Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Viertes Kapitel

1

Professor Dominicé führte ein unregelmäßiges Leben. Aber dies störte niemand, da er keine Familie und keine besorgte Gattin hatte. Wohl wurde er von seiner Haushälterin, eben jener Jane Pochon, deren Anblick auf die Seelenärztin Madge Lemoyne so niederdrückend wirkte, ausgiebig tyrannisiert, aber der Professor war über diese Tyrannei hoch erhaben. Er fühlte sie kaum.

Er führte ein unregelmäßiges Leben, sagten wir. Das heißt, er machte die Nacht zum Tag, stand spät auf, erst gegen Mittag, brauchte dann zwei, drei Stunden, bis er das Elend eines neubeginnenden Tages überwunden hatte; darum hatte er auch seine Vorlesungsstunden auf den Nachmittag gelegt. Er las an der Universität zwischen fünf und sechs Uhr und dies nur dreimal in der Woche, es war mehr ein Ehrenamt als ein Beruf. Obwohl zu sagen ist, daß Professor Dominicé in diesen drei wöchentlichen Stunden wahrscheinlich Wichtigeres zu sagen hatte, als gewisse seiner Kollegen in langatmigen Vorlesungen.

Heute war Professor Dominicé erst um zwei Uhr aufgestanden. Als er um sechs Uhr morgens heimgekommen war, hatte er gar nicht sein Schlafzimmer aufgesucht, sondern sich angekleidet auf das Sofa gelegt, das in seinem Arbeitszimmer stand. Nur den grauen Gehrock hatte er sorgfältig über einen Stuhl gehängt, den steifen Kragen darauf gelegt und die breite Plastronkrawatte unter einige Wälzer auf seinem Schreibtisch zum Glätten ausgebreitet. Hernach war er durch einen zähen Schlaf geschwommen, einen unruhigen und quälenden, so wie man durch ein bewegtes Wasser schwimmt, dessen Wellen bedrohend wirken. Aber selbst diesen Schlaf, so unruhig er auch gewesen war, hatte er noch als Wohltat empfunden, dem Erwachen gegenüber: dies war nun bewußte, graue Pein, aus der es keine Fluchtmöglichkeit gab.

Der Professor stand auf, ein nervöses Gähnen, das sich stets wiederholte und sich durch keinen Willensakt unterdrücken ließ, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er ging ins Schlafzimmer, wusch sich, bürstete mit zwei Bürsten seinen Apostelbart, sah lange in den Spiegel, schüttelte den Kopf: er fand sich abstoßend, murmelte Worte, die übersetzt etwa –grausige Fresse‹ bedeuteten, ging wieder ins Arbeitszimmer zurück, legte Kragen und Krawatte an, schloß eine Schublade auf und entnahm ihr eine Flasche, die mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Dann war ein zitterndes Klirren zu hören; es war sehr still im Zimmer. Der Professor seufzte tief auf, er blieb noch einige Augenblicke sitzen, den Kopf in die Hand gestützt, das Gähnen hatte aufgehört, trocken wurden seine vorher tränenden Augen, und die Pupillen verengerten sich; sie waren schließlich genau so groß wie Stecknadelköpfe.

Wir wollen nicht allzu geheimnisvoll tun. Professor Dominicé war Morphinist, und dies seit einem Jahre. Wenige Leute nur wußten von dieser Tatsache, die wohl in seinem Leben keine allzu einschneidende Rolle gespielt hätte, wenn durch sie nicht eine rastlose Neugierde in ihm erwacht wäre, eine Neugierde, die ihn dazu trieb, die Wirkung der verschiedenen Nervengifte am lebenden Objekt zu studieren. Doch davon später.

Zwei Stunden saß der Professor ungestört an seinem Schreibtisch, der kleine Haufen Zettel, der links neben ihm lag, wurde immer dünner, während rechts von ihm die ins reine geschriebenen Foliobogen den schon vorhandenen Stoß vermehrten. Von Zeit zu Zeit nahm er seine Zuflucht zu der Flasche, dann war das leise Klirren im Raume wieder zu hören. Auf dem Schreibtisch brannte die Lampe, die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, der Professor haßte das Tageslicht. Und beim Lichte der Lampe betrachtete er manchmal die Hand, welche die Feder hielt, es war eine magere Hand, mit jugendlicher Haut, ohne die blauen hervortretenden Venen, die sonst Greisenhände verunzieren, und jedesmal, wenn der Professor diese seine Hand betrachtete, schüttelte er den Kopf, so, als betrachte er einen fremden, unsympathischen Gegenstand.

Schwerfällig stand er auf, als die Türglocke schrillte. Er nahm noch einen tiefen Zug aus der soeben gedrehten Zigarette, murmelte einen undeutlichen Fluch über Jane Pochon, die immer noch nicht erschienen war, und ging dann öffnen.

»Mein liebes Kind«, sagte er, und es war wirklich Freude in seiner Stimme, »wie freundlich von Ihnen, mich besuchen zu kommen. Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie habe warten lassen, aber ich war in meine Arbeit vertieft. Aber Sie sind nicht allein? Nun, auch Ihr Begleiter ist mir willkommen.«

O'Key wurde vorgestellt. Er verbeugte sich, die drei traten ins Zimmer, der Professor befreite einige Stühle von ihrer papiernen Last, lud mit breiter Armbewegung zum Sitzen ein, ließ sich selbst vor dem Schreibtisch nieder und stellte die Lampe so, daß sie wie ein Scheinwerfer ins Zimmer blendete, während sie seinen Kopf im Schatten ließ; dann faltete er die Hände und sagte: »Nun?« Aber bevor noch seine Besucher antworten konnten, störte ein Kratzen an der Türe: Ronny begehrte Einlaß, er fand es taktlos, daß man ihn draußen hatte stehenlassen, im dunkeln Vorraum, wo es nichts Interessantes zu erleben gab.

»Mein Gott«, sagte Dominicé, »wir haben den Hund vergessen«, und er ging zur Türe, um sie zu öffnen.

Ronny begrüßte den Professor demutsvoll und freudig. Er war dem Professor zugetan, auf eine sonderbar respektvolle Art, so, als habe er einen guten Begriff von dessen geistiger Überlegenheit. Sein Benehmen ihm gegenüber war ohne Familiarität, er sprang nicht an ihm hoch, sondern hob nur die rechte Vorderpfote, die der Professor auch, sich niederbückend, vorsichtig schüttelte. Nach dieser Begrüßung war Ronny zufrieden, er wartete noch, bis der Professor sich gesetzt hatte, dann erst ließ er sich nieder, rieb noch ein wenig seine zottige Schnauze an den Schuhen des bärtigen Gottes und schloß mit einem tief befriedigten Seufzer die Augen.

»Professor«, eröffnete Madge die Unterredung, »Sie machen mir Sorge. Wissen Sie, daß die Polizei sich für Sie interessiert?«

»So? Das wundert mich nicht. Die Polizei leidet, wie mir scheint, unter der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Auch sie hat nicht genügend zu tun, darum beschäftigt sie sich mit meiner im kriminologischen Sinne wohl herzlich unbedeutenden Persönlichkeit.«

Darauf schien es den beiden Besuchern, als lächle der Professor – seine Züge waren kaum erkennbar im Schatten – und er verschränkte friedlich seine sehr weißen Finger.

»Professor«, sagte Madge, »ich würde die Sache nicht zu spaßhaft nehmen. Unten vor Ihrer Türe steht ein Geheimpolizist, der Sie beobachten und wohl auch Ihre Flucht verhindern soll.«

»Flucht? Aber, mein liebes Kind, ich denke doch gar nicht an Flucht. Ich bin ein alter, harmloser Mann, der ein vielleicht nicht ganz regelmäßiges Leben führt, aber das ist doch noch kein Grund zu einer Verhaftung. Oder?«

O'Key mischte sich ein.

»Wo waren Sie letzte Nacht, Professor?«

Es entstand ein Schweigen, das so schwer im Raum lag, daß Ronny plötzlich die Augen aufschlug, hellwach, den Kopf hob, ein rollendes Stöhnen hervorgurgelte – aber ein sanfter Klaps des Professors beruhigte ihn wieder.

