rufen? Ich möchte nicht, daß diese einigermaßen mangelhaft bekleidete junge Dame an der Brust eines blauseidenen Herrenpyjamas wieder zu sich kommt ... Außerdem habe ich, glaube ich, noch wo anders zu tun.«

Wieder öffnete sich eine Tür. Aus ihr trat Gisela von Puttlitz, die junge Frau, in einem hellen Morgenrock, den sie eilig übergeworfen haben mußte.

Und wiederum mußte Cornelius, der noch immer den Mädchenleib in seinen Armen hielt, einen Laut der höchsten Ueberraschung hören. Diesmal kein Ha!, sondern ein Oh! aus dem schwesterlichen Munde.

»Potz Blitz!« raunte er dem Freunde zu, »befreie mich doch gefälligst endlich von der Darstellung dieses lebenden Bildes!«

Das Ehepaar nahm ihm nunmehr gemeinsam Genia ab, und mit einem gemurmelten »Morgen mehr! Verzeihung!« gegenüber der jungen Frau zog sich Cornelius aufatmend in sein Zimmer zurück.

Dort strich er sich wieder über die Stirn, wie um sich in die Wirklichkeit zurückzuversetzen, denn das soeben Erlebte kam ihm noch immer wie ein Traum vor. Ein Traum, denn eine übermäßige Schwere und Müdigkeit, die durch die Erregung der letzten Minuten für lange Zeit unterdrückt worden war, überkam ihn jetzt wieder. Und dies machte ihn stutzig. Ja, er hatte geschlafen. Wohl ein, zwei Stunden lang. Aber wenn er sonst aus dem Schlummer geschreckt wurde, fühlte er sich doch frisch und im Besitz seiner Kräfte und Sinne.

Da mußte irgend etwas Besonderes vorgegangen sein! Er sann nach, ging mit schnellen Schritten auf und ab, um sich zu ermuntern, trank auch hastig ein Glas kaltes Wasser, das auf seinem Nachttische stand. Da wurde ihm etwas klarer.

Die Bowle? Er lachte. Die andern hatten doch auch davon getrunken. Selbst Genia, und nicht zu wenig, selbst für eine Dame nicht, wie er beobachtet hatte. Daran konnte es also nicht liegen, daß er wider Willen sich ausgezogen und im Stuhle eingeschlafen war. Genia war ja sogar wachgeblieben und allem Anscheine nach auf eigene Faust in den Turm gestiegen, um ...

Bei diesem Gedanken fuhr er zusammen.

Was hatte sie dort gesucht und was mochte sie gefunden haben! Den Geist! Ihr Schrei wies darauf hin. Denn vor einer anderen Begegnung pflegte ein so gesundes, nervenstarkes Mädchen, wie sie, wohl kaum so bis ins Mark zu erschrecken.

Wenn der Geist ihr aber »erschienen« war, so mußte er, Cornelius, sich beeilen, dessen flüchtige Spur aufzunehmen.

Wenn nur diese entsetzliche Müdigkeit nicht gewesen wäre! Er entnahm seiner Taschenapotheke ein Belebungsmittel und spülte es mit einem Schlucke Wasser hinunter. Nach kurzer Zeit wirkte es schon und er konnte das Geschehene und die zu treffenden Maßnahmen besser überblicken.

Während er hastig in einen dunklen Anzug schlüpfte, dachte er mit bedauerndem Kopfschütteln an das junge Mädchen, das in seiner unbekümmerten Wißbegierde und Forschheit (wie er mit stiller Anerkennung zugab) diesen Erkundungsgang auf eigene Faust unternommen hatte.

Nachdem er noch ein belebendes Salz in seine Tasche hatte gleiten lassen, verließ er sein Zimmer, dessen Tür er sorgfältig hinter sich schloß. Ob er es vor ein, zwei Stunden von innen verriegelt gehabt hatte, bevor er eingeschlafen war? Er konnte sich dessen nicht mehr mit Bestimmtheit entsinnen. Wie kam er überhaupt auf diesen Zweifel? War etwa jemand bei ihm gewesen und hatte ihn eingeschläfert? Aber er besann sich, daß er bereits auf der Treppe diese merkwürdige Müdigkeit empfunden hatte. Dieser Umstand war immerhin wert, daß man ihm nachging.

Die Stube des Freundes war leer.

Aus dem Zimmer seiner Frau nebenan klangen Stimmen. Er blieb stehen und horchte. Man sprach gedämpft, doch erregt. Eine Frauenstimme weinte leise. Sie schien der Mutter anzugehören, die wohl von der älteren Tochter herbeigerufen worden war. Und Genia ...?

