Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Witschis Schießstand

Ich kenn' den Schlumpf gut«, sagte Schreier und paßte seinen Schritt dem des Wachtmeisters an. »Und ich hab' ihm von Anfang an gesagt, wie er zum Ellenberger gekommen ist: ›Paß auf‹, hab' ich ihm gesagt, ›nur keine Weibergeschichten, das kommt immer schlecht heraus. Eine Kellnerin, das macht nichts. Aber nur kein Meitschi vom Dorf.‹ Hab' ich nicht recht, Wachtmeister?«

Studer brummte, seufzte. Die Vorbestraften hatten es nicht leicht, wenn sie wieder draußen Arbeit gefunden hatten. Es brauchte sie nur einer wieder zu erkennen, ihnen »Zuchthäusler« nachzurufen – was sollten sie dann machen? Klagen? Man brauchte ja nicht einmal das Wort zu brauchen, das Wort, das als ärgste Beleidigung galt, einfach durch das Verhalten zu ihnen konnte man die Verachtung zeigen, die man für sie empfand. Im Grunde waren es ja meistens gar keine schlechten Teufel… Wie Studer damals den Schreier arretiert hatte, mit was war der Bursche beschäftigt? Er half der Frau, bei der er wohnte, Bohnen rüsten. Na, ja… »Was willst du mir zeigen?« fragte Studer.

»Das werdet Ihr sehen, Wachtmeister. Der Witschi hat nämlich Selbstmord begangen…«

Wieder diese Behauptung! Murmann war der gleichen Meinung… Selbstmord!… Aber Herrgott noch einmal! Der Witschi hatte doch nicht hexen können!…

Er hatte wohl lange Arme gehabt, der Witschi. Aber angenommen, er hätte den Revolver hinter das rechte Ohr halten und den Schuß in dieser Stellung abgeben können, dann blieb dennoch eine unerklärliche Tatsache: der Mangel an Pulverspuren. Eine leichtere Ladung? Unwahrscheinlich. Wie dann? Angenommen, der Witschi hätte die Courage gehabt – dann war jemand nach dem Selbstmord gekommen, um den Browning zu holen. Den Browning, der dann unter dem Packpapier in der Küche der Frau Hofmann versteckt worden war. Von wem? Wer hatte den Revolver geholt? Eine abgekartete Sache?

»Wie bist du auf den Gedanken gekommen, daß der Witschi sich selbst erschossen hat?«

»Das will ich Euch gerade zeigen…«

Auf der Straße heulten Autos. Motorräder knatterten gehässig. Man spürte den Sonntag. Verlassen sahen die Häuser aus, aber sie waren nicht stumm, nicht einmal heute. Ein Krächzen hier, ein Summen dort, manchmal ein Melodiefetzen… Die Lautsprecher Gerzensteins spielten mit den atmosphärischen Störungen, es war niemand da, der sie beaufsichtigte… So trieben sie Schabernack, für sich allein, um die Langeweile des einsamen Nachmittags zu würzen… In der Woche gab es so viel zu tun für sie. Sie sangen, sie spielten, sie sprachen. Professoren, Bundesräte, Pfarrer, Psychologen – gehorsam blökten die Lautsprecher die Worte nach, die irgendein bedeutender Herr von seinem Manuskripte ablas – und die Worte drangen in die Ohren der Gerzensteiner, durchweichten die Köpfe… Sie wirkten wie ein Landregen auf Moorland… Die Lautsprecher waren die Beherrscher Gerzensteins. Redete nicht selbst der Gemeindepräsident Aeschbacher mit der Stimme eines Ansagers?…

Da war endlich Witschis Haus. Auch hier krächzte es durch die geschlossenen Läden, so laut, daß Studer zuerst meinte, es sei eine Gesellschaft in einem der Zimmer versammelt… Aber es war eben doch nur einer der einsamen Lautsprecher, der sich die Zeit vertrieb…

Alpenruh

in blauer Farbe, die abzubröckeln begann.

Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein…

Warum wirkte der Spruch auf Studer wie ein Hohn? Glück? Waren die Witschis wirklich einmal glücklich gewesen? Er sah den Witschi Wendelin in Hemdsärmeln die Zeitung lesen, aufstehen, den losen Trieb eines Spalierbaumes anbinden… Die Ladenklingel schrillte… Gespräche über Politik…

Und jetzt lag Witschi in einem kaltweißen Raum mit einem Schuß hinter dem rechten Ohr…

Studer schüttelte sich. Schreier sagte:

»Kommt nur mit, Wachtmeister!« und ging voran durch den Garten, auf den alten, verfallenen Schuppen zu, dessen Dachstützen eingeknickt waren… Die Tür fehlte, an ihrer Stelle gähnte ein schwarzes Loch.

Aber im Schuppen war es nicht einmal so dunkel. Einige Dachziegel fehlten. Das spärliche Licht, das durch die Löcher drang, vermischte sich mit der Finsternis zu einer grauen Dämmerung…

Zerbrochene Spaten, ein verbogener Rechen, leere Kisten, Holzwolle, Persilkartons, Packpapier… Winzige, glänzende Staubteilchen tanzten in den Lichtbalken, die vom Dach zum Boden reichten.

»Und?« fragte Studer. Er mußte husten. Die Luft im Schuppen legte sich ihm auf die Lungen.

Schreier war an einen Stapel Kisten getreten, er räumte ihn vorsichtig beiseite, zog schließlich eine Tür hervor, die Tür des Schuppens offenbar, an der noch die rostigen Angeln hingen.

»Habt Ihr eine Taschenlampe?« fragte der Bursche.

»Ja.«

»Zündet einmal«, verlangte Schreier.

Studer ließ den Lichtkegel über die Tür streichen. Er pfiff ganz leise zwischen den Zähnen.

Zwei, vier, sechs, zehn – fünfzehn Einschüsse. Über die Mitte der Türe verteilt. Sie saßen alle in einem Rechteck, das etwa sechzig Zentimeter hoch und vierzig Zentimeter breit war. Und das Rechteck, in dem die Schüsse saßen, war ein heller Fleck in der sonst altersschwarzen Tür. Studer beugte sich tiefer. Richtig, das Rechteck war gehobelt worden. Man sah noch die Spuren des Hobels…

Aber das Merkwürdigste an diesen Einschüssen war folgendes:

Die ersten Einschüsse, links oben im Rechteck, zeigten deutlich an ihren kreisförmigen Rändern Verbrennungsspuren.

»Deflagrationsspuren!« sagte Studer leise.

Es waren fünf Löcher, die solche Spuren trugen. Beim sechsten Loch waren die Spuren geringer, sie nahmen ab, je weiter unten im Rechteck die Einschüsse saßen. Die letzten drei Einschüsse hatten saubere Ränder, das Holz um sie herum war weiß…

Die Tür war dick. Alle Kugeln steckten im Holz. Studer nahm den dünnen Bleistift aus seinem Notizbuch und begann die Tiefe der Löcher zu messen. Die Lampe hatte er Schreier in die Hand gedrückt. Er maß verschiedene Male, er gab sich Mühe, er preßte den Daumennagel fest auf den Bleistift, um so genau als möglich – auf den Bruchteil eines Millimeters – den Unterschied festzustellen, der vielleicht in der Tiefe der Löcher bestand. Alle fünfzehn Löcher waren gleich tief. Also waren auch die letzten Schüsse, deren Ränder sauber geblieben waren, aus der gleichen Entfernung abgegeben worden wie die ersten. Warum aber hatten nur die ersten verbrannte Ränder?

»Warum haben nur die ersten Löcher Pulverspuren?« fragte Studer laut.

Schreier kicherte. Es war ein unangenehmes Geräusch. Es erinnerte Studer an Zuchthaus, dieses Kichern. Es klang so verdrückt.

»Red' schon, wenn du etwas weißt«, schnauzte er.