»Mein junger Freund«, sagte Dominicé, und einen Augenblick war sein Gesicht hellbeleuchtet, als er sich vorbeugte, »glauben Sie nicht, daß dies eine Privatangelegenheit ist?«

»Nein«, sagte O'Key, es klang nicht unfreundlich, nur respektvoll und feststellend. »Denn dort, wo Sie diese Nacht waren, ist ein Verbrechen geschehen.«

»Nun, wenn Sie wissen, wo ich gewesen bin, so ist Ihre Frage müßig, mein junger Freund, so ist sie eine Untersuchungsrichterfrage und ich wäre sehr dafür, daß wir dieses Gespräch, falls wir es weiterführen wollen, doch mit menschlichem Anstand fortsetzen. Oder sind Sie ein Emissär der Polizei?«

»Herr O'Key«, sagte Madge und wurde rot, »ist ein Reporter, den eine Londoner Zeitung zur Aufklärung von Crawleys Tod nach Genf geschickt hat.«

»So, von Crawleys Tod…« Dominicé zerdehnte die Worte. »Und an Crawleys Tode soll ich wohl auch schuldig sein.«

»Es scheint so«, sagte O'Key gereizt. Er war über sich selber ärgerlich, denn er mußte sich gestehen, daß der alte Herr da vor ihm auf eine absonderliche Art bedrückend wirkte. Nicht nur, daß es den Eindruck machte, als habe sich der Professor mit einem gläsernen Panzer umgeben, der ihn unantastbar machte, auch sein ganzes Gehaben zeugte von einer Überlegenheit, die niederdrückend wirkte, vielleicht gerade weil sie dem alten Herrn gar nicht bewußt war. »Woher kamen Sie, als Sie in jener Nacht Crawley fanden?«

»Ich bin ein Nachtwandler, lieber Freund«, sagte der Professor mit einer entwaffnenden Herzlichkeit. »Ich bin spazieren gegangen, weil die Nacht schön war, ich habe zuerst die Wellen des Sees belauscht und die Gespräche der Bäume, dann habe ich versucht, die Geschichten zu enträtseln, die auf den Fronten der Häuser eingegraben sind, in Rissen und Sprüngen, und nur wenige vermögen diese Schrift zu entziffern. Da habe ich zufällig Crawley gefunden… und ihn nicht einmal erkannt.«

»Flüchten Sie nicht in die Lyrik, Professor. Crawley war an jenem Abend bei Ihnen, oder wollen Sie das leugnen?«

»Leugnen?« wiederholte Dominicé, »was für sonderbare Worte gebrauchen Sie, mein junger Freund? Ich habe nichts zu verbergen. Crawley war bei mir, das ist wahr, er interessierte sich für eine neue Arbeit von mir, die er ins Englische übertragen wollte. Über diese Arbeit sprachen wir. Und dann verließ er mich, es mochte gegen elf Uhr sein. Und als ich seinen Körper sah, später in der Nacht, so ist es gar nicht erstaunlich, daß ich ihn nicht erkannte. Das Gesicht war verkrampft, Crawley war halb entkleidet, und Sie werden selbst wissen, wie sehr ein Mensch durch seine Kleidung verändert wird.«

»Aber, daß er vergiftet war, das wußten Sie sofort?«

»Gifte! Gifte, lieber Freund sind meine Spezialität, die letzten Jahre habe ich mich mit den Wirkungen der Gifte beschäftigt. Fragen Sie Dr. Thévenoz, meinen Schüler. Die Gifte verändern die Seele, nicht wahr, liebes Kind?« Dominicé wandte sich an Madge, die schweigsam dasaß und mit ängstlich verzerrtem Mund dem Redekampf der beiden Männer folgte. Aber Madge antwortete nichts.

»War Eltester, der Apotheker, ein guter Freund von Ihnen?« bohrte O'Key weiter, »besuchten Sie ihn oft? Waren Sie so gut mit ihm bekannt, daß Sie auch nächtelang mit ihm zusammensein konnten?«

»Sie werden indiskret, junger Mann, und ich bewundere meine Geduld, die mich Ihr Fragen ertragen läßt.«

O'Key wollte auffahren, da aber legte Madge ihre Hand auf seinen Arm. »Ruhig, O'Key, so kommen wir nicht weiter. Sie müssen uns nicht für neugierig halten, Professor, wir wollen Ihnen doch helfen, verstehen Sie das nicht? Wissen Sie nicht, daß Sie in einer bösen Situation sind? Ich habe O'Key zu Ihnen gebracht, damit er Sie kennenlernt, damit er versteht, daß es unmöglich ist, Sie zu beschuldigen, aber Sie dürfen es mir nicht zu schwer machen.«

Wahrhaftig, Madge hatte Tränen in den Augen, ratlos stand Ronny in der Mitte des Zimmers; er ging zu jedem, stieß ihn sanft an mit der Schnauze, und seine Blicke bettelten um Frieden; aber auch hier wurde es deutlich, von welch kleinen Zufälligkeiten beginnende Friedensaktionen manchmal abhängig sein können. Ronny fühlte nämlich den Stich eines Flohs, er mußte abhocken und sich kratzen. So kam es, daß die folgende Verständigung ohne seine Hilfe zustande kam.

Professor Dominicé lenkte ein.

»Ich glaube Ihnen, mein Kind, auch Ihnen, junger Mann, glaube ich den guten Willen. Ihre Fragen entstammen wohl nur zu einem kleinen Teil der Neugierde. Sie wollen mir helfen, sagen Sie, und Sie machen Ihre Hilfe abhängig von der Beantwortung einer Reihe von Fragen. Nun, diese Fragen kann ich nicht beantworten. Nehmen Sie meine Behauptung wörtlich: ich kann nicht, und nicht: ich will nicht. Ich bin gebunden, durch ein Versprechen, nennen Sie es ruhig ein Gelübde, also durch ein Gelübde bin ich gebunden. Sie müssen mir einfach glauben, daß ich weder über Crawleys Tod noch über Eltesters Unfall etwas weiß. Diese Dinge sind geschehen ohne mein Zutun. Ich muß es einfach tragen, wenn ich verdächtigt werden sollte. Ich werde mich wehren, und wenn ich Ihrer Unterstützung sicher sein kann, junger Mann, dann will ich zufrieden sein.«

»Aber, Professor«, rief O'Key, »Sie werden eine Verhaftung doch gar nicht überstehen.«

»Warum nicht?« fragte Madge, während der Professor den Kopf im Schatten verbarg. »Mein liebes Kind«, sagte Dominicé, »Sie haben noch viel zu lernen. Haben Sie noch nicht bemerkt, daß ich Morphinist bin. Und in meinem Alter – eine Entwöhnungskur… Ich weiß nicht, ob ich das aushalten werde.«

»Cyrill«, sagte Madge, und sie schob ihren Arm unter den Arm des Reporters, »Cyrill, Sie müssen dem guten Mann helfen.« Dann erst merkte sie, daß sie den Mann, den sie vor knapp einer Stunde kennengelernt hatte, mit dem Vornamen angeredet hatte, nicht nur das, daß sie Arm in Arm mit ihm dasaß, aber trotzig verzog sie das Gesicht und lehnte sich noch enger an O'Key.

»Der arme Thévenoz«, sagte Dominicé in die Stille.

