Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Der Fall Wendelin Witschi zum letztenmal

Ein trübes Begräbnis.

Natürlich regnete es wieder. Im Lättboden des Friedhofs füllten sich die Fußstapfen, kaum daß man den Schuh aus der zähen Erde gezogen hatte, mit gelbem Wasser. Wendelin Witschis Grab war nur von zehn Regenschirmen umstanden, und die Tropfen, die auf die zehn gespannten schwarzen Tücher fielen, trommelten einen leisen, traurigen Wirbel.

Der Pfarrer machte es kurz. Sonja schluchzte. Frau Witschi stand aufrecht neben ihrer Tochter. Sie weinte nicht. Armin war nicht gekommen. Nach dem Pfarrer sprach der Gemeindepräsident Aeschbacher ein paar Worte. Sie machten ihm sichtlich Mühe.

Studer stand neben Dr. Neuenschwander und war froh, daß er sich auf den Arm des Arztes stützen konnte. Aber als nun alle langsam auf das Friedhofstor zuschritten, machte sich Studer von seinem Begleiter los, holte den Gemeindepräsidenten ein und sagte:

»Herr Gemeindepräsident, ich sollt' mit Euch reden.«

»Mit mir, Wachtmeister?«

»Ja«, sagte Studer.

»So kommt!«

Aeschbachers Auto stand auf der Straße. Der Gemeindepräsident öffnete den Schlag, zwängte sich auf den Sitz vor das Steuerrad, winkte Studer. Der Wachtmeister stieg ein. Er schüttelte dem Arzte zum Abschied die Hand, dann schlug er selbst den Schlag zu.

Es war wenig Platz vorhanden, denn beide waren sie nicht gerade mager. Aeschbacher drückte auf den Anlasser. Studer starrte auf die Tasche, die am Wagenschlag angebracht war.

Aeschbacher schwieg. Das Auto kehrte, fuhr ins Dorf zurück, fuhr vorbei an den vielen, vielen Ladenschildern. Gerzenstein, das Dorf der Läden und Lautsprecher! – Wann hatte Studer das Dorf so genannt? War das lange her? Am Samstag. Und heute war Dienstag. Zwei Tage nur lagen dazwischen!

Die Lautsprecher waren nicht zu hören. Entweder war es noch zu früh, oder der Lärm des Autos übertönte ihre Musik, ihre Reden.

Das Dorf Gerzenstein! Ein Dorf? Wo waren die Bauern in diesem Dorfe? Man sah nichts von ihnen. Sie wohnten wohl hinter der Fassade der Läden , irgendwo, in den Hintergründen.

Aeschbacher schnaufte. Den Mann mußte viel bedrücken.

Und während der Wagen in die Bahnhofstraße einbog, auf dem kleinen Stück Weges, der von der Hauptstraße bis zur Druckerei des ›Gerzensteiner Anzeigers‹ führte, erlebte Studer noch einmal den gestrigen Abend.

Der Cottereau, der sich endlich entschlossen hatte zu sprechen. Der Cottereau, der gesehen hatte, wie Aeschbacher den Browning in eine jener Taschen versorgt hatte, die an den Türen der Autos angebracht sind. Cottereau erinnerte sich gut. Er war an jenem Abend spazierengegangen, an jenem Dienstagabend. Übrigens hatte er alle Personen des Dramas gesehen, den Lehrer Schwomm, der mit einer Schülerin aus der dritten Sekundarschulklasse spazierengegangen war (darum das verdächtige Schweigen des Lehrers!), den Wendelin Witschi, der von seinem ›Zehnderli‹ abgestiegen und im Wald verschwunden war, er hatte Aeschbachers Auto wiedererkannt, er hatte den Gemeindepräsidenten gesehen, wie er Witschi gefolgt war…

»Ich glaube, wir gehen zu mir in die Wohnung«, sagte Aeschbacher. Das Auto stand still vor einem eisernen Tor, dessen Spitzen vergoldet waren. Da war die Bogenlampe mit den steifen, roten Blumen um ihren Sockel, dort war der Bahnhof mit dem Kiosk, in dem sonst Anastasia Witschi Romane las, während sie auf Kunden wartete. Frau Anastasia Witschi, die mit dem Gemeindepräsidenten verwandt war…

Und als sie damals erfahren hatte, daß ihr Mann tot war, was hatte sie da gesagt?

»Zweiundzwanzig Jahre!«

Und war im Zimmer hin und hergelaufen.

