Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Achtes Kapitel

1

Als O'Key an diesem Abend ganz zufällig einen abgehetzten Ronny traf, mußte er zugeben, daß er ein wenig renommiert hatte mit seiner Behauptung, die Airedalesprache zu verstehen. Die Begegnung fand statt gegen viertel vor sieben Uhr auf der Straße, die von Vandœuvres über Sionnet nach Jussy führt. O'Key hatte die Universität verlassen, im Palais de Justice sein Motorrad geholt. Es blieben ihm noch mehr als zwei Stunden vor der Versammlung des »Kriegsrates« in der Villa des Mimosas, und er wollte die Zeit benützen, sich das Haus jenes George Whistler anzusehen, bei dem am Morgen eingebrochen worden war. Er sah es in der Ferne, am Ende einer langen Allee, verdunkelt von hohen Tannen, die es umgaben, und er überlegte gerade, ob er dem Maharaja einen Besuch abstatten sollte, als er durch ein lautes Gebell abgelenkt wurde.

Quer über ein Feld, in dem der Klee ziemlich hoch stand, sprang etwas gegen die Straße zu. Es glich einem braun und schwarz gesprenkelten Fisch, der in einem grünen Meer Freudentänze aufführt. Aber dann war es Ronny, der rund um das Motorrad kläffend tanzte, mit seinen Pfoten auf O'Keys Overall einen Trommelwirbel schlug, kurz, sich ganz verrückt gebärdete. O'Key wußte nicht, war es Freude, war es Angst, die den Hund so außer Rand und Band brachte. Er versuchte zu fragen, wo denn die Meisterin sei, ob sie etwa mit ihrem Wagen hier herausgefahren sei? Ronny wuffte, erzählte eine lange Geschichte… und da war es, daß O'Key bedauerte, die Airedalesprache nicht besser studiert zu haben.

Besonders aber war es ein Gedanke, der O'Key davon abhielt, sich um Madge Lemoyne zu kümmern. Ihn plagte nämlich plötzlich der Verdacht, daß Madge sich mit ihrem früheren Freunde, mit Dr. Thévenoz, hätte treffen können. Das würde einiges erklären: ihr merkwürdig überhebliches Wesen heute morgen, als er ihr von seinen Sorgen gesprochen hatte, ihr kühler Abschied, als sie sich zu dem sterbenden Nydecker begeben hatte, und dann: was hatte Madge die letzten Tage getan? Thévenoz hatte doch Ferien genommen? Hatten sie sich getroffen? O'Key war unruhig. Er merkte wohl, daß Ronny ihn irgendwohin führen wollte, ihn sanft an der Hose packte und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Aber O'Key hatte keine Lust, hinter Madge her zu spionieren. Mochte sie tun, was sie für richtig fand. Er nahm den Hund, setzte ihn hinten auf den Soziussitz, saß auf, gab Gas, Ronny begriff augenblicklich, was von ihm verlangt wurde, und legte seine Vorderpfoten auf die Schultern des Mannes und seine Schnauze kitzelte O'Key am Ohr. So fuhren die beiden weiter nach Jussy, kehrten über Presinge zurück. Und dort, ein wenig außerhalb des Dorfes, ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, der O'Key immerhin zu denken gab.

Sie fuhren an einem alten Hause vorbei, einem Landhaus in schönen Proportionen, wie sie zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts gebaut wurden; das Haus schien unbewohnt, die Fensterläden waren geschlossen, der Garten verwildert und ungepflegt. Als sie daran vorbeifuhren, wurde Ronny auf dem Hintersitz aufgeregt. Er bellte laut in O'Keys Ohr, kratzte mit seinen Pfoten auf den Schultern des Fahrers, nahm dann plötzlich einen Satz und sprang ab, im Fahren. Er überkugelte sich im Straßenschmutz (der Regenguß vom Nachmittag war noch nicht aufgetrocknet) und blieb dann stehen, um das geschlossene Haus gründlich und verärgert anzubellen. Er mochte wollen oder nicht, O'Key mußte halten, absteigen und dem Hunde folgen.

Er schritt ums Haus, gefolgt von Ronny, der ihm manchmal vorauslief, auf dem Boden schnupperte, leise klagend, dann wieder einen geschlossenen Laden lange anstarrte. O'Key rüttelte an der Klinke der Hintertür, aber sie war verschlossen. Das Haus lag tot da.

Da entschloß er sich endlich, weiterzufahren. Ronny schien sich beruhigt zu haben, denn er sprang ohne weiteres auf den Hintersitz und machte es sich dort wieder bequem. Als O'Key noch einmal zurücksah, fiel ihm plötzlich etwas auf, so daß er abstoppte, um seine Beobachtung zu kontrollieren. Er war, ohne sich dessen zu achten, von Jussy aus über Juvigny gefahren, hatte somit fast einen Kreis beschrieben. Und was er in der Ferne sah, vielleicht dreihundert Meter hinter dem verschlossenen Haus, war die Hinterfront des Landsitzes de la Rive, in dem jener George Whistler wohnen sollte.

»Wem gehört denn dieses verschlossene Haus?« fragte er einen vorübergehenden Arbeiter.

»Das gehört zum Gut der de la Rive«, antwortete der Mann.

»Und es wohnt jetzt niemand drin?« wollte O'Key noch wissen.

»Ja, wissen Sie«, sagte der Mann und benützte die Gelegenheit, sich eine Zigarette zu drehen, »vermietet ist es schon, das Haus. Aber die Leute kommen nur manchmal heraus. Besonders am Abend. Dann merkt man aber nicht viel von ihnen. Sie müssen viel Gäste haben, es kommen allerlei Herrschaften, in Autos, auf Rädern, zu Fuß. Aber die Läden bleiben geschlossen. Manchmal hört man ein wenig Musik, eine Geige und ein Harmonium. Auch Grammophon hört man. Und am nächsten Tag ist das Haus wieder still und leer. Wir haben uns schon oft gewundert. Aber die Leute bleiben für sich, da geht uns das Ganze wohl nicht viel an. Wissen Sie, wir hier auf dem Dorfe, wir klatschen schon gerne, aber…«

»Danke«, sagte O'Key und gab wieder Gas. Im Fahren schüttelte er den Kopf. Gab der Maharaja in dem kleinen Haus intime Feste? Oder hatte das Haus mit den Bewohnern des De la Rive-Gutes nichts zu tun? Warum hatte Ronny ihn auf das Haus aufmerksam gemacht? War Madge darin gewesen? Wenn sie jetzt noch dort war, so hätte Ronny sicher aufgeregter getan und sich nicht so schnell beruhigt.

›Ah, bah‹, dachte O'Key, ›ich werde sie heute abend fragen, was sie in Presinge zu tun hatte. Vielleicht antwortet sie mir. Möglich, daß sie Ronny abgeschoben hat, weil sie mit Thévenoz allein sein wollte. Ronny konnte Thévenoz nicht ausstehen, hat sie mir einmal erzählt. Ja, Ronny ist ein Hund mit Menschenkenntnis.‹ Und er gab der Hundeschnauze neben seinem Ohr kleine zärtliche Kopfstöße, und Ronny quittierte sie mit einem leisen, begeisterten Quietschen. Die beiden verstanden sich gut.

