Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Der Fall Wendelin Witschi zum ersten

Ihr seid…« (Räuspern.) »Ihr seid der Wachtmeister Studer?«

»Ja.«

»Nehmt Platz.«

Der Untersuchungsrichter war klein, mager, gelb. Sein Rock war über den Achseln gepolstert und von lilabrauner Farbe. Zu einem weißen, seidenen Hemd trug er eine kornblumenblaue Krawatte. In den dicken Siegelring war ein Wappen eingraviert – der Ring schien übrigens alt.

»Wachtmeister Studer, ich möchte Euch sehr höflich fragen, was Ihr Euch eigentlich vorstellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch eigenmächtig – ich wiederhole: eigenmächtig! in einen Fall einzumischen, der…«

Der Untersuchungsrichter stockte und wußte selbst nicht weshalb. Da saß vor ihm ein einfacher Fahnder, ein älterer Mann, an dem nichts Auffälliges war: Hemd mit weichem Kragen, grauer Anzug, der ein wenig aus der Form geraten war, weil der Körper, der darin steckte, dick war. Der Mann hatte ein bleiches, mageres Gesicht, der Schnurrbart bedeckte den Mund, so daß man nicht recht wußte, lächelte der Mann oder war er ernst. Dieser Fahnder also hockte auf seinem Stuhl, die Schenkel gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet… Der Untersuchungsrichter wußte selbst nicht, warum er plötzlich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ überging.

»Sie müssen begreifen, Wachtmeister, es scheint mir, als hätten Sie Ihre Kompetenzen überschritten…« Studer nickte und nickte: natürlich, die Kompetenzen!… »Was hatten Sie für einen Grund, den Eingelieferten, den ordnungsmäßig eingelieferten Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen? Ich will ja gerne zugeben, daß Ihr Besuch höchst opportun gewesen ist – das will aber noch nicht sagen, daß er sich mit dem Kompetenzbereich der Fahndungspolizei gedeckt hat. Denn, Herr Wachtmeister, Sie sind schon lange genug im Dienste, um zu wissen, daß ein fruchtbares Zusammenarbeiten der diversen Instanzen nur dann möglich ist, wenn jede darauf sieht, daß sie sich streng in den Grenzen ihres Kompetenzbereiches hält…«

Nicht einmal, nein, dreimal das Wort Kompetenz… Studer war im Bild. Das trifft sich günstig, dachte er, das sind die Bösesten nicht, die immer mit der Kompetenz aufrücken. Man muß nur freundlich zu ihnen sein und sie recht ernst nehmen, dann fressen sie einem aus der Hand…

»Natürlich, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer und seine Stimme drückte Sanftmut und Respekt aus, »ich bin mir bewußt, daß ich wahr- und wahrhaftig meine Kompetenzen überschritten habe. Sie stellten ganz richtig fest, daß ich es bei der Einlieferung des Häftlings Schlumpf Erwin hätte bewenden lassen sollen. Und dann – ja, Herr Untersuchungsrichter, der Mensch ist schwach – dann dachte ich, daß der Fall vielleicht doch nicht so klar liege, wie ich es anfangs angenommen hatte. Es könnte möglich sein, dachte ich, daß eine weitere Untersuchung des Falles sich als nötig erweisen würde und daß ich vielleicht mit deren Verfolgung betraut werden könnte, und da wollte ich im Bilde sein…«

Der Untersuchungsrichter war sichtlich schon versöhnt.

»Aber, Wachtmeister«, sagte er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließlich, wenn dieser Schlumpf sich auch erhängt hätte, das Malheur wäre nicht groß gewesen – ich wäre eine unangenehme Sache los geworden und der Staat hätte keine Gerichtskosten zu tragen brauchen…«

»Gewiß, Herr Untersuchungsrichter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirklich der ganze Fall erledigt gewesen? Denn daß der Schlumpf unschuldig ist, werden auch Sie bald herausfinden.«

Eigentlich war eine derartige Behauptung eine Frechheit. Aber so ehrerbietig war Studers Stimme, so zwingend heischte sie Bejahung, daß dem Herrn mit dem wappengeschmückten Siegelring nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken.

Mit braunem Holz waren die Wände des Raumes getäfelt, und da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren, schimmerte die Luft wie dunkles Gold.