»Wie Ihr wollt«, sagte Studer auf die Frage Aeschbachers, die eigentlich gar keine Frage, sondern eine Aufforderung gewesen war. Der Wachtmeister betrachtete den dicken Mann unauffällig von der Seite.

Bureaux. Mädchen saßen vor Schreibmaschinen und begannen wie wild auf die Tasten loszuhämmern, als Aeschbacher in der Tür auftauchte.

»Guten Tag, Herr Direktor, grüeß-ech, Herr Gemeindepräsident…«

Ein alter Mann, fast ein Zwerg, trat Aeschbacher in den Weg. Er hielt Druckbogen in der Hand. Der Zeigefinger, mit dem er den Linien des Gedruckten folgte, während er eifrig auf Aeschbacher einsprach, hatte eine verkrüppelte Spitze. Studer sah dies alles überdeutlich. Dabei fühlte er sich recht elend. Es war ihm, als bestünden seine Beine aus zusammengenähten Flanellappen, und als seien sie mit Sägespänen gefüllt.

Auf die weitschweifigen Bemerkungen des weißen Zwerges antwortete Aeschbacher nur zerstreut. Er drängte vorwärts, weiter, weiter. Den Hut hatte er abgenommen, die braune Locke klebte noch immer auf seiner Stirn.

Eine kleine Türe. Das Stiegenhaus. Im ersten Stock die Wohnungstür. Neben der Tür ein Messingschild, darauf in schwarzen Buchstaben: Aeschbacher. Kein Vorname, kein Titel, nichts. Es paßte zu dem Manne.

»Tretet ein, Wachtmeister«, sagte der Gemeindepräsident. War nicht ein ganz leichter Sprung in Aeschbachers Stimme? Sie klang zwar noch immer wie die Stimme des Ansagers vom Radio Bern, aber etwas hatte sich an ihr geändert. Oder, dachte Studer, bin ich auf einmal hellhörig geworden? Das Fieber? –

Er stand im Gang der Wohnung. Die Küchentüre stand offen. Es roch nach Suurchabis und Speck. Studer wurde es übel. Er hatte seit gestern Mittag keinen Bissen gegessen. Sein Magen hatte Generalstreik proklamiert. Mußte man noch lange in diesem Gang stehen?

Aus der Küche trat eine Frau. Sie war klein und mager und ihre Haare waren weiß wie Flieder. Ja, wie Flieder. Sie hatte graue Augen, die sehr still blickten. Es war wohl nicht immer einfach die Frau des Gemeindepräsidenten Aeschbacher zu sein.

»Meine Frau«, sagte Aeschbacher. Und: »Wachtmeister Studer.«

Ein leichtes Erstaunen in den grauen Augen. Dann wechselte der Ausdruck, wurde ängstlich.

»Es ist doch nichts Böses passiert?« fragte sie leise.

»Nein, nein«, sagte Aeschbacher beruhigend. Dabei legte er seine große dicke Hand auf die schmale Schulter seiner Frau, und die Bewegung war so zart, daß es Studer plötzlich vorkam, als kenne er jetzt den Gemeindepräsidenten viel besser als früher. Es war im Leben eben immer ganz anders, als man meinte. Ein Mensch war nicht nur ein brutaler Kerl, er konnte scheinbar auch anders…

Ein großes Zimmer, wahrscheinlich als Rauchsalon gedacht. Ein paar Bilder an der Wand, Studer kannte sich in der Malerei nicht aus, aber die Bilder schienen ihm schön. Große Reproduktionen, farbig, Sonnenblumen, eine südfranzösische Landschaft, ein paar Radierungen. Die Tapete war grau, auf dem Boden lag ein weißer Teppich, der mit einem schwarzroten Muster durchsetzt war.

»Meine Frau hat das eingerichtet«, sagte Aeschbacher. »Sitzet ab, Wachtmeister. Was trinket Ihr?«

»Was Ihr wollt«, antwortete Studer, »nur nicht Himbeersirup oder Bier.«

»Kognak? Ja? Ihr seht nicht gut aus, Wachtmeister. Wo fehlt's? Sollt Euch meine Frau einen Grog machen? Ich glaub Ihr trinkt Grog gerne?«

Eine unangenehme Situation. Warum war dieser Aeschbacher so höflich? Was steckte dahinter?

Der Gemeindepräsident ging hinaus, nachdem er Studer einen Stumpen angeboten hatte. Es war ein guter Zehner-Stumpen, aber er schmeckte wie verbrannter Kautschuk. Studer zog mit Todesverachtung.

