Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Spritztour und Ende

Wenn nicht die Hände gewesen wären, die großen, dicken Hände auf dem Lenkrad, die von Zeit zu Zeit zuckten, um den Wagen wieder in die Richtung zu bringen, hätte man meinen können, man säße neben einem steinernen Mann. Aeschbacher rührte sich nicht. Sein Mund war fest geschlossen, die Blicke geradeaus gerichtet. Der Scheibenputzer pendelte hin und her und schnitt in die trübe Scheibe eine geometrische Figur, die Studer an die Sekundarschule erinnerte.

»Ist Eure Frau Ausländerin?« fragte er schüchtern, um das Schweigen zu brechen.

Keine Antwort. Studer schielte nach seinem Begleiter. Da sah er, daß zwei große Tränen über die wulstigen Wangen liefen , im Schnurrbart versickerten, zwei neue kamen, verschwanden. Studer blickte scheu beiseite. Es sah tragisch und grotesk aus, wie so vieles im Leben.

Eine Hand ließ das Steuerrad los, suchte in der Tasche. Schneuzen.

»Verdammter Schnupfen«, tönte es heiser. »Sie ist in Wien aufgewachsen. Die Eltern waren Schweizer.«

»Und was meint sie?« Studer hätte sich ohrfeigen können. So etwas sagt man doch nicht! Und es war wirklich ein Fehler. Denn plötzlich traf Studer ein Blick… Er war bösartiger, dieser Blick, als jener, den er damals im ›Bären‹ erhalten hatte. Wieweit war das weg! Studer sah die kurze Bewegung, mit der Aeschbacher die Karten fächerförmig auseinanderbreitete…

Ganz ruhig kam nun die Stimme:

»Das hättet Ihr nicht sagen sollen, Wachtmeister!«

Die Straße lief am See entlang. Aber der See war fast nicht zu erkennen. Die ganze Straßenbreite lag dazwischen, dann kam eine niedere Mauer, und hinter der niederen Mauer sah man mit Mühe eine große feuchte Ebene, grau, grau, verschwommen, kalt. Das Auto fuhr langsam.

Wie spät war es eigentlich? Studer wollte seine Uhr ziehen, er hatte schon Daumen und Zeigefinger in der Westentasche versenkt, da hörte er eine ganz fremde Stimme sagen – und sie hatte gar keine Ähnlichkeit mehr mit der Stimme des Ansagers vom Radio Bern:

»Use, los! Sonst…«

Studers Uhr flog aus der Westentasche, seine rechte Hand umkrampfte den Griff der Türklinke, drückte sie nieder, riß sie in die Höhe (wie funktionierte nur so eine Klinke?), Studer warf seinen massiven Körper mit aller Gewalt gegen die Tür, sie sprang auf, er flog auf die Straße, blieb mit einem Fuß an der unteren Türkante hängen, wurde ein Stück mitgeschleift. Seine Schulter, sein Kopf prallten gegen etwas Hartes, ein riesiger Schatten war über ihm, verschwand… Und dann wurde es endgültig dunkel.

 

»Nein, jetzt wird nicht mikroskopiert«, sagte eine tiefe Stimme. Es war Nacht. Irgendwo brannte ein grünes Licht. Studer versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, wo er die Stimme schon einmal gehört hatte.

»Pikrin…« flüsterte Studer. Er hörte ein Lachen.

»Der verdammte Fahnder, nie kann er Ruh' geben. Passen Sie auf, Schwester. Wie gesagt, alle Stunden Coramin, alle drei Stunden Transpulmin, verstanden? Gott sei Dank, ist er noch ein fester Kerl. Es ist kein Spaß, wenn man zwei Frakturen hat und dazu noch…«

Weiter hörte Studer nichts. Es war doch einmal ein schwarzer Vorhang dagewesen, jetzt aber senkte sich ein roter über ihn, es rauschte, Glocken läuteten. Der Whisky war scharf. Das gab Durst. Wie hatte doch der See ausgesehen? Eine weite Ebene grau, grau, kalt und feucht…

Dann war wieder einmal Sonne da und ein ganz bekanntes Geräusch. Studer lauschte. Es klickte… klickte. Was war das? Früher hatte das Geräusch ihn immer verrückt gemacht, er kannte es gut. Was war es nur? Natürlich! Stricknadeln! Er rief leise: »Hedy!«

»Ja?«

Ein Schatten zwischen ihm und der Sonne.

»Grüß di«, sagte Studer und blinzelte mit den Augen.

»Salü!« sagte Frau Studer, als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre.

– Was denn eigentlich mit ihm los sei? fragte Studer. – Nüt Apartigs, meinte die Frau. Fieber, Brustfellentzündung, Oberarm gebrochen, Schlüsselbeinfraktur. Er solle froh sein, daß er noch nicht tot sei.

Sie tat dergleichen, als ob sie ärgerlich sei. Aber hin und wieder preßte sie die Lippen zusammen.

»Aebe, jooo«, sagte Studer und schlief wieder ein.

Das dritte Mal ging es schon ganz gut. Da war der Punkt, der stechende Punkt in der Brust verschwunden. Aber der rechte Arm war noch schwer. Studer trank eine Tasse Bouillon und schlief wieder ein.

