Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Elftes Kapitel

1

Jakob, der Gymnasiast, hatte sich von Maman Angèle trösten lassen. Dann war er aufgestanden, hatte sich nach der Zeit erkundigt. Es war elf Uhr. Er beschloß, mit dem Rad in die Stadt zu fahren und bei der Dichterin Agnès Sorel zu Mittag zu essen. Das Mittagessen war nur eine Ausrede. Vor allem hoffte er, dort Natascha zu treffen.

Fräulein Sorel, die Dichterin, sah häßlicher aus als je. Ihr Gesicht war zerfurcht, dunkle Ringe umgaben ihre Augen. Sie war nicht zum Scherzen aufgelegt und gab nur einsilbige Antworten. Natascha war die ganze Nacht fortgeblieben, erzählte sie endlich, nachdem Jakob sie lange gequält hatte. Nach dem Essen sprach sie etliche Male von der vielen Arbeit, die sie heute noch zu erledigen habe. Jakob verstand, daß sie ihn los sein wollte. So verabschiedete er sich, öffnete die Flurtür, ließ sie wieder zufallen (hoffentlich kam das Fräulein nicht nachsehen, ob er wirklich fortgegangen war), dann schlich er auf den Fußspitzen in Nataschas Zimmer (Gott sei Dank, die Türe öffnete sich lautlos!), setzte sich auf einen Stuhl. Dann begann das Warten.

Dies Warten war unerträglich. Jakob konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Zwei Verse und ein Satz tauchten abwechselnd in seinem Kopf auf, manchmal murmelte er sie, dann quälten sie ihn, aber wenn er sie nicht murmelte, hörte er sie dennoch deutlich. Die beiden Verse waren:

Triste, triste était mon âme
À cause, à cause d'une femme…

Und der Satz lautete:

Wer hat hölzerne Masken?

Einmal war Jakob von seinem Bruder Wladimir in dessen Laboratorium mitgenommen worden. Ein weißer Raum. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Zimmers standen gläserne Retorten, Bunsenbrenner, Tiegel. Und was hing an den Wänden? Schnell murmelte Jakob wieder die Verse:

Triste, triste…

Er wollte nicht daran denken, was an den Wänden hing. Aber es nützte nichts, die Verse zu murmeln. Immer wieder mußte er an seinen Bruder Wladimir denken. Was war in Wladimir gefahren? War es überhaupt möglich, daß… Lieber nicht daran denken. Jakob stöhnte. Endlich hörte er es an der Flurtür läuten, dann Nataschas Stimme. Sie trat ins Zimmer, Jakob legte den Finger auf die Lippe, Natascha nickte, schloß die Türe, lauschte. Fräulein Sorels Schritte entfernten sich.

»Na, kleiner Junge«, fragte Natascha, »was willst du hier?«

»Ach, Natascha«, klagte Jakob, »ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt. Wo warst du so lange? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Denk dir, ich habe da etwas gefunden…«

Natascha unterbrach ihn:

»Das interessiert mich alles nicht. Ich habe mit dir zu sprechen. Die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, war ganz schön, vielleicht hast du etwas von mir gelernt, vielleicht auch nicht. Aber diese Zeit ist nun vorbei. Ich habe anderes zu tun. Du mußt mich verstehen. Ich mache Schluß mit allem, ich will reinen Tisch haben. Unser kleiner Flirt war rührend, aber du bildest dir doch nicht ein, daß er ewig währen wird? Also, Jakob, leb wohl, laß dir's gut gehen. Ich wünsche dir viel Glück. Aber du mußt verstehen, daß ich jetzt Wichtigeres zu tun habe.«

»Du gehst, du gehst mit dem Fürsten?« fragte Jakob. Er stand aufrecht vor seinem Stuhl, seine Stirne war stark gefurcht, was ein wenig komisch aussah, und seine Lippen hatten nicht viel Farbe.

»Ja, mein Junge. Ich weiß, es tut weh, aber das geht vorüber. Du mußt jetzt tapfer sein, verstehst du? Brav in die Schule gehen und mich vergessen. Leb wohl.«

»Leb wohl«, sagte Jakob leise. »Und ich wünsche dir viel Glück. Leb wohl, Natascha. Ich hab dich sehr lieb gehabt.« Er ging zur Tür, ohne Natascha die Hand zu reichen, er schlich aus der Wohnung, gelangte auf die Straße. Seine Augen waren trocken. Ihn plagten immer noch die Verse Verlaines:

Traurig, traurig war mein Herz…

Er überschritt die Straße, erinnerte sich plötzlich an sein Rad, kam zurück es holen, saß auf und fuhr los.

