Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Schwomm

Auf der Straße schon hörte Studer die Musik. Besonders laut tönte die Handharfe. Schreier schien wieder seinen Platz eingenommen zu haben…

Und wer saß am Tisch, eifrig auf Armin Witschi einredend, mit hohem Stehkragen und schwarzen, hohen Schnürschuhen zu grauen Flanellhosen?

Der Lehrer Schwomm.

Er sprang auf, als Studer an ihm vorbeiging. Sein Gesicht war ratlos und kindlich. Über der Oberlippe saß ein blondes Schnurrbärtchen.

»Herr Wachtmeister«, sagte der Lehrer Schwomm atemlos, »ich habe gehört, daß Sie sich mit dem Fall Witschi beschäftigten. Ich habe lange gezögert, Ihnen anzuvertrauen, was ich von der Sache weiß. Aber nun drängt es mich, der Gerechtigkeit meines Vaterlandes Genüge zu tun, und…«

»Red' nicht so viel, Schwomm«, sagte Armin grob. Studer blickte den Burschen streng an. Der nickte mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Du kannst mich lang anstarren, mir machst du keine Angst…«

»Wollen Sie nicht an meinen Tisch kommen, Herr Lehrer Schwomm?« fragte Studer höflich und wies mit der Hand gegen den Tisch, an dem noch immer der alte Ellenberger saß und gedankenvoll sein Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte…

Schwomm nahm Platz. Das heißt, er setzte sich auf die äußerste Kante des eisernen Gartenstuhls, zog dann sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Seine Gesichtshaut war fast so gelb wie seine gelockten Haare.

»Ich habe nämlich am Abend, an dem der arme Witschi durch Mörderhand umgekommen ist«, sagte der Lehrer Schwomm und knetete an seinen Händen, »zufällig zwei Schüsse gehört…«

»So?« sagte Studer trocken.

»A bah!« meinte der alte Ellenberger und zog die Mundwinkel in die Wangen.

»Ja«, der Lehrer nickte. »Zwei Schüsse. Ich bin an jenem Abend zufällig im Wald spazieren gegangen… In Begleitung… Ich brauche doch nicht anzugeben, mit wem ich im Walde war?«

Ellenbergers dröhnendes Baßlachen machte den Lehrer noch verlegener.

»Könnte ich nicht unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Herr Wachtmeister?« fragte er und wurde rot.

Studer schüttelte den Kopf. Ihn interessierte weniger, was der Lehrer ihm zu erzählen hatte, als das, was er offenbar verschweigen wollte. Und man konnte aus dem Verhalten des Mannes auf das schließen, was er zu verbergen hatte.

Der Lehrer Schwomm räusperte sich.

»Es war ungefähr zehn Uhr, als ich die Landstraße verließ und einen Seitenweg einschlug. Ich ging im Walde so für mich hin, wie es im Gedicht heißt, und ich dachte auch an nichts. Der Abend war still und weich, verschlafene Vögel zirpten in den Zweigen…«

»A bah!« krächzte wieder der alte Ellenberger, aber Studer winkte ab. Der Tisch Armins war leer. Gerber tanzte wieder mit Sonja, verfolgt von den gehässigen Blicken des ›Convict Bands‹, der ›Maquereau‹ tanzte mit der Kellnerin und schien ihr eifrig etwas zu erklären (vielleicht wollte er sie zu etwas überreden?).

»…Und von Zeit zu Zeit eilte ein flüchtiges Tier seiner Ruhestätte zu. Ich mochte mit meiner… mit meinem Begleiter schon ziemlich weit in die sanfte Tiefe des Waldes eingedrungen sein, als ich das Knattern eines auf der Straße sich nähernden Motorrades vernahm, eines leichten Motorrades möchte ich hinzufügen…«

»Fügen Sie nur ruhig hinzu«, sagte der alte Ellenberger und krächzte heiser. War es ein Lachen?

Aber der Lehrer ließ sich nicht mehr stören.

»Das Geräusch, wenn ich es so nennen darf, hörte plötzlich auf. Ich hörte Zweige knacken…«

»Können Sie etwa die Distanz schätzen, ich meine die Distanz, die Sie von der Straße trennte?« fragte Studer und ließ seine Brissago qualmen.

