Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Neuntes Kapitel

1

Herr Staatsrat Aristides Martinet saß im Hintergrund des schon ganz geleerten Saales einem Manne gegenüber, der den weißen Anzug eines Koches trug. In der linken Mundecke des Herrn Staatsrates baumelte eine Meerschaumpfeife, aus der alle drei Sekunden kurze, kleine Rauchwolken stiegen. Der Mann im Kochdreß verteilte mit affenartiger Geschwindigkeit Karten, die Herr Martinet mit Gemütlichkeit zwischen seine dicken Finger steckte.

O'Key durchquerte den Saal (die Stühle standen schon auf den Tischen, die meisten Lampen waren ausgelöscht, nur über Herrn Martinets Glatze leuchteten noch drei Tulpenlampen) und blieb vor den Spielern stehen. Herr Martinet, in Hemdsärmeln, blickte auf.

»Äpfuuu«, sagte er zur Begrüßung, »was ist los, Sie Perle unter den Journalisten? Was wollen Sie? Mich in meinem Pikett stören? Setzen Sie sich und halten Sie vorerst Ihren Mund. Sie waren heut morgen beschwipst… Keine Widerrede. Sie waren beschwipst. Protest nützt nichts. Sie bekommen vorläufig auch nichts zu trinken. Sie dürfen mir beim Spiel zusehen. Pikett ist ein altes ehrwürdiges Spiel, merken Sie sich das. Man spielt es zu zweit, auch das ist ein Vorteil. Die Hauptsache, junger Freund, beim Pikett, ist das Abwerfen. Sehen Sie, hier liegen fünf Karten, die darf ich aufnehmen, sobald ich mich entschlossen habe, fünf Karten, die ich nicht brauchen kann, aus meinem Spiele auszumerzen. Ohne Bedenken opfere ich alle meine Karos, denn Pik ist immer meine Farbe gewesen. Und auch die Cœurs kann ich nicht brauchen…« Herr Martinet klatschte drei Karos und zwei Cœurs auf den Tisch, hob die Ecken der vorrätigen und blinzelte mit kindlicher Freude. Es waren fünf Piks.

»Sagen Sie mir, Patron«, wandte sich Herr Martinet an den Mann im Kochdreß, »wo wollen Sie diesmal liegen?« Seine Stimme wurde zärtlich. »Sie sind ›capot‹ lieber Freund, Sie machen nicht einen Stich. Ich habe sieben Karten in Pik mit einer hohen Septim, sieben und siebzehn macht vierundzwanzig und drei Asse sind siebenundzwanzig… siebenundzwanzig«, und Herr Martinet begann mit sanften Bewegungen eine Karte nach der anderen auf den Tisch zu legen und zählte dazu: »achtundzwanzig, neun… sechzig, einundsechzig macht siebenzig mit dem letzten und vierzig, weil Sie ›capot‹ sind, macht hundertundzehn… Wir sagen hundertundzehn und schreiben sie auch, was mit den hundertundzwanzig, die der Herr Staatsrat schon früher gemacht hat, unzweifelhaft zweihundertunddreißig macht, worauf sich der Herr Staatsrat bedankt und noch eine Flasche Neuenburger leeren wird, die Sie, Patron, wohl oder übel werden stiften müssen. Dann können Sie uns allein lassen, der junge Mann hier platzt vor Neuigkeiten, die Sie nichts angehen, Patron, Sie könnten ein verkappter Spion sein, nicht wahr?… Hähä, Hähähähä…«

»Sie sind lustig, Herr Staatsrat«, stellte O'Key fest.

»Nein, lieber Freund«, wehrte Herr Martinet ab, »im Gegenteil, ich bin wie alle Humoristen ein großer, ein schwerer Melancholiker. Und wie alle Melancholiker im Grunde Nihilist, oder wenn Ihnen diese Benennung Angst macht, ein Skeptiker. Nihil das heißt nichts, es ist ein schönes Wort, ich glaube an nichts, ich bemühe mich, alles amüsant zu finden, das ist das einzige, was ich für das Fortbestehen des Staatsrates Martinet machen kann. Sonst würde sich nämlich besagter Staatsrat ohne weiteres aufknüpfen, trotz der schauerlichen Lücke, die dieser Tod in der Genfer Politik hinterlassen würde. Ich finde die Menschen so komisch, lieber junger Freund, und nur weil ich sie komisch finde, gelingt es mir, weiter zu leben. Fände ich die Menschen nicht lächerlich, was hätte ich dann vom Leben? Äpfuuuh! Und noch dazu bei dieser Hitze!«

Das Taschentuch trat in Aktion und Herr Martinet putzte so sorgfältig seine Glatze, daß sie das Bild der drei Tulpenlampen zurückwarf, wie ein konvexer Spiegel.

»Und?…« fragte der Staatsrat.

»Ich brauche Ihren Rat«, sagte O'Key, »ich kenne mich nicht mehr aus. Ich weiß, ich sollte mich schämen, so etwas zu gestehen, aber… Fräulein Lemoyne ist seit heute nachmittag verschwunden, und da hab ich gedacht, Sie könnten vielleicht Nachforschungen…«

»Oh, und als Landsmann Edgar Wallaces denken Sie natürlich sogleich an finstere Gewölbe, teuflische Henker und mordgierige Affen, die Ihre Dulcinea auf eine Guillotine schnallen wollen… Trösten Sie sich, der Held kommt immer in der letzten Minute zur Rettung und dann wird geheiratet. Ja, ja, das Heiraten! Das haben Sie noch vor sich, junger Freund… und ich werde einmal meine Haushälterin heiraten. Denn nähme ich ein junges Mädchen – doch genug, wir wollen ernst bleiben. Fräulein Lemoyne ist verschwunden, sagten Sie? Und was nun? Haben Sie nachgeforscht? Nicht?… Weil Sie keine Zeit hatten? Und weil ich Ihnen heute morgen sagte, daß meine Kollegen vom Staatsrat zum Papa Martinet kommen, wenn sie nicht ein und aus wissen, haben Sie sich gedacht: Gehen wir den alten Martinet bei einem Pikett stören. Ist sonst noch etwas vorgefallen? Wenn ich raten soll, muß ich zuerst alles wissen.«

»Alles!« sagte O'Key mit einem müden Versuch, zu scherzen. »Wollen Sie dem lieben Gott Konkurrenz machen und allwissend werden? Wenn ich alles wüßte, brauchte ich nicht zu Ihnen zu kommen. Glauben Sie mir, Herr Staatsrat, ich bin auch nicht von heute. Ich habe mancherlei erlebt…«

»Glaub ich, mein Freund, glaub ich…«

»Aber was ich heute habe erleben müssen! Angefangen hat es mit Ihren Andeutungen über alte Damen, die Tee trinken und aufgehört hat es mit… nun ja, mit dem Verschwinden von Fräulein Lemoyne…«

»Sie wollten etwas anderes sagen, O'Key«, sagte Herr Martinet ernst, klopfte mit seiner Pfeife gegen einen riesigen porzellanenen Aschenbecher und stopfte sie nachher bedächtig. »Es ist noch etwas anderes passiert und dieses andere hat Sie mehr aus der Fasson gebracht, als das Verschwinden Fräulein Lemoynes. Aber wenn Sie's mir nicht erzählen können, so lassen Sie's sein. Behalten Sie's für sich. Ich bin nicht neugierig; nur möcht ich Ihnen einen Rat geben. Lockern Sie sich, verkrampfen Sie sich nicht, sprechen Sie den Fall vor sich hin, als Monolog meinetwegen, als Plan, sagen wir für einen Artikel. Ich werde hin und wieder leise Fragen in Ihren Monolog spießen, Sie werden antworten. Und was es auch sei, was Sie mir anzuvertrauen haben, ich werde es nicht verwerten. Stumm werde ich sein, wie das Grab, sowohl dem Kommissar Pillevuit gegenüber als auch gegen meinen Staatsanwalt. Es wird begraben bleiben in dieser Brust«, Herr Martinet schlug sich auf den gepolsterten Oberkörper; – das gab ein Geräusch, wie es beim Zurechtklopfen von Federkissen entsteht, »aber zuerst trinken Sie. Der Neuenburger ist annehmbar, er klärt die Gedanken und erschlägt sie nicht, wie Ihr grauenhaftes, schottisches Gesöff.«

»Auf Ihr Wohl!« sagte O'Key und stieß mit dem Staatsrat an.

