Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

1

»Setzen Sie sich, Irokese, es ist schön, daß Sie sich meiner erinnern. Ich habe Ihnen heute morgen angeläutet, aber Sie waren schon ausgegangen«, sagte Kommissar Pillevuit und streckte O'Key die Hand über den tannenen Schreibtisch entgegen. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich nicht aufstehe. Das Wetter ist daran schuld, mich plagt die Ischias.«

»Bitte, bleiben Sie nur sitzen, ich werde mir einen Stuhl nehmen, ich bin müde, und dann möchte ich Sie fragen, ob wir ungestört eine halbe Stunde sprechen können, ich habe mehrere sonderbare Neuigkeiten für Sie.«

»Ich auch, ich auch«, sagte Pillevuit sorgenvoll und massierte seine Augendeckel. »Es ist viel Unerquickliches geschehen. Aber Sie haben ganz recht, das Bureau eines Kommissars ist ein ungeeigneter Ort für Vertraulichkeiten; wie spät ist es wohl? Was, halb drei? Und ich habe noch nicht einmal zu Mittag gegessen. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten? Ein Glas Wein kann man immer vertragen. Kommen Sie!« Pillevuit stand auf, nahm seinen breitkrämpigen grauen Hut vom Ständer und humpelte zur Tür. »Der Ärger und das Wetter!« sagte er dabei. »Man wird alt, O'Key. Mir ist traurig zumute.«

»Mir auch, Kommissar, und auch ich habe noch nicht zu Mittag gegessen. Wir werden wieder in die kleine Pinte gehen, die Sie mir einmal zeigten, dort können wir in Ruhe sitzen und unsere Angelegenheiten besprechen.«

»Gut, gut«, sagte der Kommissar, dann seufzte er laut. »Sie morden nicht nur in unserem braven Genf, sie brechen auch ein. Und ausgerechnet bei einem Ausländer, übrigens bei einem Landsmann von Ihnen hat man letzte Nacht eingebrochen. Aber merkwürdigerweise nichts gestohlen. Es sieht mehr so aus, als hätten sich die Diebe, denn es waren sicher mehrere, nur über die Örtlichkeit orientieren wollen, um später einmal wiederzukommen. Brr, ist das ein Wetter!«

Der weißgraue Himmel schmolz wie eine schmutzige Schneedecke, und der Regen fiel dicht und alles durchdringend. Pillevuit spannte seinen Schirm auf, und dadurch ähnelte er noch mehr jenen langbärtigen Zwergen, die, zusammen mit bunten Glaskugeln, die sinnige Dekoration kleiner Gärten bilden.

»Und wie heißt mein unglücklicher Landsmann?«

»Unglücklich ist er ja gerade nicht«, antwortete Pillevuit, »ich halte ihn für sehr reich. Und reiche Leute bilden sich ihr Unglück gewöhnlich nur ein. Aber traurig sah er aus, das muß ich immerhin feststellen. Von Sorgen belagert, ja. Übrigens heißt er George Whistler und wohnt in der Nähe von Presinge, im alten Landhaus des Herrn Delarive.«

»So, George Whistler«, sagte O'Key nur. Aber er schien seine Stimme dennoch nicht ganz beherrscht zu haben, denn der kleine Kommissar fragte erstaunt:

»Kennen Sie ihn etwa auch?«

»Auch? Was meinen Sie mit auch?« wich O'Key aus.

»Ach, ich meinte nur so«; Pillevuit stieg die beiden Stufen hinab, die in die kleine Pinte führten, schüttelte seinen Schirm aus und hängte seinen Hut auf. Dann ging er händereibend auf ein Tischchen zu, das nahe am Fenster stand. Die Pinte war leer. Der Patron erschien mit einer weißen Mütze auf dem Kopf, grüßte kameradschaftlich und schlug den beiden vor, ein kleines Menü zusammenzustellen. Eine Omelette aux champignons zum Beispiel, Kalbsleber nachher mit grünen Erbsen und Pommes frites und als Dessert einen Käse. Das gehe alles schnell.

»Jaja«, sagte O'Key ungeduldig. »Und mir bringen Sie irgendein Mineralwasser und dem Kommissar seinen Lieblingswein.«

»Sind Sie etwa gar Temperenzler geworden, lieber Irokese?« fragte Pillevuit. O'Key erklärte, er sei heute morgen zu einem übermäßigen Genuß von Whisky verführt worden und er brauche einen klaren Kopf. Wer ihn denn verführt hätte? wollte Pillevuit wissen. Staatsrat Martinet, lautete die Antwort.

»Eben auf diesen Herrn bezieht sich mein ›auch‹«, sagte Pillevuit. »Martinet scheint diesen George Whistler auch zu kennen, gut zu kennen sogar. Denn der Herr Staatsrat hat mich um elf Uhr auf sein Bureau kommen lassen und mir die Untersuchung über den Einbruch übertragen. ›Takt‹, hat er gesagt, ›mein lieber Kommissar, ich weiß, Sie besitzen Takt. Herr George Whistler ist ein einflußreicher, ein reicher Mann, mir sehr warm empfohlen, und ich möchte, daß alles getan wird, um diesen Herrn zu schützen. Begreifen Sie, lieber Kommissar?‹ Nun, wenn der Herr Staatsrat von jemandem spricht, der ihm warm empfohlen worden ist, so kann man zehn gegen eins wetten, daß der Empfehler ein Drei-Punkte-Bruder ist, ein Freimaurer. Aber das geht mich schließlich nichts an. Auf Ihr Wohl, Irokese, und blicken Sie nicht so trüb drein. Liebeskummer?«

»Nein, nein, wo denken Sie hin, Kommissar.« O'Key trank einen Schluck Vichy, verzog den Mund. »Bitte, schenken Sie mir etwas von Ihrem Wein, so, danke. Mineralwasser erinnert mich immer an Karlsbadersalz. Was ich sagen wollte… Die Kalbsleber ist ausgezeichnet. Nicht wahr? Und dieser Einbruch?«

»Bedeutungslos, soweit es die Feststellungen betrifft. Eine Hintertür, die mit einem Nachschlüssel geöffnet worden ist, verwischte Abdrücke staubiger Schuhe im Salon, und diese Abdrücke sind auch vor der Tür des Schlafzimmers festzustellen, die, wie mir Whistler mitteilte, stets verschlossen ist. Sonst nichts. Ich habe den Herrn gefragt, ob ich ihm eine Leibwache dalassen solle, man kann sich doch nicht lumpen lassen, wenn als empfehlende Instanz ein Herr Staatsrat auftritt – aber der Whistler wollte nichts davon wissen. Da bin ich wieder zurückgefahren. Hätte ich doch nur eine kleine Autotour nach Savoyen gemacht, dann wäre mir vieles erspart geblieben.« Pillevuit seufzte gründlich und zerstieß den Roquefort in kleinste Krümel, die er dann mit Brot auftupfte.