2

Isaak Rosène, der Advokat, war blond. Er saß im großen Speisezimmer seiner Villa, leicht zurückgelehnt, ein weißes Seidentuch hing aus der Brusttasche seines dunkelblauen Rockes, er duftete sanft nach Lavendelwasser und englischen Zigaretten und stach eigentlich ziemlich von seinem Bruder Wladimir ab, dem Arzt, der neben ihm saß, zusammengesunken, in einem grauen Konfektionskleid, die Unterarme auf dem Tisch verschränkt.

»Maman Angèle«, sagte Isaak, nahm den randlosen Kneifer vom Nasensattel und ließ ihn am Bügel um den kleinen Finger kreisen, »wir bekommen Besuch. Du mußt dann auch dabei sein. Macht recht viel schwarzen Kaffee, sag André, er soll die Schnäpse herausstellen, oder nein, warte, schick mir André lieber herein, ich will selber mit ihm sprechen.«

Maman Angèle war klein und trug ein schwarzes, rauschendes Seidenkleid. Wenn sie kochen mußte, zog sie darüber eine große weiße Ärmelschürze, die ihr Wladimir einmal geschenkt hatte. Sie brummte ein wenig, ging aber schließlich doch den Chauffeur und Kammerdiener André holen. Diesem gab dann Isaak seine Aufträge.

»Ja, stell dir vor«, wandte er sich dann an seinen Bruder, »ich bin wie aus den Wolken gefallen. Zuerst bittet mich Jakob, ich solle mich doch des Professors annehmen, und dann telephoniert mir irgendein englischer Journalist in der gleichen Sache, und da habe ich mir gedacht, ich bringe all diese Leute bei mir zusammen, da kann man dann in Ruhe darüber reden. Übrigens, erinnerst du dich noch jener Erpressungsgeschichte, vor – wart einmal, vor fünf, nein sechs Jahren, in der diese Frau de Morsier eine so merkwürdige Rolle gespielt hat?«

»Mhm«, nickte Wladimir und zog an einer dicken Zigarre, die er wie ein amerikanischer Börsenmann im Mundwinkel hielt.

»Es würde mich gar nicht wundern«, sagte Isaak, »wenn wieder diese Frau auftauchen würde. Ich habe noch zur Sicherheit Martinet angeläutet, heut nachmittag. Der hat sich natürlich wieder in die dunklen Wolken seiner Rhetorik gehüllt, aber so viel hab ich doch begriffen, daß der Professor ziemlich kompromittiert ist, daß aber die Behörde nicht wünscht, daß er in diese Mordsachen hineingezogen wird. Zwei Mordsachen, nicht wahr, Wladimir? Und du warst bei beiden handelnder oder sagen wir lieber behandelnder Zuschauer.«

»Mhm«, sagte Wladimir.

»Was hast du heute abend? Kannst du deinen Mund nicht auftun? Meinst du, ich hätte in unserer Familie die Redefähigkeit allein gepachtet? Ja oder nein? Warst du dabei?«

»Mhm«, dann räusperte sich Wladimir und bequemte sich zu einer Antwort. »Eigentlich weiß Thévenoz besser Bescheid, ich bin ja nur ein kleiner Assistenzarzt, während Thévenoz die Aufsicht hat. Ich hab eigentlich wenig mit den Sachen zu tun gehabt.«

»Ein englischer Sekretär ist vergiftet worden? Nicht wahr? Und ist euch unter den Händen gestorben, als es ihm schon besser ging? Und dann hat ein Apotheker daran glauben müssen, der ohnehin diverse dunkle Sachen auf dem Gewissen hatte? Ist es nicht so? Warum hast du nicht Thévenoz mitgebracht, wenn der doch besser Bescheid weiß als du?«

»Thévenoz ist verschwunden. Er ist vor vier Tagen in die Ferien und ich muß seine Abteilung betreuen«, sagte Wladimir. Er zog eine Grimasse. »Ich hab ein paarmal versucht, ihn zu erreichen, telephonisch natürlich, aber er ist nicht in seiner Wohnung. Vielleicht ist er verreist. Soll ich meines Arztes Hüter sein?«

»Bitte, keine Parodien«, sagte Isaak streng.

Es klopfte. André öffnete die Tür und ließ O'Key ein. Isaak stand auf und ging ihm entgegen.

»Es freut mich«, sagte er, »Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie sind mir heut nachmittag noch warm empfohlen worden. Hoffentlich kommen wir zusammen zu einer günstigen Entscheidung.«

O'Key verbeugte sich, nahm Platz, nachdem er auch Wladimir die Hand geschüttelt hatte.

»Ich dachte«, sagte Isaak, »Sie würden den Professor mitbringen?«

»Das hat Ihr junger Bruder übernommen«, antwortete O'Key. »Wir waren heute beide in der letzten Vorlesung unseres Professors, und ich habe Jakob gebeten, sich des alten Herrn anzunehmen. Ich denke, er wird ihn bald herbringen. Übrigens hat es merkwürdige Zwischenfälle gegeben in dieser Vorlesung.

»Welche?«

»Fliegenschwärme«, sagte O'Key, »Fliegenschwärme und eine klingende Münze und einen höchst modern konstruierten Giftpfeil.« Und er erzählte kurz die Vorkommnisse.

»Na«, meinte der Advokat, »wir werden heute mindestens zwei Giftkenner bei uns begrüßen können. Mein Bruder hier«, er wies auf Wladimir, der dabei errötete wie ein belobter Schuljunge, »interessiert sich nämlich auch gewaltig für Gifte. Er hat sich in einem einsamen Gartenhaus ein Laboratorium eingerichtet und kocht und braut dort Giftpflanzen. Auch einen Garten hat er sich angelegt. Erzähl mal dem Herrn da, was du alles kultivierst.«

Aber Wladimir brummte nur verlegen etwas von »kleinen Versuchen« und »nicht allzugroße Bedeutung«.

»Tu doch nicht so bescheiden«, sagte Isaak, »er ist nämlich schüchtern wie ein kleines Mädchen, wenn man auf sein Steckenpferd zu sprechen kommt. Du hast mir doch einmal von einem Hexenrezept vorgeschwärmt und mir geklagt, du hättest niemanden, an dem du es ausprobieren könntest.«

»Ach, red' doch nicht so viel«, protestierte Wladimir ärgerlich, »das war doch nur ein Witz. Gewissermaßen ein psychologischer Witz.«

»Na, wenn du nicht reden willst…«, sagte der Advokat, »dann laß es bleiben.« O'Key blickte eine Weile schweigend auf den kleinen, rundlichen Assistenzarzt, schüttelte dann, in Gedanken versunken, den Kopf. ›Das ist eben immer so‹, dachte er bei sich, ›in derartigen Affären tauchen von Zeit zu Zeit scheinbar neue Spuren auf, die zu nichts führen. Dieser fette Mann da? Der ist nur verlegen, weil ihn der Bruder wie einen Schulbuben lobt. Komische Leute, diese beiden.‹

Da klopfte es wieder, und herein schritt Professor Dominicé in seinem langen grauen Gehrock, die Plastronkrawatte mit einer Perle verziert. Zwei Gestalten waren hinter ihm sichtbar, die an der Türe stehen blieben, während Dominicé mit raschen Schritten das Zimmer durchquerte. Die drei am abgeräumten Speisetisch standen auf.

