Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

1

Die Rue de Carouge ist sehr lang und führt fast bis zur Peripherie der Stadt. Dort, wo die Häuser seltener werden, zweigt eine kleine Nebenstraße ab, die von hohen Mietskasernen eingesäumt wird. Im Parterre einer dieser Mietskasernen ist eine primitive Apotheke, die von Herrn Eltester geführt wird, einem alten buckligen Männchen, das über glattem Mund und Kinn einen langausgezogenen grauen Schnurrbart trägt. Herr Eltester hat kluge, ein wenig verschlagene Augen. Er ist gutmütig und hilft gerne dort, wo das Gesetz eigentlich die Hilfe verbietet. In gewissen Kreisen ist er rühmlich bekannt, weil er verschwiegen ist. Seine Menschenkenntnis ist hervorragend, er hilft nur Leuten, die er für verläßlich erkannt hat, und die ihn nicht durch unbedachte Reden mit der Polizei in Konflikt bringen. Nie hat er einen Gehilfen einstellen wollen. Trotzdem es bekannt ist, daß er stets allein ist (auch die beiden Zimmer, die er hinter dem Laden bewohnt, bringt er selbst in Ordnung, und dort empfängt er gewöhnlich seine obskuren Kunden), trotzdem er mit düsteren Elementen zu tun hat – Rauschgiftlieferanten und Süchtigen, Kokotten und Hochstaplern – ist ihm nie etwas zugestoßen. Nie hat jemand versucht, bei ihm einzubrechen – nur einmal ist ein Raubversuch gegen ihn unternommen worden, aber von diesem weiß die Polizei nichts, nur die Eingeweihten haben davon erfahren. Das ging damals folgendermaßen zu:

Herrn Eltesters Apotheke hatte Nachtdienst. Um elf Uhr schellte es, Eltester, klein, bucklig, unansehnlich, öffnet. Ein junges Bürschchen, etwas verlottert, steht vor der Tür, streckt Eltester ein Rezeptformular entgegen, drängt sich in den Laden, stößt die Türe wieder zu; und während Herr Eltester das Rezept liest und sogleich merkt, daß es gefälscht ist, zieht das Bürschchen einen Revolver aus der Tasche und hält ihn Herrn Eltester vor die Nase:

»Hände hoch!« sagt es dazu.

Herr Eltester setzt gemütlich einen Hornkneifer auf die Nase, schiebt die Unterlippe vor, daß sie an einen Eierlöffel erinnert, fixiert den jungen Mann und sagt trocken:

»Kommst du gerade aus einem Kriminalfilm, he? Mach' nicht solche Sachen, du bringst dich ins Unglück. Wenn du etwas brauchst, so red'. Aber steck' den Prügel ein, er könnte losgehen.« Das Bürschchen will nicht Vernunft annehmen, es verlangt Geld, die ganze Ladenkasse. »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich«, sagt Herr Eltester, und seine Rede klingt verärgert, denn er hätte lieber etwas Prägnanteres gesagt. Er geht zum Ladentisch, zieht eine Schublade auf (Herr Eltester liebt keine Registrierkassen). »Bedienen Sie sich«, sagt er, bleibt stehen und pfeift. Es ist ein Gassenhauer und er pfeift ihn grundfalsch. Des jungen Mannes Augen schießen hin und her, wie Quecksilberkugeln auf einem Stück Papier, aber seine ganze Aufmerksamkeit nützt ihm nichts. Plötzlich stehen neben ihm zwei elegante Herren, nehmen ihn in die Mitte und fragen ganz sachlich, in die Richtung, wo Herr Eltester steht: »Prügel?« Herr Eltester pfeift weiter, er muß genickt haben, denn der eine Herr sagt mit sehr fremdländischer Aussprache: »Gibt schon heer, den Pistol.« Der junge Mann gibt brav ›den Pistol‹, er ist bleich geworden. »Doch geladen«, stellt der kleinere der Herren fest. Dann wird der Junge aufgehoben, ein Sack stülpt sich über seinen Kopf, dann liegt er mit dem Oberkörper auf der Ladenbank und bekommt, O Schmach, mit einem Teppichklopfer Prügel. Keine bösartigen Prügel, sie tun nicht sehr weh, es ist mehr eine beschämende Exekution. Hernach wird ihm der Sack abgenommen, da steht Herr Eltester neben ihm, steckt ihm eine Zwanzigfrankennote zu.

»Wenn du wieder etwas brauchst, kannst du ja vorsprechen«, meint er und grinst unverschämt.

Der Junge trollt sich.

»Ich danke Ihnen, Herr Baranoff«, sagt darauf Herr Eltester zu dem Kleineren; und dann gehen die drei wieder an ihre Geschäfte, die im Hinterzimmer verhandelt werden.

Übrigens wußte die Polizei ziemlich viel von Herrn Eltester, aber sie konnte nie einschreiten. Ein paarmal hatte sie Haussuchungen veranstaltet, nichts gefunden. Herr Eltester grinste jedesmal, er hatte gelbe Roßzähne und durch diese wirkte sein Lächeln noch viel aufreizender. Die Polizei bewachte seine obskuren Kunden, auch das nützte nichts. Schließlich ließ sie Herrn Eltester in Ruhe. Aber heute mußte sie sich mit ihm beschäftigen.

Es war halb elf Uhr morgens, Kommissar Pillevuit war soeben von seinem zweiten Frühstück zurückgekommen.