O'Key bewahrte ein teilnahmsvolles Schweigen, und Pillevuit fuhr fort:

»Unser Staatsanwalt, René Gontran Philippe de Morsier, ist übergeschnappt. Ja. Aber behalten Sie das für sich. Er hat getobt, wie ein Teufel, der sich aus Versehen in ein Weihwasserbecken gesetzt hat. Er hat mir Grobheiten gesagt, wie sie mir noch kein Mensch zu sagen gewagt hat. Und warum? Weil wir die Jane Pochon einem Verhör unterzogen haben und – jetzt hören Sie gut zu – weil wir Professor Dominicé noch nicht verhaftet haben! Was sagen Sie jetzt?«

»Nichts«, antwortete O'Key still. »Ich weiß es schon. Ich habe den Herrn Staatsrat heute morgen zufällig getroffen, und er teilte mir diese Tatsache mit. Auch, daß er den Procureur überredet habe, die Verhaftung noch einen Tag aufzuschieben.«

»Die Tatsache, daß ich den Professor nicht verhaften soll, bedrückt mich nicht sehr«, sagte Pillevuit, »mein Gott, Berühmtheiten! Hohe Namen! Er wäre nicht der erste, den ich auf höheren Befehl aus seiner Villa in Champel oder aus seiner Wohnung in der Rue de l'Hôtel de Ville geholt habe, um ihm in St. Antoine ein Einzelzimmer anzuweisen. Sie wissen, O'Key, wir haben diverse Skandale gehabt, Finanzskandale, und da geht manches. Aber es widerstrebt mir einfach, den Professor zu verhaften. Und ich kann Ihnen nicht einmal genau erklären, warum. Ich habe ihn gern, den alten Herrn, früher, als ich noch jung war, habe ich ihn sogar verehrt. Er ist eine Persönlichkeit und ein anständiger Kerl. Sie müssen nämlich wissen, daß de Morsier eine Denunziation erhalten hat, er hat es mir erzählt, gesehen habe ich den Wisch nicht, und dieser Brief, vielleicht waren es auch Akten, hat ihn so in Harnisch gebracht. Aber mir gefällt die ganze Sache nicht. Ich habe immer den unangenehmen Eindruck, daß die Frau des Staatsanwaltes dahinter steckt. Kennen Sie Frau de Morsier?«

»Bedaure, ich habe nie die Ehre gehabt.«

»Eine Bohnenstange«, sagte Kommissar Pillevuit, »lang, lang, lang. Auch das Gesicht ist lang und wirkt wie das Knochengerüst eines Pferdeschädels. Signalement: Augen farblos, Nase dünn, Ohren klein. Trägt violettes Seidenkleid und einen großen Hut mit Pleureusen. Dazu hohe Schnürschuhe mit niederen Absätzen. Reich, darum hat sie de Morsier auch geheiratet. Macht viel in Religion und Mystik. Jetzt in Spiritismus und solchen Sachen. Sehr befreundet mit Jane Pochon und einer Dichterin, die wie eine französische Bühnengröße heißt, Agnés Sorel. Die drei Damen versammeln sich jede Woche zwei-, dreimal und trinken zusammen Tee. Bald hier, bald dort. Was haben Sie, O'Key, ist Ihnen schlecht?«

»Alte Damen, die Tee trinken…«, murmelte O'Key.

»Nun, ja«, sagte der Kommissar, »was ist daran so Welterschütterndes, daß Sie Ihr Mineralwasser pur hinunterschlucken? Das einzig Merkwürdige an der Sache finde ich, daß diese Jane Pochon dabei ist. Eine Frau aus dem Volke, eigentlich, frühere Verkäuferin, aber sie hat ja mediale Fähigkeiten, sagt man, – gehabt wenigstens. Und mit Diplomaten verkehrt sie auch, wie wir erfahren haben. Nein, O'Key, was mich an der ganzen Sache aufregt, ist etwas anderes. Es hat da vor Jahren eine sehr dunkle Geschichte gegeben, bei der wenigstens Frau de Morsier sicher beteiligt war. Angesehene Leute, meist reiche, – Namen ersparen Sie mir, – es waren Männer und Frauen aus den exklusivsten Kreisen darunter (und nirgends ist ja die Aristokratie exklusiver als in einer Demokratie) erhielten Erpresserbriefe ins Haus. Nun, das sind Dinge, die vorkommen. Aber immer handelten die Briefe von Affären, die die Betreffenden mit der Justiz gehabt hatten, die dann niedergeschlagen worden waren, aus Freundschaft, aus Toleranz, um der Oppositionspresse keine Waffen in die Hand zu geben. Verstehen Sie? Und gerade mit der Veröffentlichung jener belastenden Tatsachen wurde gedroht. Die Leute zahlten. Bis es einem alten Herrn, einem Junggesellen, zu dumm wurde und er mit einem dieser Briefe zu einem jungen Advokaten ging.«

»Und wie hieß dieser junge Advokat?«

»Ja, das war das Sonderbare an der ganzen Geschichte. Er hieß Isaak Roséne, wenigstens nennt er sich jetzt so, damals hieß er noch einfach und simpel Rosenstock, ja. Aber er war der leibliche Neffe unseres de Morsier, der damals noch kleiner Richter war. Und als der junge Anwalt im Auftrag seines Mandanten auf den Busch klopfte, wissen Sie, wer zum Vorschein kam?«

»Frau de Morsier«, sagte O'Key.

»Ganz richtig, die Bohnenstange im violetten Seidenkleid. Unglaublich! Nicht? Es kam natürlich zu keiner Verhaftung. Frau de Morsier ging aus ›Gesundheitsrücksichten‹ ein halbes Jahr in ein Sanatorium, und de Morsier avancierte zum Staatsanwalt. Sie begreifen, er wußte zuviel. Er war es gewesen, der seine Frau mit Stoff versorgt hatte. Und nun kann ich den Gedanken nicht los werden, daß diese Frau de Morsier auch hinter der Affäre mit dem Professor steckt. Ich habe mit dem Untersuchungsrichter gesprochen. Er meinte, wie ich, daß wir durchaus keine Beweise gegen den Professor hätten. Tatsächlich, was haben wir gegen ihn? Die Karte, die wir in Crawleys Rockfutter gefunden haben, die Zeugenaussage, daß er morgens um halb fünf Uhr gesehen worden ist, als er aus dem Laden Eltesters kam, daß er sich viel mit Toxikologie beschäftigt hat… Sonst noch etwas? Ich wüßte nicht. A propos Toxikologie. Wir haben das Gutachten des Gerichtschemikers über den Mageninhalt der beiden Vergifteten. In beiden Fällen wurde das Vorhandensein eines Dekokts, eines Tees also, festgestellt, der, wie der Experte schreibt, wahrscheinlich aus den Blättern des Bilsenkrautes hergestellt worden ist. Aber, O'Key, wie stellen Sie sich das vor: daß man einen Menschen zwingen kann, ein solches Gebräu hinunterzuschlucken?«

»Da sehe ich wirklich keine Schwierigkeit«, sagte O'Key. »Die Welt des Alltags befriedigt die wenigsten Menschen. Sie müssen einen Ausweg suchen, um sie zu verlassen. Welcher Weg ist bequemer als der des Rausches? Wer macht denn heutzutage die besten Geschäfte? Außer den Waffen- und Munitionslieferanten natürlich. Die Lieferanten von Betäubungsmitteln, seien sie nun Kokainschieber oder Schnapsbrenner. Und glauben Sie nicht, Kommissar, daß wir auch die vielen Sekten in die Kategorie der Rauschmittel einreihen können? Denken Sie an die Christian Science, an die Theosophie. Ihre Gründer sind alle schwerreiche Leute geworden. Wir haben die Vernunft satt, der Verstand hat uns Bauchgrimmen gemacht. Wir wollen aus unserer Welt heraus.«

»Ja, ja, da können Sie recht haben. Und all das Teufels- und Hexenunwesen, das hier in Genf umgeht, könnten wir auch dazuzählen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Aber ich würde gern noch hören, was Sie von dieser Jane Pochon wissen. Hat diese Frau nie mit der Polizei zu tun gehabt?«

»Doch, doch«, sagte Kommissar Pillevuit. »Doch wir wollen noch einen Kaffee mit Rum genehmigen. Dann will ich Ihnen erzählen.« Der Kommissar nahm einen Schluck des heißen Getränkes, teilte den Vorhang seines Bartes und begann zu erzählen.

