Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Noch einer, der nicht mehr mitmachen will

Der Speck war zäh und der Suurchabis schwamm in allzu viel Flüssigem. Die Gaststube war leer. Am Ausschank polierte die Kellnerin Weingläser. Es hatte endgültig aufgehört zu regnen, aber der Himmel war mit einer weißen Schicht überzogen, die blendete.

Studer spürte ein unangenehmes Beißen in der Nase: es war wohl ein Schnupfen, der sich meldete. Kein Wunder, wenn der Mai so kalt war. Er kostete den Kaffee. Der war ebenso dünn und lau wie derjenige seiner Frau, wenn sie nächtelang gelesen hatte. Studer schüttete den Kirsch in die Brühe, verlangte noch einen und begann dann die Gerzensteiner Nachrichten zu studieren. Seine Stimmung wurde langsam besser, er lehnte sich in die Ecke zurück und rollte mit den Schultern, bis sie bequem der Wand anlagen.

Da betrat ein junger Mann die Gaststube. Zuerst schnitt die Kellnerin mit einer brüsken Handbewegung einer männlichen Stimme das Wort ab, die in einer Ecke sanft über die Entschlüsse plätscherte, an denen der Nationalrat letzte Woche erkrankt war, dann sagte die Saaltochter:

»Grüeß di!« Es klang wie ein unterdrückter Freudenruf und Studer wurde aufmerksam, so wie jeder, auch der solideste Mann aufmerksam wird, wenn sich in seiner nächsten Nähe eine zarte Beziehung bemerkbar macht. »Becher Hell's!« sagte der junge Mann kurz. Es war eine deutliche Ablehnung.

»Ja, Armin«, sagte die Saaltochter geduldig, ein wenig vorwurfsvoll.

Armin? Studer sah sich den Burschen näher an. Dieser gehörte zu jener Sorte junger Männer, die über einen sehr reichlichen Haarwuchs verfügen, und diesen in Form von Dauerwellen über der Stirn aufschichten. Der blaue Kittel war in der Taille so eng geschnitten, daß er waagrechte Falten warf, die breiten hellen Hosen verdeckten die Absätze und schleiften fast am Boden nach.

Das Gesicht? Ja, es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem andern Gesicht, das Studer heute morgen in einem grausam hellen Raum gesehen hatte. Das Gesicht des Burschen war magerer, glatter, der Schnurrbart fehlte, aber das Kinn war dasselbe: weich, leicht verfettet…

Die Glücksfälle mehrten sich. Es war sicher der Armin Witschi. Vielleicht erhielt man die Bestätigung.

Die Kellnerin hatte sich an den Burschen gedrängt. Der Armin ließ es sich gefallen.

– Ob er denn nicht den Laden hüten müsse? fragte sie.

– Die Schwester sei heimgekommen, sie habe frei heut nachmittag, brauche nicht nach Bern zu fahren. Übrigens, fuhr er fort, sei ihm alles verleidet. In das Lädeli komme ohnehin niemand mehr, er werde wohl bald auch hausieren müssen wie der Vater, und vielleicht… Die Pause, die folgte, sollte vielsagend sein.

»Nid, Armin!« sagte die Kellnerin. Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein, hatte müde Züge in einem nicht unschönen Gesicht.

–Auf keinen Fall dürfe er reisen, sagte sie; der Schlumpf sei nicht der einzige gewesen, es seien noch mehr beim alten Ellenberger, die zu allem fähig seien…

Sie merkte plötzlich, daß Studer zuhörte, und dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. Der Armin trank einen Schluck aus seinem Glas. Er spreizte dabei den kleinen Finger ab.

Das Wispern der Kellnerin wurde eifriger; Armin beteiligte sich am Gespräch nur mit einzelnen Worten. Aber die wenigen Worte, die er einwarf, hatten Gewicht – falsches Gewicht, hätte Studer am liebsten gesagt. Er zog seine Uhr. Es war halb drei. Er war müde, die Glieder taten ihm weh, das Gewisper ging ihm auf die Nerven. Vielleicht sollte er ein wenig spazieren gehen? Zum Ellenberger? Seine alten Bekannten dort besuchen, den Schreier, der jetzt Klavier spielte und den Buchegger mit der Baßgeige? Die Jazzkapelle genannt: ›The Convict Band!‹… Ein Humorist, dieser alte Ellenberger. Man wurde nicht klug aus ihm. Für seine Leute schien er gut zu sorgen…

Oder war es besser, die Frau zu besuchen, bei der Schlumpf gewohnt hatte?