Cornelius klopfte nach kurzem Zögern. »Verzeihen Sie, ich habe englisches Salz hier, wenn Sie ...«

»Danke, lieber Woldemar,« kam die Stimme des Hauptmanns heraus, »es ist nicht mehr nötig. Meine Schwägerin ist soweit schon wieder ganz mobil!«

Der vor der Tür atmete auf und wanderte leichteren Herzens weiter.

Das Turmzimmer war leer. Der Schein der Taschenlampe wanderte über die altertümlichen Möbel. Wenn die reden könnten! dachte Cornelius. Dann konzentrierte er diesen Schein auf dem Bilde des ehrwürdigen Ahnherrn. Wieder schien es ihm, als ob dessen Augen mit einem spöttischen Lächeln auf dem Beschauer ruhten und als ob es um die vollen, lebenslustigen Lippen unter dem grauen Barte verhalten zucke. Daran war aber wohl das unsichere Licht schuld.

Resigniert schloß er das Zimmer ab und steckte den Schlüssel, den er mit Erlaubnis des Hausherrn ständig bei sich trug, wieder in die Tasche.

Nun galt es, festzustellen, wo sich die männlichen Bewohner des Hauses aufhielten. Denn daß eine andere Person sich eingeschlichen haben konnte, durfte als ausgeschlossen gelten.

Der »Berliner« knurrte und murrte entsetzlich, als Cornelius an seine Tür trommelte. Sein Schlaf war der des müden Kriegers, den selbst schweres Minenfeuer kaum zu beirren vermag.

»Aufstehen!« sagte Cornelius energisch draußen.

»Wo schießt's denn?« kam von innen eine schläfrige Stimme, »das ist doch nicht bei uns, laß mich in Ruhe, Schafskopf. Das ist doch bei Ypern oben.«

»Aufstehen zum Essenfassen!« wiederholte der andere barsch.

»Quatsch!« kam es von innen, aber schon etwas klarer. Da aber Cornelius nicht locker ließ, mußte sich Neuling endlich doch dazu bequemen, sich zu erheben.

»Nichts gehört und nichts jemorken!« beteuerte er dann mit Ueberzeugung und glaubwürdiger Miene, als er den Zweck der Störung vernommen und eingesehen hatte. »Sie wissen doch, daß ich jenügend Bettschwere aus dem ersten Stock mit heraufgenommen hatte ...«

Dann leuchtete Cornelius sich nach dem Korridor hinüber, wo die Dienergelasse lagen. In etwas anderer Form, aber in demselben Sinne spielte sich der Vorgang dann vor dem Zimmer von Engelke junior ab.

Nur schien es dem Ruhestörer, als ob hier der Insasse etwas befangen war und nicht ganz so glaubwürdig seinen festen Schlaf zu beteuern vermochte. Doch auch er war ersichtlich aus dem Bette gekommen, das von dem Schlaf einiger Stunden zerwühlt war.

Herr von Puttlitz öffnete sofort.

»Ach Sie! Und noch in Kleidern? Was in Dreideubelsnamen ist eigentlich den ganzen Tag in meinem sonst so friedlichen Hause los?« Er zerrte ärgerlich an der Quaste seines Schlafrockes.

»Mit Verlaub zu sagen: es hat wieder gespukt,« versetzte Cornelius höflich.

»Lassen Sie meinthalben spuken. Ich will meine Ruhe haben ...«

Der andere machte eine Verbeugung: »Da darf ich wohl für morgen früh um den Wagen nach der Bahn bitten ...«

Puttlitz beschwichtigte ihn schnell versöhnt.

»So habe ich es natürlich nicht gemeint, mein verehrter Herr Doktor. Aber wissen Sie, abends schon der Trara treppauf treppab und jetzt zu mitternächtiger Zeit, wo man endlich das Auge zugedrückt hat, wieder dieser Teeps im ganzen Hause. Erst schreit irgendwo ein hysterisches Frauenzimmer, als ob es am Spieße stäke, und anschließend daran trommelt ein Kerl an alle Türen, die der Zimmermann in diesen verfluchten Bau gesetzt hat, als ob das jüngste Gericht ausgerechnet heute nacht fällig wäre. Meine Ehehälfte ist auch höchst geheimnisvoll von meiner Seite gerufen worden ...!«

Der andere hatte ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopfe angehört. Als der alte Herr jetzt eine Atempause der stöhnenden Entrüstung machte, sagte er ernst:

»Gestatten Sie einen Augenblick. Gerufen hat Ihr Fräulein Tochter ...«

»Nanu!«

»Jawohl. Leider. Aus einem ganz besonderen, sehr verzeihlichen Grunde. Sie hat den »Geist« gesehen ...«

Puttlitz machte den Mund auf, konnte aber nichts sagen, so verblüfft, ja bestürzt war er.