Vor etwa zwei Jahren habe bei der Witwe Pochon der Kassierer einer Bank gewohnt, ein ruhiger, unauffälliger Mensch, der das Vertrauen seiner Vorgesetzten voll und ganz gehabt habe. Eines Tages habe sich dieser Kassierer, Corbaz habe er übrigens geheißen, krank gemeldet und sei am Morgen nicht zum Dienst erschienen. Gegen zwei Uhr nachmittags aber sei er dann in der Bank aufgetaucht, habe seinen Kollegen mitgeteilt, der Direktor habe ihm sagen lassen, er müsse mit 30 000 Fr. in Banknoten eine Zahlung ausführen. Nach den späteren Aussagen, schien Corbaz wohl ruhig, aber ein wenig abwesend. Dem Schalterbeamten fiel insbesondere der Blick Corbaz' auf, der starr war und seltsam ausdruckslos. Der Schalterbeamte schrieb diesen Eindruck den unmäßig vergrößerten Pupillen zu. Corbaz ging ans Telephon, sprach mit dem Direktor, die Umstehenden hörten ihn sagen: »Also dreißigtausend Franken, jawohl, Herr Direktor.« Dann packte Corbaz die Summe in eine Mappe, grüßte zerstreut und ging fort. Am nächsten Morgen wurde der Bank von der Direktion der Anstalt Bel-Air mitgeteilt, der Kassierer Corbaz sei in der Nacht als Notfall eingeliefert worden, gebracht habe ihn seine Wirtin. Die Bank habe natürlich Anzeige erstattet, und er, Kommissar Pillevuit, habe die Untersuchung geführt. Damals habe er zum ersten Male Einblick in die Wohnung der Jane Pochon genommen.

»Sie hat in der Rue du Marché, gerade vor der Place de la Fusterie, in einem alten Hause gewohnt«, erzählte Pillevuit, »ich glaube, daß sie jetzt noch dort wohnt. Man muß durch einen dunklen Hausgang, dann kommt man in einen großen, viereckigen Hof. Die Holztreppen, die in die oberen Stockwerke führen, sind an den Mauern angeklebt. In jedem Stock läuft eine Holzgalerie rund um das Viereck. Die Witwe Pochon bewohnte im dritten Stock drei Zimmer mit Küche. Große Zimmer, aber mit Gerümpel vollgepfropft. Ich verlangte das Zimmer Corbaz' zu sehen. Es sah aus, als sei es geplündert worden. Ein Leintuch lag zerrissen in einer Ecke. ›Er hat sich stark gewehrt‹, teilte mir die Witwe Pochon mit. ›Das glaube ich, liebe Frau, aber wo ist das Geld?‹ Ich hätte lieber nicht fragen sollen. Denn es folgte eine Explosion, ähnlich der, die Sie im Palais miterlebt haben. Ich war froh, als ich wieder draußen war. Mein Freund, glauben Sie mir, ich verhafte lieber einen siebenfachen Raubmörder als die Jane Pochon. Die Geschichte ist dann auf Befehl de Morsiers niedergeschlagen worden. Das Geld hat man natürlich nicht gefunden.«

Die beiden schwiegen eine Zeitlang. Dann fragte der Kommissar: »Und Sie, O'Key, Sie wollten mir doch etwas erzählen?«

»Sie müssen noch zuwarten, Kommissar, die Sache ist noch nicht reif. Aber um den Professor brauchen Sie sich nicht zu sorgen, diese Angelegenheit werde ich erledigen. Wir werden heute abend Kriegsrat halten. Eine Bitte hätte ich, und die werden Sie mir nicht abschlagen, denn Sie wissen ja, daß ich im Einverständnis mit Martinet handle. Können Sie es bewerkstelligen, daß das Haus des Professors zwischen viertel nach sieben und halb acht nicht bewacht wird? Den Rest übernehme ich. Sie können dann morgen zur Verhaftung schreiten…«

»… die resultatlos verlaufen wird, weil der Delinquent unauffindbar sein wird. Gut, gut. Aber schaffen Sie den Professor nicht zu weit fort, wir werden ihn brauchen.«

»Ja, wir werden ihn brauchen«, sagte O'Key.

2

Es wäre noch kurz von zwei Begegnungen zu berichten. Die erste betraf jene Mappe, von der Nydecker in krausen, nicht recht verständlichen Worten gesprochen hatte. Das Wort »Panorama« hatte er aber deutlich bestätigt. So erkundigte sich O'Key noch bei Kommissar Pillevuit, wie er am schnellsten in den Jardin Anglais kommen könne. Dieser beschrieb ihm den Weg, und unter einem sich langsam aufhellenden Himmel durchquerte der Journalist die Straßen der alten Stadt, die steil bergab führten, blieb einen Augenblick vor dem Kiosk an der Place du Molard stehen, stieg sogar in die Toilette hinunter, jedoch ohne etwas zu finden. Er lachte sich hernach aus. Dumme Sentimentalität.

Der Jardin Anglais war leer. Der Regen hatte die Kinder und ihre Hüterinnen vertrieben, auch rund um den niedrigen Ziegelbau, der das Panorama enthielt, war kein Mensch zu sehen. Die Büsche, die es umgaben, waren dicht belaubt, verblühte Fliederdolden hingen braun und unansehnlich zwischen dem tiefgrünen Blätterwerk. ›Wo soll ich suchen?‹ dachte O'Key, ›jetzt am hellichten Tage? In jeder Minute kann ein Vorübergehender dazukommen und mich fragen, was ich da unter den Büschen zu suchen habe.‹

Da hörte er links von dem kleinen Hause, dort, wo die Büsche so dicht standen, daß sie ein bequemes Versteck bildeten, ein Rascheln. Es klang, wie wenn ein Hund nach einer verschloffenen Maus sucht. O'Key trat näher, es rauschte stärker im Gebüsch, Geräusch von fliehenden menschlichen Tritten, O'Key durchbrach die grüne Wand. Ein weißer Weg blendete ihn. Und auf diesem Weg eilte eine kleine magere Gestalt davon, unter dem Arm trug sie eine schwarze Mappe.

Im Laufen nahm O'Key das Bild des Fliehenden ziemlich genau wahr: ein offenbar ganz junger Bursche, in einen braunen Sportsanzug gekleidet, Golfhosen, aus denen unwahrscheinlich dünne Waden zum Vorschein kamen. Der Fliehende wendete das Gesicht einmal kurz seinem Verfolger zu. O'Key erschrak und ärgerte sich gleich darauf über sein Erschrecken. Er hatte doch in seinem Leben mit allerlei Gesindel zu tun gehabt. Aber dieses Gesicht! Es war klar, daß es einem jungen Menschen gehörte, aber es wirkte uralt, faltig, blutleer. Er mußte an die Beschreibung Charles, des Kammerdieners und Obersten, denken, als er den Sohn der Witwe Pochon geschildert hatte. »Der Kerl ist unheimlich«, hatte Charles gesagt, »sieht aus, wie seine Mutter, wenn diese eine Entfettungskur durchgemacht hätte. Die Haut ist ihm zu weit, überall Falten und Runzeln, und doch ist er jung…« Das stimmt alles, dachte O'Key und war dem Fliehenden dicht auf den Fersen. Die beiden waren auf dem Trottoir des Quais angelangt, fünf Schritte nur trennten O'Key von dem Burschen, da machte dieser einen Satz zur Seite und hinein in die geöffnete Tür eines dastehenden Taxameters, dessen Motor leise brummte. Die Tür schlug zu, der Wagen nahm einen Sprung vorwärts und O'Key blieb am Rande des Gehsteiges stehen und wischte sich die Stirn. Er hatte nur einen kurzen Blick in den Wagen werfen können. Ein Mann saß darin, das Gesicht im aufgeschlagenen Kragen des Regenmantels verborgen. O'Key hatte deutlich die herrische Bewegung gesehen, mit der der Mann dem Burschen die Mappe entrissen hatte.

O'Key war ärgerlich, daß er sein Motorrad in der Obhut des Polizisten Malan zurückgelassen hatte. Er hatte gemeint, er würde es nicht brauchen, während dieser kurzen Suche. Und als er nun verärgert in der Richtung weiter ging, in der das Taxi verschwunden war, wen traf er an der Ecke des Grand Quai?