»Sehr erfreut, Sie zu sehen, mein lieber Journalist, Sie haben uns heut nachmittag ein wenig plötzlich verlassen, aber das schadet nichts. Sie scheinen so besorgt um mein Wohlergehen zu sein, daß ich mich eigentlich bei Ihnen entschuldigen sollte. Einmal habe ich Ihnen nicht gerade sanftmütig geantwortet. Wissen Sie noch?«

O'Key nickte schweigend, während er dem Professor die Hand schüttelte. Dann machte er sich los und ging auf Natascha zu. »Haben Sie sich auf unsere Seite geschlagen, Fräulein Kuligin?« Und er lächelte sie an. »Was macht Zweiundsiebzig?«

»Was?« fragte Jakob, und vor Erstaunen blieb ihm der Mund offen, was einen törichten Eindruck machte, »was, ihr kennt euch?«

»Natürlich kennen wir uns«, sagte Natascha ungeduldig, und sie gab O'Key die Hand. »Wir haben oft miteinander zu tun gehabt.« O'Key lachte. »Zu tun gehabt ist hübsch gesagt«, meinte er. Da unterbrach der Professor die Begrüßung.

»Ich wollte meinen Augen nicht trauen«, sagte er, »als mein junger Freund Jakob mich zwang, Fräulein Kuligin abzuholen. Aber als sie dann zu uns in den Wagen stieg, haben wir Frieden geschlossen. Nicht wahr? Fräulein Kuligin hat einmal bei meiner Folterung als Folterknecht assistiert. Aber ihr gutes Herz ist mit ihr durchgegangen und sie hat sich dann fast wie eine Krankenschwester benommen. Nicht wahr, Mademoiselle?«

Natascha hatte ihre Sicherheit wiedererlangt, da hörte man des Advokaten Stimme aus dem Hintergrund:

»Du bist unhöflich, Jakob, du solltest mich wenigstens deiner Freundin vorstellen. Wer oder was ist sie?«

Jakob wurde rot, aber Natascha befreite ihn aus seiner Verlegenheit. Sie schritt auf den Advokaten zu und sagte mit einem Lächeln, das sehr angenehm wirkte:

»Ich hoffe, Ihr politischer Horizont ist nicht zu eng, und Sie werden eine Kommunistin bei sich begrüßen können.«

Isaak lächelte ebenfalls, schüttelte die dargebotene Hand und erwiderte:

»Wenn Sie auf seiten unseres Professors stehen, sind Sie mir natürlich willkommen. Übrigens sind politische Ansichten wohl nicht so wichtig. Hauptsache ist, daß man sich auf einer menschlichen Basis verständigen kann.«

»Ist Fräulein Lemoyne noch nicht gekommen?« erkundigte sich O'Key, und seine Stimme klang sorgenvoll.

»Nein«, sagte der Advokat, lud mit einer Handbewegung die anderen zum Sitzen ein und nahm selbst oben am Tisch Platz. Man merkte, daß er schon oft Sitzungen präsidiert hatte, und war schweigend damit einverstanden, daß er den Rat leitete.

»Fräulein Lemoyne wäre uns nützlich gewesen«, sagte O'Key noch, aber der Advokat zuckte nur bedauernd die Schultern:

»Dann werden wir uns ohne sie behelfen müssen, aber vielleicht kommt sie noch«, fügte er tröstend hinzu.

Es kratzte an der Türe, ein Winseln ertönte, Ronny begehrte Einlaß. Aber bevor noch einer der Anwesenden aufgestanden war, um den Hund einzulassen, ging die Türe auf, Maman Angèle erschien auf der Schwelle, und neben ihr drängte sich Ronny durch. Gesittet, wie es seine Art war, wenn er sich in Gesellschaft befand, schritt er auf den Professor zu, ließ sich die Pfote schütteln und legte sich zu den Füßen des alten Herrn. Um die anderen Anwesenden kümmerte er sich nicht.

»Professor«, begann der Advokat, »Sie sind in Gefahr, das wissen Sie. Abgesehen von der Verhaftung, die ein tatendurstiger Staatsanwalt gegen Sie durchsetzen will, sind Sie, wie mir scheint, noch von anderen Feinden bedroht. Das scheint mir wenigstens aus dem Bericht hervorzugehen, den Herr O'Key uns vor Ihrem Erscheinen abgelegt hat. Wäre es da nicht gescheiter, Sie würden uns ganz einfach und sachlich etwas von jenen Leuten mitteilen, die, ob mit Recht oder mit Unrecht, Sie aus dem Wege schaffen möchten.«

Dominicé schwieg. Er hatte die Blicke auf seine gefalteten Hände gesenkt, die auf der Tischplatte lagen, und blieb reglos in dieser Stellung sitzen, als sei er erstarrt.

Isaak bohrte weiter. Der Professor müsse doch zugeben, fuhr er fort, daß die ganze Situation unhaltbar geworden sei. Er, Isaak, sei überzeugt, daß sich der Professor nichts habe zuschulden kommen lassen, nichts, was mit dem Ehrbegriff unvereinbar sei, daß es sicher, wenn der Professor nur sprechen und erklären wolle, einen Ausweg aus der Situation geben müsse. Aber es sei nichts zu machen, solange sich der Professor in Schweigen hülle. Dann wartete der Advokat wieder eine geraume Weile. O'Key, der dem Professor gegenübersaß, schien es plötzlich, als beobachte Dominicé hinter den gesenkten Lidern den Assistenzarzt Wladimir Rosenstock, der neben ihm saß, zwischen ihm, dem Professor, und dem Advokaten. Aber es war vielleicht nur eine Täuschung.

»Darf ich Fragen stellen?« fragte Isaak plötzlich scharf. »Wir kommen sonst nicht weiter.«

»Bitte«, sagte der Professor.