Ein ödes Blatt, dieser Gerzensteiner Anzeiger. ›Erscheint zweimal wöchentlich mit Beilagen: Für die Frau, Palmblätter, Landwirtschaftliches.‹ Was hieß das ›Landwirtschaftliches‹! Aus einem unerfindlichen Grunde ärgerte dieses Wort den Wachtmeister Studer. Aber was war das?

»In letzter Stunde erfahren wir den traurigen Hinschied unseres wohlverdienten Mitbürgers W. Witschi, der in seinem 50. Altersjahre einer ruchlosen Bubenhand zum Opfer gefallen ist. Herr W. Witschi war bekannt als ein Muster von Treue und Pflichterfüllung, sein Andenken wird uns teuer bleiben, bis über das Grab hinaus, denn er war noch einer von jenen immer mehr aussterbenden Charaktern« –

Studer streichelte seinen Schnurrbart, die ›aussterbenden Charakter‹ gefielen ihm ausnehmend –, ›die nach alter Väter Sitte…‹ – Ja, ja, das kannte man. Studer übersprang ein paar Zeilen.

Aber plötzlich stockte er und las nicht weiter. Etwas hatte ihn gestört: wohl die plötzliche Stille – das Wispern hatte aufgehört. Studer äugte vorsichtig über den Rand der Zeitung. Das Klingen von Geldmünzen war zu hören. Die Kellnerin kramte in dem Ledersack, den sie unter der Schürze trug. Armin tat unbeteiligt und strich dann und wann mit lässiger Gebärde über seine wohlondulierten Haare. Die linke Hand trommelte auf dem Tisch.

Jetzt verschwand sie unter der Tischplatte. Wieviel Geld gibt sie ihm wohl? fragte sich Studer. Das Rascheln einer Banknote war zu hören.

»Ich möchte zahlen…«, sagte Studer laut. Die Kellnerin fuhr mit rotem Kopf in die Höhe, Armin blickte böse zu dem einsamen Gast hinüber, Studer gab den Blick zurück, der Bursche hielt ihn nicht lange aus, Studer nickte unmerklich. Innerlich formulierte er seine Beobachtung: »Nicht ganz sauber überm Nierenstück.«

»Ein Mittagessen macht…«, die Kellnerin begann die Rechnung herunterzuleiern, Studer schob einen Fünfliber hin, steckte das Usegeld achtlos in die Hosentasche.

»Zahlen, Berta!« rief der junge Mann drüben. Er schwenkte eine Zwanzigernote…

Wie nannte man in Frankreich die Bürschchen, die sich aushalten ließen? Es war der Name eines Fisches, Studer kam nicht gleich darauf…

Richtig! Maquereau!…

 

Dort, wo der Feldweg rechts von der Automobilstraße abzweigte, stand ein großes Schild:

Baumschulen und Rosenkulturen
Gottlieb Ellenberger

und ein Pfeil wies die Richtung. Studer verschob den Besuch auf später. Er bog lieber links ab, der Weg stieg ein wenig an, aber man kam gleich in den Wald – Nadelhölzer und ganz wenig Laubbäume… Tannenduft war gesund, besonders für Schnupfen, das hatte schon sein Vater behauptet. Im Vorbeigehen sah er sich den Randstein an, an den offenbar der alte Ellenberger am gestrigen Abend mit seinem Kopf geflogen war. Es war ein gewöhnlicher Randstein, kein Blut klebte daran, am besten, man ließ ihn rechts liegen und stieg das Waldweglein empor…

Es war nie gut, sich auf einen Fall zu stürzen, wie eine hungrige Sau aufs Fressen. Und man konnte mit dem heutigen Tag zufrieden sein. Man hatte Bekanntschaften genug gemacht, man hatte Bilder gesammelt, eigentlich nicht anders als ein Fisel Schokoladebildli. Aber die Bilder waren schön:

Zuerst der Wendelin Witschi mit einer Alkoholkonzentration von 2,1 pro Mille, was nach Ansicht des italienischen Assistenten mit den kriminologischen Kenntnissen zu den Attributen einer ›Alkoholleiche‹ gehörte. Dann die Felicitas mit dem Loch im Strumpf und ihrem sonderbaren Benehmen dem Coiffeurgehilfen gegenüber. Hernach der Maquereau mit seiner Freundin, der Kellnerin.