»Simp«, sagte der Mann mit dem steifen Hut, »Simp, es ist gut, daß ich dich treffe. Mein Alter ist mir gerade vor der Nase in einem Auto davongefahren. Und weißt du, wer bei ihm war? Du wirst es nie erraten.«

»Doch«, sagte O'Key, noch immer ein wenig atemlos. »Der Sohn der Witwe Pochon.«

»Kannst du Gedanken lesen, Simp? Und warum keuchst du so? Willst du Nurmi schlagen?«

»Nein, Colonel«, sagte O'Key ärgerlich, es war ihm gar nicht spaßhaft zu Mute. »Aber die Geschichte wächst mir wahr und wahrhaftig zum Hals hinaus. Mit vieler Mühe habe ich aus einem Verrückten herausgebracht, wo die Mappe versteckt war, die am Abend von Crawleys Ermordung verschwunden ist, will sie holen, und da kommt mir dieser unheimliche Bengel zuvor. Und fährt mit deinem Alten davon.«

»Reg' dich nicht auf, alter Junge«, sagte der Colonel, »nach Regen folgt Sonnenschein und es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht ist, und auch das schöne Sprichwort darfst du nicht vergessen: Wer andern eine Grube gräbt, hat wohlgetan. Es ist alles in Ordnung. Es wird sich alles klären.«

O'Key blickte seinen Begleiter erstaunt an, blieb sogar eine Sekunde zögernd stehen, so, als überlege er sich, ob er weitergehen solle. War das beim Colonel eine Art Greisenverblödung? Es war doch sonst nicht seine Art, soviel leeres Geschwätz von sich zu geben. Bis O'Key merkte, daß Charles Blick wie gebannt auf dem Rücken eines Mannes klebte, der vor ihnen, scheinbar unbekümmert, einherschritt.

Er war gar nicht weiter auffällig, dieser Mann, wenigstens von hinten nicht. Ein langer schwarzer Gehrock fiel bis zu seinen Knien, der weiße, ovale Strohhut war ins Genick geschoben. Der Gang des Mannes war allerdings nicht ganz alltäglich. Trotz der Hitze hatte der Herr die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und ging einher, mit weitausholenden Schritten, einem Bergsteigerschritt vielleicht, aber dagegen sprach die sonderbare Angewohnheit, die der Mann hatte, gespreizt zu gehen, so, als trage er unsichtbare Sporen. Charles salbaderte weiter:

»Denn immer mußt du dir vor Augen halten, lieber Junge, daß wir hier in einer Stadt sind, die der Welt jene merkwürdig mohammedanische Abart der christlichen Religion geschenkt hat, die man Calvinismus nennt. Weißt du, Prädestination und solche Tücken. Praktisch, gewiß, aber…«

»Wer ist der Mann, dem wir folgen, Colonel?«

»… aber immerhin gefährlich. Nein, Simp, ich bin noch nicht ganz vertrottelt, aber aufgeregt, denn bald, Simp, sehr bald, wird es zum Klappen kommen. Du willst wissen, wer der Mann da vor uns ist? Ich habe ihn gestern schon getroffen und bin erschrocken. Habe ich dir nicht von einem Missionar erzählt, der aussieht, als käme er direkt aus dem ›Regen‹ von Somerset Maugham. Weißt du, das Stück handelt von einem Missionar auf der Südseeinsel, der eine unordentliche Frauensperson bekehren will und dann aber von ihr bekehrt wird, worauf er Selbstmord begeht. Du kennst doch die Geschichte? Sieh dir den Mann vor uns deutlich an. Das ist der Amerikaner, der Delegierte der Standard Oil dort in unserem Randstaat. Der meinen Alten herumgekriegt hat. Der den jungen Fürsten vertrieben hat. Ja. Und mit dem Gottesmann habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber ich habe Geduld. Ich habe noch nicht herausfinden können, wo er wohnt, darum gehe ich ihm immer nach, einmal werde ich ihn schon zu fassen kriegen. Gestern ist er mir in einem Taxi entschlüpft. Ich möchte wissen, wo er heute hingeht.«

Da bog der Fremde in die Place de la Fusterie ein. Und bei dieser Schwenkung konnte O'Key das Gesicht sehen , im Profil nur. Die Haut war braun, sehr sonnverbrannt, wie sie bei Leuten häufig ist, die lange in den Tropen waren. Es wirkte hölzern, mit starren, kantigen Linien. War es ein Wunder, daß O'Key an des kleinen verrückten Nydeckers Ausspruch denken mußte: ›Der alte Mann mit dem Holzgesicht, ganz braun ist das Holzgesicht, ganz braun und glatt.‹

»Vielleicht ist der Herr der Fliegen auch der Meister der goldenen Himmel«, sagte O'Key so laut, daß der Colonel ihn erstaunt ansah. »Ich glaube, jetzt schnappst du über, Simp«, sagte er ärgerlich.

»Wissen Sie, Colonel, was man mir heute eingebläut hat? Nur Dummköpfe erraten. Ich will es mir merken. Sehen Sie, dort verschwindet unser Freund in einem Haus, wollen wir ihm nachgehen?«

Ein dunkler Durchgang ging in einen viereckigen Hof. Holztreppen, die an den Mauern angeklebt waren, stiegen in die oberen Stockwerke. In jedem Stockwerk führte eine Holzgalerie rund um das Viereck.

»Gehen wir wieder, Colonel«, sagte O'Key, nachdem er kurze Zeit zum Himmel geblickt hatte. Im zweiten Stock hatte eine Ziehklingel gescheppert, dann war eine Türe aufgegangen, war wieder ins Schloß gefallen. Hierauf herrschte Schweigen. »Gehen wir, Colonel«, wiederholte O'Key. »Ich glaube, es wird langsam klarer.«

3

Jakob Rosenstock, der junge Gymnasiast, der Bruder des Advokaten Roséne, hatte seine erste Liebe nur kurz sprechen können. Fräulein Agnés Sorel, die Dichterin, war heute besonders aufgeregt und klebrig gewesen. Ja, es schien dem jungen Jakob, als sei die alte Dame übertrieben ängstlich und fürchte sich vor dem Alleinsein. Manchmal hob sie den Kopf, aus welchem die Nase sich über den bläulichen Mund bog, wie ein Papageienschnabel, der nach einer Kirsche schnappt, und lauschte angestrengt. Aber die großen leeren Zimmer, die hinter dem Eßzimmer lagen, blieben stumm, auch die Flurglocke verhielt sich still. Es war augenscheinlich kein Grund zu Unruhe vorhanden.

Endlich, man war beim Dessert angekommen, und Jakob saß auf Kohlen, denn er hatte Natascha Gewichtiges mitzuteilen, schellte es. Fräulein Sorel stand auf, watschelte zur Tür, ihr häßliches Gesicht, das wieder schön wirkte, wie das einer rassenreinen Bulldogge, wurde von einem merkwürdigen Schein verklärt. Die beiden am Tisch Zurückgebliebenen hörten entzückte Begrüßungsworte (»… wie scharmant von Ihnen, meine liebe, liebe Dame, ich freue mich ja so unglaublich, Sie wiederzusehen, bitte, legen Sie ab, hoffentlich haben Sie sich nicht erkältet«), dann Rascheln von Seidengewändern, die Tür des nebenanliegenden Salons (diejenige nämlich, die nach dem dunkeln Flur führte), wurde geöffnet, dann wieder geschlossen, und dann hörte man das helle Summen zweier Stimmen, ohne daß jedoch die Worte erkennbar geworden wären.