(›Übrigens hat sich dieser verdammte englische Journalist bis jetzt noch nicht vorgestellt‹, dachte Pillevuit gerade), da wurde ihm mitgeteilt, man habe vom Polizeiposten in der oberen Rue de Carouge schon zweimal angerufen, vor fünf Minuten, und soeben. Pillevuit verlangte die Nummer, nannte träge seinen Namen.

»Einen Augenblick«, tönte es zurück, »Malan hat sich ablösen lassen, er stand an der Kreuzung, er will Sie persönlich sprechen.«

»Der gute Malan«, brummte Pillevuit.

Wir erinnern uns noch an Malan, jenen robusten Waadtländer mit dem kupfernen Schnurrbart, der den Sekretär Crawley an der Place du Molard gefunden hat. Malan meldet sich, mit einer Stimme, der man es anmerkte, daß ihr Besitzer aufgeregt war.

»Das gleiche, Kommissar, das gleiche, wie damals«, stotterte er.

»Malan«, sagte Pillevuit und seine Stimme war väterlich, »ich kann Ihnen durch den Draht keinen Kirsch einschenken, zur Beruhigung, aber sagen Sie dem Postenchef, er soll Ihnen auf meine Rechnung einen Kognak geben. Vielleicht wird es Ihnen dann besser.«

»Schon gehabt, Kommissar, schon zwei«, tönte es zurück. Pillevuit lachte noch, doch da blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Malan hatte scheinbar Luft bekommen, seine Mitteilung mußte zusammenhängend sein, denn der Kommissar kam aus seiner Ruhe, er warf seinen Fahnenbart über die Schultern, daß er im Rücken hing, wie das Ende eines geschmacklosen Wollshawls, sein Finger suchte nach einem Druckknopf (Alarm!), zwei Männer sprengten fast die Tür, als sie eintraten, Pillevuit lauschte noch immer, er legte eine Hand aufs Sprachrohr und kommandierte:

»Zwei Autos, vier Mann, Photograph, Experte für Fingerabdrücke, das ›Parquet‹ benachrichtige ich selber!«

Malan mußte fertig geworden sein, Pillevuit drückte auf die Gabel, stellte eine neue Nummer ein, verhandelte kurz, neue Nummer, neue Verhandlung. Nach zwei Minuten fuhren die bestellten Autos davon. Der bleiche Staatsanwalt Philippe de Morsier, der feinsinnige Sonnettendichter, hatte rote Tupfen auf den Wangen und einige Schweißtropfen zwischen den Augenbrauen: so sehr hatte er sich beeilt.

Dann standen sie in der kleinen Apotheke. Die Rolläden vor den Auslagen waren herabgelassen, dämmerig war der Raum, es roch streng nach Chemikalien. Ein einsamer Sonnenbalken drang durch ein Loch im Wellblech und fiel gerade auf die Stirn des Herrn Eltester, die grau war. Herr Eltester lebte noch. Der Gerichtsarzt war mit ihm beschäftigt.

»Vergiftung«, sagte er, »muß ins Spital.«

Herrn Eltesters rechter Ärmel war zurückgestreift, in der Ellbogenbeuge war ein roter Flecken.

Im Laden herrschte ein wüstes Durcheinander. Zerbrochene Flaschen lagen auf dem Boden, weißes Pulver vermischte sich mit braunem, der Schrank, in dem die Gifte aufbewahrt wurden, war aufgebrochen. Der Körper des Apothekers lag vor dem Ladentisch. Pillevuit beugte sich nieder, nachdem der Doktor zurückgetreten war, denn im dämmerigen Licht hatte er etwas glitzern sehen. Dieses glitzernde Objekt hob er mit zwei Fingern vor seine Nase. Es war ein Bündel kurzer Drähte.

»Visitenkarte Nummer zwei«, sagte Pillevuit. »Bei Crawley ist doch ähnliches gefunden worden, nicht wahr?«

Dann schnüffelte Pillevuit im Laden herum, deutete hier auf eine Tür, dort auf eine Flasche: »Aufnahme«, sagte er kurz. Der Photograph und der Fingerabdruckexperte folgten ihm wie eine Koppel Jagdhunde. In einer Ecke hatte sich Herr Staatsanwalt Philippe de Morsier aufgepflanzt, er betrachtete den Tatort wie von einem Feldherrnhügel und krakelte Zeichen in ein ledergebundenes Notizbüchlein, ließ seine Blicke bisweilen zur Decke schweifen, so, als könnten sie dort Inspirationen einfangen.

Das Krankenauto fuhr vor, das den schwer keuchenden Herrn Eltester entführte. Und kaum war das Hummelgesurr des sich entfernenden Gefährts verstummt, da betrat ein jüngerer Herr den Laden, dessen Erscheinen bei den Anwesenden verschiedene Reaktionen auslöste. Staatsanwalt de Morsier entstieg seiner Versunkenheit, ein herzliches Lächeln zitterte durch den schneeweißen Schnurrbart, und er sagte:

»Mein lieber O'Key, Sie kommen wie gerufen, wir wissen nicht weiter, und unser Kommissar Pillevuit wird erfreut sein, einen so hervorragenden Mitarbeiter begrüßen zu dürfen.« Diese formvollendete Art der Vorstellung nötigte Kommissar Pillevuit, ein höfliches Lächeln aufzulegen, obwohl es ihm gar unerfreulich zumute war.