»Die Akten des Falles«, sagte der Untersuchungsrichter ein wenig unsicher. »Die Akten des Falles… Ich habe noch nicht recht Zeit gehabt, mich mit ihnen zu beschäftigen… Warten Sie…«

Rechts von ihm waren fünf Aktenbündel übereinander geschichtet. Das unterste, das dünnste, war das richtige. Auf dem blauen Kartondeckel stand:

SCHLUMPF ERWIN
MORD

»Leider«, sagte Studer und machte ein unschuldiges Gesicht. »Leider hat man in letzter Zeit ziemlich viel von mangelhaft geführten Untersuchungen gehört. Und da wäre es vielleicht besser, wenn man sich auch bei einem so klaren Fall mit den notwendigen Kautelen umgeben würde…«

Innerlich grinste er: Kommst du mir mit Kompetenz, komm ich dir mit Kautelen.

Der Untersuchungsrichter nickte. Er hatte eine Hornbrille aus einem Futteral gezogen, sie auf die Nase gesetzt. Jetzt sah er aus wie ein trauriger Filmkomiker.

»Gewiß, gewiß, Wachtmeister. Sie müssen nur bedenken, es ist meine erste schwere Untersuchung, und da wird mir natürlich Ihre Kompetenz in diesen Angelegenheiten…«

Weiter kam er nicht. Studer hob abwehrend die Hand.

Aber der Untersuchungsrichter beachtete die Bewegung nicht. Er hatte zwei Photographien in der Hand und reichte sie über den Tisch:

»Aufnahmen des Tatortes…«, sagte er.

Studer betrachtete die Bilder. Sie waren nicht schlecht, obwohl sie von keinem kriminologisch geschulten Fachmann aufgenommen worden waren. Auf beiden sah man das Unterholz eines Tannenwaldes und auf dem Boden, der mit dürren Nadeln übersät war – die Bilder waren sehr scharf –, lag eine dunkle Gestalt auf dem Bauch. Rechts am kahlen Hinterkopf, schätzungsweise drei Finger breit von der Ohrmuschel, gerade über einem dünnen Haarkranz, der zum Teil den Rockkragen bedeckte, war ein dunkles Loch zu sehen. Es sah ziemlich abstoßend aus. Aber Studer war an solche Bilder gewöhnt. Er fragte nur:

»Taschen leer?«

»Warten Sie, ich habe hier den Rapport vom Landjägerkorporal Murmann…«

»Ah«, unterbrach Studer, »der Murmann ist in Gerzenstein. So, so!«

»Kennen Sie ihn?«

»Doch, doch. Ein Kollege. Hab ihn aber schon viele Jahre nicht gesehen. Was schreibt der Murmann?«

Der Untersuchungsrichter drehte das Blatt um, dann murmelte er halbe Sätze vor sich hin. Studer verstand:

»… männliche Leiche auf dem Bauche liegend… Einschuß hinter dem rechten Ohr… Kugel im Kopf stecken geblieben… wahrscheinlich aus einem 6,5 Browning…«

»In Waffen kennt er sich aus, der Murmann!« bemerkte Studer.

»… Taschen leer…«, sagte der Untersuchungsrichter.

»Was?« ganz scharf die Frage. »Haben Sie zufällig eine Lupe?« Alle Höflichkeit war aus Studers Stimme verschwunden.

»Eine Lupe? Ja. Warten Sie. Hier…«

Ein paar Augenblicke war es still. Durch einen Spalt der Fensterläden fiel ein Sonnenstrahl gerade auf Studers Haar. Schweigend betrachtete der Untersuchungsrichter den Mann, der da vor ihm hockte, den breiten, runden Rücken und die grauen Haare, die glänzten, wie das Fell eines Apfelschimmels.

»Das ist lustig«, sagte Wachtmeister Studer mit leiser Stimme. (Was, zum Teufel, ist an der Photographie eines Ermordeten lustig! dachte der Untersuchungsrichter.) »Der Rock ist ja ganz sauber auf dem Rücken…«

»Sauber auf dem Rücken? Ja, und?«

»Und die Taschen sind leer«, sagte Studer kurz, als sei damit alles erklärt.

»Ich versteh' nicht…« Der Untersuchungsrichter nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Taschentuch.