»Ich habe meinem Bruder einiges erzählt, besonders das, was den Professor betrifft, aber ohne dich zu nennen. Er hat auch weiter nicht gefragt, von wem ich die Neuigkeiten hätte«, flüsterte Jakob aufgeregt. »Du mußt entschuldigen, wenn ich das gemacht habe, aber ich bin noch jung. Es hat mich so erschüttert, was du mir erzählt hast.«

»Dummer, kleiner Junge«, sagte Natascha, die Agentin 83, »Ich habe dir ja selbst geraten, deinen Bruder ins Vertrauen zu ziehen. Es ist ja ganz richtig. Was hat er gesagt?«

»Er war ganz einverstanden, dem Professor zu helfen, und hat mich beauftragt, dem Professor heute, nach seiner Vorlesung aufzulauern und ihn zu uns einzuladen. Für heute abend um halb neun. Willst du nicht auch kommen, Natascha? Du könntest das alles viel besser erklären als ich.«

»Ja, wird mich dein Bruder empfangen, mich, die kommunistische Agentin? Oder mich hinauswerfen?«

»Ach«, sagte Jakob, »Isaak ist nicht so. Ich werde ihm sagen, ich würde auch jemanden mitbringen, der von Nutzen sein könnte, und dann wird er gar nichts dagegen haben. Ich werde viertel vor neun hier vor dem Hause warten, in einem Taxi, und dann fahren wir zusammen hinaus. Willst du? Geld hab ich.«

»Ja, kleiner Junge«, sagte Natascha zärtlich und streckte Jakob die Hand über den Tisch entgegen. Der ergriff sie und legte seine Stirn in die offene Handfläche. Es war so still im Zimmer, daß man deutlich Fräulein Sorels Stimme vernahm, die im Nebenzimmer kreischend anstieg.

»Was hat unsere gastfreundliche Wirtin?« fragte Natascha leise. »Wenn sie weiter schreit, wird sie so heiser werden, daß sie am nächsten Sonntag ihr neuestes Drama in klassischen Alexandrinern vor der literarischen Gesellschaft nicht wird vorlesen können.«

Natascha schlich auf Fußspitzen zur Salontüre und preßte ihr Ohr an die Füllung. Zuerst behielt ihr Gesicht das spöttische Lächeln bei, wurde aber langsam ernst, fast finster. Gebieterisch winkte sie mit dem Finger, bis auch Jakob neben ihr stand und ebenfalls das Ohr an die Türfüllung hielt.

Zuerst war das Gemurmel nicht recht verständlich. Dann aber merkte auch Jakob plötzlich auf. Der Name Dominicé war gefallen und alles, was den Professor anging, interessierte Jakob. Der Name war von einer fremden Stimme gesprochen worden, fragend, mit einem scharfen, schneidenden Ton. Dann klang deutlich Fräulein Sorels Papageiengeplapper.

»Vor dem haben Sie Angst, liebe Freundin? Keine Ursache. Den halten wir so…« Fräulein Sorel mußte eine sehr komische Geste gemacht haben, denn ein Lachen klang auf, eintönig, und gerade durch diese Eintönigkeit wirkte es grausam. Dann sprach die Lacherin und ihre Worte waren verständlich.

»Und Thévenoz?« fragte sie, »was fangen wir mit Thévenoz an? Finden Sie nicht, liebe Freundin, daß der Mann langsam unbequem wird?«

»Und wenn«, plapperte die Stimme Fräulein Sorels, »und wenn er unbequem wird, so laden wir ihn eben einfach zum Tee ein. Hehehe.«

»Hihihihi«, lachte die andere. Jakob verstand nicht, was an einer Einladung zum Tee so Komisches war.

»Der Meister hat mir übrigens aufgetragen, auch diesen fremden Engländer, der draußen vor der Stadt wohnt, an einem Abend oder Nachmittag einzuladen. Er möchte sich sein Haus näher ansehen«, sagte die fremde Stimme.

»Dann laden wir ihn auch einmal zum Tee ein, nicht wahr?« Es war Fräulein Sorel, die sprach.

»Ja, ja, gewiß. Aber wir werden neuen Tee bestellen müssen, meine Liebe, unser Vorrat geht zur Neige.«

»Nun, darum wird sich der Meister schon kümmern. Schade, daß unser Hauptlieferant uns untreu geworden ist.«

»Untreu geworden!« rief die fremde Stimme, »Sie haben wirklich wunderbare dichterische Ausdrücke. Aber wer weiß, vielleicht ist er uns treu geblieben. Vielleicht sehen wir ihn nächstens. Unser junger Freund hat so ausgezeichnete Gaben.«

»Ja«, hörte man Fräulein Sorel erwidern, »die hat er von seiner Mutter geerbt. Übrigens, meine Liebe, ich denke eben daran, ich muß Sie mit meiner entzückenden kleinen Freundin bekannt machen, einem jungen russischen Mädchen, die uns wahrscheinlich…«, die Stimme ging in ein Flüstern über; Natascha riß ihren Freund an der Hand zum Tisch, setzte sich, und Jakob hatte Geistesgegenwart genug, ein harmloses Gesicht zu schneiden und Nataschas Hand zu streicheln. Nur in seinen Augen blieb ein ängstliches Flimmern zurück. Da öffnete sich auch schon die Tür, Fräulein Sorels kurze Gestalt erschien, und hinter ihr ragte auf, sehr lang, sehr mager, eine Dame in violettem Seidenkleid.

»Nein, sehen Sie, wie entzückend«, plapperte Fräulein Sorel. »Ist es nicht wie in den ›Noce di Figaro‹, Cherubin und die Herzogin!« Und sie begann mit hoher, schriller Stimme die Arie zu trällern, auf Italienisch noch: »Voi che sapete, ehe cosa è l'amor…« Es klang schaurig. »Liebste Natascha«, fuhr sie fort, »darf ich Ihnen eine alte Freundin vorstellen: Frau de Morsier.«

Frau de Morsiers Gesicht wirkte wie eine Maske: es war starr, und auch das Lächeln, das um die Lippen lag, schien angeschminkt. Nur die Augen (in der Farbe an treibende Eisschollen in einem Fluß erinnernd) waren wachsam, beweglich. Sie reichte zuerst Natascha eine lange Hand, die sich kalt und ein wenig klebrig anfühlte, dann begrüßte sie Jakob.

»Ich kenne Ihren Bruder, junger Mann«, sagte sie dabei, »er wird sich wohl meiner erinnern, aber es ist vielleicht besser, Sie sprechen nicht von mir.« Worauf Jakob sich vornahm, bei erster Gelegenheit Isaak zu fragen, was es mit Frau de Morsier für eine Bewandtnis habe. Er hatte unterdessen Nataschas Hand losgelassen, blickte seine Freundin fragend an, erhob sich auf einen Blick von ihr und verabschiedete sich. Er sah noch, wie Frau de Morsier sich am Tisch niederließ und eifrig auf Natascha einsprach. Dann schloß Fräulein Sorel die Tür hinter ihm.

4

Professor Dominicé hielt seine Vorlesungen in dem, nach der Aula, nächstgrößten Saal der Universität. Er hatte viel Publikum, und zwar sehr gemischtes. Neben eleganten, parfümierten Damen, die in der ersten Reihe der amphitheatralisch aufsteigenden Bankreihen saßen, ehrliche Philosophie- und Theologiestudenten. Auf den hintersten Reihen, ganz nahe an der gewölbten Decke, aber saßen Fremdlinge, mehr oder weniger abgerissen, mit glänzenden Augen, die eifrig nachschrieben.

Als der Professor den Saal betrat, erhob sich ein sehr eindrucksvoller Lärm, der aus Füßetrampeln der mittleren Schicht, leisem Klatschen behandschuhter Hände in den ersten Bänken und exotisch lautem Beifallsgebrüll aus den oberen Schichten bestand. Der Professor dankte mit einer Neigung seines Apostelhauptes, nahm Platz, breitete vor sich einige winzige Notizblätter aus und blickte dann mit ruhigen Augen, in denen die Pupillen kaum stecknadelgroß waren, über die Versammlung. Jakob saß ziemlich in den oberen Regionen, neben einem jungen Mann mit unordentlichen Haaren, der penetrant nach Zwiebeln roch, und blickte aufgeregt über die unter ihm liegenden Bänke. Nicht weit von ihm zog ein langer Schädel mit kupferdrahtartiger Behaarung seine Blicke an. Er fragte sich, wem dieser durchaus ungewöhnliche farbige Kopf wohl gehöre. Da drehte der Mann sich um: Jakob sah eine lange bewegliche Nase, die Haut mit Sommersprossen übersät. Aber bevor noch Jakob dies Gesicht näher hätte prüfen können, senkte sich eine aufmerksame Stille über den Raum und Professor Dominicé begann zu sprechen. Er sprach nicht laut, aber mit einer seltsam warmen Stimme, die bis in die hintersten Bänke drang. Viele Gesichter glänzten feucht, es war erstickend heiß in dem Saal, den die sommerliche Mittagssonne erwärmt hatte. Auf den untersten Bänken waren Taschentücher, Eau-de-Cologne-Fläschchen und besonders Puderquasten fast ununterbrochen in Gebrauch.