»Ich habe auf einem Umweg erfahren, daß Sie eine Zeitlang in sehr unsicheren finanziellen Verhältnissen gewesen sind, daß man diese Tatsache benützt hat, um einen Druck auf Sie auszuüben, daß es Ihnen aber gelungen ist, diesen Druck, diese Erpressung, wenn Sie lieber wollen, abzuschütteln; nun möchte ich gerne wissen, wer Ihnen die Möglichkeit gegeben hat, sich von Ihren Verpflichtungen zu befreien.«

»Gut«, sagte der Professor und hob den Blick, ließ ihn einen Augenblick auf Natascha ruhen, lächelte ihr zu und drohte ihr mit dem Finger. »Fräulein Kuligina hat also nicht dicht gehalten. Sehen Sie, ich habe es mir ja immer gedacht, Sie haben im Grunde gar kein Talent zur Spionin. Eine Spionin sollte kein Erbarmen kennen, besonders wenn Sie aus Überzeugung handelt. Dies alles sage ich nur«, wandte sich der Professor an Isaak, »weil ich kein Freund des unbestimmten ›man‹ bin. ›Man‹ ist in diesem Falle ein gewisser Baranoff, der mir in einem denkwürdigen Gespräch nahegelegt hat, für ihn zu arbeiten: er meinte damit, wie Sie vielleicht schon wissen, ich solle den Sekretär von Sir Bose, der sich für meine Arbeiten interessierte, so beschäftigen, daß er seine Diktate einem harmlosen Menschen, einem gewissen Nydecker, zum Abschreiben übergeben würde. Ich muß gestehen, daß ich bezweifelte, daß sich dies bewerkstelligen lassen würde. Aber merkwürdigerweise ging es. Crawley wurde also mein Sekretär, und ich wurde dafür bezahlt. Ganz begriffen habe ich diese Sache nie, und Crawley sprach auch nur selten von dieser Sache.«

»Ich hatte eine große Arbeit unternommen, über den Einfluß der Gifte auf die Veränderung der menschlichen Seele, und hatte darum keine Zeit, mich mit Politik zu beschäftigen. Hauptsache war, daß ich nun in Ruhe arbeiten konnte, ohne Sorgen, meine Schulden hatte ich bezahlt, was wollte ich mehr. Dies ging eine Zeit so fort, bis ich eines schönen Tages einen Besuch erhielt.«

Der Professor machte eine Pause und sah die Anwesenden der Reihe nach an. O'Key hörte mit starrem Gesicht zu, Natascha schien sich zu langweilen, sie saß neben dem jungen Jakob Rosenstock. Wladimir, der Assistenzarzt, saugte stumm an seiner ausgegangenen Zigarre und hatte seine Augen unter den schweren Lidern verborgen.

»Bis ich eines schönen Tages einen Besuch erhielt. Das war acht Tage vor Crawleys Tod. Da läutete es, meine Haushälterin war, wie gewohnt in der letzten Zeit, nicht da und ich ging öffnen. Ein junger Mann stand vor mir, seine Gesichtshaut war sehr weiß, das fiel am meisten auf, die Züge waren regelmäßig. Ich bat ihn, näherzutreten. Er nahm mir gegenüber Platz, es war tiefer Nachmittag, aber obwohl es draußen noch hell war, hatte ich doch die Läden geschlossen. Sie kennen ja meine Gewohnheiten…«, er sah abwechselnd O'Key und Natascha an. Die beiden nickten. »Er nahm mir gegenüber Platz, ich saß im Schatten und sein Gesicht war hell beleuchtet von meiner Schreibtischlampe.«

Im Nebenzimmer schrillte eine Klingel. Der Advokat verzog verärgert das Gesicht, da stand schon Wladimir auf, ging mit seinen merkwürdig schleifenden Schritten auf die Türe des Nebenzimmers zu, indem er sagte: »Es ist wahrscheinlich für mich. Ich hab einen schweren Fall, im Spital, Lungenembolie, eigentlich hätte ich gar nicht kommen dürfen, aber…«, da unterbrach ihn ein erneutes Schrillen, er schloß die Türe hinter sich, O'Key versuchte, die gedämpften Worte des Arztes zu erhaschen, aber es waren nur einsilbige Ausrufe. Dann hörte er das klickende Einhängen des Hörers, Wladimir kehrte zurück , irgend etwas fiel O'Key an ihm auf, etwas ganz Nebensächliches, er hätte selbst nicht sagen können, was es war, er hatte auch keine Zeit dazu, denn Wladimir entschuldigte sich höflich: Er könne leider nicht länger verweilen, übrigens sei seine Anwesenheit ja nicht von großer Wichtigkeit, er müsse nun doch ins Spital. Er schüttelte Hände und verschwand schleifend. Ronny knurrte ihm nach.

»Ja, wo war ich?« fragte der Professor. »Bei meinem Besuch, nicht wahr? Er stellte sich vor als George Whistler. Wie soll ich ihn beschreiben? Ich habe schon gesagt, daß seine Gesichtshaut sehr weiß aussah, nicht bleich etwa, nein, weiß – wissen Sie, auf einer Reise in Marokko habe ich einmal den Scheich eines Berberstammes kennengelernt, der hatte die gleiche Hautfarbe. Und das war merkwürdig, denn der Mann brachte doch den ganzen Tag an der Sonne zu und war weiß geblieben. Übrigens hatte dieser Whistler, wie ich ihn damals nannte, auch sonderbar blasse Augen, aber dazu standen die Haare im Widerspruch, die waren bläulich schwarz. Merkwürdige Kombination. Es mußte etwas mit der Pigmentierung bei diesem Manne nicht in Ordnung sein.«

»Wollen Sie nicht zur Sache kommen, Professor«, mahnte Isaak und blickte hernach O'Key an. Sie blinzelten sich unmerklich zu. Es war klar, daß der Professor irgendeinen Grund hatte, zu schwatzen, Zeit zu vertrödeln, es sah aus, als warte er auf etwas, das sich ereignen sollte.

»Ja, ja«, sagte Dominicé, »ich komme schon zur Sache. Whistler erklärte mir, er habe auf Umwegen erfahren, daß ich in einer schwierigen finanziellen Situation sei, und daß er gekommen sei, mir zu helfen. Merkwürdig, dachte ich, daß sich so viele Leute um meine Sanierung kümmern, aber das sagte ich nicht laut, sondern dachte es nur. Man soll Leute mit guten Absichten nicht vor den Kopf stoßen. Kurz und gut, Whistler bot mir zehntausend Franken an, es stehe noch mehr zu meiner Verfügung, wenn ich mehr brauchen sollte. Bedingungen habe er keine zu stellen, sagte er, aber eine Bitte habe er an mich. Was das denn für eine Bitte sei, wollte ich wissen. Da müsse er weiter ausholen. Whistler sei sein Pseudonym, sagte er, eigentlich sei er ein indischer Fürst, der aus seinem Lande vertrieben worden sei, weil man dort Petrol gefunden habe. Welcher ›man‹? wollte ich wissen, und ich fragte mich einen Augenblick, ob ich es mit einem Größenwahnsinnigen zu tun habe oder einem Hochstapler. Nun, beides konnte ich erst entscheiden, wenn ich das Geld in der Hand hatte. Ich wollte es gern annehmen, es war ungemütlich, von einem Schuft wie diesem Baranoff abzuhängen, und dieser Whistler schien entschieden sympathischer zu sein. Was aber, fragte ich ihn, was hatten diese Ölquellen mit meiner Sanierung zu tun? Das sei doch ganz einfach, sagte der indische Fürst, er habe erfahren, daß ich mit Crawley befreundet sei, dem Sekretär des Delegierten seines Staates, und man habe mich doch in der Machination gebraucht, um in die Entwürfe und diplomatischen Dokumente des Sir Bose Einblick zu gewinnen. Dazu hätte ich doch Crawley beschäftigen müssen. Er habe nur eine Bitte, sagte der Fürst, ich solle von der Kombination zurücktreten, Crawley womöglich aufklären, dieser junge Mann gefalle ihm, er scheine ein Gentleman zu sein, aber er wisse sicher nicht, zu welchen Machinationen er sich hergebe. Ich solle Crawley aufklären. Und das tat ich auch, später, einen Tag darauf. Übrigens mußte ich auf dem Crédit Lyonnais mir ein Konto eröffnen lassen, Whistler, oder wenn Sie lieber wollen, der Fürst, ließ mir zwölftausend Franken überweisen. Damit konnte ich Baranoff los werden – ja, los werden.« Der Professor schwieg.