»Wenn…«, sagte Studer und tippte mit der Lupe auf die Aufnahme. »Wenn Sie sich vorstellen, daß der Mann hier im Walde meuchlings überfallen worden ist, daß ihn einer von hinten niedergeschossen hat, so geht aus der Lage der Leiche hervor, daß der Mann vornüber aufs Gesicht gefallen ist. Nicht wahr? Er liegt also auf dem Bauch, rührt sich nicht mehr. Aber seine Taschen sind leer. Wann hat man die Taschen geleert?«

»Der Angreifer hätte den Witschi zwingen können, die Brieftasche auszuliefern …«

»Nicht sehr wahrscheinlich… Was sagt das Sektionsprotokoll, wann der Tod mutmaßlich eingetreten ist?«

Der Untersuchungsrichter blätterte in den Akten, eifrig, wie ein Schüler, der gerne vom Lehrer eine gute Note bekommen möchte. Merkwürdig, wie schnell die Rollen sich vertauscht hatten. Studer hockte immer noch auf dem unbequemen Stuhl, der sicherlich sonst für die vorgeführten Häftlinge bestimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die ganze Angelegenheit in die Hand genommen hätte…

»Das Sektionsprotokoll«, sagte der Untersuchungsrichter jetzt, räusperte sich trocken, rückte an seiner Brille und las: »Zertrümmerung des Occipitalknochens… Mesencephalum… steckengeblieben in der Gegend des linken… Aber das wollen Sie ja alles nicht wissen… Hier… Tod approximativ zehn Stunden vor Auffindung der Leiche eingetreten… Das wollten Sie wissen, Wachtmeister? Aufgefunden ist die Leiche zwischen halb acht und viertel vor acht Uhr morgens von Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger… Der Mord wäre also ungefähr um zehn Uhr abends verübt worden.«

»Zehn Uhr? Gut. Wie stellen Sie sich die Szene vor? Der alte Witschi kommt von einer Tour zurück, er fährt mit seinem Zehnder ruhig nach Hause. Plötzlich wird er angehalten… Schon da ist vieles nicht klar. Warum steigt er ab? Hat er Angst?… Nehmen wir an, er sei angehalten worden. Gut, er wird gezwungen, seinen Karren an einen Baum zu lehnen, man treibt ihn in den Wald… Warum nimmt ihm der Angreifer nicht auf der Straße die Brieftasche fort und drückt sich?… Nein! Er zwingt den Witschi, mit ihm hundert Meter – es waren doch hundert Meter? – in den Wald zu gehen. Schießt ihn von hinten nieder. Der Mann fällt auf den Bauch… Wollen Sie mir sagen, Herr Untersuchungsrichter, wann ihm die Brieftasche mit den verschwundenen dreihundert Franken aus der Tasche genommen worden ist?«

»Brieftasche? Dreihundert Franken? Warten Sie, Wachtmeister. Ich muß mich zuerst orientieren…«

Stille. Eine Fliege summte dröhnend. Studer hatte sich kaum bewegt, sein Kopf blieb gesenkt.

»Sie haben recht… Frau Witschi gibt an, ihr Mann habe am Morgen zu ihr gesagt, er werde wahrscheinlich am Abend hundertfünfzig Franken mitbringen. Es seien Rechnungen fällig. Hundertfünfzig Franken habe er noch besessen… Telephonische Erkundigungen haben ergeben, daß wirklich zwei Kunden des Witschi ihre Rechnungen bezahlt haben. Die eine Rechnung betrug hundert Franken, die andere fünfzig…«

»Die eine hundert und die andere fünfzig? Merkwürdig…«

Warum merkwürdig?«

»Weil der Schlumpf drei Hunderternoten in seinem Besitz gehabt hat. Eine, die er im ›Bären‹ gewechselt hat, und zwei, die ich ihm abgenommen habe. Wo ist die Brieftasche hingekommen?«

»Sie haben recht, Wachtmeister. Der Fall hat einige dunkle Punkte…«

»Dunkle Punkte!« Studer zuckte die Achseln.

Ein ungemütlicher Mann, dachte der Untersuchungsrichter. Er war nervös wie seinerzeit beim Staatsexamen. Vielleicht war dieser Wachtmeister für Schmeichelei empfänglich… Darum sagte er: »Ich sehe, Wachtmeister, daß Ihre praktische kriminologische Schulung der meinigen überlegen ist…«

Studer brummte irgend etwas.

»Was wollten Sie sagen?« Der Untersuchungsrichter legte die Hand ans Ohr, als wolle er kein Wort seines Gegenübers verlieren.

Aber Studer schien auf einmal vergessen zu haben, wo er sich befand. Denn er zündete umständlich eine Brissago an.