Aeschbacher kam zurück. Er trug drei Flaschen: Kognak, Gin, Whisky. Hinter ihm kam seine Frau. Sie stellte ein Tablett auf den Tisch: Zucker, Zitronenscheiben, eine Kanne mit heißem Wasser, zwei Gläser.

»Wir müssen unsern Wachtmeister kurieren«, sagte Aeschbacher und lächelte mit gesträubtem Katerschnurrbart, er hat sich erkältet. Und ein erkälteter Fahnder kann nur schwer eine Verhaftung vornehmen; nicht wahr, Wachtmeister?«

Und Aeschbacher klopfte Studer aufs Knie. Studer wollte sich die Familiaritäten verbitten, er sah auf – da traf ihn ein Blick des Gemeindepräsidenten. Eine Bitte lag darin.

Studer verstand. Aeschbacher wußte. Er bat für seine Frau. »Gut, meinetwegen«, dachte Studer. Und er lachte.

»Also, auf Wiedersehen, Herr Wachtmeister!« sagte Frau Aeschbacher. Sie hielt die Klinke in der Hand und lächelte. Es war ein mühsames Lächeln. Und Studer verstand plötzlich, daß die beiden da versuchten, sich Theater vorzuspielen. Beide wußten, was los war, aber sie wollten es einander nicht merken lassen.

Eine merkwürdige Ehe, die Ehe des Gemeindepräsidenten Aeschbacher…

Die Türe wurde leise geschlossen. Die beiden Männer blieben allein.

Aeschbacher tat Zucker auf den Boden des einen Glases, füllte es zur Hälfte mit heißem Wasser, rührte um, dann goß er aus jeder der drei Flaschen ein ordentliches Quantum nach: Kognak, Gin, Whisky. Studer sah ihm mit weitaufgesperrten Augen zu.

Und als Aeschbacher ihm das Glas präsentierte, fragte er, ein wenig ängstlich:

»Ist das für mich?«

»Ausgezeichnet, Wachtmeister«, pries der Präsident seine Mischung, »wenn ich erkältet bin, nehm' ich nichts anderes. Und wenn Ihr es nicht vertragen mögt, so macht Euch meine Frau später einen Kaffee.«

»Auf Eure Verantwortung«, sagte Studer und trank das Glas in einem Zug leer. Dunkel fühlte er, die Sache hier konnte man nüchtern zu keinem guten Ende bringen. »Aber Ihr müßt mir's nachmachen.«

»Sowieso«, sagte Aeschbacher und stellte dasselbe Gemisch noch einmal her.

Eine sanfte Wärme kroch über Studers Körper. Langsam, ganz langsam hob sich der dunkle Vorhang. Es war vielleicht alles gar nicht so schrecklich, gar nicht so kompliziert, wie er es sich vorgestellt hatte. Aeschbacher sank in einen tiefen Lehnstuhl, nahm einen Stumpen, zündete ihn an, leerte sein Glas, sagte »Ah«, schwieg einen Augenblick und fragte dann mit ganz unbeteiligter Stimme:

»Habt Ihr gestern abend in meiner Garage gefunden, was Ihr gesucht habt?«

Studer nahm einen Zug aus seinem Stumpen (er schmeckte plötzlich viel besser) und antwortete ruhig:

»Ja.«

»Was habt Ihr denn gefunden?«

»Staub.«

Sonst nichts?«

»Das hat genügt.«

Pause. Aeschbacher schien nachzudenken. Dann sagte er:

»Staub? In der Landkartentasche?«

»Ja.«

»Schade… Ihr hättet mein Angebot am Sonntag annehmen sollen. Und wenn Ihr wollt, leg ich noch etwas drauf, aus der eigenen Tasche. Sehr gescheit gewesen, in der Tasche nachzugrübeln. Es wär keiner auf den Gedanken gekommen.«

»Angebot?« fragte Studer. »Was meint Ihr eigentlich damit, Aeschbacher?«

Dem andern gab es einen Ruck. Die Anrede ›Aeschbacher‹ wahrscheinlich. Nicht mehr ›Herr Gemeindepräsident‹, sondern ›Aeschbacher‹… Wie man ›Schlumpf‹ sagt.