»So hätten wir die Erklärung für zwei Vorkommnisse, die zu meiner Kenntnis gelangt sind. Am Abend von Crawleys Tode, also am 23. Juni, hat sich Crawley mit seinem Vorgesetzten gezankt und ist mit einer Mappe, die scheinbar wichtige Dokumente enthielt, zu Ihnen gekommen. Wissen Sie, Professor, wohin diese Mappe verschwunden ist?«

Dominicé saß wieder da, starr, die Augen auf seine gefalteten Hände gesenkt. Etwas, das sich nicht näher bezeichnen ließ, etwas in seiner Haltung wirkte unnatürlich und verkrampft.

»Die Mappe?« wiederholte der Professor. (Ah, dachte O'Key, jetzt weiß ich, was seine Haltung ausdrückt: ein Lauschen, ein verkrampftes Lauern, ob nicht bald die erwartete Unterbrechung kommt.) »Ich weiß nichts von einer Mappe«, sagte Dominicé und lehnte sich im Stuhl zurück. Er blickte von einem zum andern, lange blieb sein Blick auf Jakob und Natascha haften, die ziemlich eng nebeneinander saßen. O'Key war hellwach. Jetzt, dachte er, jetzt kommt es. Da fuhr auch schon Ronny unter dem Tisch hervor, sprang zum Fenster, legte die Vorderpfoten auf den Sims und bellte in die stille Nacht hinaus.

»Was hat der Hund?« fragte der Professor und machte Miene, aufzustehen.

»Bleiben Sie sitzen!« herrschte ihn O'Key an. Darauf stand er selber auf, ging zum Fenster, tätschelte Ronnys Kopf und beugte sich hinaus. Das Fenster ging auf einen seitlichen Teil des Gartens, die breite Autostraße war nur zu sehen, wenn man sich weit aus dem Fenster beugte und nach rechts blickte. Dann schimmerte sie wie ein breiter schwärzlicher Bach durch die eisernen Stäbe des Zaunes, die den Garten gegen außenhin abschlossen. Im Garten stand eine dichte Nacht, eine lautlose und schwüle, das Blätterdach einiger hoher Bäume ließ den Schimmer der Sterne nicht durch. O'Key sah nichts. Aber Ronny war nicht zu beruhigen, er bellte nicht mehr laut zwar, doch wuffte er unterdrückt und sein Fell sträubte sich, genau, wie es sich am Morgen gesträubt hatte, als vor Madges Fenster in Bel-Air die singende Stimme erklungen war.

»Such, Ronny, such!« feuerte O'Key den Hund an. Ronnys Körper zog sich zusammen, die Vorderbeine suchten einen Halt auf dem glatten Fensterbrett – und dann verschwand der Körper des Hundes.

Während O'Key lauschend am Fenster stehenblieb, gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Er dachte an Madge. War ihr etwas zugestoßen? Oder war sie etwa im Garten, und hatte Ronny ihre Nähe bemerkt? Nein, dazu war der Hund zu aufgeregt gewesen. Was erwartete der Professor? O'Key schielte zu ihm hinüber, Dominicé hatte die Handballen auf die Tischplatte gestemmt, so, als wolle er aufspringen, aber merkwürdigerweise sah er nicht nach dem Fenster, sondern nach der Türe. Einen Augenblick überlegte O'Key, ob er nachsehen sollte, wer vor der Türe stand, dann gab er es auf, denn jetzt wurde es plötzlich im dunklen Garten lebendig. Ronny mußte irgend jemanden auf gestöbert haben, er bellte laut und verärgert, dann hörte O'Key eine Männerstimme laut fluchen. Der Advokat war neben ihn getreten.

»Was ist da draußen los?« fragte er. O'Key zuckte mit den Achseln. »He, André«, rief Isaak, »was ist los?« Die Stimme des Chauffeurs tönte aus der Tiefe des Gartens:

»Irgend jemand, der sich hier versteckt hat, der Hund hat ihn aufgestöbert. Merde…« rief er noch, dann war Stille, auch Ronny war nicht mehr zu hören.

»He, André!« rief der Advokat. Keine Antwort. Da durchstieß ein spitzes Wimmern des Hundes die Stille, es klang wie der verzweifelte Hilferuf eines kleinen Kindes.

»Schnell«, sagte O'Key, »wir müssen in den Garten. Sie, Maître, gehen mit den andern durch die Tür, ich springe hier hinaus. Sie bleiben wohl hier, Professor?«

»Ich bleibe hier«, sagte Dominicé und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

Als der Raum sich geleert hatte, stand Professor Dominicé langsam auf, schlich sich zur Tür und drehte das Licht ab. Dann schlürfte er zurück, geduckt.

3

Da wächst im Fensterrahmen eine Gestalt aus der Dunkelheit. Deutlich sind die Umrisse zu erkennen gegen die Nacht draußen, die heller scheint gegen die Schwärze des Zimmers. Ein Keuchen… Die Gestalt schwingt sich aufs Fensterbrett. Sie schwankt bedenklich, fällt schließlich ins Zimmer, bleibt liegen, murmelt.

Draußen bricht wilder Lärm los.

»André!« ruft die Stimme des Advokaten. Dann zuckt der Schein einer Taschenlampe über die Decke des Zimmers.

O'Keys Stimme ertönt: »Hierher! Hier liegt er!« Eine Pause. Wieder O'Keys Stimme: »Warum hat denn der Professor das Licht gelöscht? Jakob, laufen Sie schnell, zünden Sie das Licht wieder an.«

Eilige Schritte nähern sich, verstummen vor dem Fenster.

»Professor!« ruft eine Knabenstimme. Schweigen. Dann entfernen sich die Schritte wieder, nähern sich der Gangtür, nun steht Jakob in der Tür und fragt ängstlich:

»Warum haben Sie das Licht gelöscht, Professor?« Dann knipst der Schalter. Der Junge fährt zurück mit einem leisen Schrei. Nahe beim Fenster hat er einen Mann erblickt, der am Boden liegt und mit weitaufgerissenen Augen zur Decke starrt.

Aber Dominicé antwortet nicht. Das Schweigen unter dem grellen Schein der unverkleideten Deckenlampen ist schmerzhaft. Der Professor wackelt mit dem Kopf wie ein Uralter. Jakob springt ans Fenster: »Hier liegt ein Toter!« schreit er.

