Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Zweites Kapitel

1

Die Morgenblätter des nächsten Tages beschäftigten sich mit dem Tode des Sekretärs Crawley. Das ernste »Journal de Genève«, das seinen Ehrgeiz darein setzte, so dezent zu sein, daß auch sechsjährige Kinder seine Prosa verzehren durften, ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen, sprach in gefühlvollen Worten von dem Tode eines hoffnungsvollen jungen Diplomaten, der eines geheimnisvollen Todes gestorben sei. Am Schlusse des Artikels wurde andeutungsweise gefragt, ob hinter diesem Verbrechen nicht die Hand des Erzfeindes westlicher Kultur zu suchen sei. – Diese anscheinend harmlose Frage hatte einen geharnischten Protest der Sowjetdelegation zur Folge, der dann im Abendblatt in winzigen Buchstaben gerade am Schluß des redaktionellen Teiles erschien – und übersehen wurde. – Die »Tribune de Genève« hatte einen Toxikologen angefordert, der ausgezeichnet und geistvoll über das ehrwürdige Alter der Gifte plaudern konnte: dieser berichtete vom Bilsenkraut und der Tollkirsche, die auch zu Liebesfiltern gebraucht worden seien. Das sozialistische »Travail« brachte, wie gewohnt, die Vergiftung des jungen Diplomaten mit der Korruption der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung und fand dadurch einen neuen Weg, von den Bankskandalen der letzten Zeit zu sprechen, was wöchentlich mindestens sechsmal geschah, denn so oft erschien dieses Blatt.

Aber auch im Ausland fand der geheimnisvolle Vorfall gebührende Beachtung. Besonders in der Heimat der Kriminalromane – und das Königreich Großbritannien kann diesen Titel ruhig beanspruchen – schwelgte die Nachrichtenpresse in fingerbreiten Schlagzeilen:

»Mysterious Death of the Secretary of Sir Eric Bose!« (dies die Überschrift im »Globe«) war eine der bescheidensten. Aber, wie gesagt, es gab nicht viel mitzuteilen. Immerhin hatte die Meldung eine nicht ganz gewöhnliche Wirkung, und zwar äußerte sich diese folgendermaßen:

Gegen zwei Uhr nachmittags (am Morgen waren die Meldungen über Crawleys Tod erschienen) trafen sich zwei Herren am Telegraphenschalter der Hauptpost in Genf. Sie waren beide ungeduldig und kämpften höflich um den Vorrang. Den einen kannte der Beamte als eifrigen Kunden (seine sportlichen Allüren, Golfhosen, buntes Hemd wollten nicht recht zu seiner ungesunden Gesichtsfarbe passen): es war der Völkerbundskorrespondent des »Globe«, der behauptete, die Referate der Abrüstungskonferenz hätten ihm ein chronisches Magenleiden eingebracht und er sei ein Märtyrer seines Berufes. Fast hätte dieser Herr im Kampf um den Vortritt am Schalter den Sieg davongetragen. Aber der andere Herr, der dunkel und unauffällig gekleidet war und trotz der Hitze einen steifen Hut trug, hatte einen so unangenehmen Blick, daß der eingeschüchterte Korrespondent schließlich doch den Platz freigab.

Der Herr mit dem unangenehmen Blick reichte einen Zettel durch den Schalter, der trotz seiner Kürze den Schalterbeamten stutzig machte. Der Beamte fühlte sich verpflichtet, eine leise Frage zu stellen, die der Herr durch das Vorzeigen einer Karte beantwortete.

»Gewiß, Monsieur«, sagte der Beamte diensteifrig, »in diesem Falle kann ich das Chiffre-Telegramm natürlich ohne weiteres abschicken. Aber Sie werden begreifen, daß dies nicht jedem gestattet werden kann. Auch wir in der Schweiz haben unsere militärischen Geheimnisse…«

Aber der Herr im steifen Hut schien sich für die Landesverteidigung der Schweiz wenig zu interessieren, er winkte barsch ab, seine Frage nach dem Preis war in ein Wort gepreßt, er zahlte und führte als Abschiedsgruß zwei Finger zum Hutrand. Der Beamte aber stand auf und verbeugte sich, was für einen Postbeamten, selbst wenn er Genfer ist, immerhin nicht ganz alltäglich ist.