Es sei dies seine letzte Vorlesung, sagte Dominicé, nicht nur die letzte des Semesters, das ja ohnehin übermorgen zu Ende gehe, sondern überhaupt seine letzte. Er habe beschlossen, sein Amt niederzulegen, auch die Leitung des psychologischen Laboratoriums aufzugeben, berufenere, jüngere Kräfte würden seine begonnene Tätigkeit fortsetzen.

Nicht nur das Alter, fuhr er fort, habe ihn bewogen, seinen Rücktritt zu erklären. Er habe Schuld auf sich geladen, und diese Schuld, nach längerem Nachdenken sei ihm dies klar geworden, befähige ihn nicht mehr, als Führer der Jugend aufzutreten. Professor Dominicé machte eine Pause, es war still im Saal, dann hustete eine der eleganten Damen, das Geräusch wurde niedergezischt, die Dame wandte sich beleidigt um und blickte dann wie Schutz suchend auf den Professor.

Es sei ja, er wisse es wohl, sagte der Professor, eine nicht ganz alltägliche Situation, solch ein offenes Sünden- und Reuebekenntnis vor versammeltem Auditorium, doch könne er nicht einsehen, inwiefern es nicht statthaft sei, einmal seine Fehler vor seinen Schülern zu gestehen. Er habe das an seinen Kollegen immer wenig geschätzt, die Überheblichkeit, diese manchmal fast päpstliche Unfehlbarkeit; wenn er anders geartet sei, könne er wohl nichts dafür und wolle sich dessen auch nicht rühmen, aber es möge ihm gestattet sein, dies Argument, nämlich die Notwendigkeit einer kleinen öffentlichen Beichte, zu seinen Gunsten zu brauchen.

Wieder eine Pause.

Jakob sah, daß der Mann mit den kupferdrahtartigen Haaren sehr unruhig war. Er rutschte hin und her, knetete seine Hände, schickte seine Blicke suchend durch den Saal, kurz, er war ganz das Bild ängstlicher, gespanntester Erwartung. Und zwar hatte dies Gebaren mit dem Augenblicke begonnen, als Dominicé von seinem Schuldbekenntnis zu sprechen begonnen hatte.

»Ich bin«, fuhr der Professor fort, und seine Augen waren von den Lidern bedeckt, »ich bin ein religiöser Mensch, das heißt, ich glaube an höhere Mächte, aber ich habe, wie alle wissenschaftlich gebildeten Menschen, das Bedürfnis, meinen Glauben durch objektive Untersuchungen zu erhärten. Wenn Sie, meine Damen und Herren, vorurteilslos das Weltgeschehen beobachten, wird es Ihnen aufgefallen sein, daß es ein ewiger Kampf ist. Ein Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten. Die bösen Mächte verwirren unsere Sinne, sie senden uns Krankheit, Krieg, Irrsinn. Ich bin ein schlechter Mediziner. Ich bin kein Politiker. Was mich fesselt, ist die Seele der Menschen, was mich anrührt, ist die Hilflosigkeit unserer Seelen, die, sobald sie schwach oder geschwächt sind, eine Beute der finsteren Gewalten werden. Um diesen Gewalten auf die Spur zu kommen, habe ich mich verleiten lassen, gewissen Versammlungen beizuwohnen, in denen das Böse als solches verehrt wurde. Und von diesen Versammlungen möchte ich Ihnen kurz erzählen, bevor ich mich der einzigen Instanz unterwerfe, die befugt ist, solche Machenschaften, sobald sie zu überlegtem Morde führen, zu bestrafen. Sie werden abgehalten…«

Kling – tönte es vom Fenster her (wie eine Silbermünze, die auf Holz fällt), Dominicé stockte, blickte nach der Richtung, aus der der Ton gekommen war. Es war etwa in der vierten Bank, von unten gezählt, der Ort war leicht festzustellen, denn dort hatten sich einige Gesichter einer verschleierten Gestalt zugewandt, die gebückt, wie in sich vergraben, dasaß.

Jakob reckte den Hals, um zu sehen, was los war. Da bemerkte er den Mann mit den kupferdrahtartigen Haaren, der aufgesprungen war, wild mit den Armen fuchtelte und rief: »Haltet die Frau!« Aber es war schon zu spät. Ein eintöniges Gemurmel stieg auf, in das sich ein Summen mischte, das anschwoll, die hohen Fenster verdunkelten sich, es summte stärker, plötzlich war die Luft des Saales angefüllt mit Insekten aller Art, Wespen und Hummeln und Bremen. Gekreisch stieg auf, Hände fuchtelten.

»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte die tiefe Stimme Professor Dominicés. »Es ist alles Trug. Sie müssen nur fest glauben, daß alles Trug ist.« Aber ein Gelächter antwortete ihm, die eleganten Damen in der ersten Bankreihe stießen kurze, spitze Schreie aus und wehrten sich mit winzigen Taschentüchern, alles drängte zur Tür, und immer stärker schwoll es an, das Gesumm.

Da sah Jakob, der ruhig sitzengeblieben war (bis zu ihm war der Ungezieferschwarm noch nicht gedrungen), wie der Mann mit den kupfernen Haaren plötzlich einen Sprung über ein paar Bänke nahm, einen zweiten auf das Podium und sich neben dem Professor aufstellte. Da stand auch Jakob auf, drängte sich durch die nun schon spärlichen Anwesenden, stieg auch aufs Podium und sagte, nachdem er einen Augenblick den rothaarigen Unbekannten angeblickt hatte, zu Dominicé:

»Mein Bruder, der Advokat Rosène, läßt Sie bitten, Herr Professor, heute abend zu uns zu kommen. Er möchte Ihnen gerne helfen.« Dann schwieg Jakob und blickte über den leeren Saal. Was ihn am meisten verwunderte, war, daß er die Luft lautlos und rein fand. Kein Gesumm, keine brummenden Insekten, keine flirrenden Flügel schwirrten durch den Raum. Durch die offenen Fenster konnte der Blick ungehindert die großen dunklen Räume erblicken, die den Hof der Universität gegen die Promenade des Bastions abgrenzten. Der Professor schwieg noch immer, seine Augen waren gesenkt.

»Und Sie, mein Freund O'Key«, sagte er plötzlich, ohne Jakob zu antworten, »haben Sie mir auch etwas zu bestellen?«

»Ja«, sagte O'Key, »das gleiche wie dieser junge Mann. Zwei Boten für ein und dieselbe Neuigkeit. Sie sind ein wichtiger Mann, Professor, eine internationale Berühmtheit, wie wir wohl wissen, und da Sie nicht mehr für sich selbst sorgen können, sind wir wohl verpflichtet, dies für Sie zu tun. Wollen Sie die Einladung annehmen?«

Der Professor antwortete nicht, sondern blickte weiter vor sich hin. Endlich, ohne auf die Frage einzugehen, sagte er:

»O'Key, haben Sie Thévenoz gesehen?«

»Thévenoz? Den Doktor Thévenoz? Nein!«

»Ich habe ihn gesehen, er ist als einer der ersten hinter der verschleierten Frau zur Türe hinausgelaufen. Er sah furchtbar aus. Können Sie nicht zuerst etwas für ihn tun? Ich kann warten.«

»Solange dieser Herr kein Vertrauen zu mir hat, kann ich ihm nicht helfen«, sagte O'Key schroff.