Mein Gott, die Menschen waren überall gleich. In der Schweiz versteckten sie sich ein wenig, wenn sie über die Schnur hauen wollten, und solange es niemand merkte, schwiegen die Mitmenschen. Und der Wendelin Witschi, der im Gerichtsmedizinischen Institut konserviert wurde, war ein aussterbender Charakter.

Gut und recht.

Warum nicht? Solche Ausdrücke gehören zum Leben; die Leute, auf die sie angewandt werden, zotteln weiter, niemand regt sich über ihre kleineren oder größeren Sünden auf, wenn nicht…

Eben, wenn nicht irgend etwas Unvorhergesehenes passiert. Ein Mord zum Beispiel. Zu einem Mord gehört ein Schuldiger, wie der Anken aufs Brot. Sonst reklamieren die Leute. Und wenn dann der sogenannte Schuldige versucht, sich aufzuhängen und es kommt ein Fahnderwachtmeister dazu, der einen harten Gring hat, dann kann es geschehen, daß alle die kleinen Unregelmäßigkeiten, die im Leben jedes Menschen vorhanden sind, plötzlich wichtig werden; man arbeitet dann mit ihnen, wie ein Maurer mit Backsteinen – um ein Gebäude aufzurichten… Ein Gebäude? Sagen wir vorläufig: eine Wand…

Am Waldrand blieb Studer stehen, wischte sich die Stirne und schaute übers Land. Auf einer Telegraphenstange saß ein Mäusebussard und ruhte sich aus. Aber da kam eine Krähe und begann den stillen Vogel zu plagen. Der Bussard flog auf, die Krähe folgte ihm, und sie krahahte dazu mit einer unangenehm heiseren Stimme. Der Bussard schwieg. Er flog immer höher, immer höher, warf sich dem Wind entgegen und bewegte kaum die Flügel. Die Krähe folgte. Sie wollte ihren Krach haben, sie ließ nicht locker, immer wieder stieß sie gegen den stillen Vogel. Aber schließlich mußte sie es aufgeben. Der Bussard hatte eine Höhe erreicht, wo es der Krähe ungemütlich wurde. Krächzend ließ sie sich fallen. Der Bussard flog einen vollkommenen Kreis und Studer beneidete ihn. Hier unten entkam man den Krähen nicht so mühelos.

Er drang tiefer in den Wald ein. Und der Wald war sehr still…

Wie weit war der Wachtmeister gegangen? Über seinem Kopfe spielte ein kleiner Wind mit den Baumwipfeln. Es rauschte sanft.

Und dann wurde das kühle Rauschen plötzlich von einem anderen Geräusch unterbrochen. Zweige knackten, ein Stöhnen war zu hören – so als ob ein verwundetes Tier sich mühsam weiterschleppen würde… Hinter einem Gebüsch fand Studer einen Mann, der auf dem Bauch lag und wimmerte. Die Rückennaht seines Rockes war aufgerissen, das Haar zerrauft, die Schuhe waren kotig.

Der Mann hatte das Gesicht auf den Unterarm gelegt und weinte in die Erde hinein.

Einen Augenblick sah Studer ein anderes Bild: den Burschen Schlumpf, der die Augen in die Ellbogenbeuge gepreßt hatte…

Dann klopfte Studer dem Liegenden auf die Schulter und fragte:

»Was ist los?«

Der Mann drehte sich langsam auf den Rücken, blinzelte und schwieg. Studer erkannte den alten Cottereau, den Obergärtner beim Ellenberger…

Aber als Studer noch einmal fragte, was denn eigentlich passiert sei, begann das Gewimmer von neuem. Jetzt waren die Worte deutlich zu verstehen:

»Mein Gott! Mein Gott! Herjeses, ist das gut, daß endlich ein Mensch kommt. Verrecken könnt' man in dem Wald. O je, o je! ganz trümmelig ist mir, und so haben sie mich abgeschlagen!…«

Wer ihn denn abgeschlagen habe, wollte Studer wissen. Da hörte das Gejammer auf, das linke Auge blinzelte verschmitzt – das andere war blau unterlaufen und die geschwollene Haut verbarg es fast ganz – und mit ganz ruhiger Stimme sagte der Obergärtner Cottereau:

»Das tätet Ihr gern wissen, he? Aber von mir erfahrt Ihr nichts. Es war, vielleicht war es… Gar nichts war's! Eigentlich könntet Ihr mir aufhelfen und mich dann heimführen, bin ohnehin ganz naß, die Nacht im Wald… Sie haben mich zwar… Ja, der Meister wird auf mich warten, hat er große Sorge gehabt um mich?«

»Er hat Euch durchs Radio suchen lassen…«, sagte Studer – da hockte der Mann blitzschnell auf, aber eine Grimasse verzog sein Gesicht. Dann breitete sich ein Ausdruck von Stolz darüber aus:

»Durchs Radio?« fragte er. Darauf bewundernd: »Ja, der Ellenberger!… Wie geht's ihm, dem Meister? Ist er schwer verletzt worden?«

Studer schüttelte den Kopf und meinte streng, er werde ihn, den Cottereau, liegen lassen, wenn er nicht sagen wolle, wer ihn überfallen habe.