»Danke«, erwiderte Herr Martinet, »ich werde mir Mühe geben, es mir wohl sein zu lassen.«

»Aber wo soll ich beginnen?« O'Key stellte sein Glas ab und blickte durch den leeren Saal. Vor den Spiegelscheiben der Brasserie rollten die eisernen Läden mit donnerndem Getöse herab. Herr Martinet ließ in Zwischenräumen von drei Sekunden kleine Rauchwölkchen steigen. Er schwieg. Ein paar Fliegen summten verschlafen.

2

»Beim Anfang natürlich«, sagte Herr Martinet und blickte auf. »Sie erhielten ein Telegramm…«

»Zwei Telegramme sogar«, unterbrach O'Key hastig. »Eines vom großen Chef und eines von meiner Zeitung.«

»Und was sagten diese Telegramme?«

»Abreiset Genf stop untersuchet Giftmord Crawley stop Ferien verschiebet stop Globe.«

»Und das andere?«

»Chiffriert, Vertragsentwürfe seien verloren gegangen, ich solle mich beim Colonel melden.«

»Und dieser Colonel?…«

»Ist Kammerdiener bei Sir Bose.«

»Ja, ja«, seufzte Herr Martinet. »Heutzutage herrscht überall der Grundsatz: Warum etwas einfach machen, wenn es kompliziert auch geht.«

»Sehr richtig«, bestätigte O'Key. »Wann gedenken Sie Ihre Aphorismen in Buchform herauszugeben, Herr Staatsrat?«

»Weiter, weiter, Herr O'Key, ich bin nicht empfindlich. Mich können Sie nicht aufregen…«

»Das glaube ich, Herr Staatsrat. Aber meinen Sie nicht auch, man könnte Ihren Aphorismus auch auf den ganzen Fall anwenden?«

»Finden Sie?« fragte Herr Martinet und ließ auf seiner Stirnhaut ein sanftes Wellengekräusel erscheinen. »Vielleicht haben Sie recht, dann wäre aber die Kompliziertheit schon eine halbe Erklärung. Also, die scheinbare – ich sage mit Absicht die scheinbare – Kompliziertheit des Falles ist ihnen aufgefallen. Wollen Sie mir nicht diese Kompliziertheit näher erörtern?«

»Nun«, meinte O'Key leicht verärgert, »das scheint mir doch klar. Ein sonst ganz harmloser Mensch, korrekt bis zum Äußersten, zieht sich mitten in der Nacht auf einem öffentlichen Platze aus und stirbt. Ein Apotheker, der einen miserablen Ruf als Rauschgiftlieferant hat, wird nach einer Nacht, in der es reichlich lärmend und liturgisch in seinem Geschäfte zugegangen ist, am Morgen bewußtlos aufgefunden und stirbt im Spital. Ein Professor, der sich früher mit okkulten Phänomenen beschäftigt hat, der Morphinist ist, kennt die beiden. Dann finde ich bei dem Apotheker das Stück eines Rezeptes – Hexensalbe – sowie eine Münze, die ohne Zweifel auf das Vorhandensein einer gnostischen Sekte schließen läßt…«

»Woher stammt eigentlich Ihre profunde Kenntnis gnostischer Systeme und Ihre Bekanntschaft mit Attalus III. Philometor, letztem König von Pergamo?«

»Angelesene Weisheit, Herr Staatsrat. Als Achtzehnjähriger habe ich für die ›Versuchung des heiligen Antonius‹ von Flaubert geschwärmt. Und da kommen alle diese gnostischen Sekten vor. Und ein Onkel von mir hat sich sehr für Hexenprozesse interessiert, in einem seiner Bücher war das Rezept vollständig. Es war also nicht schwer, es zu entziffern. Und wenn Sie einmal in Lewins ›Gifte in der Weltgeschichte‹ blättern, werden Sie sicher auf Attalus stoßen; Sie sehen also, ich habe die reine Wahrheit gesprochen, als ich Kommissar Pillevuit mitteilte, das sei alles Bluff.«

»Entschuldigen Sie sich nicht, O'Key; Bluff ist die ernsteste Sache der Welt. Ohne Bluff würde die Welt stillstehen. Glauben Sie mir, auch das Sonnensystem, in dem wir leben, ist nur ein astronomischer Bluff. Ihr Bluff hat übrigens einen Nutzen gehabt, die Leute haben Angst bekommen…«

»Welche Leute, Herr Staatsrat?«

»Das möchte ich eben gerne selber wissen. Sehen Sie, O'Key, ich bin auch in einer schwierigen Situation. Ich habe fast alle Fäden in der Hand, ich kenne die alten Damen, die Tee trinken, sie wären ganz harmlos, diese drei alten Damen, aber es steckt einer dahinter, den ich nicht finden kann…«

»Der Meister der goldenen Himmel, der Mann mit dem hölzernen Gesicht…?«

»Richtig, O'Key, eben gerade dieser Herr. Er paßt verteufelt auf. Kommissär Pillevuit hat Ihnen doch die Geschichte des Bankkassiers und der verschwundenen 30 000 Franken erzählt, nicht wahr? Und daß wir nun Jane Pochon mit dieser Angelegenheit in Verbindung bringen können, nicht wahr? Dabei ist die Jane Pochon im Grunde eine harmlose Natur, hysterisch, jawohl, aber was heißt schließlich hysterisch?«

»Harmlos? Die Pochon?«

»Harmlos in dem Sinne, lieber O'Key, daß sie nur Befehle ausführt. Ich kann aber eine Entlarvung, wie man sagt, nicht meinem guten Kommissär übertragen. Der würde mit seinen riesigen Pfoten alles zerquetschen. Darum hab ich immer auf einen Menschen gewartet, der mir helfen könnte, die Sache in Ruhe aus der Welt zu schaffen. Wir können keine großen Prozesse brauchen, verstehen Sie? Ich habe einen Abscheu gegen Skandale, begreifen Sie? Sie werden mir helfen, O'Key. Sie müssen schauen, daß Sie von den alten Damen einmal zum Tee eingeladen werden.«

»Herr Georg Whistler, dem ich heute abend vorgestellt worden bin, hat eine Einladung erhalten…«

»Äpfuuuh«, schnaufte Herr Martinet, »wenn ich nicht eine so ausgezeichnete Kinderstube genossen hätte, würde ich jetzt fluchen. Diese Frechheit! Aber desto besser. Sie wissen doch, wer George Whistler ist?«

»J, Herr Staatsrat.«

»Gut, ich werde mit dem Maha… mit Herrn George Whistler sprechen. Wir werden einen Plan vereinbaren.«