»Rauchen Sie nicht lieber eine Zigarette?« wagte der Untersuchungsrichter schüchtern zu fragen, denn er haßte den Brissagorauch. Er reichte dem Wachtmeister ein geöffnetes Etui über den Tisch. Studer schüttelte ablehnend den Kopf. Ihm, dem Wachtmeister Studer, Zigaretten mit Goldmundstück!…

Der Untersuchungsrichter fragte in die Stille:

»Wo haben Sie sich Ihre praktischen Kenntnisse angeeignet, Herr Studer?« Aber nicht einmal der Wechsel in der Anredeform – Herr Studer statt Wachtmeister – vermochte den schweigenden Mann aus seinem Grübeln zu wecken.

»Wie kommt es, daß Sie es mit Ihren Kenntnissen nicht wenigstens zum Polizeileutnant gebracht haben?«

Studer fuhr auf:

»Was?… Wie meinen Sie?… Haben Sie einen Aschenbecher?«

Der Untersuchungsrichter lächelte und schob eine Messingschale über den Tisch.

»Ich hab seinerzeit beim Professor Groß in Graz gearbeitet. Und warum ich es nicht weiter gebracht habe? Wissen Sie, ich hab' mir einmal die Finger verbrannt an einer Bankaffäre. Damals war ich Kommissär bei der Stadtpolizei… ja, und während des Krieges… Nach der Bankaffäre bin ich in Ungnade gefallen und hab' wieder von unten anfangen müssen… Das gibt es… Aber was ich sagen wollte: wie gedenken Sie die Angelegenheit zu behandeln? Was für Schritte werden Sie unternehmen?«

Zuerst wollte der Untersuchungsrichter den Mann an seinen Platz verweisen, ihm klarmachen, hier habe er zu befehlen, er trage schließlich die Verantwortung für die Untersuchung… Aber dann verwarf er diese Aufwallung. Der Blick Studers hatte etwas so Erwartungsvoll-Ängstliches… Darum sagte er ziemlich versöhnlich: »Nun, wie gewohnt, denk ich. Die Familie Witschi vorladen, den Meister des… des… Angeklagten…«

»Schlumpf Erwin«, unterbrach Studer, »vorbestraft wegen Einbruch, Diebstahl und anderer kleinerer Delikte…«

»Ganz richtig. Im Grunde also eine Persönlichkeit, der man das Verbrechen gut zutrauen könnte, nicht wahr?«

»Schon… möglich…« Pause. »Aber auch ein Vorbestrafter kann nicht zaubern… Und der Schlumpf wird nicht das Maul auftun… Sie werden lange fragen können. Der läßt sich lebenslänglich nach Thorberg schicken– und wenn er einmal dort ist, hängt er sich wieder auf. Im Grund ist es schad' um den Burschen… ja, es ist schad' um ihn…«

»Ihre Menschlichkeit in Ehren, Herr Studer, aber… Wir haben eine Untersuchung zu führen, oder?«

»Ja, ja… übrigens ist die Leiche noch in Gerzenstein?«

Wieder blätterte der Untersuchungsrichter in den Akten.

»Sie ist am Mittwochabend ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden. Der Regierungsstatthalter von Roggwil hat das angeordnet…«

Studer zählte an den Fingern ab:

»Am Mittwoch, dem dritten Mai um halb acht Uhr morgens wird die Leiche gefunden. Gegen Mittag die erste Obduktion von Doktor… Doktor… Wie heißt er schon?«

»Dr. Neuenschwander«

»Neuenschwander. Gut. Mittwochabend wechselt Schlumpf die Hunderternote im ›Bären‹. Donnerstag

Flucht. Heute, Freitag, verhafte ich ihn bei seiner Mutter. Wann ist die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht worden?«

»Mittwochabend…«

»Wann glauben Sie, können wir den Rapport vom Institut haben?«

»Ich habe gedacht, wir könnten den Angeklagten mit der Leiche konfrontieren. Was meinen Sie dazu?« Die Frage war höflich, aber der Untersuchungsrichter dachte dabei: Wenn der Kerl nur bald abschieben würde, die Brissago stinkt, er ist aufdringlich, ich werde mich bei der Behörde beschweren, aber was nützt mir das? Deswegen werd' ich ihn doch nicht so bald los. Also seien wir freundlich…

»Konfrontieren?« wiederholte Studer. »Damit er wieder einen Fluchtversuch macht?«

»Was? Er hat Ihnen durchbrennen wollen? Und Sie haben mir nichts davon gesagt?«

Studer sah den Untersuchungsrichter mit seinen ruhigen Augen an. Er zuckte die Achseln. Was sollte man auf solche Fragen antworten?