Lange fuhr er, und auch später erinnerte er sich nicht mehr, welche Straßen er durchfahren hatte. Sein Kopf war leer, er hätte gerne geweint, aber seine Augen blieben trocken. Manchmal tauchten quälende Bilder vor ihm auf. Er sah eine Waldlichtung, die braune Schulter einer Frau. Er hörte Nataschas Stimme doppelt, sie dröhnte so merkwürdig, tief innen in ihrer Brust, und mit dem andern Ohr vernahm er sie, sehr weit, als würde sie als Echo vom Himmel zurückgeworfen.

Als Jakob endlich erschöpft vom Rad stieg, war er erstaunt, daß er vor der ›Villa des Mimosas‹ stand. Er ging die Auffahrt entlang, ums Haus herum, wollte sein Rad im Keller versorgen. Er blickte zu dem würfelförmigen, fensterlosen Bau hinüber, der seinem Bruder Wladimir als Laboratorium diente. Er lehnte sein Rad an die Hauswand, schlenderte über den Rasen, gedankenlos; erst als er vor der Türe stand, fielen ihm die Sätze wieder ein, die er auf dem Blatte gelesen hatte, das der sterbende Thévenoz verloren hatte.

Die Türe war nur angelehnt. Wie war das möglich? Leise drückte sie Jakob auf. Da hörte er deutlich die Stimme seines Bruders Wladimir. Aber sie klang merkwürdig hohl, wie aus einem Megaphon.

»Du wirst trinken!« sagte die Stimme befehlend. »Du wirst trinken. Ich, der Meister, befehle es dir!«

Jakob war eingetreten, er stand im kleinen Gang, der zum Labor führte, vorsichtig wollte er die Türe wieder hinter sich anlehnen, da hörte er ein Stöhnen, erschrak, sein Arm zuckte nach rückwärts. Hinter ihm schnappte das Türschloß ein.

Da ging er vorwärts, trat in den Raum, den er schon einmal gesehen hatte. Ja, da hingen an den Wänden die vielen Holzmasken. Hinter dem langen Tisch aber saß ein Mann, ganz in grau gekleidet. Seine Gesichtsfarbe war durchscheinend weiß, die Haare bläulich schwarz. Der Maharaja. Der Mann glotzte mit leeren Augen. Und hinter dem Manne stand eine merkwürdige Gestalt, klein schien sie, dicklich. Ein weißer Mantel hüllte sie ein. Diese Gestalt trug eine Holzmaske. Jakob blieb einen Augenblick stehen, besah sich die Szene. Da saß der Maharaja, und es schien ihm nicht gut zu gehen. Und der Mann mit der Holzmaske vor dem Gesicht?

»Aber, Bruder«, sagte Jakob ruhig, »hör doch um Gotteswillen mit dem Theater auf. Das paßt doch gar nicht zu dir. Was willst du denn vom Fürsten?… Nun, sag's schon.«

Vor dem Maharaja stand ein Glas, das mit einer wasserklaren Flüssigkeit gefüllt war. Jakob sah, wie die Hand des Sitzenden das Glas ergriff, es langsam hob, nun erreichte es die Lippen. Da trat Jakob schnell vor, holte aus – das Glas flog in einem Bogen gegen die Wand. Die Flüssigkeit spritzte über die Fliesen. Ein merkwürdig beißender Geruch verbreitete sich im Zimmer.

»Dummkopf!« sagte der Mann mit der Maske. Er machte ein paar Schritte im Raum, blieb stehen, hob die Maske über seinen Kopf, stellte sie auf den Tisch ab. »Dummkopf«, sagte Wladimir noch einmal, »warum mischst du dich in meine Angelegenheiten?«, Er schritt auf und ab. »Weißt du denn nicht, daß dir der Kerl da deine Freundin gestohlen hat? Und du hilfst ihm noch? Wenn er das Glas ausgetrunken hätte, wäre er verrückt geworden, dauernd verrückt, verstehst du? Und ich wäre reich. Petroleumquellen, verstehst du? Ich hätte dich auch nicht vergessen. Niemand hätte mir etwas nachweisen können. Der alte Bose hätte mich gedeckt. Mit dem habe ich doch zusammengearbeitet…«

»Aufmachen!« schrie es, Jakob erkannte O'Keys Stimme. »Aufmachen, sonst brechen wir auf.«

»Ach, Bruder«, sagte der Gymnasiast Jakob, aber er sprach gar nicht wie ein Junge, sondern wie ein uralter, weiser Mann, »ach, Bruder, laß dich doch nicht fangen. Schau, ich habe dich heute den ganzen Tag gesucht, nein, eigentlich nicht gesucht, aber ich habe immer an dich gedacht. Schau, was ich gefunden habe.« Er zog den Zettel aus der Tasche, den Thévenoz geschrieben hatte. »Ich habe ja alles verstanden. Aber dann habe ich die Frau gesucht, weißt du, die Natascha. Das Leben ist so traurig, Bruder.«

Gegen die Türe draußen, immer stärker, das Klopfen. Dann Pause. Deutlich der Befehl: »Ein Brecheisen!«

Wladimir setzte sich auf den Tisch. Er faltete die Hände, nickte. Neben ihm auf dem Tisch grinste die Holzmaske.