»Kennen Sie den Sohn der Witwe Pochon?«

»Den Jules? Von weitem, ja. Warum?«

»Halten Sie den auch für harmlos?«

»Ach, lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem ›harmlos‹. Im Grunde genommen sind alle Menschen harmlos. Sie tun nur manchmal so, als ob sie dämonisch wären. Jules?« Herr Martinet ließ zehn Rauchwölkchen aus seiner Pfeife steigen, so daß seine Nachdenklichkeit gerade dreißig Sekunden währte. »Einen Raubüberfall hat er auf alle Fälle auf dem Kerbholz. Das weiß ich ganz bestimmt. Damals ist ihm dafür eine tüchtige Tracht Prügel verabfolgt worden. Ich habe mir sagen lassen, er habe sich an einem seiner Bestrafer gerächt, und den andern wolle er sich auch noch kaufen…«

»Von wem haben Sie sich das sagen lassen, Herr Staatsrat, von Ihrer geheimen Privatpolizei?«

»Sie brauchen nicht anzüglich zu werden, werter Freund. Ich gleiche hierin Napoleon, und es ist nicht die einzige Ähnlichkeit, die ich mit diesem Genie teile. Sie wissen, daß der Kaiser seine privaten Spitzel hatte, die Fouché überwachen mußten, aber Fouché war klüger als der Kaiser und kaufte sich die Spitzel. Mir kann man meine Privatspitzel nicht fortkaufen. O nein! Die sind dressiert, sage ich Ihnen! Und ich brauche sie. Man muß so etwas haben, will man in der Politik Erfolg haben. Ich kann dann meinen Untersuchungsrichter, meinen Staatsanwalt überraschen. Das gibt so kleine Triumphe, die als Annehmlichkeiten des Lebens nicht zu verachten sind.«

»Aber Herr Staatsrat, ich bitte Sie, erklären Sie mir, wie Sie indische Petroleumquellen, amerikanische Missionare als Delegierte der Standard-Oil, Geheimagenten der Sowjets, basilidianische Gnosis, Giftpflanzen, Hexenrezepte, indische Maharajas, an lebendem Material experimentierende Psychologen, verschwundene Psychiatrinnen, als irrsinnig eingelieferte harmlose Menschen, den Meister der goldenen Himmel mit dem Holzgesicht, gestohlene und wieder auftauchende Mappen, und zum Schluß noch teetrinkende alte Damen unter einen Hut bringen wollen!« O'Key hatte sich in Eifer geredet und wischte sich die Stirn.

»Äpfuuuh«, sagte Herr Martinet, wieder wanderte sein Taschentuch über die Glatze. »Glauben Sie nicht, daß ein italienischer Salat zuerst aus Blumenkohl, Bohnen, Tomaten, Rettich, Eiern, Öl, Senf bestanden hat? Ist die Mischung dieser Ingredienzen ein Mysterium? Oder, um mich Ihrer Begriffsfähigkeit noch besser anzupassen: Sie gehen von dem falschen Standpunkt aus, daß ein sogenanntes kriminelles Problem mit einem Schachproblem vergleichbar sei. Natürlich, diese Theorie finden Sie in allen Schmökern vertreten. Und bei einem Schachproblem handelt es sich selbstverständlich darum, den Schlüsselzug zu finden. Dieser Schlüsselzug ist gewöhnlich so haarsträubend idiotisch, daß er in einer regelrechten Partie unmöglich wäre, weil in einer Partie eben zwei Persönlichkeiten miteinander kämpfen, die seelische Verfassung der beiden Kämpfer, ihr Charakter doch die ausschlaggebende Rolle spielt. Darum ist eben ein Schachproblem etwas Ausgefallenes, Totes. Das Leben, mein lieber Journalist, ist viel komplizierter. Nehmen wir Ihren Freund zum Beispiel, den russischen Agenten Nummer Zweiundsiebzig, der sich hier Baranoff nennt. – Staunen Sie nicht, ich sage Ihnen ja, ich bin auf dem laufenden. – Also, dieser Baranoff: er ist nicht nur Mitglied der Dritten Internationale, bewegt sich also nicht nur, wie der schwarze Läufer im Schachspiel, auf den schwarzen Diagonalen, Ihr Baranoff ist daneben noch ein Mensch, der sich außerordentlich kompliziert benimmt, weil er egoistisch ist, weil die Ideen, auf die er schwört, auch wenn sie volksbeglückend sind, nicht notwendig auch das Individuum Baranoff befriedigen. Wer garantiert Ihnen, daß Baranoff, den ich übrigens schon seit langer Zeit im Auge behalte – er führt interessante Telephongespräche, wissen Sie das? – nicht auch für die eigene Tasche arbeitet? Das nur als Beispiel.«

»Was für Telephongespräche, Herr Staatsrat?«

»Das möchten Sie gerne wissen? Sie waren doch heute morgen in Bel-Air? Nicht wahr? Ist da nichts vorgefallen?«

»Doch, wir haben einiges, das heißt Fräulein Lemoyne hat mit meiner Hilfe einiges aus einem Patienten namens Nydecker herausgeholt, und nachher ist der Patient an einer harmlosen Spritze gestorben…«

»Was Sie nicht sagen? An einer Spritze gestorben? Und wenn ich Ihnen nun verrate, daß gestern ein Anruf Baranoffs aufgefangen worden ist, der besagte, der Patient müsse stumm gemacht werden, würden Sie dann die Spritze auch als harmlos bezeichnen?«

»Aber warum haben Sie dann das Unglück nicht verhindert, Herr Staatsrat?«

»Weil ich gerne Pikett spiele. Und die Hauptsache beim Pikett ist das Ablegen, verstehen Sie? Karten, die man nicht brauchen kann, legt man ab, nimmt neue auf. Das habe ich Ihnen doch erklärt, nicht wahr? Ich will keine Probleme. Heutzutage hat alle Welt Probleme. Wir ersticken in Problemen. Ich liebe nur Tatsachen. Die Tatsachen, die mir nicht passen, lege ich ab, und spiele mit den Tatsachen, die mir besser passen. Nicht? Wollen Sie meine Methode einmal probieren?«

»Aber gern…« O'Key saß da mit offenem Mund, raffte sich zusammen und versuchte zu spötteln: »Ich hab gar nicht gewußt, daß Sie eine ganz neue Methode zur Lösung krimineller Rätsel ausgearbeitet haben!«

»Spotten Sie nur, junger Freund, ich habe doch recht. Und ich will es Ihnen beweisen. Haben Sie gehört, daß im letzten Jahresbericht der kantonalen Irrenanstalt Bel-Air mitgeteilt wird, die Aufnahmen hätten sich gegen die früheren Jahre auffallend vermehrt? Alle diese Leute zeigten die gleichen Symptome: die Männlein und Weiblein, die eingeliefert wurden, hörten Stimmen, fühlten sich verfolgt, sprachen vom Fliegen. Das steht natürlich nicht im Jahresbericht, das hab ich sonst erfahren. Viele wurden schon nach Ablauf einer Woche, manche nach zwei Wochen als gebessert entlassen. Und die Ärzte haben sich über diese prompten ›Remissionen‹ weidlich gewundert. Verstehen Sie, wohinaus ich will?«