»Nicht genau«, antwortete Schwomm leise. Er schien entrückt zu ein. Seine Augen blickten verschwommen ins Weite – und das Weite war hier ein dichtbesetzter Wirtsgarten. »Vielleicht könnte ich die Stelle wiederfinden, an der ich gestanden bin…«

»Gut«, sagte Studer. »Weiter, Herr Lehrer Schwomm.«

»Diesen ersten Teil, nämlich das Herankommen des Motorrades und dessen plötzlichen Stillstand, habe ich natürlich im Augenblick nicht beachtet. Es ist mir erst später eingefallen, als im Dorfe von der Auffindung des Leichtmotorrades Marke ›Zehnder‹ gesprochen wurde, des Motorrades, das dem verunfallten Wendelin Witschi gehört haben soll…«

Verunfallten? dachte Studer. Warum sagt der Mann zuerst durch Mörderhand umgekommen und jetzt verunfallt? Sollte er? Und es fiel ihm ein, wie grob Armin Witschi den Lehrer angelassen hatte.

»Weiter«, sagte Studer.

Aber Schwomm bedurfte dieser Aufforderung nicht. Er sprach und begleitete seine Rede mit pathetisch sein sollenden Bewegungen.

»Da, plötzlich, in der Stille des Waldes, erdröhnten zwei Schüsse. Meine… mein Begleiter zuckte zusammen. Ich beruhigte ihn. Es werde wohl nichts Schlimmes sein. Aber da ich Angst hatte, oder vielmehr, da meine… Begleitung Angst hatte, wir könnten überfallen werden, verließen wir, einen großen Umweg machend, den Wald, gelangten weit vor dem Dorfe wieder auf die Landstraße und folgten ihr. Nach einiger Zeit sahen wir am Rande der Straße ein verlassenes Motorrad stehen. Es war an einen Baum gelehnt…«

Schwomm machte eine Pause.

»Gesehen haben Sie niemanden?« fragte Studer nebenbei.

»Gesehen? Nein. Nur gehört. Nach den beiden Schüssen das Geräusch vieler Schritte. Einen dunklen Schatten bemerkten wir auch, aber nicht gegen die Landstraße zu, sondern in der entgegengesetzten Richtung, dort, wo der Wald an die Baumschulen des Herrn Ellenberger grenzt.«

»Einen Schatten?« fragte Studer. »Können Sie den Schatten näher beschreiben?«

Statt einer Antwort fragte Schwomm sehr sanft:

Der Fall ist doch eigentlich durch das Geständnis des Schlumpf erledigt? Oder?«

»Gewiß, gewiß.« Studer sah auf seine gefalteten Hände. Er lauschte dem Tonfall von des anderen Stimme. Warum wohl hatte der Lehrer mit einem Zeugenbericht begonnen, um plötzlich, noch vor dessen Ende, die Frage zu stellen, ob der Fall nicht erledigt sei? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder der Lehrer wollte sich wichtig machen, um im Prozeß eine Rolle zu spielen, und es war sehr wahrscheinlich, daß diese Möglichkeit stimmte, – oder Schwomm wußte etwas, wagte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht die Wahrheit zu sagen und half sich aus der Klemme, indem er die Hälfte des Wahrgenommenen mitteilte, gewissermaßen als Beruhigungsmittel für sein belastetes Gewissen. Denn der Mann wußte etwas, das war sicher. Nicht umsonst ergeht sich ein immerhin gebildeter Mann – er war Sekundarlehrer – in einer ziemlich öden Phraseologie, wie ›verschlafene Vöglein zirpten in den Zweigen‹. Und dann war da das Wort, das dem Lehrer wahrscheinlich ganz unbewußt entschlüpft war: ›…verunfallten‹.

