Otto Gildemeister
Essays - Zweiter Band
Otto Gildemeister

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Renans »Lose Blätter«.

(1892.)

Renan hat auf den Wunsch seines Verlegers Calmann Lévy seinen vielgelesenen und vielgekauften »Souvenirs d´enfance et de jeunesse« einen Nachtrag folgen lassen, einen stattlichen, herrlich gedruckten Band unter dem Titel »Feuilles détachées« lose Blätter, eine Sammlung kleinerer Gelegenheitsschriften und Gelegenheitsreden, wie sie in einem langen Gelehrtenleben von so ungemeiner Bedeutung, Vielseitigkeit und Popularität neben den ernsthaften großen Werken in reichlicher Fülle zu entstehen pflegen, zumal wenn der betreffende Gelehrte nicht nur Mitglied der französischen und etlicher anderen Akademien, sondern auch Lehrer an einer hohen Schule und Hausfreund der vornehmsten Pariser Revuen und Tagesblätter ist. Mag nun auch im vorliegenden Falle ein buchhändlerischer Gedanke den Anstoß zu der Sammlung gegeben haben, sie selbst hat gleichwohl ihre volle literarische Berechtigung: es wäre sehr bedauerlich gewesen, wenn diese kleineren Kabinetstücke, zerstreut in unübersehbaren Massen von Zeitungen und Zeitschriften, vom Staube der Jahre begraben geblieben wären. Bedauerlich nicht allein, weil sie – bei selbstverständlich ungleichem Werthe – eine Fülle von Geist und liebenswürdiger Anmuth darbieten, sondern auch deshalb, weil sie allerlei Licht werfen auf die höchst eigenthümliche Persönlichkeit des Mannes, der, wie vielleicht kein anderer Schriftsteller unserer Zeit, die Geister bewegt und gefesselt, entzückt und erbittert, angezogen und abgestoßen hat. Natürlich denke ich dabei nicht an Wirkungen auf die Masse, sondern auf den Einfluß, den Renan auf die Kreise der hohen Bildung ausgeübt hat.

Diesen Einfluß verdankt er gewiß am wenigsten seiner Gelehrsamkeit. So groß diese sein mag, – ich vermag ihr Maß nicht anzugeben, – so wenig würde sie ausgereicht haben, einen Leserkreis um ihn zu versammeln, der sich über Europa und Amerika erstreckt, der nach Zehntausenden in Frankreich allein zählt, der seit vierzig Jahren immer mehr angewachsen ist. Ich denke mir, wennschon ich nur als Laie urtheilen kann, daß – abgesehen von den streng philologischen Disziplinen, über die ich gar kein Urtheil habe, – die Wissenschaft gegenwärtig auf dem Standpunkte, den sie erreicht hat, auch dann stehen würde, wenn Renan nie eine Zeile geschrieben hätte. Die Bibelkritik, die Theorien über die Ursprünge des Christenthums, die Geschichte des Volkes Israel, die Philosophie, die Religionswissenschaft verdanken ihm vielfache Bereicherungen, Anregungen, glänzende Kombinationen, aber kaum neue Grundlagen, neue Bahnen. Weder seine Methode, noch die Kühnheit ihrer Anwendung gehört ihm eigentlich an; beide sind Produkte einer geistigen Entwicklung, die Renan gereift und fertig vorfand, als er, vor einem halben Jahrhundert, die große Wandelung durchmachte, die aus dem frommgläubigen Seminaristen den großen Skeptiker entstehen ließ. Die sichersten Resultate der modernen Wissenschaft, nämlich die negativen, sind von anderen ohne ihn oder von anderen neben ihm gefunden worden; die Versuche Renans, an die Stelle der Lücken neue positive Konstruktionen zu setzen, sind weit entfernt, allgemeine Anerkennung gefunden zu haben, und auch im günstigsten Falle bezeichnen sie keine neue Aera der Wissenschaft in dem Sinne etwa wie Niebuhrs römische Geschichte und Darwins Ursprung der Arten. Sie folgen mehr oder minder originell, mehr oder minder glücklich, den großen Linien, die von Vorgängern, zumal deutschen, gezogen worden sind. Nur soviel wird man zugeben müssen, daß die Gelehrsamkeit die nicht hinwegzudenkende Grundlage der Wirksamkeit Renans ist; ohne sie und ohne die Autorität, die sie ihm verleiht, wäre er vielleicht ein glänzender Feuilletonschreiber, ein ausgezeichneter Essayist geworden, aber nicht der Großmeister einer internationalen Gemeinde hochkultivirter Männer und Frauen, als der er heute, bewundert und gefeiert, in Paris thront. Um sein Reich zu erobern, konnte er des Rüstzeugs moderner Erudition nicht entbehren, aber dies Rüstzeug allein konnte ihm den Erfolg nicht verschaffen.