»Nein, Herr Staatsrat.«

»Nicht? Und dabei haben Sie eine Freundin, die Seelenärztin ist! Dabei zitieren Sie tiefsinnige Stellen, von römischen Historikern, die den Feldzug gegen die Parther schildern und von einem Kraut erzählen, das die Menschen wahnsinnig mache, bevor es sie töte. Lassen Sie sich einmal von Fräulein Lemoyne etwas über die Meskalinversuche Behringers erzählen. Das sind Tatsachen, keine Probleme. Tatsachen, die ebensoviel wert sind wie eine hohe Septim im Pikett und man ist am Ausspielen. Und daß ich am Ausspielen bin, wenn die Partie beginnt, dafür will ich garantieren. Was brauchen Sie noch mehr? Stört Sie die Rolle des Professors? Besessenheit braucht nicht immer dämonisch zu sein. Es gibt auch eine wissenschaftliche Besessenheit. Der alte Professor hat doch allerlei ›Probleme‹ gewälzt, hat Schlafkuren gemacht. Und Schlafkuren wozu? – Um Geisteskrankheiten zu heilen, nicht wahr? Aber kennen Sie die wissenschaftliche Mentalität? Ich will es Ihnen leichtfaßlich darstellen: es genügt den Herren nicht, einen Menschen gesund zu machen, sie wollen, wenigstens die Besessenen unter ihnen, auch die Ursache der Krankheit wissen. Mit andern Worten: es muß bewiesen werden, wie aus einem geistig Gesunden ein Verrückter wird. Und da haben Sie ja alles beieinander, die ganze Theorie unseres Professors: Geisteskrankheiten, hat er einmal gesagt, sind erstens Vergiftungen und zweitens Besessensein. Was wollen Sie eigentlich noch mehr? Sie haben einen okkulten Zirkel und Sie haben die Gifte. Können Sie sich einen günstigeren Boden für Versuche vorstellen? Ich bin sicher, daß Sie etwas Ähnliches gedacht haben, heute morgen, bei dem Assoziationsversuch…«

»Wer hat Ihnen davon erzählt?« fragte O'Key angstvoll.

»Oh«, sagte Herr Martinet, klopfte mit heftigem Geräusch die Pfeife aus, leerte sein Glas auf einen Zug und blies sich auf, »der Staatsrat Martinet ist alt, zugegeben, er ist dick, auch zugegeben – aber glauben Sie, daß dies ein Grund ist, von klugen Frauen verachtet zu werden?«

»Sie wissen, wo Fräulein Lemoyne ist?«

»Aber natürlich, lieber Freund, ich weiß, wo sie ist. Sie ist in Gefahr, vielleicht – nein, brausen Sie nicht auf. Die Gefahr ist vorbei. Ich habe ihr Instruktionen gegeben. Kurz bevor Sie kamen, wurde mir angeläutet. Es ist alles in Ordnung. Sie schläft jetzt. Stören Sie sie nicht. Aber Fräulein Lemoyne hat leider nicht den Meister zu sehen bekommen. Er war abwesend. Er hatte zu tun. Trägt Fräulein Lemoyne eigentlich gerne kurze Ärmel? Nein? Nun, Sie werden sich mit dem Zeichen in der Ellbogenbeuge befreunden müssen. Sie wird es auch tragen…«

»Das Hexenzeichen?« fragte O'Key atemlos.

»Das Hexenzeichen!« Herr Martinet nickte lange und ausgiebig.

»Eine Tätowierung! Ich habe es schon immer behauptet.«

»Ja, Master O'Key, hier haben Sie die richtige Methode gebraucht. Pillevuit hat's mir erzählt. Sie haben zwar wieder geblufft und etwas von der Teufelskralle erzählt… Die Teufelskralle, die in den Hexenprozessen des Mittelalters eine große Rolle spielte. Aber hat je einer der Historiker der Hexenprozesse den einfachen Gedanken erfaßt, es könne sich bei diesem Teufelszeichen um ein Erkennungsmerkmal handeln, gewissermaßen um eine Mitgliedskarte des ›Vereins zur Hebung des Flugverkehrs auf den Blocksberg‹…«

»Aber die gebündelten Drähte? Die gebündelten Drähte, die man in drei Fällen gefunden hat…«

»Wenn Sie Geheimnisse vor mir haben wollen, mein Herr«, sagte Herr Martinet mit eisiger Verachtung, »dürfen Sie sich nicht versprechen. Ich weiß nur von zwei Fällen, bei denen die gebündelten Drähte gefunden worden sind: bei jenem Sekretär und beim Apotheker Eltester. Ist ein neuer Fall zu Ihrer Kenntnis gelangt?«

»Das heißt… nein… oder…«

»Geben Sie sich keine Mühe, O'Key. Ich habe so eine Ahnung, als sei heute abend noch etwas passiert – und Sie waren dabei. Sie haben Verschwiegenheit versprochen. Gut. Halten Sie Ihr Versprechen. Ich will Sie nicht drängen. Es geht dann alles im gleichen Aufwaschen. Wir sprachen von den Drähten. Nicht wahr, die Drähte paßten so gut zu der Theorie der intravenösen Injektion, der alte Professor hat ja selbst in diese Richtung gewiesen – begreiflich übrigens. Sie waren wohl nie neugierig genug, sich den Unterarm des Professors zeigen zu lassen? Nicht? Er hat oft versucht, falsche Spuren vorzutäuschen. Natürlich, Morphinisten gebrauchen derartige Drähtchen, um ihre Hohlnadeln zu reinigen. Aber Sie wissen doch sicher, gerade so gut wie ich, wie man tätowiert. Spielen da nicht auch Drahtbündel eine Rolle? Und nun gehen Sie weiter. Es ist doch unpraktisch, jedesmal den Ärmel zurückstreifen zu müssen, um das Erkennungszeichen zu zeigen. Wie leicht kann man für verrückt gehalten werden. Aber das Drahtbündel als Erkennungsmarke, denken Sie an meinen Mitgliedskartenvergleich, ist es nicht praktisch, unauffällig?«

»So daß Sie, Herr Staatsrat…«

»Jetzt werde ich Sie einmal historisch verblüffen. Um 1850 lebte in Münster ein Mechaniker namens Braunscheidt, der ein Kurpfuscher war. Um Nervenschmerzen zu heilen, nahm er ein Nadelbündel, stach damit in die schmerzende Stelle und rieb dann die leichtblutenden Wunden mit Krotonöl, einem ziemlich gefährlichen Hautreizmittel, ein. Durch diese Behandlung wurde die Stelle später dunkel pigmentiert. Diese Kur wurde dann nach dem Mechaniker Braunscheidtismus genannt. Und die Nadelbündel hießen ›Lebenswecker‹. Sie müssen immer eins bedenken, Verrücktheiten gehen nie verloren!«

Herr Martinet gähnte laut und gründlich. Dann sagte er noch:

»Wir wollen schlafen gehen, O'Key. Morgen, eigentlich sollte ich ›Heute‹ sagen, wird es einen anstrengenden Tag geben. Auf welche Zeit lautete die Einladung, die der Ma…, die Herr George Whistler erhalten hat?«

»Auf fünf Uhr, morgen nachmittag.«

»Nun ja, das ist ganz günstig. Rufen Sie mir den Patron, ich werde heute hier übernachten. Wenn ich jetzt heimginge, könnte es mir vielleicht passieren, daß ich mich um vier Uhr morgens auf der Place du Molard splitternackt wiederfinde. Und wissen Sie, ich bin für die Moral meiner Polizisten verantwortlich.«

»Sie meinen, Herr Staatsrat…«

»Ich meine nicht, ich weiß. Es ist diese Nacht bei meinem Freunde Whistler eingebrochen worden. Das gefällt mir nicht. Als Gegenzug ist zwar heute nachmittag beim Professor eingebrochen worden – aber, sicher ist sicher. Was ist los, O'Key?«

O'Key hatte während des Gespräches in all seinen Taschen nach einem Schnupftuch gesucht. Jetzt stieß er plötzlich ein leises »Ah!« aus, zog seine Hand aus der Tasche, auf seinem Daumen bildete sich ein kleiner Blutstropfen. O'Key wurde bleich.