Schweigen am Tisch. Die Musik verstummte, das Stück war zu Ende und lauter ertönte das Stimmengesumm. Die drei am Nebentisch kehrten zurück. Sonja blickte unbeteiligt auf den Lehrer – sie schien also nicht die ›Begleitung‹ des Lehrers gewesen zu sein, wenn man überhaupt aus Blicken Schlüsse ziehen konnte. Armins Gesicht hingegen war leicht verzerrt. Er schien jemanden zu suchen. Manchmal streiften seine Blicke über den Lehrer Schwomm, schweiften ab, schienen wieder auf die Suche zu gehen, blieben an der Türe hangen, die aus der Wirtschaft in den Garten führte…

Dort stand die Kellnerin. Und Studer fühlte mehr, als daß er richtig gesehen hätte, wie sie ganz unmerklich winkte – eine leichte Bewegung des Kopfes, ein Mundwinkel, der zuckte… Armin lehnte sich zurück, gähnte, hielt die Hand vor den Mund. Ein kaum merkliches Nicken, – das Gähnen war wohl nur ein Versuch, die Beobachter von der Bewegung des Kopfes abzulenken…

Studer war nicht mehr müde. Es kam ihm vor, als stehe er wieder mitten in den Ereignissen. Er war nicht mehr ausgeschaltet. Vor allem: es schien etwas vorzugehen, Ereignisse waren zu erwarten, Studer fühlte es in allen Gliedern. Er blieb ruhig. Zuerst aus diesem badschwammblonden Menschen, diesem Lehrer, alles herausholen, was es herauszuholen gab, und dann…

Studer hatte schon sein Programm für morgen.

Aber wieviel konnte noch passieren zwischen heut und morgen!… Die ganze Nacht lag dazwischen. Er wußte, der Wachtmeister Studer, daß er die folgende Nacht nicht viel schlafen würde… Aber was tat das? Saubere Arbeit! kommandierte er sich. Und wenn die Sache noch so unordentlich und verworren aussieht! Ordnung muß sein. Sauberkeit! Sauberkeit vor allem!

»Und wie sah der Schatten aus?« Die Frage war ein Überfall. Der verträumte Lehrer schreckte auf.

»Er huschte« (›huschte!‹ sagte der Lehrer Schwomm), »er huschte in zehn Meter Entfernung an uns… eh… an mir vorbei. Größe? Mittelgroß… ja, mittelgroß…« Der Lehrer schwieg plötzlich.

Mittelgroß?« fragte Studer freundlich. »Ich müßte Vergleichsmöglichkeiten haben. Ungefähr wie groß war er, der Schatten? Ich will Ihnen zwar verraten, Herr Lehrer Schwomm, daß der Schatten vielleicht gar keine Wichtigkeit hat, aber möglicherweise bestätigt er unsere Vermutungen. Wäre der Schatten so groß gewesen wie, sagen wir, der Angeklagte Schlumpf, so wäre dies sehr wichtig für die Richter, die ja nichts auf ein Geständnis geben, solange nicht jede Bewegung des Angeklagten vor und nach der Tat samt allen psychologischen Motiven ganz genau festgelegt ist. Ich spreche zu einem Akademiker, nicht wahr, einem einfachen Manne gegenüber würde ich mich weniger gelehrt ausdrücken; also wie groß war der Schatten?«

»Ich habe Erwin Schlumpf eigentlich wenig gesehen. Aber mir scheint, der Schatten war von seiner Größe…«

»Es wäre für uns von größter Bedeutung, wenn wir vielleicht die Ansicht Ihrer… Ihrer Begleitung hören könnten, aber dies wird wahrscheinlich unmöglich sein…«

»Ausgeschlossen, ganz ausgeschlossen… Ich könnte es nie und nimmer verantworten …«

»Schon gut«, schnitt Studer die Beteuerungen ab. Er schielte nach dem Tische Armins. Dort schien etwas los zu sein. Armin flüsterte eifrig auf seine Schwester ein, den Coiffeurgehilfen hatte er mit einer Handbewegung dazu gebracht, nicht zuzuhören. Dann stand Armin auf – die Kellnerin lehnte noch immer am Pfosten der Saaltüre, sie schien plötzlich schwerhörig geworden zu sein und blind obendrein, denn sie kümmerte sich weder um die Rufe noch um das Winken der Gäste. Sie sah aber Armins Aufstehen, drehte sich um und verschwand im Innern des ›Bären‹. Armin schlenderte durch den Garten, den Kopf hielt er gesenkt. Plötzlich beschleunigte er sein Schlendern, er nahm große Schritte – und dann schluckte auch ihn die offene Türe…

»Schon gut«, wiederholte Studer nach einer Pause – und er konnte den Blick nicht von Sonja wenden. Verzweiflung, Angst, Ratlosigkeit brachten Unruhe in das Kleinmädchengesicht.