Aber nicht einmal diese Bemerkung machte Eindruck auf Madge. Sie mußte lächeln, denn ihr fiel eine Kindheitserinnerung ein. Nahe beim Sommerhaus ihres Vaters war ein hoher Baum gestanden, der, ganz nahe am Wipfel, zwei Äste getragen hatte. Dort war sie oft gesessen, mit baumelnden Füßen über der grünen Leere, und neben ihr war der Sohn des Gärtners gesessen, ein rothaariger Bursche. Wie alt war sie damals gewesen? Zehn Jahre? Aber sie hatte den Buben sehr lieb gehabt, er hatte eine lange bewegliche Nase gehabt, wie ein Kaninchen, und er war der einzige gewesen, unter all ihren Kameraden, den sie nicht tyrannisiert hatte. Merkwürdig, daß O'Key sie an jenen Jungen erinnerte. Sie hatte eine Zärtlichkeit für ihn gefühlt, schon unten auf der Straße, eine merkwürdig heitere Zärtlichkeit, die nicht zu vergleichen war mit dem verkrampften Zustand, der sie jedesmal ergriff, wenn sie mit Thévenoz zusammen war. Sie blieb an O'Key gelehnt, auch als es draußen läutete. Dominicé ging öffnen.

2

»Es ist Thévenoz«, sagte der Professor und versperrte die Türe mit seinen breiten Schultern.

»Er soll nur kommen«, sagte Madge und richtete sich ein wenig auf. Aber als sie Thévenoz sah, bedauerte sie ihre Haltung, sie ging ihm entgegen und schüttelte ihm die Hand.

Thévenoz sah schlecht aus. Seine dünnen Haare waren glanzlos und sein Gesicht schien bedeckt zu sein mit einem staubigen Gewebe. Er war zu müde, um sich über irgend etwas zu wundern, er starrte an Madge vorbei in das grelle Licht der Lampe, die immer noch, wie ein Scheinwerfer, gegen das Innere des Zimmers gerichtet war. Endlich schien ihn die Helle doch zu stören, er schloß die Lider und drückte Daumen und Zeigefinger auf die Augen.

»Er ist uns doch abhanden gekommen«, sagte Thévenoz und nichts hätte verzweifelter wirken können, als sein schwacher Versuch, zu kohlen, »und Rosenstock hat sein zugenähtes Knopfloch zerrissen, zum Zeichen der Trauer und als Symbol für das Zerreißen der Kleider. Er hat Klagetöne ausgestoßen, und ich habe ihn aus dem Zimmer werfen müssen. Aber denken Sie, Meister, die Russin ist wieder dagewesen, kurz vor dem Exitus. Sie kam ins Zimmer, beugte sich über Eltester, strich ihm mit den Fingern über die Stirn, und dann verschwand sie wieder, lautlos, schweigend. Ich hab sie aufhalten wollen, nichts zu machen. Sie hätten eher einen Schatten aufhalten können. Was glauben Sie, Meister, sollte ich der Polizei davon erzählen?«

»Das wird nicht nötig sein, Thévenoz.« Professor Dominicé saß wieder am Schreibtisch, das Gesicht in den Schatten des Lampenschirmes getaucht. »Der Herr dort steht mit zwei modernen Gewalten auf vertrautem Fuße, mit der Presse und mit der Polizei, er wird Ihre Bestellung ohne weiteres übernehmen.« Und Dominicé legte ein Bein über das andere, verschränkte mit einer sanften Bewegung die Hände und wartete geduldig auf die Wirkung seines Ausspruches. Es sah aus, als wolle er sich auf eine kindliche Art für lästige Ausfragerei rächen, und doch wirkte diese Rache viel eher traurig als boshaft. Thévenoz blickte böse in die Ecke, in der O'Key neben Madge saß. Aber er schwieg, nur Madge sagte ruhig:

»Jonny, du mußt nicht alles glauben, was dein Meister sagt. O'Key will uns helfen, das hat er mir gesagt, und ich glaub's ihm. Es ist nur schwer, mit dem Professor zu verkehren, er ist so mißtrauisch und so verschwiegen.«

Da räusperte sich O'Key und während sein Blick auf Thévenoz' Füßen haften blieb, fragte er – er ahmte den zögernden Tonfall Thévenoz' nach –: »War Ihr… Besuch, Ihr… Krankenbesuch interessant, Dr. Thévenoz?«

Thévenoz sah hilflos aus, wie ein ertappter Schuljunge. In diesem Augenblick, und mit diesem Ausdruck, fühlte Madge mit Thévenoz ein Mitleid, das in des Wortes wahrster Bedeutung als brennend zu bezeichnen war. So brennend, daß es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie sah diesen Doktor Thévenoz, den sie oft gequält, oft verspottet hatte, mit einer Deutlichkeit, die an Hellsichtigkeit grenzte: diesen grundanständigen Kerl, der sich abplagte, gewissenhaft, mit andern, mit sich selbst, dem es nie gelingen würde, sich durchzusetzen, weil er eben zu anständig war, weil er sich zu große Mühe gab, die andern zu verstehen, und weil er es nicht verstand, auch gegen sich selbst rücksichtsvoll zu sein. Und sie verglich ihn mit dem Manne an ihrer Seite, jenem O'Key, den sie erst seit einer Stunde kannte (war es wirklich nur eine Stunde, und nicht Jahre?): ›Vergleichen kann man die beiden nicht‹, dachte sie, ›denn das ist der Befreier.‹

Ihr Leben in den letzten Jahren schien ihr plötzlich dem Zustand jener Eichhörnchen zu gleichen, die in einer Drahttrommel die Pfoten bewegen, und die Trommel dreht sich, aber die Tiere kommen doch nicht vom Platz. Thévenoz, der war eben solch ein Eichhörnchen, eingesperrt in die Trommel des Berufs, und die Trommel drehte sich, man wurde müde, aber man kam doch nicht vom Platz. Sie sehnte sich danach, mit O'Key irgendwohin, weit weg zu gehen, in der Sonne am Meer zu liegen und den Sand durch die Finger rinnen zu lassen; keinen weißen Mantel mehr anziehen zu müssen, keine Kranken mehr zu sehen, keine Visite mehr zu machen, nur dazuliegen, im warmen Sand, oder über die Felsen zu klettern. Mit diesem O'Key verstand man sich ohne zu reden, er wußte sicher viel, nahm einen an der Hand, ging mit einem fort – und alles war leicht und gar nicht mehr kompliziert. Und wieder sah sie den Baum auf dem väterlichen Landgut und den kleinen rothaarigen Jungen, mit dem sie, ganz oben in den Zweigen, tagelang geschwiegen hatte. Sie seufzte, und dann hörte sie Thévenoz antworten:

»Das sind meine Angelegenheiten, und ich habe es nicht gerne, wenn man sich in meine Angelegenheiten mischt.«

›Wie komisch doch die Männer sind‹, dachte Madge, ›sie sind so stolz darauf, eigene Angelegenheiten zu haben. Was heißt das, eigene Angelegenheiten! Sie wollen sich ja nur interessant machen.‹

O'Key schien Ähnliches zu denken, denn er grinste und sein Grinsen war reichlich frech. Dann erhob er sich und sagte abschließend:

»Ich werde also Fräulein Lemoyne heimbringen und Sie beide Ihren Angelegenheiten überlassen. Wenn aber diese ›Angelegenheiten‹ reif für die Öffentlichkeit sein werden, so möchte ich mich empfohlen halten. Ich könnte vielleicht dann noch nützlich sein.« Er machte zwei große Schritte, stand vor dem Professor, schüttelte ihm die Hand, verbeugte sich vor Thévenoz und verließ das Zimmer; doch vergaß er nicht, Madge und ihrem Hunde Ronny den Vortritt zu lassen.

3

Dr. Jean Thévenoz, Arzt am Kantonsspital Genf, hätte gar nicht weit zu suchen brauchen, um Aufklärung über die geheimnisvolle Dame zu erhalten, deren Hauptbeschäftigung es zu sein schien, vergifteten Personen eine Abschiedsvisite vor ihrem Weggang aus dieser Welt abzustatten. Er hätte sich nur an den Bruder seines Assistenzarztes Rosenstock zu wenden brauchen, einen neunzehnjährigen Jungen, der eben daran war, sich auf die Matura vorzubereiten, indem er die meisten Stunden schwänzte, Professor Dominicés Vorlesungen besuchte und außerdem an seiner ersten Liebe erkrankt war. Wladimir Rosenstocks Bruder Jakob hatte vor einiger Zeit die Bekanntschaft der Russin Natalja Kuligina gemacht.