»Übrigens, verzeihen Sie«, fragte der Korrespondent des »Globe«, »wer war der Herr vor mir? Es kommt mir vor, als hätte ich ihn schon ein paarmal gesehen…«

»Das kann sein«, erwiderte der Postbeamte, froh, die Langeweile des heißen Nachmittags mit einem Gespräch zu zersplittern. »Er war schon ein paarmal hier, aber nur um recht harmlose Telegramme aufzugeben, meistens Glückwünsche und andere unwichtige Sachen. Ich hab immer gedacht, er sei irgend ein Kammerdiener.«

Der Korrespondent pfiff so laut, daß der Beamte ihn besorgt anblickte.

»Natürlich«, sagte der magenkranke Herr, »das ist ja Charles gewesen, Sir Eric Boses Charles, – was man nicht alles erfährt! Ich hatte keine Ahnung, daß er daneben ein… Aber Sie dürfen das nicht verraten, verstehen Sie, Dienstgeheimnis, es könnte un-ab-seh-bare Folgen haben. – Und wieviel macht mein Telegramm?«

Schon zwei Stunden später übten diese beiden Telegramme ihre verheerende Wirkung aus. Ein noch jugendlich aussehender Mann, rothaarig, 1 Meter 89 groß, Simpson Cyrill O'Key mit Namen, mußte seine Ferien unterbrechen, die er in Collioure, einem kleinen Fischerdorf am Mittelmeer, hart an der französisch-spanischen Grenze, verbrachte. Das kleine Postfräulein, das sie ihm übergab, wartete vergebens auf den übertrieben schmachtenden Blick, mit dem der junge Mann sie sonst stets zum Lachen brachte. Er runzelte nur mißmutig die Nasenhaut (auch dies war komisch), nickte, und am Abend war er verschwunden. Er wurde von der Bevölkerung vermißt, denn er war beliebt, weil er allnächtlich mit einem der Fischer aufs Meer fuhr zum Sardinenfang. Man erfuhr nur, daß er sich nach Port-Vendres begeben hatte, um dort den Nachtschnellzug zu nehmen, der am nächsten Morgen in Genf ankommt.

Um halb zehn Uhr morgens betrat Cyrill Simpson O'Key das Hôtel de Russie und wartete in der Halle auf das Resultat seiner Anmeldung. Endlich durfte er in den ersten Stock steigen, auf dessen Gang ihm Sir Eric Boses Kammerdiener entgegenkam.

»Seine Exzellenz wird Sie sogleich empfangen«, sagte Charles laut, führte O'Key in jenen Raum, den wir schon kennen (hoffnungsloser Luxus, Filmkulissen), schloß behutsam die Türe; dann sagte er mit völlig veränderter Stimme: »Setz dich, Simp, du kannst rauchen, der Alte schläft noch, wir sind ungestört. Schön, daß du gleich gekommen bist. Die Sache stinkt mir zum Hals heraus, ich kann's allein nicht mehr deichseln, und seit der Junge hat daran glauben müssen, hab ich keine Ruhe mehr. Du mußt mir helfen. Der große Chef in London weiß Bescheid, daß ich dich aufgefordert habe. Also, Baranoff scheint in die Sache verwickelt zu sein, und durch Baranoff ein alter Professor. Ich hab den Jungen, den Crawley, in der letzten Zeit nicht beaufsichtigen können, aber es sind Pläne verschwunden, sagt der Alte, und ein Bündnisentwurf, außerdem ein Projekt, von dem ich nichts weiß, das aber der Landpfleger so schwer vermißt, daß er die abendliche Gin-Ration verdoppelt hat, um schlafen zu können, – aber auch die nützt nichts. Also, sieh mal, was du machen kannst. Der große Chef hat mir eine Empfehlung mitgegeben, an den Staatsrat, der das Departement für Polizei und Justiz unter sich hat. Die kannst du haben. Sie ist allgemein gehalten. Als was willst du auftreten?«

»Der ›Globe‹ hat mir telegraphiert, ich soll hier die Spezialreportage übernehmen. Der Fall des Sekretärs hat viel Staub aufgewirbelt. Das wird genügen, glauben Sie nicht auch, Colonel?«

Charles legte den Zeigefinger auf seine Lippen. »Keine Titel, hier, wenn ich bitten darf. Man kann nie wissen…« Er dachte nach. »Irgend so ein alter Professor scheint mit in den Fall verwickelt zu sein, er kennt Baranoff, dieser Professor, Dominicé heißt er übrigens. Seine Haushälterin sollte man vielleicht auch im Auge behalten. Nun, du wirst dich schon zurecht finden. Die Empfehlung schicke ich dir dann zu. Du wirst doch nicht im Hotel wohnen, sondern wie gewöhnlich eine kleine Wohnung nehmen, nicht wahr?«

O'Key verabschiedete sich. Charles begleitete ihn durch den Gang. Er hatte ein devotes Kammerdienerlächeln angelegt, als er sich von O'Key an der Treppe verabschiedete. Dann begegnete ihm ein Etagenkellner, den er anhielt.