»Du hast doch noch Glück gehabt«, sagte Wladimir leise. »Du hast doch wenigstens einmal eine Frau gehabt. Ich war immer allein. Die Frauen haben mich ausgelacht, weil ich häßlich war, weil sie mich komisch fanden. Weißt du, es ist die alte Geschichte. Dann will man Macht haben. Macht! Zufällig hat mir Isaak einmal diese Erpressergeschichte erzählt. Sie ist ja nie ganz aufgeklärt worden. Da habe ich mich dahinter gemacht. So ganz im Versteckten. Ich habe die Frau de Morsier entdeckt, die dahinter stand. Ich habe dann die Sache ausgebaut, mit dem okkulten Zirkel. Und als ich noch die Mittel fand, die Gifte, da konnte ich mit den drei alten Damen machen, was ich wollte. Sie konnten mich nicht verraten, sonst wären sie ins Irrenhaus gekommen. Ich habe ordentlich Geld verdient bei der Sache.« Wladimir schwieg.

»Bruder«, sagte Jakob leise, »die Tür wird nicht mehr lang halten. Willst du ins Gefängnis? Sag mir noch, wo du das Gift hast. Ich will dir gern das Glas bringen, wenn du zu müde bist…«

»Ich danke dir, Kleiner«, sagte Wladimir, und seine Stimme klang weich. »Dort im Kästchen. Ja. Die kleine Flasche. So. Dann noch Wasser. Danke dir. Leb wohl, mein Kleiner. Du bist ein tapferer Bruder. Komm, nimm meine Hand, dann geht's wohl leichter.«

Als O'Key als erster durch die erbrochene Türe eindrang, hielt er einen Revolver in der Hand.

»Hände hoch!« schrie er. Da sagte eine ruhige Stimme:

»Wir sind doch in keinem Kriminalfilm, Herr O'Key, stecken Sie das Ding weg. Mein Bruder ist tot.«

Hinter O'Key betrat Natascha das Zimmer. Jakob trat auf sie zu und sagte:

»Ich kann dir doch noch etwas schenken, Natascha«, immer noch klang seine Stimme tief und ruhig, während er auf den Maharaja wies. »Ich habe ihn retten können, aber es war Zufall. Du brauchst nicht zu danken. Leb wohl.«

Auch die Polizisten, die vor der Türe standen, ließen Jakob ungehindert passieren. Er ging in die Villa. Im Speisezimmer saß sein Bruder Isaak, der Advokat.

»Wladimir ist tot«, sagte Jakob. Dann setzte er sich neben den Advokaten. Beide schwiegen. Maman Angèle betrat das Zimmer.

»Packen Sie das Notwendigste für uns beide«, sagte der Advokat. »Wir wollen verreisen.«

»Ja, ja«, sagte Maman Angèle. »Der arme Herr Wladimir! Mit mir war er immer gut. Aber was ist da zu machen?«

»Nicht viel«, sagte Isaak. Maman Angèle ging hinaus. Die beiden Brüder starrten vor sich hin.

2

»Äpfuuh«, sagte Herr Staatsrat Martinet. »Die Sache ist noch besser verlaufen, als ich zu hoffen gewagt habe. Manche Leute haben, auch wenn sie im Hauptberuf Mörder sind, doch noch Taktgefühl. Dr. Wladimir Rosenstock hat sich auf eine sehr feinfühlige Art aus dem Staube gemacht. Sir Avindranath Eric Bose hat sich ebenfalls empfohlen, auf weniger tragische Art, und hat diesen schrecklichen jungen Burschen mit sich genommen. Auch eine glänzende Lösung. Ich werde mich hüten, den beiden Telegramme nachzujagen. Das wäre ein Mißbrauch des elektrischen Stroms. Die drei alten Damen sind wohlversorgt, an einem Ort, wo sie auch Tee werden trinken können, aber harmloseren, als bisher. So hat sich alles zum Besten gewendet, nicht wahr, Master O'Key?«

O'Key saß dem Herrn Staatsrat gegenüber, Madge Lemoyne neben sich. An Madges Seite saß der Maharaja von Jam Nagar und neben ihm Natascha. Auf dem Ehrenplatz, neben dem Herrn Staatsrat, thronte, mit wallendem, blondem Fahnenbart, Kommissar Pillevuit. Und neben ihm, mit ein wenig glanzlosen Augen, Professor Dominicé.