Es wäre noch vorauszuschicken, daß es drei Brüder Rosenstock gab: den Assistenzarzt, der im Alter nach Isaak kam, dem Advokaten. Der Advokat, er war bekannt und nicht unbeliebt, hatte zu Beginn seiner Karriere die letzte Silbe seines Patronyms verloren. Er nannte sich Isaak Rosène, und da biblische Vornamen in puritanischen Gesellschaften nichts seltenes sind, da außerdem der Fürsprech Rosène glattrasiert war und blond wie reife Ähren (Erbschaft der Mutter, einer de Morsier, weitläufig verwandt mit dem Sonnette dichtenden Staatsanwalt, was übrigens Isaaks Fortkommen im ›Palais‹ bedeutend erleichtert hatte), hielt man ihn nur ganz selten für einen Juden. Und hätte man es auch getan, so wäre es nicht schlimm gewesen. Es gab nur wenig Antisemiten in Genf und diese hatten nicht viel zu sagen, da sie von einem jungen Manne angeführt wurden, dem es selber nur schwer gelang, seine Abstammung von Noahs Sohne Japhet glaubhaft zu machen.

Doch wir wollten von Jakob Rosenstock erzählen, dem jüngsten der Brüder, seiner Bekanntschaft mit Natalja Invanovna Kuligina und seiner ersten Liebe. Die drei Brüder bewohnten eine einsame Villa ganz in der Nähe der Palanterie, jenes Sumpfes, der den Genfern im Winter als Schlittschuhlaufplatz dient. Die Eltern der drei Brüder waren vor bald fünfzehn Jahren gestorben, Isaak war damals noch ins Gymnasium gegangen, aber trotz dieses Trauerfalles hatten die jüngeren Geschwister, Wladimir und Jakob, eine glückliche Jugend verbracht. Isaak, der spätere Advokat, hatte es mit bewundernswerter Energie verstanden, sich die Einmischung von Onkeln, Tanten zu verbieten. Er hatte sich an Herrn Philippe de Morsier gewandt, den Verwandten seiner Mutter, der damals noch kleiner Richter am Polizeigericht war, und durch dessen Vermittlung gelang es ihm, schon in seinem neunzehnten Jahre mündig gesprochen zu werden. Vater Rosenstock hatte ein annehmbares Vermögen hinterlassen, außer der Villa am See. Die Erziehung der jüngeren Brüder übernahm Angèle (Angelika, wenn es Ihnen lieber ist), eine katholische Savoyerin, kinderlose Witwe, die sich mit Begeisterung der Knaben annahm. Das Erziehungsresultat war gar nicht übel. In der Villa am See herrschte ein freier Ton. Außer Mutter Angèle gehörte noch André, der Chauffeur und Gärtner, zur Familie.

Da die Villa ziemlich weit von der Stadt entfernt war, kam keiner der drei Brüder zum Mittagessen heim. Am schwierigsten war es für Jakob, den Gymnasiasten, gewesen, einen zusagenden Mittagstisch zu finden. Jakob haßte von Jugend auf öffentliche Abspeisungen, als da sind alkoholfreie Wirtschaften, Crèmerien oder wie sonst sich solch öffentliche Fütterungsstellen zu nennen belieben. Auch hier hatte der Staatsanwalt »hilfreich eingegriffen« und sich an eine alte Dame erinnert, die in der Rue Verdaine eine riesige Wohnung bewohnte, allein mit einem tyrannischen Mädchen für alles und dem Schatten ihres verstorbenen Freundes; dieser Freund war erst nach seinem Tode eine Berühmtheit geworden, durch ein nachgelassenes Tagebuch nämlich, das an selbstquälerischer Bespiegelung seines Innenlebens seinesgleichen suchte. Dieses ältliche Fräulein, Célestine Honorine Benoît mit Namen (als Schriftstellerin unter dem Pseudonym »Agnès Sorel« bekannt), war von einer so unförmlichen Häßlichkeit, so daß sie wieder schön wirkte, wie eine rassenreine Bulldogge. Negerlippen, kurzgeschnittene, ewig verfilzte graue Haare, so hockte sie vor ihrem Schreibtisch und verfaßte antike Tragödien, in schwungvollen Alexandrinern. Außerdem schwärmte sie für Voltaire und den Spiritismus; wie sie diese beiden Begeisterungen zu vereinigen vermochte, war ihr Geheimnis.

Jakob Rosenstock war lange der einzige Pensionär Fräulein Sorels gewesen (wir wollen ihr Pseudonym beibehalten, da es die Dichterin ihrem richtigen Namen vorzieht). Erst seit zwei Monaten war ein neuer Gast aufgetaucht, eben jene Natalja Kuligina, und Fräulein Sorel tat geheimnisvoll, wenn sie über die Herkunft ihres neuen Gastes befragt wurde. Die Sache war übrigens höchst einfach. Fräulein Sorel war nicht reich, manchmal war sie auf die wohlwollende Unterstützung verschiedener Mäzene angewiesen, aber die Mäzene wurden rar, und so hatte Fräulein Sorels Mädchen einfach eine Annonce in der ›Tribune‹ aufgegeben, auf welche Annonce hin eines Tages ein Herr erschienen war, klein und fremdländisch, mit einer großporigen Gesichtshaut, die unsauber wirkte, um für seine Schwester (so behauptete er) ein Zimmer zu mieten. Fräulein Sorel aber hatte sich in diese »Schwester«, die am nächsten Tag erschienen war, auf ihre sonderbar enthusiastische Art verliebt, nannte sie Natascha, betrachtete sie als die Verkörperung Rußlands und sah in ihr eine lebendig gewordene Heldin Dostojewskys, eines russischen Schriftstellers, den sie zu verabscheuen vorgab, den sie aber heimlich, mit glühenden Wangen verschlang, wie ein Junge im Pubertätsalter die Memoiren des Casanova; da aber das alte Fräulein alle näheren Bekannten idealisieren mußte, sah sie auch im jungen Jakob eine Art Cherubin. Sie war nicht prüde, denn sie liebte das galante Jahrhundert, das achtzehnte nach unseres Herrn Geburt, und leistete naive Kupplerdienste. So kam es, daß sich Jakob Rosenstock in die Agentin 83 verliebte, die in Genf unter dem Namen Kuligina auftrat, deren Mission es war, den Agenten Baranoff (Nummer 72) zu überwachen; denn dieser war verdächtig, für die eigene Tasche zu arbeiten, was gegen die Prinzipien von Hammer und Sichel ist.

Es ist, glaube ich, eine alte Tatsache, daß Jünglinge mit sogenannten geistigen Interessen für schöne Frauen nicht viel übrig haben. Um Magazinschönheiten zu verehren, braucht es ein vollgerütteltes Maß Dummheit. Darum war es ein Glück für Jakob, daß Natascha nicht schön war. Ich weiß, für eine Spionin wäre der Vamptypus am Platze, aber ich kann Ihnen leider nicht helfen: die Regierungen, die Spioninnen beschäftigen müssen, holen sich gewöhnlich weder bei Feuilletonromanciers noch bei Kinoregisseuren Rat. Natascha fiel nicht auf. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht, schlichtes schwärzliches Haar, das manchmal silbern schimmerte, wie eine Rappenmähne. Sie glich einem schlanken Seehund, und wie ein solches Tier konnte sie auch gut schwimmen. Einmal hatte sie zum Spaß den Weltrekord für Brustschwimmen um zwei Fünftelsekunden geschlagen, aber sie durfte an keiner Konkurrenz teilnehmen, ihr Beruf verbot ihr dies. Wie sie aber zu diesem Beruf gekommen ist (denn Spionage ist schließlich ein Beruf wie Gärtner, Generaldirektor, Pfarrer oder Einbrecher), ist eine andere Geschichte.