Man denkt zunächst an den Zauber der Form, an den Stil, der ja ohne Zweifel eine mächtige Waffe und wohl im Stande ist, außerordentliche Wirkungen herbeizuführen, zumal auf einem Gebiete, wo es sich darum handelt, wissenschaftlichen Stoff in den Bereich der nicht fachmäßig Gebildeten zu rücken. Und gewiß spielt bei Renan die Grazie und Feinheit des Stils, die Kunst der Darstellung eine große Rolle. Aber Stil und Kunst hängen bei ihm – wie übrigens bei allen wirklichen Schriftstellern – aufs engste zusammen mit seinem Naturell, und Renans Naturell ist einzig in seiner Art, merkwürdig gemischt aus heftigem Lebensdrange und zarter Scheu vor allem heftigen Stürmen, aus unersättlicher Begier, sich der Welt durch das Wissen zu bemächtigen, und dem steten Zweifel, ob das Wissen auch möglich, ob es der Mühe werth und ob es nicht am Ende weiser sei, in den Tag hinein zu leben. In ihm vereinigt sich die jugendliche Naivität des Famulus, der »alles wissen möchte,« gesteigert zu höchster Forschungslust, mit der Nüchternheit des skeptischen Greises, der alle Theorien in der Wage gewogen und sie alle zu leicht gefunden hat. Und er scheint mit gleichem Behagen in dem einen wie in dem anderen zu schwelgen, in dem brennenden Interesse an dem bunten Stoffe der Welt, vergangener, gegenwärtiger und künftiger, und in dem Gedanken, daß alles eitel sei. Im tiefsten Grunde des Herzens, in dem Grunde, aus dessen Dunkel auch die Gedanken aufsteigen, herscht ein unauslöschlicher Optimismus, der zugleich sich seiner Vernunftlosigkeit klar bewußt und sich durch Vernunftgründe vor sich selbst zu rechtfertigen bemüht ist. Wie Magister Martinus in Bibrach sagt er:

Ich leb und weiss nit wie lang,
ich stirb und weiss nit wann,
ich far und weiss nit wahin,
mich wundert dass ich frölich bin.

Aber er beruhigt sich nicht bei der Verwunderung; er erschöpft sich in immer neuen Wendungen, um einerseits sich und uns die Finsterniß, in der wir leben, weben und sind, recht sichtbar zu machen, »darkness visible,« und andererseits sich und uns die Gründe aufzuzählen, weshalb wir uns das Grauen vor der Finsterniß aus dem Sinn schlagen sollen. Diese Heiterkeit des Geistes steckt an: der Leser fühlt sich hinweggehoben über die Traurigkeiten und die Schrecken des Stoffes, wenn er sieht, mit welcher frischen Lust der Führer sich in den unheimlichsten Regionen zu orientiren, die Abgründe mit seiner lebendigen Phantasie auszufüllen, dem Räthsel durch den Glanz seiner Lösungsversuche eigenthümlichen Reiz abzugewinnen weiß.