»Die Stelle bei meinem Bekannten, mein ich, Studer.«

»Ah, ja, ich besinn mich… Interessiert mich nicht, Aeschbacher, aber auch gar nicht. Und das Geld? Ihr habt mir Geld angeboten? Ich hab mir sagen lassen, Ihr steht vor dem Konkurs.«

»Haha«, lachte Aeschbacher; es klang wie ein Theaterlachen. »Das hab ich nur so erzählt, damit mich der Witschi in Ruhe läßt. Ich hab ihm doch nicht all mein Geld in den Rachen schmeißen wollen, nur weil ich zufällig mit seiner Frau verwandt bin…«

»So? Ihr habt dem Witschi Geld gegeben?«

»Wachtmeister«, sagte Aeschbacher ärgerlich. »Wir sind hier nicht am ›zugeren‹. Wir wollen mit offenen Karten spielen. Wenn Ihr etwas wissen wollt, so fragt, ich will Euch Antwort geben. Mir ist das Ganze schon lang verleidet…«

»Gut«, sagte Studer. Und: »Wie Ihr wollt.«

Er lehnte sich zurück, kreuzte die Beine und wartete.

Und während des langen Schweigens, das nun über dem Raum lag, dachte er an viele Dinge. Aber sie wollten sich nicht ordnen: Gut, der Schuldige war gefunden; aber was nützte das? Niemals würde der Untersuchungsrichter sich dazu hergeben, den Aeschbacher zu verhören. Kein Staatsanwalt würde gegen den Gemeindepräsidenten eine Anklage erheben. Erst wenn die Beweise so überzeugend waren, daß es wirklich nichts anderes gab. Aeschbacher mußte eine große Rolle gespielt haben, früher einmal. Das ergab sich aus allen Erkundigungen, die Studer gestern nachmittag in Bern eingezogen hatte. Man konnte Skandale nicht brauchen. Und was hatte Studer für Beweise? Die Aussage des Cottereau? Mein Gott! Cottereau würde nie wagen, sie aufrechtzuerhalten. Die mikroskopische Untersuchung des Staubes? Für ihn genügte es als Beweis. Für ein Schwurgericht, ein Schwurgericht, an dem die Geschworenen Bauern waren? Auslachen würde man ihn! Schon der Untersuchungsrichter würde ihn auslachen.

Blieb noch übrig, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Witschi hatte Selbstmord begangen, das würde zu beweisen sein, leicht zu beweisen sein, der Untersuchungsrichter war überzeugt, Schlumpf kam frei – die Familie Witschi würde ihr Haus verkaufen müssen, die alte Frau würde weiter im Kiosk sitzen und Romane lesen, der Armin würde die Saaltochter heiraten und eine Wirtschaft kaufen, und Sonja? Sonja würde den Schlumpf heiraten, der Erwin würde mit der Zeit Obergärtner werden, und Aeschbacher? Mein Gott, er würde sicher nicht der einzige Mörder sein, der straflos in der Welt umherlaufen würde.

»Ihr habt ganz recht, Wachtmeister«, tönte Aeschbachers Stimme in die Stille. »Es hat gar keinen Wert, die Sache weiter zu verfolgen. Ihr blamiert Euch nur. Habt Ihr Euch nicht schon einmal blamiert, damals, in jener Bankaffäre? Glaubet doch dem Polizeihauptmann, folget seinem Rat. Es ist besser, Studer, glaubet mir. Noch einen Grog?«

»Gern«, sagte Studer und versank wieder in Schweigen. War es nicht merkwürdig, daß Aeschbacher Gedanken lesen konnte? Studer fröstelte. Der stechende Punkt in der Brust war wieder da, kalter Schweiß brach aus. Draußen vor den Fenstern hockte ein grauer Nebel, es war, als ob die Wolken auf die Erde gefallen wären. Und dann war es kalt im Zimmer. Studers Stumpen war ausgegangen, er hatte nicht den Mut, ihn wieder anzuzünden; er hatte überhaupt keinen Mut mehr, er war krank, er wollte ins Bett, er hatte eine Brustfellentzündung, Herrgott noch einmal! Und mit einer Brustfellentzündung geht man ins Bett und spielt nicht den scharfsinnigen englischen Detektiv mit deduktiven Methoden à la Sherlock Holmes. Staub in einer Tasche! Wenn schon! Wenn es so weiterging, würde er bald auf dem Boden herumkriechen mit einer Lupe in der Hand und den Teppich absuchen!

»Trinkt Studer«, sagte Aeschbacher und schob das frischgefüllte Glas über den Tisch. Und der Wachtmeister leerte es gehorsam.