2

O'Key hatte Fingerspitzengefühl; er merkte deutlich, daß er dem Kommissar unerwünscht kam – aber es wurde ihm nicht allzu schwer, den verärgerten Gnomen umzustimmen. Cyrill Simpson O'Key, Spezialreporter am Londoner ›Globe‹, Mitarbeiter des ›Intelligence Service‹ (dies wußten nur wenige), verstand es, Sympathien zu kapern, so, wie ein alter Seeräuber das Entern von Schiffen. Seine Art, sich beliebt zu machen, hatte viel Ähnlichkeit mit dieser altertümlichen Beschäftigung. Bildhaft gesprochen, er warf einen Enterhaken nach dem andern aus – und so solide waren diese Haken, daß der Angegriffene sich nicht zu befreien vermochte.

O'Key also – wir haben ihn schon einmal kurz beschrieben: rote, drahtige Haare über einem mit Sommersprossen übersäten Gesicht, langer, sehr langer, hagerer Körper, merkwürdig schmale Gelenke, eine spitze Nase, die beweglich war, wie bei einem Kaninchen, Mund und Kinn wirkten schön – O'Key also trat zu dem Kommissar, legte seinen langen Arm um die gepolsterten Schultern des Mannes und zog ihn in eine Ecke. Dort flüsterte er eindringlich:

»Hören Sie, mein lieber Kommissar, ich weiß, Sie sind nicht entzückt von meiner Anwesenheit. Wahrscheinlich meinen Sie, ich sei einer dieser langweiligen Engländer, die immer etwas zu reklamieren haben. Sie täuschen sich: erstens bin ich Ire, zweitens trinke ich nicht nur Tee, sondern auch stärkere und erfreulichere Getränke, und drittens…«, ein Blick auf den Ringfinger des Kommissars, »sehe ich, daß auch Sie Junggeselle sind. Wir wollen die Sache nun so deichseln: Wir schauen uns hier zusammen ein wenig um – auf die Enquete in der Nachbarschaft können Sie verzichten, die habe ich schon erledigt, dann gehen wir zusammen essen und besprechen die Sache in Ruhe und Frieden. Die Wahl des Restaurants überlasse ich Ihnen, Schweizer Weine kenne ich noch nicht, da müssen Sie mich einweihen. Ich werde mich jetzt ganz schweigsam verhalten, bis der Oberbonze abgeschoben ist. Der versteht ja sowieso nichts von der Sache, wie alle Bonzen. Hab' ich nicht recht?«

Kommissar Pillevuit war überwältigt, so überwältigt, daß er seinen Mund offen stehen ließ, was in dem blonden Vorhang seines Bartes nicht gerade sehr ästhetisch wirkte. Dann aber klatschte er seiner neuen Bekanntschaft auf die Achseln (zu diesem Behufe mußte er sich auf die Fußspitzen stellen):

»Abgemacht« krähte er, »Sie gefallen mir.«

Und einträchtig begannen die beiden den Rundgang durch die Räume hinter dem Laden, die bis jetzt von einer eingehenden Durchsuchung verschont geblieben waren.

Aber sie fanden sozusagen nichts. Das kahle Wohnzimmer – zwei alte Bauernlehnstühle, ein klobiger Tisch, ein niederer Diwan, in einer Ecke ein zarter Schreibtisch, der gar nicht in die Umgebung paßte – wirkte kalt, weil auf dem roten Fliesenboden kein Teppich lag. Sonst war das Zimmer hervorragend in Ordnung, für einen Junggesellen ohne Haushälterin. Im schwarzen Eisenofen war Papier verbrannt worden. Pillevuit, stöhnend über seine verschiedenen Fettwülste, die ihm beim Knien überall im Wege waren, räumte sorgfältig aus. – Umsonst. Das verkohlte Papier war von kundiger Hand zu Pulver zerschlagen worden. Der Schreibtisch enthielt alte Rechnungen. Die mittlere Schublade ließ sich nur schwer öffnen, es machte den Eindruck, als habe sich ein Gegenstand irgendwo eingeklemmt. Mit vielem Pusten gelang es dem Kommissar schließlich, die Schublade herauszuziehen – da fiel etwas mit gedämpftem Klange zu Boden. O'Key bückte sich und legte das Ding auf den Tisch. Es war ein Seidenband, vier Finger breit etwa, von grellgelber Farbe und sorgsam zusammengelegt. Beim Aufrollen fiel eine Münze auf den Tisch. Sie mußte uralt sein, diese Münze, schwärzlich angehaucht, Silber. Die beiden beugten sich tiefer. Da war ein Mann zu sehen, ein nackter Mann, dem Fliegenflügel aus den Schultern wuchsen, und sein Antlitz war bedeckt mit einer Maske. Winzige Buchstaben liefen am Rande entlang und sie wirkten wie Ungeziefer.

»Das ist griechisch«, sagte Pillevuit. »Können Sie griechisch, Herr Irokese?« O'Key nickte.

»Kaulakau, saulasau«, entzifferte er mühsam, blickte auf und fuhr fort: »Basilidianische Gnosis, zweites bis drittes Jahrhundert, Alexandrien.«

»He?« machte Pillevuit und rollte Glotzaugen.

»Ein Amulett«, erklärte O'Key geduldig, »die Gnosis des Basilides gehört schon zu den Degenerationserscheinungen dieser religiösen Erkenntnis, beschäftigt sich nur noch mit Magie, schwarzer oder weißer, ganz nach Wunsch. Der Mann da mit den Fliegenflügeln wird wohl Abraxas sein, der Feind des Weltenschöpfers, der Ahne unseres Lucifers. Drehen Sie die Münze um. Sehen Sie? Das Pentagramm mit der Spitze nach unten. Also schwarze Magie. Und das Band?« – O'Key nahm es auf. Es war auf drei Seiten gesäumt, außerdem waren an den beiden Schmalseiten drei Druckknöpfe angebracht. Die ungesäumte Längsseite trug etwa zwölf kleine Schlitze, die wie winzige Knopflöcher wirkten. O'Key legte sich das Band über die Stirn, ließ die Druckknöpfe am Hinterkopf einschnappen; nun sah es aus, als trage er ein breites, goldenes Stirnband.