»Diese Journalisten«, sagte Charles, »in alles müssen sie ihre Nase stecken und immer glauben sie, daß sie aus mir altem Manne große Neuigkeiten herauspressen können. Mir hat dieser junge Tropf zwanzig Franken geschenkt, dabei besitze ich schon ein Landhaus und bin sicher reicher als er.«

»Ja, ja«, seufzte der Etagenkellner, »ihr Kammerdiener habt es gut.«

2

Kommissar Pillevuit war verärgert. Er hatte den ganzen Morgen herumlaufen müssen. Zuerst hatte das »Parquet« – bestehend aus Staatsanwalt Philippe de Morsier, Untersuchungsrichter Despine, Gerichtsschreiber und polizeilichen Mitläufern – den Tatort an der Place du Molard besichtigen wollen. Pillevuit hatte zehn Mann aufbieten müssen, um eine neugierige Menge zu zerstreuen, er hatte sich durstig geschrien – und das Resultat dieser Besichtigung war kongruent und symmetrisch gleich Null, wie er sich auszudrücken beliebte. Man war in die Toilette hinuntergestiegen, Malan hatte die Türe bezeichnen müssen, hinter welcher der Mann in weißen Tennishosen sich verborgen gehalten hatte, Herr de Morsier, der Staatsanwalt, hatte: »Aha, ja,… sehr interessant…« gelispelt, und der Untersuchungsrichter ihm beigepflichtet. Gefunden hatten sie nichts. Staatsanwalt de Morsier, ein hagerer Herr mit einem weißen Chinesenschnurrbart – sein heimliches Laster war das Verfertigen von Sonnetten, und er hatte eine gewisse Fertigkeit darin erlangt, – Familienzeitschriften brachten sie unter einem Pseudonym –, klopfte dem Kommissar auf die Schulter:

»Sie werden die Sache schon ganz richtig untersuchen, mein lieber Pillevuit; aber mit Vorsicht, ich bitte Sie, nicht stürmisch, zügeln Sie Ihre Jugend!« – dabei war Pillevuit über vierzig –. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Herr Untersuchungsrichter Despine, der uns begleitet, wird Ihnen gerne mit Rat und Tat beistehen, nicht wahr? Sie besitzen schon das Sektionsprotokoll, ich habe es heute morgen flüchtig durchgelesen, es ist sehr verklausuliert, finden Sie nicht auch? Das Gift, von dem der Arzt spricht, und das er bald Scopolamin, bald Hyoscyamin nennt, läßt sich nicht feststellen, soviel ich verstanden habe, weil es sich leicht zersetzt. Von einem sicheren chemischen Nachweis, wie beim Arsen kann also nicht die Rede sein. Ich erinnere mich da an einen Fall aus meiner Praxis, es ist schon zwanzig Jahre her…« Und Herr Staatsanwalt de Morsier erzählte ausführlich eine völlig belanglose Geschichte von einer Hundevergiftung, während seine Zuhörer mit gesenkten Blicken Anwandlungen zu Veitstanz unterdrückten. Das Publikum, von Polizisten zurückgehalten, folgte von ferne mit Neid und Bewunderung den rednerischen Gesten des Staatsanwalts. »Die Frage, die mir wichtig zu lösen scheint«, Herr de Morsier fand endlich zu seinem Ausgangspunkt zurück, »ist die Kenntnis der Umwelt«, er machte eine wunderbar ausdrucksvolle, kreisförmige Bewegung mit seiner sehr weißen, sehr sehnigen Greisenhand, »die Umgebung, die Atmosphäre festzustellen, in der jener junge Mann sich bewegt hat. Wer Atmosphäre sagt, sagt Psychologie. Sie haben, meine Herren, einerseits« – schöpfende Bewegung mit gekrümmten Fingern der linken Hand – »das diplomatische Milieu, jenen Abgesandten ferner Zonen, um den das Ränkespiel internationaler Politik kreist; andererseits« – gleiche Bewegung mit der Rechten – »andererseits die Wissenschaft. Jener junge Mann scheint eine zwiespältige Natur gewesen zu sein. Die Realität politischer Kombinationen hat ihn nicht befriedigt. Ihn lockte das Reich der Seele, jenes dunkle Reich« – hier zitierte der Greis eine Strophe eigener Produktion, die einer Übersetzung nicht standhalten würde –, »und in diesem fand er den rechten Führer. Ich habe Professor Dominicé genannt. Aber Vorsicht, meine Herren, Sie haben es mit einem Manne zu tun, der internationalen Ruhm genießt, mit einem Vertreter des geistigen Genfs, das an überragenden Menschen so reich war, ist und sein wird…«