Das Schweigen des Zimmers scheint sich über den Garten auszubreiten. Dann rauschen Büsche. Irgendwo, auf der Straße wahrscheinlich, surrt ein Auto an, ein hoher Ton zuerst, der leiser und tiefer wird und in der Ferne verhallt.

»Damned!« hört man O'Keys Stimme. »Die Pneus an meinem Motorrad sind zerstochen.«

Schritte nähern sich der Zimmertür. Als erster betritt der Journalist das Zimmer, hinter ihm der Advokat. Nach einer Weile erscheint Natascha. Ihr dunkles Haar ist wirr und feucht, Schweißtropfen glänzen auf ihrer Stirne, an ihren Schläfen. Professor Dominicé steht mit verlegenem Gesicht neben dem Sterbenden und weiß nicht recht, was er mit sich anstellen soll.

»Jean!« sagt er. Da scheint der Sterbende zu merken, daß jemand zu ihm spricht. Alle sehen, daß er eine große Anstrengung macht, um etwas zu sagen, seine Lippen sind gespannt, einmal, zweimal erscheint die reichlich geschwollene Zunge zwischen den Zähnen. Und dann formt sich ein Laut, Mittelding zwischen Lallen und Sprechen:

»Vala…«, sagt der Sterbende, »Vala…«

Der Körper krümmt sich, das Atmen ist ein zischendes Geräusch, einige Zuckungen, und Dr. Thévenoz liegt reglos. Sein dünnes, blondes Haar, das sonst so tadellos gescheitelt war, steht wirr um den Kopf, und tiefe Furchen laufen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Sonst sieht das Gesicht friedlich aus.

›Vielleicht‹, denkt Jakob, der Gymnasiast, hat der Läufer von Marathon so ausgesehen, als er ankam mit der Nachricht des Sieges und dann erschöpft starb. Nur läßt hier die Nachricht an Deutlichkeit zu wünschen übrig.

»Vala?…« wiederholt Isaak Rosène, der Advokat. »Vielleicht wollte er ›voilà‹ sagen;… und viel anderes ist in dieser Situation wirklich nicht zu sagen. Ja… voilà! Hier ist die Bescherung. Aber weiter führt es uns nicht, das sehen wir selbst… voilà… Um das mitzuteilen, hätte der arme Thévenoz nicht so weit zu laufen brauchen. Wie geht's dir, André? Was hat's gegeben?«

André stöhnt in einer Ecke, er ist noch nicht recht aufgewacht. Maman Angèle steht neben ihm und betupft seine Schläfen mit einem feuchten Tuch, das sie in Essig getaucht hat. Aber Ronny, der Airedale, ist schon wieder munter, er schnüffelt im Zimmer umher, bellt unterdrückt und gereizt, rennt von einem zum andern, schnüffelt an den Kleidern des Toten, fährt zurück mit gesträubtem Fell. Der Professor kniet noch immer neben dem Toten, und in die verhältnismäßige Stille hört man ihn sagen, still, konzentriert, sachlich:

»Behinderung des Sprechvermögens, scharlachgerötete, heiße, trockene Haut, Lähmung des Auerbachschen Plexus…«

»Auerbachscher Plexus…«, wiederholt O'Key gedankenvoll. Es ist das zweite Mal an diesem Abend, daß eine scheinbare Kleinigkeit plötzlich eine bedeutsame Wirklichkeit erhält. Da war zuerst etwas mit Wladimir Rosenstock, dem Assistenzarzt gewesen was doch?… Nun, es wird ihm schon einfallen… Und jetzt – wer hat schon einmal vom Auerbachschen Plexus gesprochen?… in einer ähnlichen Situation – ganz zu Anfang dieser verrückten Geschichte.

Aber der Auerbachsche Plexus taucht wieder unter, verschwindet. Denn plötzlich fällt O'Key mit grausamer Deutlichkeit die Tatsache ein, daß Madge Lemoyne noch immer nicht gekommen ist. Er geht ins Nebenzimmer, stellt eine Nummer ein. Eine verschlafene Stimme meldet sich.

»Verbinden Sie mich mit Fräulein Lemoyne«, sagt O'Key. Der Portier von Bel-Air brummt zuerst etwas, dann hört man das Knacken des Umschaltens. Nun summt es am anderen Ende der Leitung, summt regelmäßig, alle zehn Sekunden. O'Key zählt! Einmal, zweimal, dreimal… Beim sechsten Male, gerade als er ungeduldig werden will, ertönt wieder die schläfrige Stimme des Portiers: Fräulein Lemoyne sei nicht in ihrem Zimmer. Offenbar sei sie fortgefahren, sie habe heute ihren freien Nachmittag gehabt. Ob man etwas bestellen könne?

»Nein, danke«, sagt O'Key und hängt ein. Und sofort überfällt ihn die Frage, warum Madge ihm nichts mitgeteilt hat. Wohin ist sie gegangen? Nach der Geschichte mit Nydecker? Ist ihr etwas zugestoßen? Eine ganz unbekannte, eine verzweifelte Angst nimmt von O'Key Besitz, er kann nicht mehr ruhig bleiben, aber er weiß nicht, was er tun soll. Er macht sich Vorwürfe: faul ist er gewesen, er hätte vielleicht verhüten können, was heute abend geschehen ist, er hat sich nicht genug angestrengt! Und nun, dies Verschwinden zu allem andern! Das ist die Strafe! Ängstlich, als könne er noch etwas versäumen, verlangt er eine zweite Nummer, die berühmte Nummer, die ihm am Morgen des heutigen Tages von Herrn Martinet eingebläut worden ist… Aber auch hier tönt nur, immer in gleichen Zwischenräumen, das aufreizende Summen zurück. ›Natürlich‹, denkt O'Key, ›Herr Staatsrat Martinet ist bei seinem Pikett, gut, daß ich weiß, wo er zu finden ist. Wir werden hingehen und ihn ausholen. Herr Martinet muß sich aufknöpfen. Aber zuerst sollte ich wohl den Professor…‹ O'Key geht mit langen Schritten in den Speisesaal zurück. Aber sobald er durch die Türe getreten ist, merkt er, daß die Atmosphäre sich verändert hat.

4

Es waren zwei Männer mehr im Saal. Und die Anwesenheit dieser beiden Männer mußte die Veränderung der Stimmung hervorgerufen haben. Den einen der beiden kannte O'Key, und er wollte freudig, mit ausgestreckter Hand, auf ihn zugehen. Aber das Verhalten des zweiten Mannes hinderte ihn an der Ausführung dieses Vorsatzes. Denn der zweite Mann sah merkwürdig aus, merkwürdig und einschüchternd.

Er saß neben dem Professor, dieser Mann, lässig zurückgelehnt, eine brennende Zigarette zwischen Daumen und Ringfinger, und er ähnelte einem Schauspieler, der einen Gentlemaneinbrecher mimen will. Er trug Abendkleidung, sein Frack saß, wie sonst nur im Kino ein Frack sitzt, die seidenen Socken, die Lackschuhe, das Hemd, die weiße Krawatte, alle seine Kleidungsstücke wären mit einem Ausrufungszeichen zu versehen gewesen. Sonderbar war, daß diese Eleganz durchaus nicht geckenhaft wirkte, sondern selbstverständlich hoheitsvoll. Als O'Key vor ihn trat, erhob sich dieser Mann, legte die Zigarette ab, stützte sich leicht auf die Lehne des Stuhles – ›wie eine Majestät, die eine Audienz erteilt‹, dachte O'Key und verbeugte sich tief.