»Verstehen Sie?« fragte O'Key, Pillevuit schüttelte den Kopf.

»Bestandteil eines Ornates, wahrscheinlich. Die Knopflöcher hier dienen wohl zum Anbringen eines Tuches, einer Maske, die das Gesicht verhüllt, vielleicht ist es auch ein leichtes Gewebe, das über den ganzen Körper fiel. Und – sehen Sie?« er zog das Band wieder ab, »auch an der andern Breitseite finden Sie Löcher, weniger als unten, aber genug, um ein Netz anzubringen, das die ganze Verkleidung hält. Noch etwas: Lassen Sie das Licht schräg auf das Gewebe fallen, sehen Sie, so; nun?«

Mattschimmernd zeigte sich das Pentagramm, der Drudenfuß der Münze, und mit seinem Liniengewirr umgab er einen schattenhaft wirkenden Körper. Links und rechts von dem Fünfspitzen-Stern waren auf die gleiche, mattschimmernde Art Abbilder von Insekten eingewoben – Bienen und Hummeln, Wespen und Mücken, angedeutet zwar nur, in Umrissen, aber deutlich erkennbar.

Pillevuit lachte laut und fett. »Entschuldigen Sie«, sagte er, als er wieder zu Atem gekommen war, »aber ich kann nicht anders. Wenn ich mir diesen alten Lumpen Eltester – Gott sei seiner Seele gnädig, denn er hat viele Leute ruiniert – wenn ich mir diesen alten Lumpen als Hohenpriester vorstelle, so lächert es mich gewaltig.« O'Key schwieg, und schweigend machten sich die beiden an die Durchsuchung der Küche.

Aber in der Küche saß Herr Staatsanwalt de Morsier auf einem Schemel und dichtete. Er hatte einen Bleistift zwischen die Zähne geklemmt und starrte mit abwesenden Blicken auf den oberen Teil des Küchenschrankes. Ganz unwillkürlich folgte Pillevuit der Richtung des Blickes, eine ungewöhnliche Geschäftigkeit nahm von ihm Besitz, er packte einen Schemel, schleppte ihn zum Schrank, erwischte etwas Schwarzes, das nur mit einem Zipfel über die Kante ragte, und schwenkte es triumphierend in der Hand.

»Ein Wollshawl«, trompetete er, »ein schwarzer Wollshawl!« Er roch dran, nieste, schüttelte sich: »Riecht nach alter Frau. Kampferspiritus. Da.« Auch O'Key mußte riechen und bestätigte die Meinung des Kommissars.

»Sehr interessant«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Der Staatsanwalt hatte die Gefilde der Inspirationen verlassen.

Im Laden puffte es, ein heller Schein blendete in die dämmrige Lücke.

»Wenn ihr fertig seid, kommt dann hier herein!« rief Pillevuit. Photograph und Experte erschienen in der Tür.

»Wir haben nicht viel gefunden«, klagte der Photograph. »Die Abdrücke sind alle verwischt, nur hier«, er hob eine weithalsige Flasche hoch, mit eingeschliffenem Glasstöpsel (»Folla Hyoscyamii« stand darauf), »ist ein deutlicher Abdruck zu sehen: Ein Daumen. Wir müssen dann ins Spital und den Abdruck vom Apotheker haben. Vielleicht handelt es sich um den seinen. Obwohl er einem kleinen Daumen gehört, einem Frauendaumen, möchte ich fast sagen. Nun, Eltester war ja auch von kleiner Statur.« Der Experte nickte, er war mehr schweigsamer Natur und zündete umständlich einen Stumpen an. Er zog ein Blatt aus der Tasche und reichte es Pillevuit. O'Key nahm es ihm sanft aus den Händen. Es schien Pergament zu sein, sehr alt, mit vielen schwarzen Runzeln bedeckt und einer verwischten Schrift. Es sah aus, als sei das Papier mit großer Gewalt zerrissen worden. Die Buchstaben, die noch erkennbar waren, gehörten zu Worten, und O'Key entzifferte:

Nomi…
Recip…
Datu…
Atropa bell…
Mandrag…
Assa foe…
Misce sub sign…
cum oleo amygda…