Kommissar Pillevuit stöhnte laut, aber selbst dieser Ausdruck der Verzweiflung vermochte Herrn de Morsier nicht in seiner Rede zu stören. Nur beim Untersuchungsrichter Despine fand Pillevuit Verständnis; dieser seufzte auch.

»Ich würde Ihnen also vorschlagen, meine Herren, Ihr Augenmerk auf den Aufenthaltsort jener Personen zu richten, die mit diesem jungen Sekretär Crawley in Verbindung gestanden sind. Vor allem: Wer war der Mann in weißen Tennishosen, der vor dem Polizisten Malan geflohen ist? Wo hielt sich Professor Dominicé auf vor seinem Erscheinen auf dem Platze hier? Wo war seine Haushälterin? Und auch im anderen Milieu, im diplomatischen nämlich, wäre eine Untersuchung angebracht. Kammerdiener, Bekannte…, hatte der junge Mann Feinde? Brauchte er Geld? Ich bin sicher, daß es unserem tatkräftigen und findigen Kommissar Pillevuit gelingen wird, all diese Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit zu lösen. Ich danke Ihnen, meine Herren.«

Herr de Morsier verbeugte sich. Den Hut konnte er nicht ziehen, denn er trug eine Baskenmütze. Sein kahler Kopf war sehr empfindlich.

»Noch eines«, erinnerte sich der Staatsanwalt, »es wird Sie heute noch, Kommissar, ein junger Mann besuchen, der mir warm empfohlen ist, mir und meinem Freunde, dem Staatsrat. Ein fähiger, englischer Journalist. Ich bin sicher, daß Ihnen die kriminalistischen Erfahrungen dieses jungen Mannes willkommen sein werden. Nicht wahr, die Anwesenheit internationaler Politik in unserer ruhigen Stadt hat die Verhältnisse derart kompliziert, daß wir fremde Hilfe gut brauchen können.«

Hierauf empfahl sich der Staatsanwalt definitiv und hinterließ einen kleinen bärtigen Kommissar, der aussah wie ein Gnom, der vor Wut zerplatzen möchte.

3

Fräulein Dr. Madge Lemoyne hatte Dienst. Nach dem Mittagessen hatte sie sich in ihr Zimmer begeben, das abseits von der Anstalt Bel-Air in einem kleinen Pavillon lag. Sie war dort ungestört, denn der Bau enthielt außer ihrem Wohn- und ihrem Schlafzimmer nur einen einzigen größeren Raum, der als Magazin diente. Im Wohnzimmer stand ein Grammophon (der wichtigste Einrichtungsgegenstand), ein lederner Klubsessel, ein Schreibtisch, einige Stühle und ein niederer Schlafdivan. Eigentlich war auch der Spiegel sehr wichtig, ein alter Spiegel mit rötlicher Goldleiste, den Madge bei einem Antiquar aufgetrieben hatte. Sie warf sich auf den Divan, stellte das Grammophon neben sich, legte »Dinah« auf und vertiefte sich in den sechsten Band eines französischen Serienromans, genannt »Fantômas«, der ungeheuer spannend und ungeheuer unwahrscheinlich war. Ronny, der Airedaler, hatte seine Herrin begeistert begrüßt, sich dann mit einer Speckschwarte beschäftigt, und, als diese verzehrt war, einer Hummel seine Aufmerksamkeit zugewandt. Doch auch die Hummel war faul, sie flog zum Fenster hinaus und verschwand im grünen Laub, das wie eine zitternde Wand vor dem Fenster stand. Madge war gerade zu der Stelle gelangt, an der erzählt wird, wie Fantômas, der große Verbrecher, einen deutschen Prinzen aus kaiserlichem Geblüt unter dem Springbrunnen der Place Vendôme gefangenhält, da läutete das Telephon, und Ronny bellte. Er haßte das Telephon, vielleicht war er altmodisch gesinnt und hatte nichts für die Technik übrig.