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer plötzlich, und seine Stimme klang merkwürdig dumpf und erregt. »Wir haben lange genug herumgeredet. Sie denken bei sich: Dieser alte, abgesägte Fahnder, der knapp vor der Pensionierung steht, will sich wichtig machen. Er drängt sich auf. Ich werd ihm aber schon aufs Dach geben lassen. Heut am Abend noch, sobald er fort ist, telephoniere ich an die Polizeidirektion und beschwere mich…«

Schweigen. Der Untersuchungsrichter hatte einen Bleistift in der Hand und zeichnete Kreise aufs Löschblatt. Studer stand auf, packte die Lehne des Stuhles, schwang den Stuhl herum, bis er vor ihm stand, stützte sich auf die Lehne – und die Brissago qualmte, die zwischen zwei Fingern stak – und dann sagte er:

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Untersuchungsrichter. Ich reiche gern meine Demission ein, wenn der Fall nicht so untersucht wird, wie ich es wünsche. Aber wenn ich dann demissioniert habe, dann kann ich machen, was ich will. Es wird lustig werden. Ich hab' dem Schlumpf versprochen, seine Sache in die Hand zu nehmen…«

»Sind Sie Fürsprech geworden, Wachtmeister?« warf der Untersuchungsrichter spöttisch ein.

»Nein. Aber ich kann ja einen nehmen. Einen, der die ganze Anklage über den Haufen wirft – während der Schwurgerichtsverhandlung. Wenn Sie das lieber wollen? Aber Sie müssen sich das recht lebhaft vorstellen! Sie werden als Zeuge von der Verteidigung vorgeladen werden, und dann wird man Ihnen alle Fehler der Voruntersuchung vorhalten… Wird Ihnen das gefallen?«

Der Kerl ist ja ganz verrückt! dachte der Untersuchungsrichter. Der richtige Querulant! Warum hat man gerade diesen Studer zur Verhaftung abkommandiert! Ein Gerechtigkeitsfanatiker! Daß es so etwas noch gibt! Ich habe die ganze Zeit eingelenkt… Kann der Mann denn Gedanken lesen? Dumme Geschichte! Und wenn dieser Schlumpf unschuldig ist, dann gibt es womöglich einen Skandal, Leute geraten in Verdacht. Es wird doch besser sein, ich arbeite mit dem Kerl… Laut sagte er:

»Das hat ja alles keinen Sinn, Wachtmeister. Ich weiß nur wenig von der Sache. Und drohen? Warum fahren Sie gleich so schweres Geschütz auf? Hab' ich mich geweigert, Sie anzuhören? Sie sind ungeduldig, Herr Studer. Wir können doch ganz ruhig die Sache besprechen. Sie sind sehr empfindlich, Wachtmeister, scheint mir, aber Sie müssen denken, daß andere Leute manchmal auch Nerven haben…«

Der Untersuchungsrichter wartete, und während des Wartens starrte er auf die qualmende Brissago in Studers Hand…

»Ach so!« sagte Studer plötzlich. »Das also…« Er ging zum Fenster, stieß die Läden auf und warf die Brissago hinaus. »Ich hätt' daran denken sollen. Leute wie Sie… War das der Grund? Ich hab's gespürt, daß Sie etwas gegen mich haben, und gedacht, es sei wegen dem Schlumpf… Und dann war's nur die Brissago?« Studer lachte.

Komischer Mensch! dachte der Untersuchungsrichter. Versteht doch allerhand!… Der Brissagorauch! Kann so etwas eine feindliche Stimmung auslösen?… In diese Gedanken hinein sagte Studer:

»Merkwürdig. Manchmal ist es nur eine unbedeutende Angewohnheit, die uns bei einem Menschen auf die Nerven fällt: das Rauchen einer schlechten Zigarre zum Beispiel. Bei mir sind's die teuren Zigaretten mit Goldmundstück…« Und setzte sich wieder:

»So, so«, sagte der Untersuchungsrichter nur. Aber innerlich fühlte er allerhand Hochachtung für den Gedankenleser Studer. Und dann meinte er:

»Ich möchte jetzt den Schlumpf, Ihren Schützling, vorführen lassen. Wollen Sie dabei sein?«

»Doch. Gern. Aber vielleicht sind Sie so gut…«

»Ja, ja«, der Untersuchungsrichter lächelte, »ich werd' ihn schon so behandeln, daß er sich nicht wieder aufhängt, wenigstens vorläufig… Ich kann nämlich auch anders… Und ich will mit dem Staatsanwalt reden. Wenn eine weitere Untersuchung nötig sein sollte, fordern wir Sie an…«


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