»Das könnt Ihr machen, wie Ihr wollt, Herr Fahnder«, sagte der kleine dicke Mann, zog einen Taschenspiegel hervor, einen Kamm und begann sich zu strählen.

»So, und jetzt könnt Ihr mich heimführen… Ihr seid ohnehin schuld, daß sie mich so abgeschwartet haben. Aber der Cottereau ist zäh, der sagt nichts, der weiß, was er seinem Meister schuldig ist…«

Und nach einem Schweigen:

»Man wird alt«, sagte der Kleine. »Man ist nicht mehr so rüstig wie früher. Schad, daß der Meister gestern nicht mitgekommen ist, der hätt' die Burschen anders traktiert!«

»Die Burschen?« fragte Studer. »Welche Burschen?«

»Hehe«, lachte Cottereau. »Das möchtet Ihr gern wissen, Wachtmeister. Aber ich sag nichts. Ich mach nicht mehr mit… Punkt… Schluß… Ich mach nicht mehr mit!« Und er schüttelte trotz der Schmerzen, die er offenbar verspürte, ganz energisch den Kopf.

Studer bückte sich. Cottereau legte seinen Arm um die Schultern des Wachtmeisters, richtete sich auf, stöhnend, und begann dann langsam zu gehen. Studer stützte ihn.

»Der Rücken!« klagte der Dicke. »Geschlagen haben sie! Und dazu immer gesagt: ›So!… ein Fahnder von der Stadt will sich in unsere Angelegenheiten mischen! Das ist nur‹, haben sie gesagt, ›eine kleine Probe, Cottereau. Damit du's Maul hältst. Verstanden? Wir haben unsern Landjäger. Wir brauchen keinen Tschucker von der Stadt!‹ Ja, das haben sie gesagt. Und von mir erfährt niemand nichts. Verstanden, Fahnder? Ich bin still. Ich schweige, ich schweige, wie das Grab…« Dann murmelte der alte Cottereau noch einiges, das nicht zu verstehen war…

Wenn Studer gedacht hatte, den ganzen Vorfall vom Ellenberger erklärt zu bekommen, so wurde er enttäuscht. Ellenberger saß auf einem Bänklein vor seinem Haus. Es war eine Art Villa, noch ziemlich neu, ein Schuppen stand hinterm Haus, die Fenster eines Treibhauses schimmerten. Der Ellenberger hatte um den Kopf einen dicken weißen Verband.

»So«, sagte er trocken, »habt Ihr den Cottereau gefunden? Dank Euch, Wachtmeister. Ihr seid ja ein richtiger ›Deus ex machina‹.« – Und er lachte schleppend, als er Studers erstauntes Gesicht sah.

»Warum habt Ihr denn den Radio alarmiert?« fragte Studer endlich neugierig.

»Das werdet Ihr später schon verstehen«, sagte der alte Ellenberger und strich sich über seinen weißen Turban. »Vielleicht hab ich Euch damit einen Dienst geleistet …«

»Dienst?« Studer wurde ärgerlich. »Der Cottereau schweigt sich aus. Und Ihr habt ja auch nichts gesagt. Wer hat Euch angefallen, wer Euern Obergärtner verschleppt?«

»Wachtmeister«, sagte Ellenberger, und er machte ein sehr ernstes Gesicht. »Es gibt Äpfel und Äpfel. Solche, die könnt Ihr vom Baum essen, sie sind reif, und andere, die müßt Ihr einkellern, die werden erst im Horner gut, oder im Märzen… Abwarten, Wachtmeister, bis der Apfel reif wird. Geduld haben. Verstanden?«

Und mit dieser Auskunft mußte sich Studer zufrieden geben. Nicht einmal mit dem Schreier und dem Buchegger konnte er die Bekanntschaft erneuern. Sie arbeiteten noch, hieß es.

Eine Baumschule sei kein Staatsbetrieb, sagte der Ellenberger bissig. Am Samstagnachmittag werde hier geschafft…


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