»Ja«, sagte Madge. Dann: »Ich komme. – Eine Aufnahme, Ronny«, klagte sie, »kein Wunder, daß so viele Leute überschnappen. Bei dieser Hitze! Und die vielen Reden, die hier gehalten werden, müssen ja die Luft der Stadt vergiften.« Und sie seufzte noch einmal, denn sie mußte einen weißen Mantel anlegen. Dieser weiße Mantel bereitete ihr Kummer. Denn er machte sie dick und unförmig, wie sie behauptete. Aber er gehörte nun einmal zum Beruf, den sie ausübte, und sie suchte die ungünstige Wirkung durch schönes Schuhwerk und seidene Strümpfe wieder auszugleichen.

Im Aufnahmezimmer stand eine sehr dicke Frau am Fenster, sie war schwarz gekleidet und ihr Rock fiel bis auf die Erde. Wirklich, sie war sehr dick, besonders ihr Brustumfang war erstaunlich, und sie bewachte aus den Augenwinkeln ein unscheinbares Männchen, das verzagt und verloren auf einem Stuhl nahe beim Tisch saß. Madge erkannte die Frau, es war jene Jane Pochon, Haushälterin bei Professor Dominicé, und bei ihrem Anblick ging eine Veränderung mit Madges Gesicht vor sich. Es wurde streng, die grauen Augen wurden dunkel und sie sagte:

»Bringen Sie uns wieder einen Patienten?«

Jane Pochon nickte schweigend und hielt Madge ein verschlossenes Kuvert hin. Nach einer Pause sagte sie:

»Das ärztliche Zeugnis.«

»Sie haben kein Glück mit Ihren Mietern, Frau Pochon«, meinte Madge, während sie den Brief öffnete und las.

4

Auszug aus der Krankengeschichte:

Name des Patienten: Nydecker, Pierre Emile, geb. 4.III.1899 in Genf. Eltern: N. Frédéric Pierre und Maria geb. Cattin. Beruf: Bureauangestellter. – Ledig. Konfession: Reformiert.

(Folgt die Angabe der verschiedenen Reflexe, die nichts Bemerkenswertes zu vermelden haben, das Aufnahmedatum und Madges Notizen, die folgendermaßen lauten):

25. Juni. Bei der Aufnahme steht der Patient am Fenster und scheint sich um nichts zu kümmern. Auf die Frage, wo er her sei, antwortet er mit einem seltsam unbeteiligten Lächeln: »Monsieur Pierre hat Angst.« Auf die Frage der Referentin, wovor er denn Angst habe, antwortet er geheimnisvoll flüsternd: »Sie wollen mich nicht fliegen lassen.« – Wer denn? – »Der alte Mann mit dem weißen Bart und die dicke Frau. Die Luft riecht gut, aber sie ist zu leicht, sie trägt Monsieur Pierre nicht.« Gebracht wurde der Patient von Frau Jane Pochon, Haushälterin bei Professor Dominicé, die folgendes erzählt:

Nydecker wohnte seit drei Monaten bei ihr, jedoch verließ er seine Stelle unter dem Vorwand, er habe eine einträglichere Beschäftigung gefunden. Ein junger Mann besuchte ihn seit dieser Zeit oftmals des Abends. Dieser Mann behauptete, er sei Privatsekretär bei einem fremden Diplomaten, sei mit Arbeit überhäuft und brauche eine Hilfe. Frau Pochon behauptet, sie habe oft des Abends aus dem Zimmer ihres Mieters eine laute, eintönige Stimme gehört, die scheinbar diktiert habe. Von dieser Zeit an sei eine merkwürdige Veränderung mit Nydecker vor sich gegangen, er habe oft nach Alkohol gerochen, sei spät in der Nacht heimgekommen und tagsüber liegen geblieben, seine Miete habe er pünktlich bezahlt. Er hatte eine Schreibmaschine gemietet. Auffallend war nach Ansicht Frau Pochons, daß Nydecker sehr mißtrauisch wurde. Sie hatte viel unter seinem Spionieren zu leiden, er schlich ihr manchmal durch alle Zimmer nach, einmal ertappte sie ihn dabei, wie er ihren Schreibtisch im Wohnzimmer aufzubrechen versuchte. Auf Vorhalt, was denn sein sonderbares Wesen zu bedeuten habe, behauptete Nydecker, er werde verfolgt, aber er müsse zuerst noch die Beweise finden, daß er ermordet werden solle. Vorletzte Nacht kehrte er mit beschmutzten Kleidern erst morgens gegen sechs Uhr heim, seine weißen Tennishosen vor allem waren in einem traurigen Zustand. Auf die besorgte Frage, wo er denn gewesen sei, gab er keine Antwort, zog sich aus und legte sich ins Bett, wo er bis gegen Abend schlief. Dann ging er aus, offenbar um jemanden zu besuchen, denn er hatte einen andern Anzug angezogen und ein sauberes Hemd. Gegen zwölf Uhr nachts kam er heim, er schien betrunken zu sein, denn er lärmte etwas und seine Schritte waren unsicher. Er schlief bis spät in den Morgen. »Als ich ihm gegen zehn Uhr sein Frühstück brachte, schien er vollkommen verwirrt, bedrohte mich und sprach verwirrtes Zeug. Ich dachte an einen Fieberanfall«, fährt Frau Pochon fort, »und ließ einen Arzt holen. Der Arzt riet mir, den Kranken hierher zu bringen, er verabfolgte ihm eine Spritze, um ihn zu beruhigen. Mein Sohn konnte mir nicht helfen, denn er war schon an seine Arbeit gegangen. Nydecker folgte mir ohne weiteres in das bereitstehende Auto und ich brachte ihn hierher.« Patient steht noch immer am Fenster. Er weigert sich, Frau Pochon die Hand zum Abschied zu reichen. Er folgt aber dem Oberwärter willig auf die Abteilung.

Unter dem Datum des folgenden Tages steht folgendes zu lesen: Bei der Abendvisite sitzt der Patient abseits von den übrigen Kranken am Fenster. Pfleger G. berichtet, Nydecker sei bei der Ankunft auf der Abteilung auf den Patienten Corbaz zugegangen, habe ihn lange schweigend betrachtet und dann gesagt: »Sind wir jetzt beide im Himmel?« Corbaz habe Nydecker erkannt, ihm die Hand geschüttelt und lachend gefragt: »Wie geht's der Hexe?« Darauf habe Nydecker geschwiegen und sich ängstlich in eine Ecke versteckt. Seit diesem Augenblick habe er nicht mehr gesprochen. (Pat. Corbaz ist ebenfalls von Frau Pochon zu uns gebracht worden. Anmerkung der Referentin.) Auf die Frage, wie es ihm jetzt gehe, antwortet Pat. mit weinerlicher Stimme: »Monsieur Pierre hat Angst.« Gefragt, wovor er denn Angst habe, wiederholt er stereotyp: »Monsieur Pierre hat Angst.« Er horcht manchmal wie abwesend in die Luft, wenn man mit ihm spricht. Gefragt, was er denn höre, behauptet er nur, er habe Angst. Steife Mimik, Affekt inadäquat. Nach weiterem Drängen erklärt er dann stockend, ein alter Herr mit weißem Bart, »es ist der Apostel Petrus«, stehe hinter ihm und sage ihm, er sei schuldig, denn er habe gemordet. (Wieso gemordet?) Er habe einen Mord nicht verhütet, darum sei er schuld an dem Mord. Starker Tremor der Hände, trockenes Schluchzen. Auf Zusprechen hin, er sei ja hier in Sicherheit, wird er zusehends ruhiger.