»Eifersucht, O'Key? Das sollten Sie sich abgewöhnen. Nun, sprechen wir nicht mehr davon.« Er blickte plötzlich auf, sah lange auf Jakob, der sich stumm verhalten hatte, packte des Jungen Arm und bemerkte: »Du bist ja noch sehr jung und kommst doch in meine Vorlesungen. Ich habe dich schon ein paarmal bemerkt. Gefällt dir das, was ich erzähle?«

»O ja, Herr Professor«, sagte Jakob ein wenig atemlos.

»Nun, dann begleit mich ein wenig. Ich mag heut nicht gern allein gehen. Und unser Freund hier hat wahrscheinlich noch privat zu tun.«

»Sie sind also der Bruder von Maître Rosène?« fragte O'Key und drückte Jakob die Hand. Dieser nickte. »Dann«, sagte O'Key, »finde ich es auch am besten, Sie nehmen sich ein wenig unseres Professors an. Er kann eine Begleitung brauchen.«

»Mehr noch als Sie glauben, lieber O'Key«, Dominicé sammelte seine verstreuten Notizblättchen mit der Rechten, und bei dieser Bewegung erst fiel es O'Key auf, daß des Professors Linke zur Faust geballt auf dem Pult lag.

»Was halten Sie denn da verborgen?« fragte O'Key und deutete auf die geschlossene Hand. Da öffnete sie der Professor und ließ ein weißes, glänzendes Ding, kaum zwei Zentimeter lang, auf den Tisch fallen. Beim Aufschlagen auf die Holzplatte war kein Geräusch zu hören. O'Key nahm das Ding in die Hand und schüttelte verwundert den Kopf.

Die Spitze, kaum vier Millimeter lang, sah aus wie das obere, abgebrochene Stück einer Hohlnadel. Sie war auf einer runden Kugel aus rotem Kautschuk angebracht, die selber wohl kaum einen halben Zentimeter im Durchmesser hatte. Und an diese winzige Kautschukblase war hinten ein lockerer Wattebausch angeklebt. Professor Dominicé drehte das Ding zwischen den Fingern, nachdem es ihm O'Key wieder eingehändigt hatte, und sagte verträumt:

»Wenn man bedenkt, daß der Tod auch diese kleine Gestalt annehmen kann! Ein perfektionierter Giftpfeil. Kam da auf mein Pult geflogen, und niemand sah ihn fliegen bei dieser Aufregung. Nun, die allgemeine Aufregung hat auch ihr Gutes gehabt, der Schütze hat nicht gut zielen können oder sein Atem hatte nicht genügend Kraft. Aber wie sinnreich ist dies konstruiert. Begreifen Sie?« O'Key schüttelte ein wenig ratlos den Kopf; Jakob starrte gebannt auf des Professors Hände.

»Es ist doch ganz einfach«, fuhr Dominicé geduldig fort, »sitzt die Spitze in der Haut, so wird der kleine Kautschukball durch seine Trägheit gegen die Spitze gepreßt, buchtet sich ein und drückt die Flüssigkeit unter die Haut. Nehmen Sie an, es hätte mich ins Gesicht getroffen, alle im Saale Anwesenden hätten beschwören können, ich sei von einer Wespe oder sonst von einer giftigen Fliege gestochen worden. Darum das Theater mit den Fliegenschwärmen. Und wenn ich ein paar Stunden später an Starrkrampfsymptomen verschieden wäre, hätte kein Mensch an eine Vergiftung geglaubt. Ja«, seufzte er, »ich glaube, das Gift wird den Chemikern noch einige Schwierigkeiten bereiten. Wahrscheinlich eine Mischung aus Ouabaïn, Echujin, Erythrophläin, alles schöne Namen, die ziemlich häßliche Bilder liefern, wenn sie ein Mensch unter die Haut bekommt. Afrika, Asien, Südseeinseln. Der Mann, der das Gift gebraut hat, besitzt unzweifelhaft Kenntnisse. Die Pfeilgifte der sogenannten Naturvölker sind gewöhnlich dickflüssige Stoffe. Um solch eine wasserklare Flüssigkeit herstellen zu können«, Dominicé drückte leicht auf den Gummiball und ein heller Tropfen erschien an der Spitze der Nadel, »muß man schon ziemlich viel in Laboratorien gearbeitet haben. Ich habe schon vor einiger Zeit von dem Vorhandensein dieser Waffe gehört, man hat mir damit gedroht, aber ich habe mich nicht darum gekümmert; jetzt scheint es aber Ernst zu werden…«

Die Türe des Saales wurde aufgerissen, zwei Pedelle stürzten herein, und jeder trug in der Hand eine jener gelben Spritzen, die Fliegenbetäubungsmittel enthalten. Sie schauten sich verdutzt im Saal um, als sie die Drei ruhig auf dem Podium sprechend fanden, und erkundigten sich ängstlich, wo denn die Fliegenscharen hingekommen seien, die im Auditorium eine Panik hervorgerufen hätten.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Dominicé, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Es ist alles in Ordnung. Gott«, fügte er hinzu, »wie leicht, wie unendlich leicht wäre es, wenn man allen Wahngebilden mit Fliegenspritzen beikommen könnte.«

Er stützte sich auf Jakobs Arm, winkte O'Key freundlich: »Auf heute abend, lieber Freund«, und schritt aufrechten Ganges durch die Tür.

Auf den Stufen, auf den Absätzen, standen noch dichtgedrängt die Leute, die aus dem Saale geflohen waren. Sie drückten sich beiseite, an die Mauern, so eng sie konnten, um nur ja nicht mit dem vorbeischreitenden Professor in Berührung zu kommen. Dominicé lächelte. »Siehst du«, sagte er zu Jakob, »sie halten mich für einen Zauberer. Was für angehende Wissenschaftler betrübend ist, aber menschlich begreiflich. Grab den Menschen um, und immer wirst du eine Schicht finden, die alt ist, uralt, Millionen Jahre vielleicht, wer weiß?«

5

Dann saßen die beiden auf einer Bank in der Promenade des Bastions. Die Abendsonne schien durch die Bäume, warm und geduldig, und beleuchtete die Gruppe der Reformatoren, die, an die lange gelbe Wand gestellt, sehnsüchtig und ewig versteint, auf das Exekutionspeloton zu warten schienen, das nie erschien.

Professor Dominicé legte seinen breitrandigen Hut neben sich, legte die Ellbogen auf die gespreizten Oberschenkel und faltete die Hände. Er nickte ein paarmal mit seinem mächtigen bärtigen Haupt und sagte dann:

»Es freut mich, daß ich dich getroffen habe, Jakob. Ich kenne dich nämlich schon lange. Gleich das erste Mal, als ich dich in meiner Vorlesung sah, habe ich nachgefragt, wer du bist. Dein Gesicht hat mir gefallen. Und du hast mich an jemanden erinnert, an jemanden, den ich gern mochte, und der gestorben ist. Heute ähnelst du ihm noch mehr. Vielleicht ist dein Anzug daran schuld. Er trug auch solche grauen Flanellanzüge, er trug auch seidene Hemden. Er ist an dem Abend von mir fortgegangen, jener, dem du gleichst, und ich habe ihn gewarnt. Ich habe ihm gesagt: ›Crawley, nehmen Sie sich in acht!‹ Aber er hat mich ausgelacht: ›Was denken Sie, Professor‹, hat er gesagt, ›eine unschuldige Einladung zum Tee. Zwei alte Damen! Vielleicht drei alte Damen! Und davor soll ich mich fürchten?‹ Weißt du, Jakob, ich bin ihm nachgegangen. Aber ich bin nicht mehr rüstig. Ich habe ihn aus den Augen verloren. Und dann, als ich zu dem Hause kam, worin ich ihn vermutete, war dort alles dunkel. Da bin ich weiterspaziert, den See entlang. Eine Barke zog dort vorüber, fort und fort, in die Menge der Sterne hinein, die im Wasser tanzten. Und dann lag Crawley auf jener Bank, Place du Molard, ein ungeschickter Polizist war um ihn beschäftigt, und ich erkannte den Jungen nimmer. Erst nachher, auf dem Nachhauseweg, fiel es mir ein: Das war ja Crawley! Tot, Jakob, er war tot. Und ich alter Mann war wieder allein. Wenn du wüßtest, was ich diesem Crawley alles zu verdanken habe! Ich will es dir einmal erzählen. Aber ich sehe, daß du mich etwas fragen willst. Los!«