»Mein lieber George«, fuhr Herr Martinet fort, nachdem er ein Glas Wein geleert hatte, »ich nenne Sie auf keinen Fall Hoheit, denn ich bin ein Republikaner und darf mir solche Sachen erlauben, mein lieber George, wie hat es nur der ›Meister der goldenen Himmel‹ (ihm wollen wir seinen Titel lassen) verstanden, Sie zu entführen? Ich hätte es mir nie verziehen, wenn Ihnen etwas passiert wäre.«

»Es war ganz einfach, Herr Staatsrat. Die drei alten Damen mußten ganz genaue Instruktionen haben. Ich wurde in der Rue Verdaine sehr freundlich empfangen. Eine der Damen reichte mir eine Tasse Tee, ich trank sie aus, plauderte weiter. Da wurde mir plötzlich ganz merkwürdig zu Mute. So schwach im Kopf. Es kam mir vor, als würde ich immer kleiner, ja, ich war ein Knabe. Und als die lange Frau de Morsier…«

»Gott sei Dank«, stöhnte Herr Martinet, »ihr Mann, der Sonettendichter, ist glücklich jenseits der Grenze. Ich habe ihm telegraphieren lassen: ›Frau schwer erkrankt, bleiben Sie, wo Sie sind.‹ Das wird er verstehen. Obwohl ich ihn nicht für mitschuldig halte. Er war so unter dem Pantoffel… Aber erzählen Sie weiter, George…«

»Ich wollte rufen. Aber es ging nicht. Mir wurde ein langer Frauenrock angezogen, ein Frauenmantel über die Schultern geworfen, ein Hut mit Federn aufgesetzt, ein Schleier übers Gesicht gezogen…«

»Darum habe ich dich im dunklen Gang nicht erkannt. Ich habe geglaubt, die Pochon geht mit der Frau de Morsier fort…«, sagte Natascha.

»Und ich hab das gleiche gedacht…«, mischte sich Kommissar Pillevuit ein.

»Äpfuuh«, seufzte Herr Martinet. »Der Rest ist leicht zu erklären. Unten wurde unser lieber George in ein Auto gestoßen, das gleich abfuhr. Die Pochon stieg ruhig wieder in die Wohnung hinauf, kam mit ihren beiden Freundinnen wieder herab und alle drei fuhren gemütlich im Tram bis Presinge…«

»Wladimir Rosenstock wird Angst bekommen haben«, mischte sich Kommissar Pillevuit wieder ein. »Er hat gemerkt, heute morgen, daß ich Verdacht geschöpft habe. Darum ist er nicht mehr in das Haus gegangen, das er kaufen wollte…«

»Habe ich nicht einen intelligenten Kommissar?« fragte Herr Staatsrat Martinet. »Vergessen Sie nicht, das zu erwähnen, O'Key, wenn Sie Ihren Artikel über die Genfer Polizei schreiben. Aber, O'Key, mein Kompliment, Sie haben uns ja eigentlich an den richtigen Ort geführt – ich sage uns, obwohl ich nicht dabei war, denn eigentlich war ich doch dabei, ich, der Geist der Genfer Polizei…Ja, was ich sagen wollte, wie haben Sie gegen den Wladimir Rosenstock Verdacht geschöpft?«

»Ach Gott«, sagte O'Key, »daran war Attalus III. Philometor, letzter König von Pergamo, schuld. Der hatte einen Giftgarten…«