»Schnell«, keuchte er. »Herr Martinet, binden Sie mir den Arm ab. Sonst…«

»Na, na«, sagte Herr Martinet gemütlich, »tragen Sie Klapperschlangen oder Kobras in Taschenformat bei sich? Was ist los? Ich will Ihnen ja gern die Freude machen mit einer Bandage… aber wozu, lieber Freund?« Klein und dick stand Herr Martinet vor O'Key, der auf einen Stuhl gesunken war.

»Hier, sehen Sie, der Giftpfeil, der heute auf den Professor abgeschossen worden ist…« O'Key zog den winzigen Kautschukball aus der Tasche, die Spitze der Hohlnadel war leicht von Blut gerötet. Herr Martinet fiel auf einen Stuhl und begann zu lachen. Es war ein elementares Ereignis, dieses Lachen. Herrn Martinets Fettpolster hüpften, sie hüpften am Kinn, auf der Brust, über dem Bauch, schließlich sprangen zwei Knöpfe seiner Weste ab und schepperten über den Boden.

»Er will bluffen!« keuchte Herr Martinet, gluckste wie eine Henne, bekam den Schluckauf. »Er will bluffen, der junge Mann will bluffen und fällt auf den erstbesten Schwindel herein. Geben Sie das Ding. Schauen Sie.« Herr Staatsrat Martinet litzte die Ärmel zurück, stach sich die Nadel in den Unterarm, preßte den kleinen Kautschukballon mit Daumen und Zeigefinger. Es gab eine kleine Geschwulst unter der Haut.

»Schwindel, lieber O'Key, nichts als Schwindel. Pillevuit wäre darauf nie hereingefallen. Der Professor ist nämlich schon einmal zu ihm ins ›Palais‹ gekommen, mit einem ähnlichen ›Pfeil‹. Destilliertes Wasser fand man bei der Untersuchung.«

»Aber warum…?« stotterte O'Key.

»Warum? Die alte Geschichte. Sie glauben noch immer an die alte Geschichte mit dem schwarzen Läufer, der nur die schwarzen Diagonalen benützen darf. Ein Wissenschaftler geht der Wahrheit nach, gut. Aber irgendwo muß die Lüge, die in uns allen sitzt, die Phantasie meinetwegen, heraus. Kein Mensch denkt daran, dem Professor ein Leids zu tun. Ja, mein Staatsanwalt will ihn einsperren. Aber das hat noch Zeit. Doch nicht einmal der ›Meister der goldenen Himmel‹ denkt daran, den Professor zu töten. Dominicé aber kann es nicht vertragen, nicht wichtig genommen zu werden. So erfindet er kleine Mordanschläge…«

»Ja, aber die Fliegen…«, wollte O'Key beschämt wissen.

»Ja, die Fliegen sind eine Tatsache. Eine schwer erklärbare Tatsache, aber so wirklich wie meine heutige Septim im Pikett. Gute Nacht, O'Key, ich bin schon ganz heiser. Von mir hören Sie heute abend kein Wort mehr.«

Dann stand O'Key auf der Straße. Seine Wohnung war nicht weit. Er zog sich im Dunkeln aus. Er hatte Angst, in einen Spiegel zu blicken, so sehr fürchtete er sich vor dem dummen Gesicht, das ihm entgegensehen würde.

3

O'Key lag im Bett und hatte sich vorgenommen, sogleich einzuschlafen. Er drehte sich gegen die Wand, schloß die Augen, rollte sich zusammen, steckte die zusammengelegten Hände zwischen die Schenkel und atmete tief. In der Ferne schlug eine Turmuhr. Das Fenster stand offen, aber die Luft im Zimmer war dick und behinderte das Atmen. O'Key wälzte sich auf die rechte Seite. Vor seinen geschlossenen Augen entstanden Bilder, vorüberhuschende Bilder: der Missionar mit dem wie aus Holz geschnitzten braunen Gesicht, der im Hause der Witwe Pochon verschwunden war. Er hörte sich zum Colonel sagen: »Ich glaube, es wird langsam klarer!« Das war renommiert, das war unanständig aufgeschnitten. O'Key seufzte und fühlte, wie er im Dunkeln rot wurde. Dann sprang das Bild auf seinen Lidern ins Dunkle, ein neues entstand. Er sah Madges Zimmer, sah den kleinen Nydecker an der Hand des gelben Oberwärters aus der Türe gehen, er sah Madges Verzweiflung nach der Mitteilung am Telephon. Abblenden. Neues Bild. Und dieses Bild war verzweifelt deutlich, obwohl oder besser, weil er es nie gesehen hatte. Er sah Madge in einem dunklen Zimmer, der junge Pochon, der aussah, wie seine Mutter aussehen würde, wenn sie eine Entfettungskur durchgemacht hätte. Jules Pochon hielt ein Bündel Drähte in der Hand, er hielt Madges Arm in der Linken, er stach zu, beschmierte die Stelle mit einem scharfen Öl… Madges Gesicht war leblos und bleich…

Mit einem Ruck warf O'Key die Decken zurück, stand auf, kleidete sich eiligst an. Da kam durchs Fenster das vielstimmige Schlagen der Turmuhren; sie schlugen die Stunde: O'Key zählte. Es war drei Uhr morgens.

Um drei Uhr morgens war kein Taxi aufzutreiben. Bis zur Villa des Mimosas war es weit. O'Key rechnete. Zu Fuß brauchte er etwa dreiviertel Stunden. Er beschloß, einen Dauerlauf zu probieren, und legte los. Seine langen Beine kamen ihm zustatten.

Als er am Hotel an der Route de Chêne vorbeitrabte, lag es still da. Aus der Ferne kam ein Surren näher. O'Key hoffte, das Surren kündige ein Taxi an. Aber es war ein Privatauto. Wieder, wie schon einmal in dieser Nacht, drückte sich O'Key in einen Hausgang. Der Morgen war nicht weit. Grau und glänzend war der Himmel, wie das Fell eines Apfelschimmels.

Aus dem Auto stieg – wahrhaftig, Kommissar Pillevuit entstieg dem Auto! Zwei Männer begleiteten ihn. Den einen kannte O'Key, es war Herr Dériaz, der so lange das Haus des Professors bewacht hatte; die verbeulten Hosenknie, die fettige Krawatte verrieten ihn. Einen Augenblick zögerte O'Key. Sollte er Pillevuit anrufen? O'Key beherrschte sich. Kommissar Pillevuit war ›Im Dienst‹ – ›dans l'exercice de ses fonctions‹ – besser, man ließ ihn in Frieden. Pillevuit läutete nicht, er probierte die Klinke der Haustür, das Tor ging auf. Pillevuit verschwand mit seinen Trabanten. O'Key setzte seinen Dauerlauf fort.

Still lag die Villa des Mimosas inmitten ihrer hohen Laubbäume. O'Key ging um das Haus, auf der Suche nach seinem Motorrad. So kam er auf die Hinterseite des Hauses. Inmitten des parkähnlichen Gartens war ein Stück Land freigelassen, als Garten angelegt. Stauden wuchsen da, vor jeder Staude steckte eine breite, gelbe Etikette im Boden. O'Key beugte sich nieder, um das Geschriebene darauf zu entziffern. Es waren merkwürdige, unbekannte Zeichen. O'Key schüttelte den Kopf. Wer war auf die ausgefallene Idee gekommen, Pflanzen in Geheimschrift anzuschreiben? Ein paar Stauden waren immerhin an den Blättern zu erkennen. Verschiedene Sorten von Akonit, von Eisenhut – ah, und da war Bilsenkraut. Dann kamen ausländische Pflanzen mit dicken, fettigen Blättern. Am Ende des Gartens, dort, wo schon wieder der Park mit seinen Bäumen begann, stand ein einstöckiges Haus, ein grauer Zementwürfel mit Flachdach. Keine Fenster. Als O'Key näher trat, bemerkte er, daß die einzige Öffnung des Baues eine Türe war, eine eiserne Türe. Zwei Yale-Schlösser sicherten sie.