Es war doch eine Schweinerei, träumte er weiter. Da hatte man ein Gehalt von ein paar hundert Franken im Monat, es langte wohl, es langte ganz gut. Und für das lumpige Gehalt war man verpflichtet, den Kanalräumer zu spielen. Ärger als das. Man mußte schnüffeln, anderer Leute Missetaten aufdecken, man mußte sich überall hineinmischen, keinen Augenblick hatte man Ruhe, nicht einmal pflegen konnte man sich, wenn man krank war.

Aeschbacher sog hocherfreut an seinem Stumpen. Seine kleinen Äuglein glänzten boshaft, schadenfroh.

Und da tauchte in Studer plötzlich wieder der Traum jener Nacht auf. Der riesige Daumenabdruck auf der Tafel, der Lehrer Schwomm im weißen Kittel und Aeschbacher, der den Arm um Sonja geschlungen hatte und ihn, Studer, auslachte.

Später hätte Studer nie sagen können, ob es wirklich die Erinnerung an diesen Traum war, die ihm plötzlich neuen Mut gab. Oder ob ihm das höhnische Grinsen Aeschbachers auf die Nerven fiel. Genug, er raffte sich auf, legte die Unterarme auf seine gespreizten Schenkel, faltete die Hände und blickte zu Boden. Er sprach langsam, denn er fühlte, daß seine Zunge große Lust zeigte, eigene Wege zu gehen.

»Gut«, sagte er, »Ihr habt recht. Ich werde mich blamieren. Aber das steht nicht in Frage, Aeschbacher. Ich tue meine Arbeit, die Arbeit, für die ich bezahlt bin. Ich bin dafür bezahlt, Untersuchungen zu führen. Man hat mich darauf vereidigt, daß ich die Wahrheit sage. Ich weiß, Ihr werdet lachen, Aeschbacher. Wahrheit! Ich bin auch nicht von heute. Ich weiß auch ganz genau, daß die Wahrheit, die ich finde, nicht die wirkliche Wahrheit ist. Aber ich kenne sehr gut die Lüge. Wenn ich die Sache aufgebe und der Schlumpf wird frei, und das Gericht legt den Fall zu den Akten, wie man sagt, dann ist alles ganz gut und schön. Und schließlich bin ich kein Richter und Ihr müßt mit Eurer Tat allein fertigwerden.« Immer langsamer sprach Studer. Er sah nicht auf, er wollte den Blicken Aeschbachers nicht begegnen, verzweifelt starrte er auf ein kleines Muster im Teppich: ein schwarzes Rechteck, das von roten Fäden durchzogen war und das ihn, weiß der Himmel warum, an Witschis Hinterkopf erinnerte. Genauer: an die spärlichen Haare, durch die sich Blutfäden zogen.

»Allein fertigwerden, das ist es. Und ich weiß nicht, ob Ihr das könnt. Ihr spielt gerne, Aeschbacher, spielt mit Menschen, spielt an der Börse, spielt mit Politik. Ich habe manches über Euch gehört. Ich würd' Euch gern laufen lassen… Aber da ist die Geschichte mit der Sonja. Lueget, Aeschbacher, die Sonja! Das Meitschi hat's nicht schön gehabt. Ihr habt es einmal auf die Knie genommen, der Vater ist dann dazu gekommen… Hat der Wendelin Witschi damals wirklich unrecht gehabt mit seiner Behauptung? Nein, schweigt jetzt. Ihr könnt nachher reden. Ihr müßt nicht meinen, ich sei ein Stündeler. Ich versteh auch Spaß, Aeschbacher; aber irgendwo muß der Spaß aufhören. Ihr habt vieles auf dem Gewissen, nicht nur den Wendelin Witschi. Und ich möcht nicht, daß Ihr auch die Sonja auf dem Gewissen habt. Versteht Ihr?«

Die Wolken draußen sanken immer tiefer, es wurde düster im Zimmer. Aeschbacher saß vergraben in seinem Stuhl, Studer konnte nur seine Knie sehen. Ein heiseres Krächzen war hörbar, man wußte nicht, war es ein Räuspern oder ein unterdrücktes Lachen.

Was er sonst noch von Euch gewußt hat, der Wendelin Witschi, hab' ich nicht erfahren…« Das Reden ging jetzt leichter. Aber immer noch sprach Studer langsam, und was das Merkwürdigste war, es war wie eine Spaltung seiner Persönlichkeit: er sah das Zimmer von oben, sah sich selbst, nach vorne gebeugt, mit gefalteten Händen, im Stuhle sitzen und dachte dabei: »Studer, du siehst sicher aus, wie ein Pfarrer, wenn er eine Kondolenzvisite macht.« Aber auch das verging wieder, und er sah plötzlich das Zimmer des Untersuchungsrichters und den Schlumpf, der seinen Kopf auf den Schoß des Mädchens gelegt hatte.