Bericht des Nachtpflegers: »Patient bekam auf Verordnung um neun Uhr 2 g Chloral. Schlief dann ruhig bis halb zwei. Erwachte dann plötzlich mit einem lauten Schrei. Es sei jemand hinter der Tür, der ihn greifen wolle. Man solle die Tür verschließen. Sonst komme die Polizei und hole ihn ab. Patient stürzt zur Tür und stemmt sich dagegen. Als der 2. Nachtpfleger ihn zurückhalten will, nimmt Patient Boxerstellung an. Er wird mit Gewalt ins Bett zurückgebracht.«

Fräulein Lemoyne fährt dann fort:

»Der herbeigerufene diensttuende Arzt (Referentin) versucht, den Patienten zuerst suggestiv zu beruhigen. Es sind jetzt Männer und Frauen, die ihn verfolgen. Vor allem ist es ein Mann, der ihn verfolgt und er nennt ihn den ›Meister der goldenen Himmel‹. Auf die Frage, ob dieser Meister mit dem Apostel Petrus identisch sei, blickt Patient lange Zeit ins Leere und antwortet nicht. Da die Erregung zurückkehrt, erhält er Mo. Scop. 1 ccm subcutan. Beim Einstechen der Nadel schreit Patient laut, man wolle ihn umbringen, wie man seinen Freund umgebracht habe. Auf die Frage, wer denn dieser Freund sei erfolgt keine Antwort. Patient schläft ein. Am Morgen ist er wieder aufgeregt. Kommt ins Dauerbad.«

Soweit die Eintragungen in der Krankengeschichte.

5

»Jonny, wie schön, daß du gleich gekommen bist. Hast du dich frei machen können? Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Du sollst mir raten. Ich bin vollkommen erledigt, habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Weißt du, daß diese furchtbare Jane Pochon schon wieder einen Mieter gebracht hat?«

Madge packte Dr. Thévenoz' Hand, zog ihn zum Klubsessel, drückte ihn, immer noch aufgeregt schwatzend, hinein, machte es sich auf seinen Knien bequem und legte die Hände verschränkt auf seinen Nacken. Ihre blonden Knabenhaare standen unordentlich von ihrem Kopfe ab, was ihr das Aussehen eines verrupften Vogels gab. Die Augen blickten müde.

»Du hast eigentlich ein liebes Gesicht, Jonny«, sagte sie und streichelte Dr. Thévenoz' Haare. »So beruhigend. Eigentlich begreife ich gut, daß dich im Spital alle Leute gern haben. Und weißt du, wenn ich manchmal häßlich zu dir bin, so tu ich das nicht aus Bosheit. Aber deine ewige Milde und dein ewiges Nachgeben kann mich verrückt machen. Man sollte dich aufrütteln, so…« und sie packte ihn bei den Ohren und schüttelte seinen Kopf. Auf Dr. Thévenoz' Gesicht entstand ein wehmütiges Lächeln, sonderbare Fältchen zitterten in den Augen- und Mundwinkeln, er befreite seine Ohren, packte dann behutsam Madges Kopf und küßte sie auf die Augen. Madge seufzte tief, ihr Körper entspannte sich, sie legte den Kopf auf die Schulter des Mannes und sprach wie in einem Traum:

»Man glaubt immer, weiß Gott, wie abgehärtet man sei, man hat so viel Elend gesehen und ist hilflos dabeigestanden. Aber man kann sich einfach nicht gewöhnen. Es kommt dann plötzlich so ein armes Menschlein, mit einer Seele, an der andere herumgepfuscht haben, das ganze Werk ist in Unordnung geraten und nun soll man helfen. Da ist der kleine Mann, den diese Pochon gestern gebracht hat, sieht rührend aus, obwohl er eine rote Nase hat und ich sonst Alkoholiker nicht sehr leiden kann. Aber dieser dauert mich. Seine Angst, seine Tränen. Heute morgen hab ich ihn noch im Bad gesehen, wir haben ihn ins Bad tun müssen, da hat er meine Hand gepackt und sie nicht loslassen wollen. Ach«, seufzte Madge, »warum bin ich nicht Uhrmacher geworden. Da könnte ich das Werk auseinandernehmen, hier eine Schraube anziehen, dort eine Achse ölen, und dann ginge die Uhr wieder. Aber bei einem Menschen… Spritzen, Schlafmittel, Bad – und warten, warten, bis der Mann sich entschließt, von selbst wieder gesund zu werden oder bis er es vorzieht, sich ganz in jenes Reich zurückzuziehen, auf dessen Schwelle er steht. Bei diesem Nydecker – hab ich dir gesagt, daß er Nydecker heißt, der kleine Mann mit dem Mausgesicht? – hat man ganz den Eindruck, er sei verirrt. Irgend jemand hat seine Seele gepackt und hat sie dann ausgesetzt in einem Land, wo ihr alles fremd ist. Und da ist die Seele krank geworden, weil sie eine ganz einfache, bürgerliche Seele ist, eine seßhafte Seele, sie hat diesen Klimawechsel nicht vertragen. Ich weiß, ich weiß, ich drücke mich ganz unwissenschaftlich aus, alles, was ich sage, ist gerade das Gegenteil von dem, was in den großen Büchern steht. Aber der Mann leidet doch in dem Reich, in das er verbannt ist, und ich soll ihn nun in die Wirklichkeit zurückführen.«

Madge schlug die Augen auf, und erst da bemerkte sie, daß auch Thévenoz bedrückt aussah.