Jakob kannte die Agentin 83 seit einem Monat und nannte sie Natascha. Zuerst hatte das alte Fräulein Sorel die beiden nach dem Mittagessen allein gelassen. Dann saßen sie gewöhnlich auf einem alten verschnörkelten Sofa, das grün überzogen war. Natascha hatte dem Jungen gegenüber zuerst eine etwas merkwürdige Einstellung. Es reizte sie, diesen behüteten Bürger, der nichts von Hunger und Elend wußte, zu dem Glauben zu bekehren, dem sie anhing. Aber die Predigten über die dialektische Methode verstummten nach und nach. Es war eigentlich nicht klar zu ersehen, warum. Sie verstummten. Das wäre alles, was sich sagen ließe. Statt der Predigten kamen dann Spaziergänge über Land (Jakob schwänzte gewissenhaft die Schule und sein Bruder Isaak, der Advokat, beklagte sich, weil er allzuviele Entschuldigungsschreiben verfassen mußte, ließ dann aber in seiner Kanzlei einige Dutzend Entschuldigungsformulare herstellen, auf denen nur das Datum freigelassen war, unterzeichnete sie, und überreichte »diese Blankoschecks für Schuleschwänzen« dem jüngeren Bruder, mit der Bitte, ihn von nun an mit derartigen Miseren zu verschonen). Es kamen Spaziergänge über Land, Nachmittage am See in der Sonne. Jakob lernte richtig schwimmen, was vielleicht nützlicher war als kommunistische Theorie, hier kommt es wirklich auf den Standpunkt an, den man einnehmen will, und, mein Gott, die beiden kamen gut miteinander aus. Jakob glaubte, daß seine Freundin als Sekretärin bei der offiziellen Sowjetdelegation angestellt sei, von Baranoffs Vorhandensein hatte er keine Ahnung.

4

Untersuchungsrichter Despine hatte für dienstliche Obliegenheiten kein Zimmer, sondern ein Gemach zur Verfügung: trotz seiner stattlichen Postur wirkte er in diesem Raum eher klein, denn die Decke war hoch und mit vielen weißen Ornamenten verziert. Untersuchungsrichter Despine zeichnete sich durch eine vollkommene Glatze aus, der Haarmangel erstreckte sich über sein Gesicht und auch über seine Hände, die klein waren, mit spitzzulaufenden Fingern, so daß sie an Maulwurfspfoten erinnerten. Er hatte eine Konferenz einberufen, an der Kommissar Pillevuit und der Journalist O'Key teilnahmen.

Auf dem großen Schreibtisch, hinter dem Despines Gestalt wie eine Schießbudenfigur wirkte, lagen Gegenstände verstreut, mit denen sich des Untersuchungsrichters kahle Hände eifrig beschäftigten. Es war zu sehen: eine Flasche mit eingeschliffenem Stöpsel – und auf der Glaswand war weiß ein gespenstischer Finger abgedrückt – ein schwarzer Wollshawl, ein gelbes Band, ein zerknittertes Pergament. In der Hand hielt Despine die Münze, besah sie angestrengt durch eine Lupe und schüttelte von Zeit zu Zeit ratlos den Kopf. In einem Armstuhl, am Fenster, saß O'Key und rauchte. Pillevuit hingegen hatte sich in einem Klubsessel versteckt, von ihm war eigentlich nur ein Schimmer des leuchtend gelben Fahnenbartes zu sehen.

»Unglaublich«, sagte Herr Despine, »daß solche Dinge heutzutage möglich sind. Götzenanbetung! Hier in Genf! Man sollte doch meinen, Calvin habe die Luft der Stadt gereinigt von jeglichem Unsinn, vom heidnischen sowohl, als auch vom baptistischen… Verzeihung«, sagte er und neigte den blanken Schädel gegen O'Key, »ich glaube, Sie sind katholisch, ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Bitte, bitte«, winkte O'Key gnädig ab. »Wir sind hier ja nicht auf einem Konzil, um Religionsfragen zu diskutieren, sondern…«

»Haben Sie eigentlich diese Jane Pochon vorgeladen oder nicht?« fragte Pillevuit aus seinem Klubsessel heraus, ungeduldig und gereizt. »Kommt das Frauenzimmer? Ich habe meine Zeit nicht gestohlen…«

»Sie kommt, lieber Kommissar, sie kommt ganz bestimmt. Aber ich habe eine Bitte. Ich möchte keinen Schreiber zuziehen. Das Verhör soll nicht offiziell sein, uns nur zur Orientierung dienen. Kann einer der Herren stenographieren?«

»Ich«, sagte O'Key vom Fenster her und hob dabei die Hand wie in der Schule. Der Kommissar grunzte.

Schweigen. Dann war von draußen durch die Tür ein zitterndes Klingeln zu hören, die Tür öffnete sich und ein Gerichtsdiener stand da, lang und bleich.

»Ist Frau Pochon schon da?« fragte Despine mit quäkender Stimme. Der Diener verneigte sich. »Führen Sie die Dame herein.«

Pause. Dann trat ein, angetan mit einem schwarzen Seidenkleid, das in allen Nähten krachte, Frau Jane Pochon. Sie war rot, dreifache Falten quollen unter ihrem Kinn, auf ihrem Haupte lag waagrecht, gehalten von einem grauen Haarknäuel am Hinterkopf, ein mit Federn geschmücktes, schiffartiges Gebilde. Der Rock schleppte nach, er verbarg die Füße. Irgendwie gemahnte Frau Pochon an jene riesigen Figuren, die auf dem Karneval in Nizza durch die Straßen geschleppt werden. Sie nahm auf einem Stuhle Platz, den ihr Herr Despine angeboten hatte. Von Pillevuit war nichts zu sehen, er hatte den Klubsessel so gekehrt, daß man nur die nackte Lehne sah – dadurch wirkte das Möbel unbewohnt.

»Madame«, sagte der Untersuchungsrichter, »Ich hoffe, Sie haben meine Einladung nicht mißverstanden. Es handelt sich, wie ich betonen möchte, nicht um eine Vorladung. Wir möchten einige Dinge erfahren, über die Sie vielleicht Bescheid wissen. Ein junger Freund von mir«, er wies nach O'Key, der am offenen Fenster saß und dort mit einem Bleistift spielte, »der sich für die Sache interessiert, hat mich gebeten, der Unterredung beizuwohnen. Er möchte sich einige Notizen machen, denn er ist Journalist. Doch kann ich Ihnen versichern, es wird nichts in die hiesige Presse kommen. Der Herr ist Engländer.«

Despine sprach gedämpft, seine hellen Kugelaugen waren halb von den Lidern bedeckt, er hielt die Hände gefaltet und drehte die Daumen. Jane Pochon schwieg.

»Sie sind Haushälterin bei Professor Dominicé?«

Frau Pochon nickte.

»Schon lange?«

»Fünfzehn Jahre.« Die Stimme war heiser, merkwürdig dunkel, vielleicht wirkte sie auch nur so, weil das Zimmer von der Helligkeit einbrechender Sonnenstrahlen plötzlich erleuchtet wurde. Dann schleppte sich das Verhör weiter, über nebensächliche Fragen, deren Technik Herr Despine ausgezeichnet beherrschte, langsam sich näher tastend. Ob sie zufrieden sei mit ihrer Stellung? – Jawohl. – Ob der Professor nicht schwierig zu behandeln sei? – Durchaus nicht. – Wie ihre Arbeitszeit sei? – Unregelmäßig. – Die allzukurzen Antworten schienen Herrn Despine langsam nervös zu machen, sein Ton wurde schärfer. Am Fenster spielte O'Key immer noch mit seinem Bleistift und blickte auf seine Stiefelspitzen.