»Hoheit«, sagte Sir Boses Kammerdiener Charles, »Hoheit, darf ich Ihnen einen Kollegen und treuen Freund vorstellen, Simpson Cyrill O'Key, Ire, Reporter und…«

»Ich weiß«, sagte die Hoheit, »ein tüchtiger Mann, der seinem Lande allerhand Dienste erwiesen hat, aber sich nun in einer unangenehmen Situation befindet. Nicht wahr?«

»Jawohl, Hoheit«, sagte O'Key. »In einer dummen Situation.«

Der Maharaja von Jam Nagar setzte sich, rauchte schweigend, dann zupfte er an der Bügelfalte seines rechten Hosenbeins. Hierauf blickte er auf und sagte.

»Nehmen Sie Platz, Herr O'Key.« Es klang, wie wenn Kaiser Franz Joseph selig einem kleinen Leutnant bedeutet hätte: ›Stehns kommod!‹

O'Key setzte sich. Alles kam ihm verworren und unklar vor, er gab seiner Müdigkeit die Schuld, versuchte sich aufzurappeln, beugte sich zum alten Colonel und raunte ihm zu:

»Glänzend sieht er aus, Ihr Fürst, ganz wie Sie behauptet haben: Krishnamurti, der Heiland der Theosophen, mit einem kleinen Schuß Arsène Lupin, sympathisch, entschieden, und gar nicht farbig. Er ist ja weiß, wie sie und ich.«

»Schweig, Simp«, zischte Charles böse. »Hör lieber zu. Er ist der einzige, der euch aus dieser verzweifelten Situation retten kann.« O'Key wagte es, diese Behauptung zu bezweifeln.

»Es ist natürlich unmöglich«, sagte der Maharaja, »daß der Tote in diesem Hause bleibt. Er ist gekommen, um eine Botschaft zu bestellen, aber der Tod war schneller. Für Sie, verehrter Meister, wäre es gefährlich und peinlich zugleich, wenn die Polizei Ihre Anwesenheit in diesem Hause, auf dem Schauplatz eines Mordes, feststellen müßte. Darum schlage ich vor, den Toten in mein Auto zu schaffen und die Leiche irgendwo vor der Stadt, an einem einsamen Orte, abzulegen. Wir können es dann getrost der offiziellen Polizei überlassen, dieses neuerliche Verbrechen aufzuklären. Vielleicht ist einer der Anwesenden so freundlich, mir bei diesem Geschäft zu assistieren. Ich selber berühre nicht gerne Leichen, meine Religion hat in dieser Beziehung ziemlich scharfe Vorschriften. Ich bin zwar ziemlich vorurteilslos geworden, aber immerhin…«

Hier wurde der Vortrag ihrer Hoheit unterbrochen. Natascha erhob sich von ihrem Platze und erklärte (ihre Augen glänzten während sie sprach und ihr Blick kam nicht los vom Gesichte des Maharajas) sie komme als einzige in Betracht, der Advokat schalte von vornherein aus, O'Key komme nicht in Frage, da er es seinem Freunde, dem Kommissar Pillevuit schuldig sei, reine Hände zu bewahren. Und sonst? Sie sehe niemanden als sich selbst; sie sei frei, diese Angelegenheit scheine ja unpolitisch zu sein, also dürfe sie handeln, wie sie es für gut finde. Sie sei bereit.

»Und wenn sie nun den Maharaja mit ›Towaritsch‹ anredet!« flüsterte der alte Colonel besorgt. O'Key beruhigte ihn.

»Sie wird das nicht tun«, sagte er, »denn wahrscheinlich werden sich die beiden der französischen Sprache bedienen und in dieser Sprache hat die gute Natascha die Auswahl zwischen zwei Worten: ›Citoyen‹ oder ›Camarade‹. Und ich glaube nicht, daß der Fürst etwas dagegen hat, der ›Camarade‹ einer hübschen Frau zu sein.«

»Mach keine Witze, Simp«, sagte streng der Mann, der Kammerdiener war und Colonel.

Die Situation klärte sich. Jakob, der Gymnasiast, hatte zuerst gegen das Mitgehen Nataschas energischen Protest eingelegt. Ihm gefiel der verklärte Blick nicht, mit dem seine Freundin den Fürsten ansah. Aber da sich Natascha nicht umstimmen ließ, da der Fürst äußerte: »Es wird mir ein Vergnügen sein…« war weiter nichts zu erinnern.

»Und das alles«, sagte der junge Fürst, »all diese Verwicklungen, all diese Morde haben nur einen Grund: Meine Petroleumquellen. Am liebsten ließe ich sie verschütten. Aber nicht einmal das kann ich tun, ich bin machtlos.«

»Verzeihung, Hoheit«, sagte O'Key, »es steckt noch eine andere Geschichte dahinter. Es ist vielleicht reiner Zufall, daß zwei grundverschiedene Angelegenheiten sich hier in Genf gekreuzt haben…« Er schwieg und dachte: ›Ich red einen bösen Kohl zusammen: Angelegenheiten, die sich kreuzen!‹ –

»Ah, da fällt mir etwas ein«, sagte der Maharaja von Jam Nagar. »Kennt einer der Anwesenden eine Dame, sie heißt, warten Sie einmal…« er kramte in seiner Hosentasche, zog eine zerknitterte Karte hervor und buchstabierte: »sie heißt Sorel… ja, Sorel, und sie ladet mich zum Tee ein…«

»Oh«, rief Natascha, »gehen Sie nicht, gehen Sie nicht!«

»Zum Tee…« sagte der Professor verträumt, »ich würde Ihnen raten, zu gehen. Wenn Sie achtgeben, wird Ihnen nichts geschehen…«

»Alte Damen, die Tee trinken…« nickte O'Key. »Und wo findet dieser Tee statt, Hoheit?«

»Das ist ja das Merkwürdige«, sagte der Maharaja. »Die Dame Sorel gibt keine Adresse an… oder warten Sie, doch da auf dem Kuvert steht der Absender: A. Sorel, Rue Verdaine 12.«

»Dann können Sie ruhig gehen, Camarade«, sagte Natascha, »ich werde Sie zu schützen wissen.« Nataschas Stimme war unnötig pathetisch. O'Key lachte leise in sich hinein. »Sehen Sie, Colonel«, flüsterte er. »Sie hat ihn nur Camarade genannt.« Dann empfahl sich O'Key. André, der Chauffeur, begleitete ihn. Er versprach, die Pneus am Motorrad in Ordnung zu bringen.

5

Die Nacht war dunstig. Der Mond beschäftigte sich mit der Auswahl eines Schleiers, aber keine Wolke schien passen zu wollen. So gab er es auf und strahlte weiter, mit nacktem Angesicht. Sehr ruhig war der See, wie tot. O'Key führte seine Armbanduhr dicht an die Augen: es war halb zwölf. Eilig schritt er auf der asphaltierten Straße der Stadt zu.