»Ich verstehe einiges. Offenbar handelt es sich um ein Rezept aus irgendeinem alten Zauberbuch. Aber der Mann, der es geschrieben hat, muß Apotheker gewesen sein. Sie haben übrigens Glück, daß ich mich einmal mit Chemie beschäftigt habe, bevor ich den einträglicheren Beruf eines Reporters ergriffen habe. Das erste Wort ist ja leicht verständlich, die Anrufung irgendeiner Gottheit, ›Im Namen‹, wohl im Namen unseres Freundes mit den Fliegenflügeln, dessen Bekanntschaft wir auf der Münze gemacht haben. Wird Behemoth oder Abraxas oder sonstwie heißen. Dann kommt ›Recipe‹, der Beginn eines Rezeptes. ›Datu…‹ ist auf ›Datura‹ zu ergänzen, das Nächste ist ›Atropa belladonna‹ – ›Tollkirsche‹ aber der alte Herr gibt nicht an, ob es sich um Blätter oder Wurzeln handelt, ist ja gleich; ›Mandragora‹ kennen Sie sicher, die Alraunwurzel, die unter den Galgen wächst und menschliche Gestalt hat. Aber sie enthält ein Tropeïn, genau wie die beiden vorhergehenden Pflanzen. Dann das Feinste vom Ganzen, ›Assa foetida‹ – faules Fleisch – und all diese Ingredienzien sind zu mischen mit Bittermandelöl, und zu mischen sind sie unter irgendeinem astrologischen Zeichen, wahrscheinlich wenn der alte Jupiter in einem besonders wirksamen Hause steht. Übrigens hat der große Arzt Paracelsus – von dem haben Sie doch gehört, Kommissar? – ebenfalls ein derartiges Rezept gegeben. Es ist Hexensalbe, Kommissar, und daß das Rezept dieser Hexensalbe gerade in der puritanischen Stadt Genf sich erhalten hat, ist eine zarte Ironie des Schicksals. Denn ich sage Ihnen vielleicht nichts Neues, wenn ich Sie daran erinnere, daß eine Hexensalbe zugleich ein sehr wirksames Aphrodisiakum war, eine Salbe, welche die Liebe weckte, und wenn ich Liebe sage, so meine ich deren fleischlichste Form.«

»Hören Sie auf, O'Key, haben Sie Mitleid mit mir.« Dem Kommissar standen große Schweißtropfen auf der Stirn. Aber der Staatsanwalt war aufgestanden; die Rollen schienen vertauscht zu sein, denn nun war es Herr de Morsier, der, einem Reporter gleich, mit gezücktem Bleistift und hungrigem Notizbuch, vor O'Key stand und sagte:

»Mein Herr, Ihre Ausführungen sind interessant, besonders die Namen, die Sie nannten, die Namen der Arzneimittel, haben einen wohlklingenden Laut. Darf ich um deren genaue Angabe bitten, ich gedenke, sie in einem Sonnett zu verwerten, das ich Ihnen widmen werde.«

O'Key verbeugte sich geschmeichelt.

3

Es war schon halb drei Uhr – vierzehn Uhr dreißig für Liebhaber moderner Zeitberechnung – als der Kommissar und der Reporter endlich zum Essen kamen. Sie hatten einen Umweg über das Spital gemacht: Dr. Thévenoz war nicht zu sprechen, aber Wladimir Rosenstock war entzückt, sein medizinisches Licht leuchten lassen zu dürfen. Die gleichen Erscheinungen, ließ er sich vernehmen, die man auch bei dem verstorbenen Crawley habe feststellen können. Hemmung aller Sekretionen, Schweiß- und Speichelabsonderung versiegt, Trockenheit im Munde, im Schlunde und in der Nase, Behinderung des Schling- und Sprechvermögens, Lähmung des Auerbachschen Plexus, scharlachgerötete, heiße trockene Haut, zeitweilige Erregungszustände. Man habe alles versucht, Magenspülung, kombinierte Kampfer- und Morphiuminjektionen. Aber der Mann sei alt, es bestehe wenig Hoffnung, ihn über den Berg zu bringen.

Und wann etwa der Mordversuch anzusetzen sei? wollten die beiden Herren wissen. Rosenstock machte einige Schlittschuhläuferschritte durchs Zimmer. Das sei schwer zu sagen, meinte er, der Apotheker sei gefunden worden, wann? Um halb elf etwa? Und gegen zwölf Uhr sei er eingeliefert worden? Die akuten Symptome seien da schon ziemlich zurückgegangen… Ob die Herren keinen Anhaltspunkt hätten? Da meldete sich O'Key und teilte mit, daß ein Zeuge gegen sechs Uhr morgens aus dem Laden Schreie und Poltern gehört habe. »Das könnte stimmen«, meinte Rosenstock. »Fünf bis sechs Stunden wird die Vergiftung alt sein, aber es ist weiter nichts als eine Vermutung.« Dann wollte Pillevuit noch wissen, wo sein Bekannter, Dr. Thévenoz, sei. Aber da hüllte sich Rosenstock in Schweigen. »Er mußte einen Besuch machen, einen eiligen Besuch.« – »Einen Krankenbesuch?« wollte der neugierige O'Key wissen. »Man kann es auch einen Krankenbesuch nennen«, meinte Rosenstock reserviert. »Übrigens habe ich zu tun, und Sie müssen mich entschuldigen.« Er schien eines jener Kinderspielzeuge – Trottinette nennt man sie – zu besteigen und verschwand auf diesem unsichtbaren Vehikel aus dem Zimmer.

Nun saßen also die beiden in einer Pinte; sie lag in einem jener kleinen Gäßchen, die in der Umgebung des Justizpalastes ein von jeder Modernität verschontes, stillbeschauliches Leben führen. Der Wirt war ein Franzose, ehemaliger Chef de cuisine, kochte ausgezeichnet, kaufte seinen Wein selbst. Die Beize war ziemlich unbekannt.

»Prost!« sagte Kommissar Pillevuit und stieß mit seinem neuen Freund an. O'Key nickte. Der Wein war gut. Dann aßen die beiden schweigend, und ich muß es mir leider versagen, das Menü wiederzugeben. Denn es waren Speisen, die nur Gastronomen bekannt sind, und da diese Rasse am Aussterben ist, hat es keinen Sinn, auf sie Rücksicht zu nehmen.