»Jaja«, sagte O'Key ziemlich laut, so als hätte er hier eine Bestätigung seiner Vermutungen gefunden. Dann ging er zu der Villa zurück. Dort lehnte sein Motorrad. André hatte gut gearbeitet. Die Pneus waren hell. Sachte stieß O'Key das Rad vor sich her, saß auf, als er die Straße erreicht hatte. Der Motor benahm sich wie eine Schnellfeuerkanone. O'Key fuhr davon.

Etwa hundert Meter vor der Anstalt Bel-Air hielt O'Key an und führte sein Motorrad in ein Gebüsch. Dann ging er vorsichtig weiter, im Schutze einer Hecke, orientierte sich, ging um die Umfassungsmauer herum, kam auf ein freies Feld. Endlich erblickte er den Pavillon, in dem Madge wohnte. Leise schlich er näher, legte die Unterarme auf den Fenstersims – das Fenster war offen. Und während er noch überlegte, ob er rufen solle oder ohne weiteres eindringen, bewegten sich die Vorhänge, zwei braune Pfoten teilten sie, eine struppige Schnauze erschien, und Ronny wuffte leise.

»Hello, Ronny«, murmelte O'Key, »wieder zurück? Was macht die Meisterin?«

Ronny grunzte friedlich und nickte, legte die Schnauze auf O'Keys verschränkte Hände und blickte ruhig in die Augen des Freundes. »Kann man eintreten, Ronny?« fragte O'Key. Ronny verstand sehr gut. Er schenkte dem frischen Morgen noch einen sehnsüchtigen Blick (O'Key verstand den Hund gut, der wäre gerne auf einen Morgenausflug ausgerückt, aber er mußte die Meisterin bewachen, es war genug, daß er sie einmal verloren hatte), dann machte er Platz, und das Schütteln seines Hundehauptes sah aus wie eine Einladung zum Nähertreten. O'Key zog die Schuhe aus, stellte sie sanft auf den Boden des Zimmers, schwang sich auf den Sims und betrat vorsichtig das Zimmer.

Fräulein Dr. med. Madge Lemoyne sah gar nicht wie eine Ärztin aus. Sie lag da wie ein betrübtes kleines Mädchen, das sich in den Schlaf geweint hat. Ihre Wange lag auf den gefalteten Händen, die Decke hing schief vom niederen Bett herab, langsam rutschte sie auf den Boden. Auf den Zehenspitzen trat O'Key näher, sehr vorsichtig packte er die rutschende Decke und legte sie über die Schlafende. Dann, immer noch mit größter Vorsicht, packte er den Klubsessel, stellte ihn neben das Bett, ließ sich sachte hineingleiten und starrte dann auf die Schlafende.

Er vergaß alles. Er sah nur das Gesicht, das nicht schön war, aber das ihm gefiel. Seine Hand hob sich (er selbst wußte nichts davon), legte sich auf die kurzen Haare, die sich weich anfühlten, trotzdem sie wirr um den kleinen Kopf standen. Und er glättete sachte die Haare. Madge schlief weiter. Aber sie fühlte doch die Anwesenheit eines freundlich Gesinnten, denn ihre Lippen, die weinerlich verzogen waren, entspannten sich, öffneten sich ein wenig. Die Zähne zeigten sich breit, sehr weiß; Madge lächelte im Schlaf. Dann begann der Mund sich zu bewegen, er schien ein Wort bilden zu wollen. O'Key beugte sich vor und hörte deutlich: »Simp, dear Simp.«

Herzklopfen braucht nicht immer eine bedrückende, krankhafte Äußerung unserer Physis zu sein. Wenigstens stellte O'Key dies jetzt mit Erstaunen fest. Es war ihm selten passiert, an Herzklopfen zu leiden. Aber nun trommelte es dröhnend in seiner Brust, er fürchtete, es könne so laut tönen, daß die Schläferin von dem Geräusch erwachen würde. Darum beugte er sich vor und küßte Madge auf die Schläfe. Die Haut war weich, ein paar kurze Härchen kitzelten ihn an der Nase, er fuhr zurück, weil er spürte, daß sich ein Niesen meldete. Und obwohl er das Niesen unterdrückte, so gut er konnte, entstand doch ein so heftiger Knall, daß Madge die Augen aufschlug und sich erstaunt umsah. Es war kein Schrecken in ihrem Gesicht, und das, fand O'Key, war allerhand, nach allem, was sie wohl durchgemacht hatte. ›Sie hat meine Anwesenheit gespürt!‹ dachte er stolz. (Es ist merkwürdig, daß wir gerade auf solche unscheinbare Dinge stolz sind, zum Beispiel, daß Leute, die wir gerne haben, unsere Anwesenheit merken.)

»Ich hab gewußt, daß du kommen wirst, Simp«, sagte Madge leise. »Du bist zum Fenster hereingekrochen?« Sie lachte zufrieden, und O'Key war glücklich über das Lachen. »Setz dich daher, Simp«, sie klopfte mit der Hand auf den Bettrand. »So. Ich rutsche gegen die Wand. Hier hast du ein Kissen, da kannst du deinen Kopf dranlehnen. Und das kleine Kissen da leg ich auf deine Knie. Und du hältst mich fest und dann schlaf ich weiter.«

O'Key brachte seine langen Beine auf dem Bett unter. Er nahm einen Zipfel der Decke, um ihn über seine Füße zu breiten (es kam ein frischer Wind vom Fenster).

»Wie spät ist es, Simp?« fragte Madge, verschlafen, wie ein Kind. »Halb vier? Heut schlaf ich aus. Ich geh nicht zum Rapport. Ist Ronny da?« Ronny meldete sich, auch er durfte auf dem Bett Platz nehmen; er rollte sich zusammen, grunzte, schlief ein. Madge seufzte tief auf. Sie nahm O'Keys eine Hand, legte sie sich unter die Wange, die andere Hand legte sich von selbst auf Madges Kopf. »Gott, bin ich müde«, gähnte sie und streckte die Arme. Da fielen die Ärmel ihres Pyjamas zurück. In der linken Ellbogenbeuge war ein großer roter Fleck, der aussah wie eine beginnende Entzündung. Madge schien O'Keys Blick zu fühlen. Sie lächelte.

»Das hab ich schwer verdient«, sagte sie leise, »und das ist mein Orden. Ich bin sehr stolz darauf.«

»Aber«, sagte O'Key vorwurfsvoll, »warum hast du mir nichts gesagt, ich hätte dich begleiten können, du wärst doch nicht ohne Schutz gewesen.«

»Ach«, sagte Madge, »du warst so oft in Gefahr, du hast so viel erlebt. Ich hab dir nur zeigen wollen, daß auch ich tapfer bin.«

»Gute, kleine Frau«, sagte O'Key mit etwas heiserer Stimme.