Deutlicher als in den größeren, systematisch gearbeiteten Werken tritt die persönliche Eigenart des Mannes in den Plaudereien und Gelegenheitsreden, deren der neue Band eine Auswahl darbietet, hervor, und hierin beruht mehr als in der Ausbeute an neuen Gedanken der Werth der Feuilles détachées. Das meiste hat Renan auch an anderen Stellen gesagt, vieles mit denselben Worten und Wendungen, nach Greisenart, die sich gern wiederholt, aber er läßt sich mehr gehen in diesen Parergis, spielt zwangloser mit seinem Thema, bekennt sich offenherziger und gemüthlicher zu der Lehre, daß das Dasein ungeheuer amüsant ist, wenn man es nur nicht zu tragisch nimmt. In der Vorrede beklagt er sich, daß die jungen Leute sich durch grübelnden Ernst, durch philosophisches Brüten das Leben vergällen. Warum sich so sehr den Kopf zerbrechen um einer Wahrheit willen, die vielleicht traurig ist und die man wahrscheinlich nie erfahren wird. »Amusez-vous, cher enfans, puisque vous avez ans: travaillez aussi.« So formulirt er seiner Weisheit höchsten Schluß, nicht ohne ein Körnchen Frivolität, aber vornehmlich, weil er selbst sich, während er arbeitete, so ausgezeichnet unterhalten hatte. »Was für Offenbarungen verspricht euch (den Jungen) die Wissenschaft, was werdet ihr alles in vierzig, in fünfzig Jahren wissen, Dinge, die ich nie wissen werde! wie viele Probleme werden sich euch lösen! Wie wird der innere Keim Kaiser Wilhelms II. sich entwickeln? Was wird aus dem Konflikt der europäischem Nationalitäten werden? Wie werden die sozialen Fragen verlaufen? Welches Schicksal steht dem Papstthum bevor? Ach, ich werde sterben, ohne von alledem etwas zu sehen, es sei denn mittels Konjektur, und ihr, ihr werdet diese Räthsel als vollendete Thatsachen schauen.« Er verschweigt die Schattenseiten nicht, Vergänglichkeit, Tod, Dunkel der Zukunft, aber warum soll man sich empören gegen Wahrheiten, die so alt sind wie die Welt? »Haben wir uns denn jemals eingebildet, daß wir nicht sterben würden? Sterben wir ruhig in der Gemeinschaft der Menschen und in der Religion der Zukunft. Die Existenz der Welt ist für lange gesichert. Frankreich mit seinem leichtsinnigen Kometengange wird sich vielleicht besser aus der Sache ziehen, als gewisse Anzeichen es hoffen lassen. Die Zukunft der Wissenschaft ist verbürgt; in ihrem großen Buche wird nur hinzugefügt, geht nichts verloren. Der Irrthum gründet nicht; kein Irrthum währt sehr lange. Seien wir unbesorgt. In weniger als tausend Jahren wird hoffentlich die Erde einen Ersatz für die erschöpften Kohlenlager und, bis zu einem gewissen Grade, für die verminderte Tugend gefunden haben.«

Böse Tage werden kommen; die sittlichen Werthe fallen; die Aufopferung verschwindet fast; man sieht den Tag kommen, où tout sera syndiqué, wo an die Stelle hingebender Liebe der organisirte Egoismus treten wird. Die beiden einzigen Mächte, die noch dem Sturze der Autorität widerstehen, Kirche und Armee, werden bald von dem allgemeinen Strom weggerissen. ... Eine unermeßliche sittliche Verschlechterung würde an dem Tage eintreten, wo die Religion aus der Welt verschwände. Wir können der Religion entrathen, weil andere sie für uns haben. Die Nichtglaubenden werden von der mehr oder minder gläubigen Menge mitgezogen; an dem Tage aber, wo die Menge keinen Aufschwung mehr hätte, würden auch die Tapfersten nur schwächlich in den Kampf gehen. Aus einer Menschheit, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, wird man viel weniger ziehen als aus einer Menschheit, die dran glaubt. Der Werth des Menschen steht in direktem Verhältniß zu dem religiösen Gefühl, das er von seiner ersten Erziehung mitbringt und dessen Duft sein ganzes Leben durchdringt. Die religiösen Menschen leben von einem Schatten. Wir leben von dem Schatten eines Schattens. Wovon wird man nach uns leben?

Die fröhliche Antwort auf so bange Frage lautet: »N´importe.« Die Menschheit hat unendliche Hülfsquellen. Der Untergang der angeblich geoffenbarten Religionen ist zwar unvermeidlich, aber deshalb braucht die Religiosität, le sentimente religieux, nicht zu verschwinden. Wir müssen nur nicht zu viel verlangen. Das Christenthum hat uns verwöhnt: wir wollen den Himmel, und wir wollen ihn als Gewißheit. Begnügen wir uns mit kleineren Gewinnen; versuchen wir an kleinen Leckerbissen Geschmack zu finden. Freuen wir uns zuzusehen, wie die Menschheit sich des Lebens freut; die Freude der anderen ist ein großer Theil unserer eigenen; sie begründet den Lohn eines honetten Lebens, die Fröhlichkeit.