»Wenn's darauf ankommt«, sagte Studer, »wird auch das noch zu ermitteln sein. Ich habe mir sagen lassen, daß Ihr mit Mündelgeldern spekuliert habt, Aeschbacher; Ihr seid doch hier in der Vormundschaftsbehörde… und daß Ihr das Geld wieder zurückgezahlt habt, aber, daß der Witschi davon gewußt hat. Er ist doch mit Euch in der Fürsorgekommission gesessen? Oder? Ihr braucht nicht zu antworten. Ich erzähl' Euch das nur, damit Ihr den Studer nicht für einen Löli haltet. Der Wachtmeister Studer weiß auch einiges…«

Schweigen. Studer stand auf, aber immer noch ohne auf Aeschbacher zu schauen, griff nach einer Flasche, schenkte sich ein, leerte das scharfe Zeug, setzte sich wieder und zog eine Brissago aus dem Etui. Merkwürdig, aber sie schmeckte. Sein Herz machte zwar noch immer Seitensprünge; – aber, dachte er, heut' nachmittag werd' ich ins Spital fahren. Dort hat man Ruhe.

»Soll ich Euch erzählen, wie die ganze Geschichte gegangen ist, Aeschbacher? Ihr braucht gar nicht zu sprechen.

Ihr braucht weder ja noch nein zu sagen. Ich erzähl' sie so mehr für mich.«

Und Studer faltete wieder die Hände und starrte auf das Muster im Teppich, das ein schwarzes Rechteck darstellte mit roten Fäden darin.

»Eure Base hat Euch erzählt, was der Witschi vorhatte. Von ihr habt Ihr auch erfahren, wann der Witschi seinen Plan ausführen wollte. Aber Ihr trautet dem Witschi nicht. Ihr wußtet, daß er feig war – mein Gott, ein Erpresser ist immer feig – und Ihr dachtet, daß er es nicht einmal wagen würde, sich selbst zu verwunden. Darum seid Ihr mit Eurem Auto an jenen Platz gefahren. Und den Platz habt Ihr ja ganz genau gewußt. Der Augsburger hat damals schon bei Euch gewohnt. Warum habt Ihr den Mann bei Euch aufgenommen? Waret Ihr etwa eifersüchtig auf den Ellenberger? Wolltet Ihr auch Euren entlassenen Sträfling haben? Nun, das ist ja gleich. Ihr seid also mit Eurem Auto zu jenem Platz gefahren und habt darauf gerechnet, daß der Armin sich verdrücken würde, wenn er Euer Auto höre. Das hat er gemacht. Dann habt Ihr schön Zeit gehabt, die Brieftasche des Witschi zu durchsuchen. Das Dokument, mit dem er Euch erpreßt hat, war wohl in der Brieftasche? Und dann seid Ihr weiter in den Wald gegangen. Dem Witschi konnte man leicht folgen, er hat wohl genug Lärm gemacht. Dann ist es still geworden, Ihr habt gewartet. Ihr habt einen Schuß gehört, seid näher gekommen. Der Witschi ist dagestanden, den Browning noch in der Hand – unverletzt. Was Ihr dann mit ihm gesprochen habt, weiß ich nicht. Ich bin sicher, Ihr habt Eure Rolle gut gespielt. Arm um die Schultern gelegt, wahrscheinlich, ihn getröstet, ihn ein wenig weitergeführt.

Und Eure Pistole habt Ihr wohl in der Tasche gehabt. Dann habt Ihr Euch von ihm verabschiedet, seid ein paar Schritte von ihm weg, einen Meter vielleicht, und habt ihn von hinten erschossen.«

Pause. Studer nahm noch einen Schluck. Merkwürdig, daß er gar keine Betrunkenheit spürte, im Gegenteil, er wurde nüchterner, es schien ihm, als werde sein Kopf immer klarer, der unangenehme Stich war verschwunden. Er zündete umständlich seine Brissago wieder an, die während des Redens ausgegangen war.

»Zwei Fehler, Aeschbacher, zwei große Fehler!« sagte Studer, wie ein Lehrer, der einen begabten Schüler nicht tadeln, sondern im Gegenteil fördern will.