Gegen die niederen Fensterscheiben prasselte der Regen, ein Gewitter ging nieder, es war dunkel im kleinen Raum, der Wirt schaltete das Licht ein, brachte dann dicken türkischen Kaffee in Kupferpfännchen. Dann war es sehr still im Raum, bis Pillevuit schließlich sagte: »Nun?«

»Zeugenaussagen«, meinte O'Key. »Die Gemüsehändlerin Malvida Turettini, Witwe, kinderlos, hat ihren Laden am Morgen um fünf Uhr geöffnet. Da sie schräg gegenüber der Apotheke wohnt und Eltester sie von jeher interessiert hat, weil er merkwürdige Besuche erhielt, wirft sie jeden Morgen beim Öffnen ihres Ladens einen Blick auf die Apotheke. Die Rolläden waren heruntergelassen, doch meinte sie zwischen den Ritzen Licht schimmern zu sehen, was sie erstaunte, da es bekanntlich jetzt, im Sommer, schon um vier Uhr morgens ganz hell ist. Um halb sechs tritt sie zufällig vor ihre Türe, um ihre Gemüseauslage in Ordnung zu bringen und hört aus der Apotheke Lärm. Die Gasse war zu dieser Zeit fast menschenleer, nur in der Rue de Carouge war ein Trupp Arbeiter zu sehen. Frau Turettini kann sonst nichts angeben. Ihr Geliebter, Gaston Faillettaz, Mechaniker in einer Autofabrik, hat am Abend vorher, als er gegen zehn Uhr aus der Kneipe kam, hinter den schon herabgelassenen Läden der Apotheke singen gehört. Er bezeichnete das Geräusch als Singen, und als ich ihn fragte, was er denn unter Singen verstünde, Volkslieder oder Grammophonmusik, schüttelte er den Kopf: ›Wie wenn man an katholischen Kirchen vorbeigeht, so hat's geklungen‹, behauptete er. Der Zeitungsverkäufer André Gattineau muß schon…«

»Halt«, rief Pillevuit, »ich habe eine Frage. Wie kam es, daß Sie etwas von dem Mordversuch wußten? Sie hatten doch Ihre Untersuchung schon beendigt, als wir die Entdeckung des kranken Eltester machten?«

O'Key spielte mit einem silbernen Kettchen, das um sein Handgelenk lag. »Ich bin eben früher aufgestanden«, sagte er lächelnd. »Und ich kann Ihnen da nichts weiter erzählen, weil Sie sonst auf falsche Gedanken kämen. Lassen Sie mich lieber fortfahren. Der Zeitungsverkäufer Gattineau, der schon um fünf Uhr bei der ›Tribune‹ sein muß, um die Morgenblätter zu erwischen, die er in den Dörfern verkauft, hat um halb fünf Uhr einen älteren Herrn gesehen, mit weißem gelocktem Bart, der mit einer sehr dicken Frauensperson die Straße hinunterging. An der Ecke der Rue de Carouge waren diese beiden verschwunden. Gattineau glaubt, die beiden hätten ein Taxi genommen. Paßt diese Beschreibung auf irgend jemanden, den Sie kennen, Kommissar?«

»O'Key! Hervorragend!« Der Kommissar hüpfte wie ein Rugbyball bei einem Match. »Der Professor! Ich habe immer gewußt, der Professor ist in die Sache verwickelt. Wer hat Crawley ins Spital geschickt? Ich frage Sie, wer hat Crawley…«

»Sie lieben rhetorische Fragen, Kommissar«, stellte O'Key mit strenger Stimme fest. »Wir wissen, daß der Professor in der Sache, die uns beschäftigt, eine Rolle spielt. Aber welche Rolle? Wer war die Frau, die ihn heute morgen begleitete? Wissen Sie das?«

»Ich? Nein.«

»Sie sollten es aber wissen. Wozu haben Sie sonst einen Ihrer Leute vor dem Hause des Professors postiert? He? Und einen untauglichen noch dazu? Sie haben mich gefragt, wieso ich von dem Mordversuch hier Kenntnis erhalten hätte? Weil ich dem Professor gestern abend gefolgt bin. Ein Auto hat ihn um neun Uhr abgeholt. Es ist bei seinem Hause vorgefahren, hat kaum zehn Sekunden gehalten, gehornt, der Professor ist aus der Haustür und mit einem Satz in den Wagen gesprungen, – fort war er. Ihr Polizist hatte gerade ein wichtiges Gespräch mit der Kellnerin in der Kneipe, die dem Hause des Professors gegenüberliegt. Ich bin ihm nachgefahren, dem guten Professor, er hat sehr geheimnisvoll getan, als er in der Apotheke verschwand. Ich habe gewartet bis Mitternacht. Um elf Uhr ist die dicke Dame, die heute morgen mit ihm fortgegangen ist, angekommen, hat geklopft, ist eingelassen worden. Ich bin dann schlafen gegangen. Aber heute morgen war ich schon zeitig wieder da. Hat übrigens der Polizist Malan von mir gesprochen?«

»Malan? Gesprochen? Von Ihnen?« Pillevuit schüttelt ratlos den Kopf. »Nein, er hat gesagt, ein kleiner Junge habe ihm aufgeregt mitgeteilt, die Apotheke sei noch immer geschlossen, und man höre Stöhnen durch die Türe. Und da sei er eben hingegangen. Die Türen seien offen gewesen, das heißt, die Türe, die vom Hausgang in die Wohnung führt, und die Tür von der Wohnung in den Laden. Und dann hat er mich gleich angerufen, als er den Körper gesehen hat.«