Niemand hat mehr als Renan selbst jenen Duft, von dem er spricht, den die religiösen Eindrücke der Jugend dem ganzen Leben verleihen. »Ich bin von Frauen und von Priestern erzogen worden: das erklärt alle meine Vorzüge und alle meine Fehler.« Der Glaube ist geschwunden, aber die andächtigen Stimmungen, die wonnigen Schauer der Kontemplation können jeden Augenblick wieder heraufbeschworen werden, und sie erfüllen dann die Seele dieses Zweiflers und Verneiners mit einem Hauche frommer Poesie, der nichts künstliches an sich hat und der gleichwohl von diesem überlegenen Meister offenbar mit Bewußtsein künstlerisch verwerthet wird. In solchen Augenblicken findet er Töne, die ihm die Liebe christlicher schöner Seelen gewonnen haben. Aus den Variationen über Laplaces Thema: »ich habe den ganzen Sternenhimmel durchforscht und keinen Gott gefunden,« erhebt sich plötzlich eine Weise wie diese:

»Entsagen wir nicht Gott dem Vater; leugnen wir nicht die Möglichkeit eines Schlußtages der Gerechtigkeit. Wir sind nie in einer jener tragischen Lagen gewesen, wo Gott gewissermaßen der nothwendige Vertraute und Tröster ist. Eine verleumdete reine Frau, ein schuldloses Opfer unheilbaren richterlichen Irrthums, ein Mann, der in der Vollbringung einer hochherzigen Handlung stirbt, ein Weiser, den barbarische Krieger niederhauen, was sollen sie anders thun als die Augen gen Himmel erheben? Wo soll man den wahren Zeugen suchen, wenn nicht droben? Selbst in unseren friedlichen Lebensläufen, wo die großen Prüfungen selten sind, – wie oft fühlen wir das Bedürfnis an die absolute Wahrheit der Dinge Berufung einzulegen, ihr zu sagen: sprich, sprich! Das sind vielleicht die Augenblicke, wo wir in der Wahrheit sind. Das Unerhörte ist nur, daß wir nie ein Anzeichen haben, ob unser Protest irgend etwas berührt hat. Als Nimrod seine Pfeile nach dem Himmel abschoß, fielen sie blutig zurück; wir erhalten gar keine Antwort. O Gott, den wir gegen unsere eigene Ansicht verehren, zu dem wir zwanzigmal des Tages beten, ohne es zu wissen, du bist wahrlich ein verborgener Gott!«