»Ja, ja, das wissen wir. Aber was hat der König mit dem Assistenzarzt zu tun?«

»Der Assistenzarzt hatte eben auch einen Giftgarten. Das sagte sein Bruder, der Advokat, so nebenbei, und der Arzt wurde wütend darüber. Dann ging Wladimir Rosenstock fort. Er rauchte. Das fiel mir auf, warum weiß ich nicht. Ich erfuhr, daß er nur rauche, wenn er sehr aufgeregt war. Dann kam die Geschichte mit Thévenoz. Woher kam Thévenoz? Er hatte so schwere Vergiftungssymptome, daß er sicher nicht von weit her gekommen war. Während Sie mit Ihrer Polizei das Haus in Presinge umstellen und dann ausheben ließen, beobachtete ich das Labor bei der ›Villa des Mimosas‹. Ich dachte mir schon, daß Rosenstock es nicht wagen würde, auf der Hauptstraße vorzufahren. Er hat auch richtig einen Feldweg benützt, ist durch eine kleine Türe in der Hecke gekommen. Die Frauenkleider des Maharaja hat er im Auto zurückgelassen. Ich bin den beiden bis zur Türe nachgegangen, und als ich sah, daß sie angelehnt blieb, dachte ich, ich hätte noch Zeit. Ich mußte doch Beweise haben, darum bin ich schnell den Colonel holen gegangen, der mit ein paar von unseren Freunden in der Nähe postiert war. Sehr erstaunt war ich, als ich plötzlich Natascha sah. Liebe ist eben nicht immer blind.«

»Schweigen Sie, Frechling!« fauchte Natascha. Aber der Maharaja streichelte ihr begütigend die Hand.

»Ja«, sagte Herr Martinet, »Ohne den kleinen Jakob…«

»Ich habe immer behauptet, daß in diesem kleinen Bürger viel Gutes steckt«, sagte Natascha angriffslustig.

»Na, Professor, Sie sind uns eigentlich auch noch Erklärungen schuldig«, Staatsrat Martinet beugte sich zu Dominicé. »Wie war die Sache mit Crawley eigentlich?«

»Crawley?« Der Professor fuhr auf. »Ich weiß nicht mehr. Es geht alles durcheinander in meinem Kopf. Ich habe Schuld auf mich geladen. Crawley? Ja, Crawley war ein sehr begabter Schüler.«

»Sonst wissen Sie nichts über ihn?«

»Nein.«

»Und es sind keine Giftpfeile mehr auf Sie abgeschossen worden?«

»Giftpfeile? Aha, ja, ja, ich erinnere mich. Ein kleiner Spaß, den ich mir mit meinem Freunde O'Key erlaubt habe. Er war immer so neugierig. Neugier muß bestraft werden. Ich habe ihm den Pfeil in die Tasche gesteckt. Wie wird er erschrocken sein, er mußte sich ja damit stechen.«

»Ja, ja, erschrocken ist er schon. Aber was wollen Sie jetzt machen, Professor?«

»Ich bin eingeladen«, sagte Dominicé.

»So, von wem denn?«

»Wir nehmen den Professor mit ans Meer«, sagte Madge Lemoyne. »Er muß dann viel in der Sonne liegen, viel baden, viel essen. Ich werde ihn ganz wie meinen Privatpatienten behandeln.«

»Happy end auf der ganzen Linie«, sagte Herr Martinet. »Das ist recht. Aber was ist das?«

Er zog eine Silbermünze aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. Das Tischtuch erstickte den Klang.

»Nun«, sagte er ungeduldig, »wo bleiben die Untertanen des Fliegengottes? Die Wespen, Hummeln, Bremen? Herbei, herbei!«

Aber es blieb still im Zimmer.

»Sie kennen die Worte nicht«, sagte Professor Dominicé leise. »Man muß die Worte kennen.«

»Die Worte, die Worte!« knurrte Herr Martinet ärgerlich.

3

In der Heil- und Pflegeanstalt Bel-Air steht ein Pavillonbau, der für die nicht allzu aufgeregten Patienten bestimmt ist. Die Fenster sind vergittert, ein hoher Zaun läuft um den Garten. Im Aufenthaltsraum sitzen um einen kleinen Tisch, in einer Ecke, immer drei alte Damen. Sie reden wenig. Nur manchmal sagt die eine: »Was wohl der Meister macht?« Worauf die andere antwortet: »Der Meister ist im goldenen Himmel.« Die dritte lispelt: »Er erwartet uns.« Pause. Dann alle zusammen, leise im Chor: »Unser Herr in den goldenen Himmeln.«

Um drei Uhr nachmittags erhalten die Kranken Tee. Die drei alten Damen haben sich von Anfang an dagegen gesträubt, ihn mit den andern Patientinnen zu trinken. Man hat sie gewähren lassen. Nun tragen sie immer ihre Blechtassen sachte zu ihrem Tischchen, sitzen nieder, schlürfen den Tee, murmeln dazu: »Der Tee des Meisters war doch besser…« Sie nicken, verziehen die Lippen, der Tee scheint ihnen schlecht.

Die Wärterinnen lächeln, wenn sie an der Gruppe vorübergehen. Die ganze Anstalt weiß von den komischen alten Frauen. Alle lächeln, sobald sie die Worte hören:

Der Tee der drei alten Damen.


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