Wenn sie nur Vertrauen zu mir hätte, grübelte Studer. Er dachte, während er den nächsten Worten Schwomms zerstreut lauschte, immerfort an seine Frau. Wenn die hier wäre… Seit er ihr das Romanlesen abgewöhnt hatte, gelang es dem Hedy (Frau Studer hieß Hedwig) gut, geplagte, schweigsame Menschen zum Reden zu bringen – besonders Frauen.

Der Lehrer Schwomm aber sagte:

»Natürlich will ich nicht behaupten, daß ich Erwin Schlumpf auf der Flucht nach seiner ruchlosen Tat ertappt habe…« (Verunfallt – ruchlose Tat, ging es Studer durch den Kopf…) »Aber immerhin schien es mir merkwürdig, daß der Schatten die Richtung nach den Baumschulen des Herrn Ellenberger nahm…«

»Die Baumschulen als Schattenreich, hehehe…« meckerte der alte Ellenberger. Studer sah ihn strafend an.

»Und Sie sind ganz sicher, zwei Schüsse gehört zu haben, und nach den zwei Schüssen haben Sie den Schatten in der Richtung der Baumschulen verschwinden sehen?«

»Ich glaube«, Schwomm stotterte, »Ich glaube, ich habe zwei Schüsse gehört.« Wie hilfesuchend blickte sich der Lehrer um. Aber er vermied es, Studer in die Augen zu sehen.

»Glauben! glauben!« sagte Studer vorwurfsvoll. »Ein Mann wie Sie darf nicht glauben, er muß sicher sein. Also zwei Schüsse? Ja?«

»Jaha«, es klang wie ein Seufzer.

Schweigen. Dann begann die Musik wieder zu spielen. Ausgerechnet: ›Wenn du einmal dein Herz verschenkst…‹ Studer sah den Coiffeurlehrling Sonja zum Tanz auffordern. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie packte ihre kleine Handtasche unter den Arm, rannte durch den Garten. War es eine Flucht? War es nicht vielmehr ein letzter Versuch, jemanden einzuholen?

»Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, mir von zwei Schüssen zu erzählen, während ich durch fünf Zeugenaussagen erhärten kann, daß nur ein Schuß gefallen ist?« (Das mit den fünf Zeugenaussagen war aufgelegter Schwindel, in Murmanns Protokollen stand nichts dergleichen, aber was tat man nicht alles, um die Wahrheit zu finden?)

»Fünf Zeugenaussagen?« Schwomm war bleich. »Erhärten?«

»Ja, erhärten!« sagte Studer grob. »Übrigens interessiert mich das gar nicht. Sie haben ein schlechtes Gewissen, Herr Lehrer Schwomm. Sie haben versucht, das schlechte Gewissen los zu werden, indem Sie mir nur die Hälfte, was sage ich, die Hälfte!… nur ein Viertel der Wahrheit erzählt haben. Ich will jetzt nichts mehr hören«, Studer winkte ab, denn Schwomm öffnete den Mund, um sich zu rechtfertigen. »Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen…«

Wenn Studer hochdeutsch sprach, und das kam selten genug vor, war die Wirkung immer die gleiche – ob es sich nun um die Wirkung auf Zivilpersonen handelte oder um die auf junge Fahnder. Alle spürten dann, es war am besten, man ließ den Wachtmeister in Ruhe.

»Heiß, heiß!« krächzte der alte Ellenberger. »Vous brûlez commissaire!« Wie es in jenem Spiel üblich ist, in dem ein versteckter Gegenstand gesucht werden muß und die Wissenden den Suchenden leiten mit Worten wie: ›kalt, wärmer, sehr warm, heiß‹, je nachdem der Suchende sich dem versteckten Gegenstand nähert oder sich von ihm entfernt.

»Ihr werdet auch nicht immer spielen können, Ellenberger«, sagte Studer. Sein Gesicht war sehr bleich, er hatte die Hände geballt. Dann zuckte er mit den Achseln und schritt zwischen den lauten Tischen hindurch, auf die Türe zu, in der Armin Witschi verschwunden war.

Im Schieberrhythmus spielte ›The Convict Band‹:

›Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus…‹


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