An einer anderen Stelle, in dem höchst merkwürdigen Examen de conscience philosophique, sagt Renan, es sei das logischste für den denkenden Menschen der Religion gegenüber, sich so zu verhalten, als ob sie wahr wäre. Man müsse handeln, als ob Gott und die unsterbliche Seele existirten. Freilich finde man beide nicht in unserem Universum, aber wer stehe dafür, daß nicht unser Universum nur ein untergeordnetes Etwas in einer Unendlichkeit sei, innerhalb deren – in unvorstellbaren Aeonen und Prozessen – ein Gott sich auswirke zur Allweisheit und Gerechtigkeit, und vor dessen Allmacht der Begriff des Wunders verschwinde. Tout est possible, même Dieu. Je mehr die Menschheit nachdenke, um so besser erkenne sie, daß Gott und Unsterblichkeit nothwendige Dogmen seien; um so deutlicher auch sehe sie die Schwierigkeiten, die sich gegen diese notwendigen Dogmen erheben. Diese Schwierigkeiten, das dürfe man sich nicht verhehlen, seien höchst bedenklicher Art. Und das zu zeigen, wirft er ein blitzendes Argument nach dem andern, wie Leuchtkugeln, als ob es sich um ein Feuerwerk handle, in die Luft. Vortrefflich erkennt er, daß im Grunde sein »möglicher« Gott und der Gott der Gläubigen zwei völlig verschiedene Wesen sind, was übrigens nicht minder von dem Gott der großen Menge und dem der Deisten gilt. »Was das Volk, le vulgaire, verlangt, ist ein Gott, (so sagt Renan), der ganz gewiß nicht existirt; unser Gott, dessen Möglichkeit wir zugeben, ist zu fern, um die Frömmigkeit an sich zu fesseln. Man verlangt einen Gott, der sich mit Regen und Sonnenschein und mit Krieg und Frieden, mit den Händeln menschlicher Eifersucht abgiebt, den man umstimmen und überreden kann, wenn man ihm recht zusetzt. Die Menschheit, mit andern Worten, möchte einen Gott für sich, einen Gott, der sich für ihre Streitigkeiten interessirt, einen besonderen Gott der Erde, der für sie als guter Regent sorgt, wie die Provinzialgötter, von denen das Heidenthum in den Zeiten des Verfalls träumte. Eigentlich möchte jede Nation einen Gott für sich allein. Noch besser würde ihr ein Idol passen, und ließe man den Wünschen der Menschen freien Lauf, sie würden Einfluß fordern für die nationalen Reliquien, für die geheiligten Bildnisse. Wie viel Postulate, die keine Berücksichtigung finden werden! Der Mensch braucht einen Gott, der in Beziehung steht zu seinem Planeten, seinem Zeitalter, seinem Lande: folgt daraus, daß dieser Gott existirt? Der Mensch braucht die persönliche Unsterblichkeit: folgt daraus, daß diese persönliche Unsterblichkeit existirt? Mit andern Worten, dem Menschen ist es unerträglich, Theil einer unendlichen Welt zu sein, in der er für Null zählt. Ein Paradies, das eine Decillion Wesen umfaßt, ist durchaus etwas anderes als das kleine Paradies, en famille, wo man einander kennt, wo man nach wie vor Nachbarschaften hält, mit einander schwätzt und intrigirt. Man muß Gott bitten, er möge die Welt verkleinern, Copernicus Unrecht geben, uns zurückführen zu dem Kosmos des Campo-Santo von Pisa, den die neun Engelchöre umkreisen und den Christus in seinen Armen hält.«

Solchen Stellen gegenüber erscheint es nicht wunderbar, daß Renan fromme Verehrer und Verehrerinnen hat, die voll Schauder vor seiner skeptischen Philosophie und voll Zärtlichkeit für seine Seele im stillen zu eben diesem Gott, den er belächelt, beten, daß ein Strahl der himmlischen Gnade diesem Saulus die Schuppen von den Augen lösen möge. Ihm ergeht es in dieser Beziehung, wie es seiner Zeit Lord Byron erging, für dessen Rettung und Bekehrung schöne Frauen ihre Fürbitte einlegten, ebenso vergeblich, wie voraussichtlich Renans Freundinnen. Der englische Dichter fascinirte die weiblichen Herzen durch den melodischen Gram, der seinen Sündenfall begleitete: er war so unglücklich! freilich auch so schön und obendrein ein Lord. Renan ist weder unglücklich noch schön noch vornehm, aber er besitzt eine Anempfindungsgabe, die es ihm möglich macht, den tiefsten und den höchsten Regungen des religiösen Gefühls, von der peinvollsten Zerknirschung bis zur seligen Extase des Mystikers ihre natürliche Stimme zu verleihen, und durch diese Stimme auch solche zu bezaubern, die sich von seiner Kritik mit Entsetzen abwenden. Wie es zu gehen pflegt, wird der süße Zauber noch erhöht durch das Entsetzen, das ihn begleitet: welch ein Jammer, daß eine Seele, die so zu empfinden versteht, der Finsterniß verfallen soll! welche Wonne, wenn sie dem Himmel zurückgewonnen werden könnte! Leider sind die Aussichten der Rettung nur schwach, wie die folgende Stelle der Vorrede Renans zeigt:

»Ich habe schon anderswo erzählt, wie eine fromme Person aus der Gegend von Nantes, die offenbar glaubt, daß ich in Festen und Ausschweifungen lebe, mir alle Monate die Worte schreibt: Es giebt eine Hölle! Diese Person, der ich für ihre gute Absicht danke, erschreckt mich nicht so sehr, wie sie wohl denkt. Ich möchte wohl sicher sein, daß es eine Hölle gebe, denn ich ziehe die Hypothese der Hölle der des Nichts vor. Viele Theologen meinen, für die Verdammten sei es besser zu sein als nicht zu sein, und diese Unglücklichen seien vielleicht manchem guten Gedanken zugänglich. Ich meinestheils stelle mir vor, daß, wenn der Ewige in seiner Strenge mich zunächst an diesen schlimmen Ort schickte, ich mich schon herausziehen würde. Ich würde meinem Schöpfer Suppliken schicken, die ihm ein Lächeln abgewinnen sollten. Meine Argumente, um ihm zu beweisen, daß ich durch seine Schuld verdammt sei, würden so subtil sein, daß es ihm schwer fallen sollte, darauf zu antworten. Vielleicht ließe er mich in sein heiliges Paradies ein, wo es herzlich langweilig sein muß. Von Zeit zu Zeit vergönnt er ja zu den Kindern Gottes dem Satan Zutritt, dem Kritiker, damit er die Versammlung ein bischen aufheitere.«