»Sag, Simp, bist du auch oft auf den Bäumen gesessen, wie du klein warst? Weißt du, ich hab damals einen kleinen Freund gehabt, der sah aus wie du. Und den hab ich so gern gehabt wie…«

»Ja«, sagte O'Key schnell, er haßte Liebeserklärungen, »ja, ich bin immer auf die Bäume geklettert und dann dort hocken geblieben. Mein Onkel hat immer behauptet, ich sei ein Affe.«

»Vielleicht bist du einer«, sagte Madge müde. »Aber jetzt will ich schlafen. Weißt du«, und ein kleines Zittern war in ihrer Stimme, »weißt du, daß der arme Thévenoz wahrscheinlich tot ist?«

»Ich hab ihn sterben sehen…« sagte O'Key. »Der Professor war auch dabei.«

»Der arme Thévenoz, er war auch ein tapferer Kerl«, zwischen den geschlossenen Lidern sickerten Wassertropfen hervor. Madge suchte unter den Kissen verzweifelt nach ihrem Taschentuch, dann schneuzte sie sich geräuschvoll. Sie lag dann eine Weile ruhig, plötzlich sagte sie mit leiser Stimme:

»Du, Simp, ist das Meer schön? Ich mein' das Mittelmeer?«

»Ja, das ist schön. Besonders in der Nacht, wenn man mit den Fischern hinausfährt.«

»Nimmst du mich mit, wenn du dorthin zurückfährst?«

»Doch, ich werd dich schon mitnehmen.«

»Dann ist's ja gut. Du, wie kommt das, daß wir französisch zusammen reden… ?«

»Ach«, sagte O'Key, »weil es im Englischen kein ›Du‹ gibt.«

4

Baranoff, der Agent der Dritten Internationale, Nummer 72, erwachte durch ein Pochen an der Tür und war erstaunt, sich angekleidet in seinem Lehnstuhl sitzen zu finden. Durch die vorgezogenen Gardinen sickerte spärlich graues Licht. In diesem Licht nahm Baranoff (immer noch auf der zweiten Silbe betont) auf dem Tisch eine Flasche und zwei leere Gläser wahr. Auf der Etikette dieser Flasche las er, unter zwei Zeilen in Kleinschrift, die er nicht zu entziffern vermochte, groß das Wort ›Anisette‹. Mechanisch griff er in seine Tasche, zündete dann eine Zigarette mit Kartonmundstück an, aber während das Zündholz noch matt im Dämmerlicht leuchtete, wiederholte sich das Pochen an der Tür.

»Herein!« quäkte Baranoff.

»Wenn Sie nicht sofort öffnen, drücken wir die Türe ein«, sagte draußen drohend eine Stimme.

»Nanu!« meinte Baranoff gemütlich, plötzlich war er hell wach, die Situation war ihm nicht unbekannt. »Wer ist denn da?« Übrigens wußte er die Antwort genau.

»Polizei!« erwiderte die gleiche drohende Stimme.

»Sofort, sofort!« Die nun folgende Erinnerung, die wir ausführlich wiedergeben müssen, dauerte in Baranoffs Kopfe nicht länger als drei Sekunden, die dazu benützt wurden, den Zimmerschlüssel zu suchen. Und während er ihn suchte, sah er folgendes:

Am vorhergehenden Abend ißt er bei einem Italiener zu Nacht, ausgezeichnete Ravioli und Pepperonisalat, dazu trinkt er samtenen Barbera, vertilgt dann ein Stück Gorgonzola, genehmigt noch eine Flasche Barbera und steigt dann, gegen zehn Uhr, in ein Taxi, um heimzufahren. Er ist in glücklicher Stimmung, obwohl er eigentlich hätte erbost sein sollen, weil seine Sekretärin ihn im Stich gelassen hat. Das Taxi rumpelt, Baranoff hat sich in die abgeschabten Kissen zurückgelehnt und raucht eine Zigarre. Plötzlich, an einer Straßenecke, erspäht er einen Bekannten. Ein mageres Bürschchen, mit eingefallenem Brustkasten, und was hält das Bürschchen unter dem Arm? Eine Mappe. Das Bürschchen ist in ein Gespräch mit zwei Herren vertieft. Der eine der Herren hat jene bekannte rote Gesichtsfarbe, an die es unnötig ist, noch einmal zu erinnern, der andere ist hager, braun, mit einem Gesicht, wie aus Holz geschnitzt. Baranoff läßt zehn Meter hinter der Gruppe halten und beobachtet sie durch das Rückfenster. Die Herren scheinen das Auto erspäht zu haben, denn sie verabschieden sich von dem unheimlich mageren Jüngling, verabschieden sich kurz, ohne ihm die Hand zu geben. Das Bürschchen schlendert in der Richtung des haltenden Autos weiter. Und wie es neben der Türe des Taxis die Schritte verlangsamt, reißt Baranoff diese Türe auf, packt das Bürschchen an der Hand: »Du kommst mit mir!« faucht er bösartig. Das Bürschchen erschrickt und läßt sich ohne Widerstand in den Wagen pferchen. Dort schweigt es.

Vor dem Hotel an der Route de Chêne zahlt Baranoff das Taxi (gut, daß er noch genügend Kleingeld in der Westentasche hat, er darf den Jüngling nicht loslassen) und schleppt Jules Pochon, den Sohn der Haushälterin Professor Dominicés, mit sich die Stufen hinauf in sein Zimmer.

»Wo wollten Sie denn hin, mein Junge?« frägt Baranoff, nachdem er die Tür verschlossen hat, mit übler Herzlichkeit. Der Junge schweigt. Da nimmt ihm Baranoff die Mappe aus der Hand, legt sie auf den Tisch. »Woher hast du sie? Das ist doch Crawleys Mappe?«

Der Junge schweigt.

»Du willst mir nicht sagen, woher du sie hast? Aha, Sir Avindranath Eric Bose will Solo spielen? Das gibt's nicht. Warum hat er mir nicht mitgeteilt, daß die Mappe gefunden worden ist? Du willst nicht reden? Warte!«

Zuerst probiert es Baranoff mit Kognak und Selterswasser. Der Junge schweigt. Dann stopft er dem Jungen ein Taschentuch in den Mund, bindet ein anderes darüber (Herr Baranoff ist, auch wenn er sich in zivilisierten Ländern aufhält, in der Wahl seiner Mittel nicht sehr heikel), versucht es mit Fingerausrenken, mit Daumenumbiegen – der Junge schweigt. Zwar stehen einige Schweißtropfen auf seiner Stirn, aber immerhin weniger als auf der des Herrn Baranoff. »Woher hast du die Mappe?« frägt er immer wieder. Endlich gibt der Junge Zeichen, er wolle antworten. Herr Baranoff, Towarisch Baranoff sollten wir lieber sagen, zieht ein Schießeisen aus der Tasche, mit Schalldämpfer natürlich (man muß modern sein!): »Wenn du brüllst, schieß ich dich nieder. Du kennst mich doch. Du weißt, daß es mir Ernst ist. Erinnerst du dich noch der Prügel, die ich dir bei Eltester verabfolgt habe?«

Der Junge wird bleich, sein Gesicht drückt Haß aus. Dann sagt er leise:

»Die Mappe hab ich im Jardin Anglais gefunden. Ein Journalist hat mir zuvorkommen wollen, aber ich war schneller.«