»Der erste: Warum nicht Witschis Revolver nehmen? Armin hätte ihn gefunden; die ganze Geschichte hätte reibungslos geklappt. Ich wäre höchstens bis zum Selbstmord vorgedrungen, nie weiter. Und der zweite Fehler, aus dem alle übrigen sich dann ergeben haben: Warum den Browning in jener Automobiltasche lassen? Irgendwer hat ihn doch finden müssen. Und daß ihn gerade der Augsburger, der kleine Einbrecherdilettant, hat finden müssen, das war Pech… Pech? Vielleicht habt Ihr das gerade gewollt?«

Studers Augen hatten sich endlich von dem schwarzen Muster losgerissen. Er starrte nun auf ein anderes, das wie ein Haus aussah, dachte an einen Spruch, der in blauer Farbe an eine Wand gemalt war, und die Farbe begann abzubröckeln: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.‹

»Es ist merkwürdig mit uns Menschen«, fuhr Studer fort, »wir tun manchmal gerade das, was wir vermeiden möchten, das, wovor unser Verstand uns warnt. Ein Bekannter von mir, der nun tot ist, sprach immer von Unterbewußtsein. Als ob das Unterbewußte einen eigenen Willen hätte. Und bei Euch, Aeschbacher, muß ich immer an so etwas denken. Denn Ihr habt doch alles getan, damit man auf Euch aufmerksam wird. Und das kann man nicht nur mit Eurer Spielleidenschaft erklären, es steckt wohl etwas anderes dahinter. Im Grunde habt Ihr doch gewollt, daß der Mord auskommt. Sonst hättet Ihr doch nicht den Gerber und den Armin mit Eurem Auto ausgeschickt, um den Ellenberger und den alten Cottereau zu überfahren. Wer hat Euch erzählt, daß der Cottereau Euch gesehen hatte? Der Augsburger?«

»Ich hab den Augsburger damals mitgenommen, wie ich den Witschi hab treffen wollen…« Ganz ruhig kam die Stimme von drüben. Keine Aufregung brachte sie zum Zittern. Sie klang genau wie die Stimme des Ansagers, wenn er verkündete: »Die Überschwemmungen im unteren Rhonegebiet haben große Ausmaße angenommen.«

»Und Ihr habt nicht Angst gehabt, daß er Euch verraten würde?«

»Er war ein treuer Bursch. Später hätt ich ihn ins Ausland geschickt…«

»Aber er wurde gesucht. Und der Autodiebstahl…«

»Mein Gott«, sagte Aeschbacher, »solche Leute gehen nicht so sparsam mit den Jahren um, wie wir.«

Studer nickte. Das stimmte.

»Und«, fuhr Aeschbacher fort, »den beiden anderen Burschen hab' ich angegeben, ein Tschucker wolle sich in unsere Angelegenheiten mischen… Sie haben viel Kriminalromane gelesen, die Burschen, sie haben es gerne gemacht. Sie wollten John Kling spielen.«

Einen Augenblick übermannte den Wachtmeister schier der Stolz. Er hatte den Aeschbacher dazu gebracht, zu sprechen; er hatte ihn gezwungen, zuzugeben. Da blickte er zum erstenmal auf und der Stolz verging ihm. Ihm gegenüber, im tiefen Stuhl, saß ein zusammengesunkener Mann, der schwer atmete. Das Gesicht war rot angelaufen, die Hände zitterten, der Mund stand ein wenig offen. Aber nur einen Augenblick verblieb der Mann so. Dann schloß sich der Mund, die Augen blickten wieder gerade vor sich hin, an Studer vorbei, zum Fenster hinaus.

»Die beiden Burschen«, sagte Studer, »haben den armen Cottereau ordentlich durchgeprügelt. Er hat mir nichts sagen wollen. Und auch der alte Ellenberger wußte von der Sache?«

»Vielleicht nachher. Der Cottereau hat auch zuerst gar nicht gewußt, daß ich den Witschi erschossen habe. Ich habe nur vorbeugen wollen, er sollte es Euch nicht gleich erzählen, daß er mich dort gesehen hatte.«

»Wann hat er Euch erkannt?«

»Wie ich ins Auto gestiegen bin. Da hat ihn auch der Augsburger gesehen, den Cottereau nämlich…«

Jetzt eine Platte da haben! dachte Studer, und das Gespräch aufnehmen!