Renan gleicht ein wenig jenem alten italienischen Maler, dessen Force es war, seinen Heiligen und Märtyrern den Ausdruck innigster Himmelssehnsucht und verklärter Siegesfreude zu geben, obwohl er selbst weder an Gott noch Teufel glaubte. Doch muß der Maler seinen Gegenstand lieben, wenn er ihn gut darstellen will. Man sagt, das ist künstlerische Liebe; immerhin, Liebe bleibt es doch. Vielleicht ist darin Renans Originalität begründet, die ihn von anderen Kritikern und Forschern am meisten unterscheidet, daß es seine Jugendliebe ist, die er kritisirt, und daß er zwar von ihren Fesseln sich befreit, ihren geheimnißvollen Zauber aber in der Erinnerung bewahrt hat und an ihm sich weidet. Die mystische Rose hat es ihm angethan; ihr Wachsthum bis zu den Wurzeln und den Keimen zu ergründen, ihr Blühen und Duften zu betrachten und darzustellen, das zieht ihn unwiderstehlich immer wieder an, und selbst, wenn er scheinbar ganz wissenschaftlich den Bau und die Säfte der wundersamen Pflanze untersucht, merkt man bei ihm die alte Herzensneigung, »conosco i segni dell' antica fiamma.« Die Flamme verleiht seinen geschichtlichen Bildern den Schein eines eigentümlichen Lebens; man spürt, wie der Künstler mit ganzer Seele bei der Sache ist, wie seine Phantasie arbeitet, um aus dem überlieferten todten Material den Gestalten und den Gedanken der Vergangenheit wieder Farbe, Form und Bewegung zurückzugeben. Diese Phantasie ist eine gefährliche Gabe, und wie bekannt, hat Renan sich oft genug sagen lassen müssen, daß er mehr Roman als Geschichte schreibe. Kein Vorwurf reizt ihn mehr als dieser: er trifft ihn in seiner innersten Künstlernatur, die bei dem Anblick einiger loser Fäden sofort in schöpferische Bewegung geräth und nicht abläßt, bis sie ein Gewebe fertig hat, das ihm wahr erscheint. Ohne Zweifel trägt das, was der strenge Historiker einen Mangel nennt, dazu bei, die Wirkung auf weitere Lesekreise zu erhöhen. Denn Renans Phantasie ist keine gewöhnliche Phantasie: sie ist geistreich, von umfassendem Wissen genährt und geleitet, voll überraschender und fesselnder Kombinationen, dabei kühn und nie an hergebrachten Vorstellungen haftend.