»Sehen Sie, Kommissar, Sie müssen nicht böse werden, aber Ihre Leute arbeiten unexakt. Malan ist fortgelaufen, und Sie können sich vorstellen, welch eine Aufregung es in einer kleinen Gasse hervorruft, wenn ein uniformierter Polizist aus einem Hausgang herausstürzt. Die Gemüsefrau wollte gleich schauen gehen, was los war, sie rief ihre Nachbarinnen herbei, es waren spielende Kinder auf der Straße. Diese ganze Meute wollte den Laden stürmen. Da hab ich mich vor den Eingang gestellt, habe nur ›Polizei‹ gesagt und das Abzeichen meines Tennisklubs gezeigt, das ich hier unter dem Rockaufschlag trage. So habe ich Ihnen doch die Jungfernschaft dieses Falles gerettet, und dafür müssen Sie mir dankbar sein.«

»O'Key…«, Pillevuits Augen glänzten feucht, war es die Rührung, war es der Alkohol, oder vielleicht beides? – »O'Key, Sie sind ein Freund. Was soll ich nun tun?«

Der Reporter stellte freudig fest, daß die ausgeworfenen Enterhaken nicht mehr zu entfernen waren. Doch als er antworten wollte, unterbrach ihn Pillevuit wieder:

»Nein, Sie sollen mich nicht für ganz borniert halten. Ich will versuchen zusammenzufassen: Wir haben also zwei mysteriöse Vergiftungsfälle, einen fremden Sekretär und einen Genfer Apotheker. Beide werden, so scheint es, durch das gleiche Gift zu ermorden versucht. Es muß also ein Bindeglied zwischen den beiden zu finden sein. Da haben wir Professor Dominicé, er kennt Crawley, er kennt, wie Sie behaupten, auch den Apotheker. Beide Male war er in der Nähe, als das Verbrechen begangen wurde. Wir finden beidemale ein Bündel Drähte, wie sie zu jeder Pravazspritze geliefert werden. Wir stellen ferner fest, daß der junge Sekretär am Abend seines… seines Unfalls eine Einladung des Professors erhalten hatte. Wir finden ferner bei dem Apotheker Dinge, die auf das Hineinspielen einer okkulten Sekte deuten. Wir wissen ferner, daß der Professor sich mit spiritistischen Phänomenen beschäftigt hat, daß seine Haushälterin früher Medium war – Donnerwetter«, unterbrach sich Pillevuit, »die dicke Frau, die mit dem Professor aus dem Haus des Apothekers gekommen ist, ist das…?«

»Natürlich ist sie das, nur weiter, Kommissar.«

»Ja, jetzt weiß ich nicht weiter. Denn einerseits behauptet die indische Exzellenz, ihr seien wertvolle Dokumente entwendet worden, und diese Dokumente habe Crawley gehabt. Also ein Mord mit einem klaren, politischen Hintergrund. Aber beim Apotheker scheint etwas anderes mitzuspielen. Eben dieses Hexenrezept, und die Münze und die gelbe Stirnbinde. Sagen Sie, O'Key, was ist's eigentlich mit diesen Hexensalben?«

»Die Hexensalben? Ein Rauschmittel, mein Lieber. Die armen Frauen hatten Visionen, sie meinten zu fliegen. Sie rieben sich mit der Salbe ein, gewöhnlich die Körperstellen, wo die Haut dünn war, Achselhöhlen und so weiter, dann klemmten sie sich einen Besenstiel zwischen die Beine, legten sich aufs Bett, sagten: ›Obenauß und nirgent an‹, und dann flogen sie zum Kamin hinaus, auf den Blocksberg oder sonst wohin, nach Thessalien, was weiß ich, und trieben dort Unzucht mit dem Teufel, dem Abraxas, dem Behemoth, dem Herrn der Fliegen und anderen Gewürms. Ja. So ging die Sache vor sich. Und dafür wurden sie verbrannt. Wenn man nämlich ein Teufelszeichen an ihrem Körper entdeckte. Und ich habe mir sagen lassen, der Apotheker sowohl als auch der junge Mann hätten in der Ellbogenbeuge einen Einstich gehabt, mit einem roten Hof darum, und das sah aus, wie eine ungeschickt gemachte, intravenöse Injektion. Vielleicht war es auch etwas anderes.«

Sie haben sicher schon Heu gesehen, das Pech gehabt hat. Es war halb trocken, dann regnete es drauf, dann trocknete es wieder, dann wurde es wieder naß, und dann wurde es eingeführt, noch halb feucht. Genau wie dieses Heu sah Pillevuits Bart aus. Er war matt und unansehnlich, gar nicht mehr stolz wogend, wie eine blonde Fahne.

4

Madge Lemoyne hatte die Abendvisite in aller Eile erledigt. Sie wollte in die Stadt, sie war unruhig. Wem sollte sie von ihrem merkwürdigen Patienten erzählen? Sie beschloß Professor Dominicé aufzusuchen und mit ihm über Jane Pochon zu sprechen. Als sie mit ihrem Zweisitzer gegen fünf Uhr vor dem Hause des Professors hielt, sprang Ronny als erster aus dem Wagen. Er ging kläffend auf einen Mann los, der an einer Straßenecke stand und in die Luft starrte. Der junge Mann (er war lang, sehr lang, trug rote drahtige Haare über einem mit Sommersprossen besäten Gesicht) schnalzte auf sonderbare Art mit der Zunge, stieß Laute aus, die wie ein zerquetschtes Gebell klangen, worauf Ronny einen kurvenreichen Freudentanz aufführte und den Mann stürmisch begrüßte. Auf die Rufe seiner Herrin hörte er nicht. Madge mußte näher kommen und den Hund am Halsband packen, auch das nützte wenig. Ronny erstickte fast an seiner Freude.