»Was ist los, Jonny, hast du auch Sorgen?«

Thévenoz fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Weißt du«, sagte er, »wenn dich der kleine Mann beschäftigt, so kann ich diesen Crawley nicht vergessen. Immer muß ich denken, ich habe etwas unterlassen. Ist es dir nicht aufgefallen – ach nein, du kannst nichts gemerkt haben, du hast ihn ja nur knapp vor seinem Tode gesehen… aber ich war fest überzeugt, ihn durchzubringen. Und da kam diese plötzliche Verschlechterung. Die ist mir ein wenig rätselhaft. Auch sein Tod. Der paßt gar nicht zu der Diagnose, die ich im Anfang mit Rosenstock gestellt habe. Nicht wahr, wir haben Hyoscyamin oder etwas Ähnliches vermutet. Aber ist es dir nicht aufgefallen, daß sein Tod eigentlich gar nicht zum Krankheitsbild paßte? Ich weiß schon, wir haben wenig Erfahrung. Aber dieser gespannte Bogen des Körpers, die verkrampften Backenmuskeln – wie Starrkrampf, findest du nicht? Man könnte fast glauben, es sei ihm im Spital noch ein anderes Gift beigebracht worden, in der Überzeugung, man werde nichts merken. Aber von wem? Da ist diese Frau, die wir gestern in der Latham-Bar gesehen haben. Die war im Zimmer. Und ich erinnere mich, gleich nachdem sie fort war, hat man ihm wieder zu trinken gegeben, dem Crawley nämlich. Und ich erinnere mich genau, daß die Frau ihre Handtasche neben den Topf gelegt hat, in dem der Tee war. Ich bin dann fortgegangen und habe Crawley erst wieder gesehen, als wir zusammen mit dem indischen Diplomaten gekommen sind. Und da begann schon der Todeskampf. Ich wagte das nicht der Polizei zu erzählen, denn schließlich habe ich nicht die Sektion gemacht, sondern der Gerichtsarzt. Und ich kenne den Herrn gar nicht, er hat es auch nicht für nötig befunden, mich zu befragen. Und aufdrängen will ich mich nicht.

Aber nun plagt es mich immer, daß ich etwas versäumt habe. Wir sind eben nicht an so komplizierte Geschichten gewöhnt.«

»Meinst du, ich sollte der Polizei auch von diesem Nydecker erzählen?« fragte Madge. Die beiden sprachen aneinander vorbei, jeder beschäftigt mit dem, was ihn bedrückte.

»Nydecker?« Thévenoz mußte sich besinnen. »Ich glaube nicht. Die Geschichte ist ohnehin kompliziert genug, und es genügt doch, daß der Mann bei euch ist, wo er gut aufgehoben ist. Und wem willst du…«

Da schrillte das Telephon, Ronny bellte verärgert, er war im Schlaf gestört worden. Madge hob den Hörer ab:

»Lemoyne« meldete sie sich. Dann: »Ja, er ist hier… Übrigens, guten Tag, Rosenstock, wie geht es Ihnen? Schlecht? Warum? Was ist los? Ja, ja, ich rufe Thévenoz gleich… Einen Augenblick – Jonny, Rosenstock will dich sprechen, Alarm in Zion…«, Und sie lachte.

Thévenoz meldete sich, schwieg dann, man hörte ein fernes Krächzen, die Stimme am andern Ende des Drahtes überschlug sich. »Ich komme«, sagte Thévenoz. Sein Gesicht war alt geworden, er wischte sich den Schweiß von der Stirn, ein heißer Wind drängte sich ins Zimmer, draußen war es düster.

»Fall Nummer zwei«, sagte Thévenoz. »Ein Apotheker. Gleiche Symptome wie bei Crawley. Was das nur zu bedeuten hat?«


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