»Der trommelnde ›Kerl‹ war meine Wenigkeit. Ich habe mich für verpflichtet gehalten, sofort zu recherchieren. Aus diesem Grunde mußte ich alle Herren im Hause von Angesicht zu Angesicht sehen ...«

»Sehr liebenswürdig! Also auch mich?«

»Ich konnte keine Ausnahmen machen.«

»Aeußerst liebenswürdig. Denken Sie etwa, es machte mir Vergnügen, in einem aus der Mottenkammer da drüben geborgten goldenen Wams dort oben herumzuwinseln und mein eigen Fleisch und Blut zu erschrecken?«

»O nein,« versicherte Cornelius mit Ueberzeugung, »und deshalb habe ich Sie auch von der Liste der »Verdächtigen« gestrichen. Es war nur der Vollständigkeit halber, daß ich bei Ihnen vorsprach. Wissen Sie, wir »Polizisten« (er lächelte etwas schmerzlich bei dieser Selbstironie) sind etwas pedantisch.«

Sehr verbindlich schieden die beiden Herren von einander.

Das Haus war unten dreifach und vierfach verschlossen und verriegelt. Keine Maus hätte hier hereinkriechen können, geschweige denn ein ausgewachsener Mensch.

Kopfschüttelnd begab sich Cornelius wieder nach oben. Auf dem Gange über das erste Stockwerk stutzte er. Dort stand auf einem kleinen Tischchen vor dem Jagdzimmer ein Tablett mit der leeren Bowle. Daneben die Gläser, aus denen man am Abend getrunken. Sechs zählte Cornelius. Sie waren aber doch zu sieben Personen gewesen! Die beiden Ehepaare, Genia, Neuling und er selbst. Weshalb fehlte hier ein Glas und was hatte dieses fehlende Glas zu bedeuten?

Eine halbe Minute später hielt er es in der Hand. In der Küche, in die er sich instinktiv begeben hatte. Es war leer. Allem Anscheine nach mit Wasser an der Leitung daneben ausgespült und flüchtig mit einem Tuche ausgewischt.

»Hm!« machte er bei dieser überraschenden Entdeckung, und auf seiner Stirn erschien eine tiefe Falte. Die grauen Augen verkündeten nichts Gutes für den, der sich an diesem Glase zu schaffen gemacht.

Nun wurde ihm auch die sonderbare Müdigkeit erklärlich, die ihn überfallen hatte und die sich immer noch in seinen Gliedern geltend machte.

Ob er den Schluß, der sich aus alledem ergab, sofort und handgreiflich ziehen sollte? Aber wem gegenüber?

Der jüngere Diener kam ihm verdächtig vor. Bei seinem Erwecken vorhin hatte manches nicht so ganz gestimmt. Aber konnte er nicht auch verlegen gewesen sein, weil der Gast ihn so barsch zur Rede gestellt hatte? Und wenn er festen Schlaf geheuchelt hätte, weil er vielleicht kurz zuvor bei einem der auf demselben Gange untergebrachten Mädchen zu einem Schäferstündchen war?

Nicht mehr festzustellen war heute nacht, ob Engelke senior noch Gelegenheit hatte, sich an den Gläsern zu vergreifen, bevor er in das Dorf hinabstieg.

Ob die beiden Diener unter einer Decke steckten? Aber was bezweckten sie damit? Ihr Benehmen war tadellos, ihre persönlichen Interessen kannte er nicht.

»Ich komme nicht durch,« seufzte er, als er sich nach diesem Rundgange wieder in sein Zimmer verfügte.

Und während bei ihm sehr bald die Wirkung des offensichtlich von heimtückischer Hand beigebrachten Schlafmittels sich von neuem geltend machte und ihn in das Reich unruhiger, beängstigender Träume führte, lag in ihrem Zimmer eine Treppe tiefer Genia noch lange wach. Die »verunglückte Geisterseherin«, wie sie sich selbst nannte.

War es ein leichtes Fieber, das die Wangen rötete, oder war es die peinliche (innerlich aber nebenbei doch nicht allzu unglücklich empfundene) Scham des jungen Mädchens darüber, daß ein fremder Herr in einem blauseidenen Pyjama es einige Minuten besorgt umschlungen gehalten hatte?

Denn diesen letzteren Umstand hatte die schwesterliche Liebe nicht zu unterdrücken vermocht.

Hätte Gisela doch den Mund gehalten! schalt Genia und drückte den blonden, zerzausten Kopf tief in die Kissen ...

*


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