Das vierte Mal wachte er auf, weil ein Heidenkrach vor der Zimmertür stattfand. Eine ärgerliche Stimme verlangte Einlaß, eine andere Stimme (war das nicht der Dr. Neuenschwander?) wurde boshaft und fluchte. Es war alles so unerträglich laut.

»Die Leute sollen still sein!« flüsterte Studer.

Und wirklich schwiegen sie bald darauf.

Und dann kam endlich das große Erwachen. Es war morgens, kühl, das Fenster mußte gerade geöffnet worden sein. Das Zimmer war klein, die Wände mit grüner Ölfarbe gestrichen. Geranien blühten auf dem Fensterbrett.

Eine dicke Schwester war daran, das Zimmer zu kehren.

»Schwester«, sagte Studer und seine Stimme war fest, »ich hab Hunger.«

»So, so«, sagte die Schwester nur, kam näher, beugte sich über Studer. »Geht's besser?«

»Wo bin ich?« fragte Studer und begann zu lachen. So fragten doch immer die Helden in den Romanen von… von… wie hieß die alte Trucke nur, die immer Romane schrieb? Felicitas? Ja, Felicitas…

»Gemeindespital Gerzenstein«, sagte die Schwester. Irgendwo spielte Musik.

»Was ist das?« fragte Studer.

»Hafenmusik – Hamburg«, sagte die Schwester.

»Gerzenstein und die Lautsprecher«, murmelte Studer. Und dann gab es Milch und Weggli und Anken und Konfitüre. Studer bekam Lust nach einer Brissago. Aber als er diesen Wunsch äußerte, kam er bei der Schwester bös an.

Und dann kam ein Nachmittag, an dem er allein im Zimmer lag. Seine Frau war nach Bern zurückgefahren und hatte versprochen, ihn am Ende der Woche holen zu kommen.

Da kam die Schwester herein, eine Dame (sie sagte ›eine Dame‹) wolle den Wachtmeister sprechen. Studer nickte.

Die Haare der Dame waren weiß wie… wie… Flieder.

Studer wußte, daß Aeschbacher im See ertrunken war. Ein Unglücksfall, war ihm gesagt worden. Studer hatte genickt.

Die Dame setzte sich an Studers Bett, die Schwester ging hinaus. Die Dame schwieg.

»Bonjour Madame«, sagte Studer mit einem hilflosen Versuch, zu scherzen. Die Dame nickte.

Schweigen. Eine Hummel strich summend durchs Zimmer. Es mußte wohl Ende Juni sein.

»Es war meine Schuld«, sagte Studer leise. »Ich hab ihn nach Ihnen gefragt, Madame, und da hat er geweint. Die Tränen sind ihm über die Wangen gelaufen. Ja. Und dann hab ich ihn noch gefragt, was Sie gemeint hätten, so, zu der ganzen Sache. Dann hat er mich noch gewarnt. Ich habe gerade Zeit gehabt, aus dem Wagen zu springen. Ich mein' er ist dann über die Mauer… Glauben Sie nicht, es ist besser so?«

»Ja«, sagte die Dame. Sie weinte nicht. Sie hatte die Hand auf Studers Arm gelegt. Eine sehr leichte Hand.

»Ich sage nichts, Madame«, sprach Studer ganz leise.

»Danke, Herr Studer.«

Das war alles.

Und einmal kam Sonja Witschi. Sie bedankte sich. Die Versicherung war nicht ausbezahlt worden. Der Untersuchungsrichter hatte sie alle drei vorgeladen, die Mutter, Armin und Sonja. Man hatte davon abgesehen, eine Klage auf Versicherungsbetrug zu stellen. Man war froh, den ganzen Fall Witschi ad acta zu legen…

– Wie es dem Schlumpf ginge, wollte Studer wissen.Gut, sagte Sonja und wurde rot.

…Die Sommersprossen auf dem Nasensattel, an den Schläfen…

– Armin werde auch bald heiraten, sagte sie. Die Mutter habe noch immer den Bahnhofkiosk.

Und zum Schluß kam der Untersuchungsrichter. Sein seidenes Hemd war diesmal cremefarben. Den Siegelring trug er noch immer.

»Ich war schon einmal da, Herr Studer«, sagte er. »Aber der Arzt war so grob. Ich wundere mich immer über den Mangel an guter Kinderstube bei akademisch gebildeten Leuten, bei Medizinern vor allem.«

– Das sei nun einmal so, meinte Studer. Er hatte die Hände auf der Bettdecke gefaltet und drehte die Daumen umeinander.

»Warum sind Sie damals mit Aeschbacher gefahren, Herr Studer? Hatten Sie etwas Wichtiges entdeckt? Sie machten damals so merkwürdige Andeutungen? Hat Witschi eigentlich keinen Selbstmord begangen, war es doch ein Mord? Hat Ihnen der selige Herr Gemeindepräsident etwas mitgeteilt? Etwas Wichtiges? Das er auch mir mitteilen wollte? Sie schweigen, Studer? Was hat Ihnen Aeschbacher mitgeteilt, daß Sie es so eilig hatten, mit ihm nach Thun zu fahren?«

Studer starrte zur Decke, schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er, und seine Stimme war ausdrucklos:

»Nüt Apartigs…«


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