»Ich bin ja nicht sicher, Wachtmeister«, sagte Schreier. »Aber Ihr wißt es doch auch: wenn man vor die Mündung ein Blatt Papier hält und dann abdrückt, so bleiben alle Pulverteilchen an dem Papier haften und…«

Studer wurde böse:

»Und du bildest dir ein, der Witschi hat vor die Mündung ein Zeitungsblatt gehalten, mit der linken Hand, und dann den Schuß abgegeben? Mach mir das einmal vor…«

Schreier schüttelte den Kopf. Er zog etwas aus der Tasche, ließ das Licht darauf fallen. Es war ein rotes Kartonviereck. ›Riz La Croix‹ stand darauf zu lesen. Der Umschlag eines Heftchens Zigarettenpapiers.

»Das hab' ich hier im Schuppen gefunden«, sagte Schreier bescheiden. »Damals, wie ich hier gestöbert hab'. Am Tag nach der Verhaftung vom Schlumpf. Ja.«

»Und?« fragte Studer.

»Es rollt keiner in der Familie seine Zigaretten selbst. Der alte Witschi hat Stumpen geraucht, in der letzten Zeit Pfeife. Der Armin raucht englische Zigaretten, dieselben, die sie im Laden führen. Also…«

»Also?« fragte Studer. Der Schreier begann ihn zu interessieren.

»Ich hab' mir die Sache so vorgestellt: Der alte Witschi hat ein paar Zigarettenblättli genommen und sie, zusammengeknüllt, vorne in den Lauf gestoßen. Er hat ausprobieren müssen, wie viele es braucht, um saubere Einschußöffnungen zu bekommen. Darum hat er so oft geschossen. Bis es gegangen ist…«

»Einleuchtend«, sagte Studer. »Kompliziert, aber nicht unmöglich.«

Er drehte gedankenvoll den roten Pappdeckel zwischen den Fingern. Ein dünnes weißes Blättchen haftete noch daran. Studer riß es ab, hielt es zwischen den Fingern, zündete es mit einem Streichholz an und ließ es auf seiner Handfläche verbrennen. Es gab eine kurze, sehr helle Flamme. Auf die Asche ließ Studer den Lichtkegel der Lampe fallen. Ein winziger schwarzer Rest. Und doch, angenommen, Witschi hatte ein paar Blättli gebraucht, so war die Asche sicher nicht ganz verschwunden. Spuren davon mußten in der Wunde zu finden sein. Aber der Assistent im Gerichtsmedizinischen hatte von nichts Derartigem gesprochen. Und Studer war sicher, daß die Untersuchung gründlich geführt worden war… Man mußte dem Italiener noch einmal anläuten, schade, daß heute Sonntag war…

»Das hast du gut gemacht, Schreier, ich wär' nie auf den Gedanken gekommen. Aber ob wir damit ein Geschworenengericht überzeugen können? Und dann der Browning? Der ist doch nicht neben der Leiche gelegen… Wer hat den aufgelesen? Fortgebracht?«

»Der Schlumpf natürlich«, sagte Schreier. »Aber wollen wir nicht weitergehen, Wachtmeister? Die Alte« – Schreier meinte Frau Witschi – »kann jeden Moment heimkommen. Von vier bis fünf schließt sie ihren Kiosk. Sogar am Sonntag, und es ist schon fünf Minuten über vier…«

»Versorg' noch die Tür«, sagte er. Und Schreier nahm die Türe, lehnte sie an die Wand, schichtete Kisten, Schachteln davorauf…

»Wenn sie nur nicht verbrannt wird«, seufzte Studer. »Dann haben wir keinen Beweis mehr… Beweis?… Schöner Beweis!«

Sie verließen den Schuppen, gingen durch den Garten, blieben einen Augenblick in der Gartentür stehen und sahen zum Hause zurück. Als sie auf die Straße treten wollten, versperrte eine magere, schwarze Gestalt den Weg.

»Hat der Herr mich gesucht? Oder was hat er sonst zu suchen? Auf meinem Grundstück? Der Herr Wachtmeister

Nach jeder Frage stieg die Stimme ein wenig höher…


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