Über die Avenue de la Grenade gelangte er auf die Route de Chêne. Er kam an einem kleinen Hotel vorüber, blieb stehen, das Hotel kannte er. Ein Fenster war erleuchtet.

»Agent Zweiundsiebzig leidet an Schlaflosigkeit«, murmelte O'Key. »Wenn er wüßte, daß seine Mitarbeiterin mit dem Maharaja konspiriert und… halt!« – ihm fiel der Blick ein, Nataschas verklärter Blick, der sich nicht von des Fürsten Gesicht lösen konnte, »ja, halt! Welch wunderbare Schlagzeile: ›Kommunistische Agentin verliebt sich in indischen Fürsten!‹ Ach«, seufzte er, »wir werden noch eine Zeitlang warten müssen, bis wir wieder Schlagzeilen erfinden dürfen!«

O'Key war stehen geblieben, er beobachtete das erleuchtete Fenster. Vielleicht wußte Baranoff etwas über Madges Verschwinden. Er beschloß, den Feind besuchen zu gehen. Aber da fiel ihm ein Auto auf, das mit gelöschten Scheinwerfern an der nächsten Ecke stand. Er ging auf den Wagen zu, betrachtete ihn: ein ganz gewöhnlicher Citroen, leer, verlassen. O'Key versuchte die Türe zu öffnen, sie war verschlossen. »Soviel ich weiß, ist hier kein Parkplatz«, murmelte er. Er blickte wieder zum erleuchteten Fenster empor. Da zeichnete sich hinter der weißen Gardine die Silhouette eines Oberkörpers ab. Mager, schmal, eingesunkener Brustkasten. O'Key pfiff durch die Zähne. Ihm fiel die Szene vom Nachmittag ein. Bevor der junge Mann mit der Mappe in das wartende Auto gesprungen war, hatte sich seine Gestalt einen Augenblick im Profil ganz scharf gegen die weiße Häuserwand auf der andern Seite der Straße abgehoben. Und dieses Profil hatte viel Ähnlichkeit mit dem Profil, das dort oben am Fenster stand. Was hatte das zu bedeuten? Jane Pochos Sohn bei Baranoff? Der Sohn der Hexe mit der Münze und dem Fliegengesumm zusammen mit dem Agenten von Hammer und Sichel? O'Key verbarg sich in einem dunklen Toreingang und wartete. Das Licht hinter dem Fenster erlosch. Einige Minuten vergingen, dann öffnete sich vorsichtig die Türe des Hotels, ein Schatten glitt auf die Straße, blieb reglos stehen. Der Schatten schien auf etwas zu warten. Und richtig… näherten sich da nicht Schritte?

Aus der Seitengasse, an deren Ecke das Auto wartend stand, kam eine Gestalt. Unter der Laterne, die dem Hotel am nächsten stand, blieb sie stehen und war deutlich zu erkennen: die Gesichtsfarbe war die jener alten Herren, die den Winter hindurch in St. Moritz oder Davos Curling gespielt haben – und O'Key, verwundert erkannte er Sir Avindranath Erik Bose, Baronet des Königreiches Großbritannien, den bevollmächtigten Delegierten eines kleinen indischen Randstaates an der Völkerbundkonferenz in Genf.

Der Schatten, der so lange bewegungslos gestanden hatte, löste sich von der Mauer des Hotels ab, kam mit schnellen Schritten näher, blieb vor Sir Bose stehen, streckte ihm ein gelbes Kuvert hin. Und wieder mußte O'Key feststellen, daß er die Silhouette am Fenster richtig erkannt hatte. Es war wirklich der gleiche, unheimlich magere Mensch, der ihm am Nachmittag mit der Mappe zuvorgekommen war.

Nun flüsterten die beiden miteinander. O'Key gab sich Mühe, zu verstehen, was da verhandelt wurde. Zuerst verstand er nichts. Dann hörte er Sir Bose leise lachen, und der Junge stimmte in das Lachen mit einem heiseren Gekrächz ein. »Die Mappe ist bei ihm geblieben, mit den anderen Dokumenten«, hörte er nun den Jungen sagen. »Nur das hier hab ich mitgenommen. Übrigens, Baranoff schläft jetzt.« –

»Haha«, lachte Seine Exzellenz, »dann wollen wir den Kommissar aus dem Schlaf klingeln. Das hast du gut gemacht, mein Junge. Komm, wir wollen zu deiner Mutter.«

»Ja«, sagte der Junge in eigentümlichem Singsang. »Wir wollen zur Mutter. Der Meister wartet, der Meister wartet, der Meister, der Herr mit dem hölzernen Gesicht.«

»Nein, nein.« Sir Erics Stimme war laut und abwehrend, »mit dem Meister will ich nichts zu tun haben. Das geht mich nichts an. Wie lange bleibt deine Mutter bei ihm?«

»Sie kommt bald«, wieder der leise Singsang. »Ich werde sie holen gehen.«

»Gut«, sagte Sir Bose, und man merkte es ihm an, daß er sich unbehaglich fühlte, »dann werd ich in eurer Wohnung auf euch warten. Weißt du übrigens, was der Professor macht?«

»Der Professor? Der Professor hat sich versteckt. Der Professor hat Angst vor den Fliegen, hat Angst vor dem Gesumm. Der Professor kommt nicht mehr. Aber«, die Stimme wurde triumphierend, »aber der andere…«, der Junge zeigte zum Fenster des Hotels hinauf, »der andere bekommt seine Strafe. Er hat mich geprügelt, einmal, wissen Sie? Er bekommt seine Strafe, nicht wahr? Zwei haben mich beleidigt und geprügelt, der eine hat sterben müssen, der andere muß ins Gefängnis, nicht wahr? Mich darf man nicht anrühren, nicht wahr?«

Sir Bose schien zu frösteln. Er schüttelte sich. Der Junge ging ihm offenbar auf die Nerven.

»Leb wohl«, sagte Sir Bose kurz, nickte, ohne dem Jungen die Hand zu reichen, riß die Tür des Wagens auf, stieg ein und fuhr ab. O'Key zögerte. Sollte er dem Jungen folgen? Er trat aus dem dunklen Torweg, der Junge sah ihn, sein Gesicht verzerrte sich vor Angst, er machte kehrt und lief in langen Sätzen davon. O'Key schüttelte den Kopf. »Papa Martinet ist mir augenblicklich wichtiger«, murmelte er. »Eigentlich könnte ich heute abend eine Sammlung von Schlagzeilen anlegen. Wie klänge das: ›Angloindischer Diplomat und Hexensohn. Begegnung um Mitternacht.‹ Schön, nicht? Ich möchte nur gern wissen, ob Baranoff sich wirklich hat einseifen lassen…« Er ging weiter und da war er auch schon vor der Brasserie angelangt, wo er am Morgen den interessanten Andeutungen des Herrn Staatsrates gelauscht hatte. O'Key trat ein.


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