»Sie kannten natürlich«, sagte Herr Despine und zündete langsam eine Zigarette an, »jenen englischen Sekretär, der viel bei dem Professor verkehrte? Jenen Crawley, der eines so merkwürdigen Todes gestorben ist?« »Ich habe ihn gesehen, ein- oder zweimal«, dabei warf Frau Pochon einen seltsam prüfenden Blick auf O'Key, den dieser wahrnahm, aber sich nicht recht erklären konnte. Erst bei der nächsten Frage des Untersuchungsrichters, wer sonst noch bei dem Professor verkehre, und Frau Pochons Antwort: meistens Ausländer, mußte O'Key plötzlich an Madge denken. Er hatte sie seit dem Abend, dem sonderbaren Abend, der mit Thévenoz' Erscheinen geendet hatte, nicht mehr gesehen. Und er hatte sie damals heimbegleitet, gewiß, aber nur wenig gesprochen. Es war sehr ruhig und schön in dem Wagen gewesen, dann hatte er noch in Madges Zimmer Tee getrunken, und dann war er heimgegangen. An jenem Abend, vorgestern war das, hatte er gar nicht mehr an den Fall gedacht und auch Madge nichts gefragt. Aber Madge mußte etwas wissen, etwas, vor dem die dicke Frau da Angst hatte. Vielleicht war es etwas scheinbar Nebensächliches. O'Key kritzelte eifrig eine Notiz auf seinen Block – da schreckte ihn eine im Gegensatz zu den vorherigen, scharf gestellte Frage auf: »Wo haben Sie diesen Shawl verloren, Frau Pochon?«

Schweigen. Deutlich war das Summen einer Wespe zu hören. Tiefe Atemzüge und das Knistern des schwarzen Seidenkleides.

Dann wieder die ruhige Stimme Despines: »Nun, das hat ja nicht viel auf sich, vielleicht ist es auch gar nicht Ihr Shawl, es war nur eine einfache Frage.«

»Das gehört nicht mir«, sagte Frau Pochon gepreßt.

»Nun gut, meine liebe Dame, wir wollen uns mit diesen Kleinigkeiten nicht aufhalten. Aber der Professor beschäftigt sich viel mit Giften, nicht wahr?«

»Ich kümmere mich nicht um seine Arbeiten.«

»Nicht möglich? Sie, seine Mitarbeiterin, denn es ist doch ein offenes Geheimnis, daß Sie früher ein bedeutendes Medium waren, daß Professor Dominicé sogar ein Buch über Sie geschrieben hat, ein sehr interessantes Buch, in welchem er einige Ihrer Unwahrheiten, Ihrer unbewußten Unwahrheiten, will ich mich beeilen hinzuzufügen, auf eine geniale Art entlarvt hat. Und Sie sollten nichts von seinen Arbeiten wissen? Das ist doch kaum glaublich.«

»Es ist aber so.« Frau Pochon hatte ein Taschentuch gezogen, dem ein leichter Kampfergeruch entströmte und wischte sich die Stirne, die mit Tropfen überdeckt war. »Es ist so heiß hier«, klagte sie.

»Aber, daß er Morphinist ist, das wissen Sie«, stellte Herr Despine fest, und plötzlich war er aufgesprungen, hatte sich über den Tisch gebeugt und seine hellen Kugelaugen glotzten böse.

»Ja«, flüsterte Frau Pochon, und dann brach ein Redestrom los, der Herrn Despine in seinen Stuhl zurückwarf. Sie habe dem Professor oft gesagt, er solle das Gift lassen, aber es habe nichts genützt, es sei nur immer ärger geworden. Angefangen habe es vor einem Jahr, da habe der Professor Neuralgien gehabt und habe nächtelang nicht geschlafen, und dann habe er eben begonnen, aber als die Schmerzen vorbei gewesen seien, habe er nicht aufhören können, und habe immer behauptet, er könne besser arbeiten mit dem Gift, und das sei ja wahr, im Anfang habe er viel geschrieben, damals habe er auch das neue psychologische Laboratorium eingerichtet und zwei Assistenten eingestellt und Material gesammelt für ein großes Werk über die Hallo-, Halla-, Hallizunationen… »Halluzinationen«, korrigierte O'Key sanftmütig vom Fenster her, erhielt einen dankbaren Blick und dann floß der Redestrom weiter. Der Professor habe auch mit ihr experimentieren wollen, aber sie sei zu alt, sie falle nicht mehr in Trance. Da habe er diesen Crawley entdeckt, diesen Sekretär, der sei leicht beeinflußbar gewesen, auch habe er immer seine Träume für den Professor aufschreiben müssen, er sei viel mit dem Professor zusammengewesen, bis… hier stockte Frau Pochon.

»Nun, bis…?« ermunterte der Untersuchungsrichter und betrachtete aufmerksam seine Hände, deren Finger wie glatte Grottentiere wirkten.

»Sie haben sich gezankt«, sagte Frau Pochon leise, »ich habe nur gehört, daß der Professor etwas von ›unsauberen Machinationen‹ gesagt hat…«

»Wann war das?« fragte O'Key vom Fenster her und erhielt einen bösen Blick des Untersuchungsrichters.

»Ja, aaaber«, sagte Herr Despine, »wir haben hier eine Karte, mit des Professors Schrift, die Crawley auf den Abend des –, wir hatten zuerst das Datum übersehen, aber hier in der Ecke steht es –, auf den Abend des 22. Juni zu sich eingeladen. Sehr freundschaftlich sogar. Da muß doch eine Versöhnung stattgefunden haben, oder?«

»Vielleicht«, sagte Frau Pochon und schloß den Mund, definitiv.

»Wo waren Sie in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni?«

Frau Pochon schwieg. Dann schrak sie plötzlich zusammen, denn der Fauteuil, der ihr seine nackte Lehne zugekehrt hatte, so, als sei er unbewohnt, hatte einen Satz nach hinten gemacht und nun stand vor ihr ein blondes, kleines Ungetüm mit wehendem Bart, und höhnische Fragen prasselten auf sie herab.

»Ja, in der Nacht, in der Eltester ermordet worden ist, wo waren Sie da? Und dieser Shawl gehört nicht Ihnen? Und Sie waren nie in einer Apotheke? Und der alte Professor hat sein Gift durch himmlische Boten bekommen…«

»Himmlische Boten«, stotterte Frau Pochon, ehrlicher Schrecken war auf ihrem Gesicht, so daß Pillevuit erstaunt schwieg über die Wirkung dieses so alltäglichen Vergleichs.

»Himmlische Boten«, murmelte Frau Pochon, und sie nickte mit dem Kopf, während ihre Lippen sich langsam von den Zähnen zurückzogen. Sie wirkte wirklich unheimlich, diese alte Frau.

Aber Kommissar Pillevuit hatte sich schon wieder gefaßt.

»Also, Sie geben zu, daß Sie in der Nacht vom 25. zum 26. Juni bei Eltester waren, zusammen mit Professor Dominicé«

Frau Pochon schien die Frage gar nicht gehört zu haben, sie starrte gebannt auf die Hände des Untersuchungsrichters, am Kommissar vorbei, denn diese Hände spielten mit einer Münze und von dieser Münze konnte Frau Pochon nicht die Augen lösen.

»Wo haben Sie die Münze gefunden?« fragte sie atemlos.

»Wissen Sie das nicht? Dort, wo wir den Shawl gefunden haben. Wollen Sie nicht zugeben, daß Sie den Apotheker gekannt haben?«

»Sie sollten mir die Münze geben«, sagte die alte Frau ruhig, »das ist nichts für Sie, das könnte gefährlich werden.«

»Halten Sie uns für Kinder?« schnaube Pillevuit böse. »Kinder, die sich vor Hexen und solchen Dingen fürchten? Oder etwa vor Geheimgesellschaften, religiösen oder politischen? Wollen Sie mir jetzt bitte eine genaue Antwort geben, wo Sie in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni waren? Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie gesehen worden sind, und zwar nicht nur von einem Zeugen.«

Da kam wieder das Zurückziehen der Lippen, das wie ein höhnisches Lächeln wirkte, und dann sagte Frau Pochon: »Das ist nicht gut möglich. Bis Mitternacht war ich mit Sir Eric Bose zusammen und dann war ich daheim, denn mein Sohn hatte Fieber und ich mußte ihn pflegen. Um sechs Uhr morgens hat mich Sir Eric im Auto abgeholt, und ich habe meinen Sohn einer Nachbarin übergeben. Sir Eric meinte, ich sei müde und brauche Erholung.«

»He?« fragte Kommissar Pillevuit, sein Mund stand hilflos offen, er wandte sich zum Fenster, wo O'Key jetzt aufrecht stand und die beiden sahen sich an, viel zu verwundert, um ein weiteres Wort zu finden. Herr Despine, der Untersuchungsrichter, faltete ergeben die Hände, seufzte, zündete dann eine Zigarette an und sagte sehr still:

»Wenn sich die Herren von ihrem Erstaunen erholt haben, könnten wir vielleicht die Aussagen von Madame kontrollieren. Wie kommt es aber, daß Sie mit einem immerhin angesehenen Diplomaten so intim sind?«

Frau Pochons Gesichtsfarbe, die nach der lächelnden Aussage auf ein zartes Rot zurückgegangen war, dunkelte augenblicklich nach. Jetzt war es die Haushälterin, die aufrecht dastand, die Fäuste auf die abstehenden Stäbe des Korsetts gestemmt, und sie schrie los, wie ein wütendes Marktweib.