»Aha«, sagt Baranoff, der stolz ist, O'Key aus dem Felde geschlagen zu haben. Er öffnet die Mappe, zieht die Papiere heraus. Alles bekannte Sachen. Halt, da ist ein gelbes Kuvert. Ein Vertragsentwurf mit der Sowjetdelegation über die Petroleumquellen. So froh ist Agent 72 über die Entdeckung dieses Dokumentes, daß er während des Lesens seine Lieblings-Melodienfolge pfeift: Wolgaschlepper – Valentine – Internationale. »Das kenn ich ja gar nicht, höchst wichtig, das muß versorgt werden. Aber vorerst, damit du dich von deinem Schrecken erholst und weil dir Kognak doch nicht schmeckt, hier…« Baranoff stellt eine Flasche Anisette auf den Tisch, füllt zwei Gläser. »Trink nur!« sagt er gnädig. »Ich will schnell das Dokument versorgen.« Er zieht unter seinem Bett eine Stahlkassette hervor, zieht aus der Hosentasche einen Schlüsselbund, der mit einer stählernen Kette am Hosenträger befestigt ist, schließt auf, versorgt das Kuvert. Dann dreht er sich um. Der Junge steht noch immer vor seinem vollen Glas. »Trink doch«, ermuntert Baranoff. Er stößt mit dem Jungen an, leert das Glas auf einen Zug. ›Merkwürdig‹, denkt er, ›wie stark diese Flasche nach Anis schmeckt. Aber gut ist es. Ich werde den Lieferanten fragen, ob er noch mehr derartige Flaschen auf Lager hat.‹ Ein bitterer Nachgeschmack, der nicht unangenehm ist, bleibt auf seiner Zunge, an seinem Gaumen haften. Dann setzt sich Baranoff in den Lehnstuhl und beginnt den Jungen auszufragen. Was die Mutter treibe. Ob Sir Bose, der Landespfleger, nicht auch die Mappe begehrt habe? Der Junge mault nur, seine Antworten sind wirklich nicht zu verstehen, dunkel kommt es Baranoff vor, als warte der Junge auf etwas. Worauf? Die Augen werden so schwer. Es ist viel Staub zwischen den Lidern und den Augäpfeln. Baranoff blinzelt. Er blinzelt stärker. Das Letzte, an das er sich erinnert, sind die farblosen Augen des Jungen, die lauernd auf ihn gerichtet sind. ›Albinoaugen‹, denkt Baranoff noch und sagt mit teigiger Zunge: »Die Mappe kannst du wieder mitnehmen.«

Diese Erinnerungen, nicht ganz so logisch geordnet, zogen durch Baranoffs Kopf, während er den Zimmerschlüssel suchte. »Ich find den Zimmerschlüssel nicht«, schrie er erbost. »Ich bin eingeschlossen. Holen Sie den Passepartout vom Wirt.«

Draußen entstand Geflüster.

»Gut!« hörte er wieder die Stimme. Dann Trappen. Baranoff ging im Zimmer auf und ab. Er roch an dem einen Glas, das noch auf dem Tisch stand. Der Anisgeruch war verteufelt stark. Er kostete den Tropfen, der noch auf dem Grund des Glases war.

»Somnifen! Natürlich! Was war ich doch für ein Schafskopf.« Darauf fluchte er auf Russisch, es klang wie ›Yoptoyoumatj‹, dann zog Agent 72 umständlich seinen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete seine Kassette: Das gelbe Kuvert, das er hineingelegt hatte, war verschwunden. Als er aber aufs Bett blickte, sah er, recht sichtbar auf das glatte Kopfkissen hingelegt – die Mappe.

Towarisch Baranoff war ein Philosoph. Er zuckte die Achseln. Verstecken hatte keinen Sinn. Übrigens klapperte schon ein Schlüssel im Schloß, die Tür ging auf, und mit wehendem Fahnenbart überschritt Pillevuit die Schwelle. Er sah sogleich die Mappe auf dem Bett, stürzte sich auf sie, blätterte die Dokumente durch, die sie enthielt.

»Im Namen des Gesetzes…«, sagte Kommissar Pillevuit.

»Machen Sie keine Geschichten!« unterbrach ihn Baranoff. »Ich weiß, wenn ich ein Spiel verloren habe. Ich komme schon mit.«

Die Zelle im Stadtgefängnis St. Antoine war hoch. Auch das Fenster war so hoch angebracht, daß man nicht ins Freie sehen konnte. Wie spät war es? Man hatte ihm seine Uhr genommen. So wartete Baranoff geduldig, bis die Kathedrale von St. Pierre die Stunde schlug. Zuerst fühlte sich das öde Glockenspiel verpflichtet, eine Melodie zu wimmern. Dann gab es vier tiefe Schläge. Zu früh, um nach dem Wärter zu klingeln. Baranoff wartete, er saß halb, halb lag er auf seiner Pritsche. Es war ungemütlich, ihn fröstelte im kühlen Morgen. Baranoff machte Bilanz: Sich an die Sowjetdelegation wenden? Unmöglich. Sie würde ihn desavouieren. Dumme Sache. Er war mit einer Mappe gefaßt worden, die einem Ermordeten gehörte. Was machte Natascha? Hatte Natascha ihn verraten? Nein! Dazu war die Frau zu dumm. Und jetzt? Adieu, Burgund, gutes Essen, Wein. Man mußte schauen, einen guten Advokaten aufzutreiben, der eine Entlassung gegen Kaution ermöglichen könnte. Er kannte niemanden. Als um sechs Uhr der Riegel knallte und ein alter Aufseher mit einem weißen Spitzbart die Gamelle mit Kaffee hereinschob, markierte Baranoff eine Ohnmacht.

Der Aufseher schien menschlich zu fühlen, er öffnete die Türe, kam näher, stützte den Towarisch Baranoff und ließ ihn das heiße Gesöff trinken, das sie hier Kaffee nannten. Baranoff stöhnte. Mit ersterbender Stimme verlangte er Papier und Feder. Er wolle an einen Advokaten schreiben. Ob der Herr Oberaufseher (Baranoff war nicht zum erstenmal in einem Gefängnis, er kannte die Eitelkeit der Menschen, die unter dem Gefängnispersonal noch größer ist als draußen), ob der Herr Oberaufseher ihm nicht einen guten Advokaten angeben könne?

Da sagte der alte Mann:

»Ich hab einen Sohn, der bei einem berühmten Advokaten Chauffeur ist. Ein guter Advokat, geschickt, ein wenig teuer…«

»Geld spielt keine Rolle«, sagte Towarisch Baranoff großartig. »Wenn er nur tüchtig ist…«

»Er hat schon viele Politische verteidigt…«, sagte der alte Mann.

»Wie heißt er denn? Und darf ich überhaupt schreiben?«

»Oh«, der alte Mann stellte die Gamelle ab, »Herr Untersuchungsrichter Despine ist nicht so. Natürlich gehen die Briefe durch die Zensur. Aber an Ihren Advokaten dürfen Sie natürlich schreiben.«

»Na, wie heißt denn der große Advokat?« fragte Baranoff ungeduldig.

»Wie er heißt?« wiederholte der alte Mann gedehnt. »Früher hieß er Isaak Rosenstock. Jetzt nennt er sich Rosène.«

»Und… hat… einen… Bruder… der Arzt ist?,« fragte Baranoff stockend.

»Ja, ich glaube… Was ist denn los?«

Baranoff fühlte einen leisen Schwindel, er legte sich aufs Bett zurück, schloß die Augen. Plötzlich reckte er sich auf.

»Ja«, sagte er energisch. »Maître Isaak Rosène wird gerade der sein, den ich brauchen kann. Wollen Sie den Brief in einer halben Stunde holen kommen?«

»Das ist zu früh«, der alte Wärter sprach gemütlich. »Vor neun Uhr ist Herr Despine nie hier, manchmal wird es auch halb zehn.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Baranoff würdevoll. »Aber, da ich mich selbst verköstigen darf, wünsche ich ein anständiges Frühstück: Butter, Käse, Konfitüre, zwei weiche Eier, ein Stück gebratenen Speck und eine halbe Flasche Macon. Verstanden?«

»Ich werde Ihnen Butter und Konfitüre bringen«, antwortete der Alte gemütlich. »Den Rest müssen Sie sich denken. Es ist ungesund, am Morgen so viel zu essen.«

Die Tür fiel zu. Baranoff fluchte…


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