Der Fremde verbeugte sich vor Madge (den Hut konnte er nicht ziehen, denn er war barhaupt). »Entschuldigen Sie«, sagte er, »Cyrill Simpson O'Key.«

»Oh, Sie sind Engländer?« fragte Madge und wurde rot. Das ärgerte sie, denn schließlich war sie eine berufstätige Frau und kein Backfisch, der errötet, wenn er von einem Herrn angesprochen wird. Das weitere Gespräch wurde auf Englisch geführt.

»Ich bin Ire«, sagte O'Key todernst und tätschelte Ronny, der vor Begeisterung über die neue Bekanntschaft fast in hysterische Krämpfe verfiel.

»Kennen Sie denn Ronny?« fragte Madge.

»Nein«, O'Key wackelte ein wenig mit der Nase, was Madge zum Lachen brachte. »Ich kenne nur die Airedaler Sprache und weiß, wie man einem Hunde ein Kompliment zu machen hat.«

Darauf entstand ein Schweigen. Ronny bellte hinter einem Radfahrer her, der einen großen Korb auf dem Rücken trug. Ronnys Antipathie gegen die moderne Technik erstreckte sich auch auf Fahrräder.

»Ja, ich muß weiter«, seufzte Madge, und sie empfand ihr Seufzen selber als unmotiviert. »Einen Besuch machen.«

»Oh«, sagte O'Key, »Sie wollen in dieses Haus? Zu dem Professor? Nehmen Sie sich in acht, Miss Lemoyne, der Professor wird beobachtet.«

»Beobachtet?« Madge war erschrocken. »Von wem denn?«

»Erstens von mir. Denn auch ich muß ihn sprechen und weiß nicht recht, wie ich es anstellen soll. Ihn einfach besuchen geht nicht, ihn auf der Straße abfangen gefällt mir nicht. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll. Wissen Sie mir keinen Rat?«

»Ja, warum wollen Sie ihn denn sprechen? Wer sind Sie eigentlich?« wollte Madge wissen.

Das sei immerhin schwer zu definieren, erwiderte O'Key – und ganz verschwommen kam es ihm zum Bewußtsein, daß es ihm Schwierigkeiten machte, die Frau neben ihm anzulügen; sie gingen auf und ab, und Ronny versuchte während dieser Zeit die psychologischen Reaktionen eines Köters zu prüfen, der traurig an einer Ecke saß, indem er diesen Hund sachlich in den Schwanz kniff, – Ronny war nicht umsonst der Hund einer Seelenärztin – ja, wiederholte O'Key, er sei also eigentlich Reporter und von seiner Zeitung ausgesandt, um über eine dunkle Angelegenheit zu berichten. Es sei da ein junger Engländer, ein Diplomat, auf ziemlich mysteriöse Art in die Gefilde der Seeligen hinübergewechselt – Madge schaute bei dieser Ausdrucksweise kurz auf, schwieg aber – und das Londoner Publikum fühle sich von geheimnisvollen Begebenheiten nur allzu sehr angezogen. Als ob der Tod eines chinesischen Kulis nicht ebenso geheimnisvoll sei. Aber Kulis gebe es eben Millionen und diplomatische Sekretäre nur eine kleine Menge und das erkläre vielleicht zum Teil das Interesse eines hungrigen Publikums. Nun ja, kurz und gut, der Professor Dominicé scheine da etwas zu wissen, über den Tod dieses Sekretärs Crawley, und da sei noch die Geschichte mit dem Apotheker, die sei auch düster, und auch da habe der werte Gelehrte seine Hand im Spiele, es empfehle sich daher, ein Interview zu riskieren, nicht wahr? »Lachen Sie«, befahl O'Key plötzlich streng, dann stieß er selber ein Gewieher aus, das seine Zähne zeigte.

»Warum?« Hatte Madge es mit einem Verrückten zu tun? Aber der vielleicht Verrückte ließ ihr keine Zeit, auch nur den Versuch einer Diagnose zu stellen, er hatte ihren Arm gepackt.

»Lachen Sie«, befahl er wieder, »es muß aussehen, als ob wir alte Bekannte wären, und Sie müssen denken, ich hätte Ihnen soeben einen fabelhaften Witz erzählt. Hahaha«, und Madge lachte ängstlich mit. »Noch einmal!« Und noch einmal lachte Madge.

»Ich will Ihnen erklären, warum. Dort drüben an der Ecke steht ein reichlich unsympathischer Zweibeiner mit eingefettetem Schnurrbart, einer fettigen Krawatte und seine Hose hat Wülste über den Knien. Das ist Herr Dériaz, dem soeben telephonisch ein Rüffel überwiesen worden ist, und zwar von meinem Freunde, dem Kommissar Pillevuit. Weil nämlich besagter Geheimpolizist Dériaz gestern abend nicht aufgepaßt hat. Und nun geht es den Herrn gar nichts an, wer Sie sind, und in welchen Beziehungen Sie zu dem Professor stehen. Wir werden also zusammen den Professor besuchen, und Herr Dériaz wird dann seiner Behörde mitteilen können, daß ein Herr und eine Dame… nun ja, das wird er schon gut machen.«


 << zurück weiter >>