Den Apostel Paulus, dessen Größe er bewundernd anerkennt, hat er uns als einen kümmerlichen und häßlichen Mann gemalt, so unhellenisch wie möglich, völlig unähnlich den Gestalten, die wir auf den Tafeln und Fresken der italienischen Meister erblicken. Deshalb zur Rede gestellt von dem gelehrten Mézières, hat Renan sich in einem Aufsatze, les portraits de Saint Paul, vertheidigt und dadurch uns einen Einblick in die Werkstätte seiner Phantasie gewährt. Etwa hundert Jahre nach dem Tode des Apostels hat ein Priester die Legende von St. Paul und Thekla geschrieben, ohne Zweifel zur Verherrlichung des ersteren. In dieser Schrift wird Paulus als ein Mann mit kleinem Gesicht, langer Nase, zusammengewachsenen Augenbrauen und krummen Beinen vorgeführt. Unmöglich, denkt Renan, kann ein Bewunderer solche Merkmale erfinden; er muß einer Überlieferung gefolgt sein. So, in solcher Häßlichkeit haben offenbar im zweiten Jahrhundert die Leute sich den großen Mann vorgestellt, und diese Vorstellung hat sich lange Zeit erhalten. Das zeigt der im vierten Jahrhundert geschriebene, fälschlich unter die Schriften Lucians aufgenommene Dialog Philopatris, in dem der Christ Triephon sich mit einem Heiden unterhält und diesem erzählt, wie er bekehrt wurde »von einem gewissen Galiläer mit kahler Stirn und langer Nase, der im dritten Himmel gewesen war und dort die herrlichsten Dinge gelernt hatte.« Kein Zweifel, sagt Renan, daß St. Paul gemeint ist; die Verzückung in den dritten Himmel gestattet kein Schwanken. Die Ueberlieferung war also da; sie wird bestätigt durch Bildnisse der altchristlichen Kunst. Daß sie mit der Wirklichkeit übereinstimmte, darf man aus verschiedenen Stellen der echten Briefe des Apostels schließen, in denen er auf seine leibliche Unansehnlichkeit und Schwäche anspielt. Seine Gegner sagen von ihm, seine Briefe seinen wohl stark, aber die Gegenwärtigkeit des Leibes sei schwach und die Rede verächtlich. (II. Korinther, 10, 10.) Und er hatte »einen Pfahl im Fleisch, nämlich des Satans Engel, der ihn mit Fäusten schlug, auf daß er sich nicht überhebe.« Diese Data genügen nach Renans Meinung, um sein Porträt zu rechtfertigen. Eine Photographie wäre freilich zuverlässiger, aber wir sind einmal auf Divination angewiesen. Niemals, sagt er, erfinde ich ein Detail; ich fasse die Ensembles auf meine Art auf; ich bringe nie ein Element hinzu, das mir nicht geliefert wird, – von den Texten, von den Landessitten, von der Landschaft. Ueber den Pfahl im Fleische hat Renan zwei Monate meditirt. Sinnliche Anfechtungen können nicht gemeint sein. »Der Text (meint Renan) scheint mir eine genaue Beschreibung des Rheumatismus, eines wahren Satansengel, der in der That den Patienten fürchterlich mit Fäusten schlägt.« Ob solche Divinationen dem historischen Sinne ausreichend beglaubigt erscheinen, mag dahingestellt bleiben; dichterisch ist der Einfall, den Feuergeist des Heidenapostels mit einem kranken, schwachen Leibe zu paaren, durchaus gerechtfertigt, und er kann sehr wohl das Rechte getroffen haben.

Man ist immer ungerecht gegen Renan, wenn man ihn excerpirt, und ein wenig auch dann, wenn man ihn verdeutscht. In Frankreich giebt es eine Gesellschaft für die Verbreitung der französischen Sprache, in der Renan einmal vor vier Jahren eine Festrede gehalten hat. Die Rede schließt mit der Aufforderung, das Leben der französischen Sprache bis zum jüngsten Tage zu verlängern. An diesem Tage sei es von höchster Wichtigkeit, daß die Gerichtssprache französisch sei. »Ich versichere Sie, meine Herren, wenn man an diesem Tage deutsch spricht, giebt es Verwirrung und Irrthum ohne Ende. Alle Erfindungen z. B. werden dann von Deutschen in Anspruch genommen werden. Meine Herren, sorgen Sie dafür, daß im Thale Josaphat nicht deutsch gesprochen werde. Ich habe mir die feinsten Argumente ausgedacht, um mich vor dem Weltrichter zu vertheidigen, aber sie werden all ihr Salz verlieren, wenn ich genöthigt werde, sie ins Deutsche zu übersetzen. Retten Sie mich vor diesem Unglück, meine Herren: die Sprache der Ewigkeit muß französisch sein, sonst bin ich verloren.«

Ich glaube, als guter Deutscher müßte ich mich eigentlich über solche Anzüglichkeiten ärgern; aber es will mir nicht gelingen. Es ist ja eine Schwäche, und es ist zu bedauern, daß selbst ein Renan sich von chauvinistischen Vorurtheilen nicht hat frei machen können, in achtzehn Jahren nicht; aber ich fühle mich nicht verwundet von dem Pfeil, den er abgeschossen hat; ich sehe nur, daß auch dieser Pfeil zierlich gefiedert ist.

 


 


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