Für wen man sie eigentlich halte, keifte sie, sie stamme aus einer anständigen Familie, sie habe Manieren, wenn auch ihr verstorbener Mann ein Lump gewesen sei, so habe das nichts zu sagen, sie habe ihre Torheit schwer genug büßen müssen. Und ihr Sohn sei ein Künstler, ihr Sohn verfertige wunderbare Töpferarbeiten, und für diese habe sich Sir Eric interessiert. Und er habe sie besucht, er sei ein feiner Mann, er habe ihren Sohn zu würdigen gewußt, er sei ihr Freund, und überhaupt habe sie genug von dieser Ausfragerei. Wenn man ihr die Sünden des Professors aufbürden wolle, so werde sie schon wissen, wie sie sich zu wehren habe, sie habe mächtige Freunde. – In ihren Mundwinkeln bildeten sich kleine Schaumbläschen. Als sie zu einer neuen Rede ansetzte, stand plötzlich O'Key hinter ihr, sein roter Haarschopf überragte den Federschmuck ihres Hutes, und laut sagte er in das Ohr der Frau:

»Attalus III., Philometor, Sohn der Stratonike, letzter König von Pergamo, besaß einen Giftgarten, in dem wuchsen hundertundzweiunddreißig verschiedene Pflanzenarten, als da sind: Schierling, Bilsenkraut, Nießwurz und Aconit. Der römische Schriftsteller Flavius aber erzählt, daß in einem Feldzug gegen die Parther die Soldaten ein Kraut aßen, das geisteskrank machte, bevor es tötete.«

»Was wollen Sie…, was wollen Sie… damit sagen?«

»Nichts«, sagte O'Key still, »nur in Ruhe telephonieren. Sie erlauben?« fragte er und hob schon den Hörer ab, stellte eine Nummer ein, die er auswendig zu wissen schien, fragte, wer am Apparat sei, führte dann ein Gespräch auf Englisch; es war kurz. Dann sagte er über die Achsel:

»Lassen Sie die Frau gehen, Herr Richter. Was sie gesagt hat, wird von Sir Eric bestätigt.«

Aber Herr Despine brauchte kein Wort zu sagen. Bevor er noch den Mund hatte öffnen können, klappte die gepolsterte Tür hinter einem wehenden schwarzen Rock zu.

Es wären noch zwei Kleinigkeiten mitzuteilen, die erste: Nach dem Weggang Jane Pochons entdeckte der Untersuchungsrichter das Fehlen jener kleinen Medaille, die O'Key als ein Amulett jener Sekte bezeichnet hatte, die unter dem Namen basilidianische Gnosis im alexandrinischen Ägypten geblüht hatte. Aber Herr Despine sowohl als auch der Kommissar waren zu erschöpft, um aus dem Verschwinden dieser Münze die juristischen Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht hielt sie auch das zweite Geschehnis von weiteren Schritten ab.

Es hieß nämlich am selben Tag noch, man habe im ›Palais‹ noch nie soviel Bremen, Mücken, Wespen, Hummeln bemerkt wie heute, und zwar erst nach dem Weggehen einer alten Frau mit hochrotem Gesicht, die murmelnd und scheinbar sehr gereizt, durch die Gänge gefegt sei. Ja, Polizist Malan, an den wir uns erinnern, und der an diesem Tag Dienst vor dem Tore hatte, behauptete sogar, die Frau habe dieses Ungeziefer angelockt. Denn sie sei die Rue Verdaine hinab verschwunden, umgeben von einem ganzen Schwarm Ungeziefer, und er selbst, Malan, sei von drei Bremen und vier Wespen gestochen worden. Die Frau aber habe etwas in der Hand gehalten, was nicht zu erkennen gewesen sei, und auf dieses Etwas habe sie eingesprochen, als wolle sie ihm Befehle erteilen.

Nun, Polizist Malan trank gern, das wissen wir, er war ein Waadtländer Bauernsohn, ganz hinten aus dem Jura, und dort sind die Leute abergläubisch. Es ist selbstverständlich, daß keiner der beiden Kriminologen an solche Ammenmärchen glaubte. Merkwürdig bleibt immerhin ein Ausspruch O'Keys, der seinen historischen Tag zu haben schien. Nach dem Weggang der Frau Pochon wurde er nämlich zuerst gefragt, was er mit seinem Attalus III., Philometor, eigentlich gemeint habe.

»Bluff«, sagte O'Key, »haben Sie noch nie bemerkt, daß man schreiende Leute sofort mit einem historischen Ausspruch mundtot machen kann?«

Pillevuit saß darauf lange schweigend, dann sagte er: »Ich glaube Ihnen nicht recht, Irokese, Sie sind ein ganz Durchtriebener. Aber das ist ja gleichgültig. Jetzt sollten wir wohl den Professor doch vornehmen, nicht wahr? Oder gar verhaften?«

»Vorsicht, meine Herren«, flötete Herr Despine und machte die Stimme des Sonnette dichtenden Staatsanwalts so ausgezeichnet nach, daß die beiden andern lachten, »lassen wir unsere Genfer Berühmtheit in Frieden, wir besitzen so wenig hervorragende Mitbürger von internationaler Bedeutung.«

»Richtig«, sagte O'Key, »halten wir uns vorläufig an dieses Argument. Es ist so gut wie ein anderes. Vielleicht kann ich Ihnen morgen weitere Neuigkeiten mitteilen. Ich treffe heute nachmittag einen Bekannten…«

Da klopfte es, der Gerichtsdiener trat ein, lächelnd, und wandte sich vertraulich an Herrn Despine. Die beiden kannten sich schon lange, und der Diener wußte von seines Vorgesetzten Schwäche für Klatsch.

»Es wird erzählt…«, begann er, und dann berichtete er von dem seltsamen Raunen in den Gängen, von der Frau, die Fliegen und Ungeziefer herbeigezaubert habe. Herr Despine lachte schallend, er krähte sogar, als er vom zerstochenen Malan hörte und Kommissar Pillevuit stimmte mit tiefem Gurgeln in dieses Lachen ein. Nur O'Key blieb schweigsam. Als die Herren sich dann einigermaßen beruhigt hatten, geschah jener zweite Ausspruch O'Keys.

»IAO«, sagte er, »ist ein anderer Name für Abraxas. Und im Louvre-Papyrus steht zu lesen: ›Sprecht nicht den Namen IAO aus unter der Strafe des Pfirsichs‹. Das will heißen: Steinfrüchte enthalten in ihrem Kern Bittermandelöl; vielleicht ist es gut, daß Frau Pochon das Amulett mitgenommen hat.«

Erst jetzt bemerkte Herr Despine das Fehlen der Münze mit dem Fliegengott. Und vielleicht doch beeinflußt durch den Ausspruch O'Keys beschloß er, jeglichen Schritt zu ihrer Wiedererlangung zu unterlassen. Nachher freilich erinnerte er sich an O'Keys Bemerkung von der Mundtotmachung durch historische Zitate. Er schämte sich ein wenig, aber dies schadet nichts, da O'Key zusammen mit dem Kommissar schon das Zimmer verlassen hatte.