»Warum habt Ihr den Augsburger im gestohlenen Auto nach Thun geschickt, damit er sich verhaften lassen soll? Denn das habt Ihr doch gewollt?«

»Fragt nicht so dumm, Wachtmeister!« Es war der Gemeindepräsident, der sprach. »Natürlich hab ich ihn geschickt. Zwei Gründe: Er hätte von der Belohnung hören können, die Ihr habt ausschreiben lassen, und dann wollt ich Euch einen Strich durch die Rechnung machen. Wenn der Schlumpf gestand, so waret Ihr schachmatt, nid? Und Augsburger kannte den Schlumpf. Er sollte versuchen, mit ihm in Verbindung zu treten und ihm von Sonja ausrichten, es stünde schlecht und er müsse gestehen, sonst würden alle wegen Versicherungsbetruges verhaftet. Ich hab natürlich nicht erwartet, daß mir die Leute in Thun so entgegenkommen und den Augsburger mit dem Schlumpf in eine Zelle sperren. Wollt Ihr sonst noch etwas wissen? Der Augsburger hat schlecht geschwindelt, ich weiß es. Aber er hat keine große Erfindungsgabe, darum hat er alles auf den Ellenberger gewälzt.«

»Ja, der Ellenberger«, sagte Studer, ganz freundschaftlich, so, wie man sich an einen Kollegen um Auskunft wendet. »Was haltet Ihr vom Ellenberger?«

»Eh«, sagte Aeschbacher. »Ihr kennt doch diese Sorte Leute. Immer muß etwas gehen, immer müssen sie eine Rolle spielen, weil sie im Innern hohl sind. Das schwätzt, das macht sich interessant, das blagiert von marokkanischen Residenten, von Vermögen, das gründet den ›Convict Band‹ – das einzige, was ich am Ellenberger schätze, ist, daß er den Schlumpf gerne gemocht hat.«

Schweigen. Es war fertig. jetzt kam das Schwerste. Wie sollte man nun die Verhaftung vornehmen? Man war schwach auf den Beinen, man war krank. Der Aeschbacher war ein großer schwerer Mann, das Telephon, mit dessen Hilfe man vielleicht den Murmann hätte herbeirufen können, stand in der andern Ecke, man hatte zwar einen Revolver in der Tasche, auch einen Verhaftbefehl hatte man. Aber…

»Ihr studiert, Wachtmeister, wie ihr es am besten machen könnt, um mich zu verhaften? Oder nicht?« sagte da Aeschbacher mit ruhiger Stimme. »Macht Euch keine Sorgen. Ich komm mit nach Thun. Aber wir fahren mit meinem Auto, und ich fahre. Habt Ihr soviel Kurasch?«

Aeschbacher hatte nicht nur Studers Gedanken erraten, er hatte auch des Wachtmeisters empfindliche Stelle getroffen.

»Angst? Ich?« fragte Studer beleidigt. »Fahren wir!«

»Ich… will… meiner… Frau noch Adieu sagen.« Die Worte kamen stockend. Studer nickte.

An der Tür sagte Aeschbacher noch:

»Bedient Euch, Wachtmeister…« und wies auf die Flaschen, die auf dem Tisch standen.

Studer bediente sich. Dann sank er in seinen Stuhl zurück und schloß die Augen. Er war müde, hundsmüde. Er war gar nicht mehr stolz. Er kam nicht recht nach. Warum hatte der Aeschbacher alles zugegeben? Hatte er gemerkt, daß Studer der Einzige war, der von der ganzen Sache wußte? Bezog sich die Frage wegen der Angst auf diese Tatsache? Man würde sehen…

Eigentlich hätte Studer noch ganz gerne einmal mit Frau Aeschbacher gesprochen. Was war das für eine Frau? Sie sprach so merkwürdig. Eine Ausländerin? Wo hatte der grobe Aeschbacher diese feine Frau aufgetrieben… Die las wohl keine Romänli in der Nacht, vielleicht spielte sie Klavier? Oder Geige? Das Kopfweh kam wieder. Aber nun war wohl bald alles zu Ende. Eigentlich hätte man einen Gefreiten von Bern verlangen können, um den Aeschbacher einzuliefern… Dann hätte man gleich ins Bett kriechen können. War es nicht besser, man ging dann heim und legte sich dort ins Bett? Es pflegte nicht schlecht, 's Hedy. Warum wollte er partout ins Spital?

Da ging die Türe auf:

»Wei mer go?« fragte Aeschbacher, so ruhig, als ob es sich um eine Spazierfahrt handle.

Studer stand auf. Sein Mund war trocken. Er fühlte eine merkwürdige Leere im Magen und tröstete sich, das käme vom Fieber, vom Hunger, vom Trinken auf nüchternen Magen. Aber das Gefühl wollte nicht vergehen.


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