»Wie war das mit den Fliegen, Professor?«

»Eine Gegenfrage zuerst, Jakob, hast du die Fliegen auch gesehen, bist du, noch besser gesagt, bist du auch gestochen worden?«

»Gesehen habe ich sie schon, aber merkwürdig undeutlich. Ich will sagen, ich hätte sie nicht auseinanderkennen können, nicht sagen, ob es Wespen oder Hummeln oder Bremen waren. Warten Sie, ich möchte es deutlicher sagen. Also, ich glaubte, verschiedene Arten von Summen auseinanderkennen zu können, das dumpfe Gebrumm der Hummeln, das wie fernes Glockenläuten tönt, das helle Weinen der Mücken dazwischen und das Pfurren der Bremen. Aber gesehen habe ich nur ein wirres Durcheinander, es wurde finster im Saal, gestochen bin ich nicht worden.«

»Sehr klar, Jakob, durchaus klar. Frag die andern alle. Gestochen ist keiner worden, das bin ich sicher, obwohl die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist, daß einige Leute geschwollene Gesichter bekommen werden, weil sie der festen Überzeugung sind, daß sie gestochen worden sind. Der Überzeugung, verstehst du? Sie haben den Glauben gehabt. Man könnte diese Leute auch Hysteriker nennen. Das ist aber nur ein Schlagwort. Menschen mit großer Einbildungskraft. Diese Menschen (und immer hat es solche, wenn eine Menschenmenge beisammen ist) wirken wie die Relais bei den Telegraphenlinien: sie fangen die Botschaften auf und geben sie verstärkt weiter. Es hat keine Fliegen gegeben, aber es war eine Person im Saal, die so stark das Bild eines Insektenschwarmes gedacht hat, daß sie fähig gewesen ist, es in den Gehirnen der Aufnahmefähigen zu erzeugen, und diese haben es dann weitergegeben und so die ganze Menge mit diesem Bild verseucht. Verstehst du? Ich kann dir versichern, ich habe nichts gesehen, aber gehört habe ich etwas, nämlich ein Gemurmel, das langsam den Klang von Fliegensummen angenommen hat. Und da wußte ich, was los war. Es ist nämlich nicht das erste Mal, daß ich einem solchen Experiment beigewohnt habe. Etwas Ähnliches habe ich vor Jahren erlebt mit einer Frau, mit der ich damals zusammenarbeitete. Aber ich habe nie darüber geschrieben, denn die Kollegen hätten mich ausgelacht.«

»Also eine Art Massensuggestion?« fragte Jakob und war stolz, sich so wissenschaftlich ausdrücken zu können. Aber er sollte enttäuscht werden, denn Professor Dominicé zuckte mit den Achseln.

»Fremdworte nützen in solchen Fällen nur wenig. Daß doch die Menschen immer meinen, eine Tatsache erklärt zu haben, wenn sie nur ein recht fremdartiges Wort dafür gefunden haben!«

Jakob schwieg. Leute gingen vorüber, manche grüßten den Professor mit einer Art demütiger Scheu, aber Dominicé blickte nicht auf. Er hielt den Blick auf den Kies zu seinen Füßen gesenkt, fuhr manchmal zerstreut durch sein weißes, noch sehr dichtes Haar. Plötzlich sagte er:

»Willst du heut abend bei mir bleiben, Jakob? Wir fahren dann zusammen zu deinem Bruder, um halb neun, nicht wahr? Du kannst doch bei mir bleiben? Weißt du, ich bin so allein. Daheim habe ich, glaube ich, noch ein paar Eier, die können wir uns kochen oder braten, aber Brot müssen wir mitnehmen und Käse, wenn du ihn magst. Mir macht Thévenoz Sorge, Jakob, und dann weißt du, der merkwürdige Giftpfeil. Es ist bald nicht mehr geheuer in unserer guten Stadt Genf. Und mir sind die Arme gebunden.«

»Aber Sie wollten doch vor einer großen Versammlung ein Schuldbekenntnis ablegen?« wagte Jakob zu fragen.

»Ich muß dir eine Illusion nehmen, Jakob. Mit dem Alter wird man nicht klüger, merk dir das, manchmal wird man dümmer. Aber was ist dumm? Vielleicht war es doch klug. Aber ich möchte doch wissen, was mit Thévenoz los ist.«

»Soll ich ihn suchen gehen, Professor?« fragte Jakob dienstbereit, obwohl er gar nicht wußte, wer dieser Thévenoz war. Da half ihm der Professor auf die Spur.

»Ich habe selber versucht, ihn im Spital zu erreichen, aber es hieß, er sei seit vier Tagen in den Ferien. Dann habe ich einen Spaziergang zu seiner Wohnung gemacht, aber dort war alles verschlossen.«

»Im Spital?« fragte Jakob, und eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf. »Arbeitet er mit meinem Bruder?«

»Richtig«, sagte Dominicé erlöst. »Dann wird dein Bruder, Wladimir heißt er doch, dann wird dein Bruder Wladimir uns heute abend wohl Auskunft geben können.«

Sie standen auf. Der Professor nahm wieder Jakobs Arm, stützte sich leicht darauf. So wanderten sie zusammen die Corraterie hinab durch die Rues Basses. Vor Dominicés Haus sah sich Jakob mißtrauisch um. An der Ecke stand ein Mann mit einem roten Schnurrbart unter einer stumpfen Nase, der mehr als verdächtig aussah. Als er aber nach einem kurzen Blick sich abwandte, schenkte ihm Jakob auch keine weitere Beachtung und ging mit dem Professor ins Haus.

Der Schlüssel zur Wohnungstür wollte nicht recht fassen, endlich, nach zwei oder drei Versuchen, ging die Türe auf. Im Arbeitszimmer herrschte große Unordnung, Schubladen standen offen, Papiere lagen umher. Dominicé begann zu lachen, es war ein tiefes gurgelndes Lachen, aber es klang befreit.

»Gefunden haben sie nichts, die Dummköpfe!« rief er fröhlich. Dann wurde er plötzlich ernst. Jakob hörte ihn murmeln: »Die Flasche, wo ist die Flasche?« Der Professor stöberte in der Küche nach, kopfschüttelnd kehrte er zurück. »Wenigstens«, sagte er, »wenigstens sind die Eier nicht zerbrochen. Komm, Jakob, wir wollen kochen gehen.« Sie teilten sich in die Arbeit, Jakob übernahm die Eier, der Professor den Tee. Dann saßen sie nebeneinander im Arbeitszimmer, Jakob strich Butterbrote, belegte sie mit Käse, der Professor kaute. Pünktlich um acht Uhr ging Jakob zum Telephon, bestellte ein Taxi, wandte sich dann an den Professor: »Ich habe noch jemanden eingeladen, für heute abend«, sagte er, »aber Sie müssen nicht erschrecken, Sie kennen die Frau.«

»Wer ist es?« fragte der Professor.

»Baranoffs Sekretärin.«

»Mein Gott«, sagte der Professor. Sonst nichts. Dann folgte er folgsam seinem jungen Freunde.

Als die beiden aus der Haustür traten, sah sich Jakob noch einmal mißtrauisch um. Der Mann mit dem Schnurrbart unter einer stumpfen Nase war verschwunden. Kommissar Pillevuit hatte Wort gehalten, aber Jakob konnte das nicht wissen.


 << zurück weiter >>