5

In der Gegend der Palanterie, jenes Sumpfes, der den Genfern im Winter als Schlittschuhlaufplatz dient, aber noch weiter gegen die französische Grenze zu, steht eine einsame Bank am See. Man kann sie auf zwei Wegen erreichen. Der eine führt von der Tramhaltestelle über die Felder, der andere hält sich an das Seeufer und kommt vom Port-Noir. Es war tiefer Nachmittag, als zwei Herren, jeder von einer andern Seite kommend, sich an dieser Bank trafen. Sie lächelten, als sie sich sahen, zogen beide die Uhren, nickten. Der eine, von unbestimmbarem Alter und neutralen Gesichtszügen, trug trotz der Hitze einen steifen, runden Hut, eine ›Melone‹, und war in dunkles Blau gekleidet. Der andere trug einen grauen Flanellanzug, weißes offenes Sportshemd. Die Sonne hatte den See in eine glattpolierte Silberplatte verwandelt; sein Anblick schmerzte.

»Colonel«, sagte O'Key, »verzeihen Sie meinen Anruf. Aber es war wichtig.«

»Es war ganz richtig, Simp«, sagte der Kammerdiener Charles, »wenn ich alter Esel Fehler mache, so muß ich sie auch ausbaden. Ich werde es mir nie verzeihen, daß ich meinen Alten an dem Morgen hab' entwischen lassen. Kannst du dir vorstellen, wie erstaunt ich war, als ich um acht Uhr ihm sein Frühstück bringen wollte, und kein Mensch da war?«

»Doch, Colonel«, sagte O'Key, »das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Mach keine Witze. Sonst zieht sich der Alte nie ohne mich an. Aber ich sage, die dümmsten Leute werden raffiniert, sobald sie alt werden. Sie verlegen sich dann aufs Intrigieren, weil ihnen die Liebe nichts mehr zu sagen hat. Schon dort unten«, Charles winkte in die Ferne, »hat er mich übers Ohr gehauen mit seiner plötzlichen Landesverweserschaft. Nur gut, daß man mir in London keinen Strick daraus gedreht hat.«

»Ach, die wissen dort auch, daß es nicht immer einfach ist, alles zu erfahren. Aber sagen Sie, Colonel, wie ist die Vertreibung des Maharaja vor sich gegangen?«

»Offen gestanden, Simp, ich bin selbst nicht ganz nachgekommen. Das Ganze hat mit einer Spekulation zu tun, unser Alter hat sich mit der Standard-Oil zu tief eingelassen, und dann ist Petroleum entdeckt worden, dort unten, in Jam Nagar. Und der Fürst war noch ein ganz junger Mensch, ein anständiger Kerl, der war gegen die amerikanischen Interessen. Diese wurden vertreten von einem Missionar, der aussah, als käme er direkt aus dem ›Regen‹ von Maugham. Der alte Eric Bose war delegierter Berater oder beratender Delegierter vom indischen Vizekönig bei dem Maharaja. Es war ja schon eigentlich Hochverrat, daß Bose sich mit der Standard-Oil eingelassen hat. Aber ich bin zu spät gekommen. Als ich hinkam, war schon alles im Gleiten; der alte Bose hat zusammen mit dem amerikanischen Missionar das Volk gegen den jungen Fürsten aufgeputscht, und der Fürst, in seiner Anständigkeit, hat abgedankt.« Schweigen, langes Schweigen. »Er hat abgedankt, der Maharaja Jam Nagar, weil er zu anständig war«, wiederholte Charles; seine Stimme war traurig. »War ein Gentleman, der junge Fürst, sah aus wie Krishnamurti, der Heiland der Theosophen. Ja.«

»Und Sie wissen nicht, Colonel, wo der junge Fürst steckt?«

»Steckt?« wiederholte Charles gereizt, »sprechen Sie anständig, junger Mann. Seine Majestät residiert irgendwo, ich vermag nicht, den Ort näher zu bezeichnen. Aber sie ›steckt‹ nirgends.«

O'Key unterdrückte sein freches Bubenlächeln. Man durfte dem Colonel nicht zu nahe treten.

»Aber, was ich Sie noch fragen wollte, wie kommt der alte Bose zu der Witwe Pochon? Die zwei haben doch nichts gemein?«

»Der Sohn, Simp, der Sohn der Witwe«, beschwörend hob Charles die flachen Hände, »vergiß den Sohn nicht, ich bitte dich. Der Kerl ist unheimlich. Er sieht aus… ja, wie sieht er aus? Wie seine Mutter, wenn sie eine Entfettungskur durchgemacht hätte. Kannst du dir das vorstellen? Die Haut ist ihm zu weit, überall Falten und Runzeln, und doch ist er jung, sehr jung. Übrigens, seine Mutter ist eine Hexe«, sagte Charles ganz ernst; der Ernst dieser Behauptung hätte bei einem Agenten des I.S. eigentlich komisch wirken müssen, aber auch O'Key blieb ernst; wenn er aus Irland stammte, so stammte Dealdonel aus Schottland. Und das hielt sich, was Aberglauben betraf, die Waage.

»Aber«, rief O'Key plötzlich, »warum, Gott verdamm' ihre Seele (Charles stieß ein begütigendes ›Psch‹ aus), warum hat man dann Crawley umgebracht?«

»Das zu entdecken, dazu bist du da, Simp, und, bitte, fluche nicht mehr. Ich bin ein alter Militär, aber ich liebe das Fluchen nicht. Das einzige, was ich dir sagen kann, ist, daß Crawley am Abend des 23. Juni mit meinem Alten einen großen Krach gehabt hat. Ich hab nichts davon gewußt, ich hab dir ja gesagt, ich war gar nicht da. Der Etagenkellner hat es mir gestern erzählt, ein wenig spät. Aber sie haben gegeneinander getobt, wie zwei Stiere (so sagte mein Gewährsmann), und dann kam Crawley mit einer Mappe unter dem Arm aus dem Zimmer gelaufen, sprang die Treppe hinunter, ohne Hut, und war fort. Um zehn Uhr ist dann der alte Bose ebenfalls ausgegangen.«

O'Key blieb stumm, und seine Nase wackelte.

»Hä!« stieß er dann so laut hervor, wie Pillevuit am Morgen. »Ein unerträglicher Kerl, dieser Crawley. Zuerst hat er mit dem Professor Krach, eine Woche vor seinem Tode, dann mit seinem Vorgesetzten, und um allem die Krone aufzusetzen, erlaubt er sich auch noch auf mysteriöse Art ums Leben zu kommen. Und ich, ausgerechnet ich, soll nun seinen Tod rächen. Schauderbar.« Er schüttelte sich.

»Ruhig, mein Junge«, sagte Charles, »alles wird sich aufklären, du kriegst Beförderung und ich gehe in Pension. Bin schon zu alt, hab ein Landhaus, von dem erzähl ich immer dem Etagenkellner, dorthin will ich ziehen. Und dann will ich versuchen, einen ganz dunkelblauen Rittersporn zu züchten, fast schwarz muß er werden, so wie mein Anzug. Kannst du dir vorstellen, so eine lange, lange Blütenrispe, ganz dunkel, und viele dieser Blüten in einem Rasen, in einem englischen Rasen, versteht sich, denn hier wissen die Leute ja gar nicht, was ein Rasen ist.«

Er blickte träumerisch über den See, der dunkel geworden war, denn die Sonne war schon tief.

»Wie jetzt der See ist, so muß sie werden, mit einem kleinen Schuß Purpur und heißen wird sie Delphinium hybridum ›Colonel‹. Oder soll ich ihr deinen Namen geben, mein Junge?« Die Stimme war ein wenig ängstlich.

»Aber nein, Colonel, der andere ist viel schöner.«

»Nicht wahr, man denkt dann an einige ganz hübsche Stunden? Nun, gute Nacht, mein Junge. Mach's gut.«

»Gute Nacht, Colonel.«

Dann war die Bank leer. Ein Wind, der von den Voirons kam, bemühte sich, das Loch zu füllen, das der heiße Spiegel des Sees in die Luft gebrannt hatte.


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