Otto Gildemeister
Essays - Zweiter Band
Otto Gildemeister

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Napoléon intime.Napoléon intime, par Arthur Lévy. Paris, Librairie Plon. 1893.

(1893.)

Die Zeitungen berichten, daß auf dem diesjährigen Pariser Salon die napoleonische Epopöe sich wieder einen breiten Raum verschafft habe wie nur je in den Tagen der Julimonarchie und des zweiten Kaiserreichs. Die Gemälde, die den bekannten dreieckigen Hut und die graue Redingote zum tausendsten Male reproduciren, die Scenen aus der Geschichte der großen Armee, die Marschälle und Grenadiere sind in überraschend großer Anzahl in den Sälen der Ausstellung erschienen, und das Publikum wird nicht müde sie anzustaunen. Die Litteratur bietet dazu ein Seitenstück. In den letzten Jahren und auch im laufenden folgen sich in raschem Tempo Geschichtswerke, Denkwürdigkeiten, Briefsammlungen, Untersuchungen, die alle den Zweck haben, zur genaueren Kenntniß oder zur besseren Beurtheilung des napoleonischen Zeitalters und seiner Hauptfigur beizutragen. Man kann nicht von einer Wiederkehr des alten Kultus, einer Neubelebung der Legende sprechen, aber ein sehr lebhaftes Interesse für die Person und die Thaten des Kaisers, und zwar ein mit Sympathie verwandtes Interesse, scheint sich geltend zu machen, das schon eine Art von Rückschlag bildet gegen die Wirkungen einer kritischen Auffassung, wie sie allmählich unter dem Einflusse solcher Schriftsteller wie Oberst Charras, Lanfrey, Taine, und der massenhaft gedruckten Memoiren in den gebildeten Kreisen die Oberhand gewonnen hat. Den abfälligen Urtheilen der eben genannten Historiker und den belastenden Zeugnissen der aus den Familienarchiven ans Tageslicht tretenden Aufzeichnungen zeitgenössischer Beobachter hatte die politische Entwicklung seit der Februarrevolution eine entgegenkommende Stimmung im Publikum vorbereitet: man hatte keinen Grund mehr, wie während der Restauration und zum Theil auch noch unter Louis Philippe, die Erinnerungen an das Kaiserreich als Waffe gegen Junker, Pfaffen und Juste-Milieu zu verwerthen, und die »Idées napoléoniennes,« die in der Entfernung sich so imposant ausgenommen hatten, fingen an die Leute stutzig zu machen, als sie plötzlich in der Person des Usurpators von 1850 Fleisch und Blut gewannen und sich auf den Thron Frankreichs setzten, mit rücksichtsloser Verachtung aller Ideen und Doctrinen, aller Institutionen und Personen, die bis dahin das öffentliche Leben des Landes beherscht und repräsentirt hatten. Vollends seit der furchtbaren »Débâcle« des zweiten Kaiserreichs leuchtete die neue These, daß der Bonapartismus das böse Prinzip sei, den Franzosen ein. Die Nation fand einen Trost in dem Gedanken, daß sie das Opfer, das unschuldige Opfer, eines von außen eingedrungenen fremden Elements geworden sei, dem sie in argloser Großmuth Aufnahme gegönnt und die besten Kräfte der Nation zur Verfügung gestellt habe, ohne zu ahnen, wohin das führen werde. Man identifizirte die Begriffe Bonapartismus und Invasion und ließ sich gern belehren, daß der Schöpfer des unheilvollen Systems, genau genommen, gar kein Franzose, sondern ein Italiener, sowohl von Geblüt als von Charakter, gewesen sei, für dessen Ruhm und Ehre einzutreten Frankreich nicht die mindeste Veranlassung habe.

Auf die Dauer hält doch die neue Weisheit nicht Stand; die Rolle Napoleons in der Geschichte des Landes ist zu gewaltig gewesen, als daß die Wirkungen mittels einiger kritischer Glossen ausgelöscht werden könnten. Der Eindruck von Sedan wird allmählich schwächer, und in demselben Verhältniß wird die Bereitwilligkeit wieder größer, neben den schwarzen auch die lichten Seiten der Napoleonischen Zeit unbefangen anzuerkennen. Man fängt wieder an sich zu erinnern, daß der corsische Abenteurer doch nicht bloß die Namen Waterloo und Fontainebleau, sondern außerdem noch eine ganze Reihe unvergeßlicher Thaten in die Annalen Frankreichs und der französischen Armee eingetragen hat. Vielleicht daß die Erinnerung an Sedan dazu beiträgt, dem Bilde der Napoleonischen Zeit in den Augen der jetzt lebenden Generation erhöhten Glanz zu verleihen. Der Besiegte weidet sich an dem Gefühle, daß er doch einmal den Fuß auf den Nacken des heutigen Siegers gesetzt hat, und im stillen hegt er die Hoffnung, daß, was einmal geschehen sei, wieder geschehen könne: »nous l'avons eu, votre Rhin allemand!« Die Fülle von Trophäen, die sich im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts anhäufte, ist zu reich gewesen, als daß sie hinter den Ruinen der Invasion ganz verschwinden könnte: helle Farben leuchten weiter als trübe. Welcher Franzose erschaudert noch, was man wirklich erschaudern nennt, wenn er an die Kosaken auf dem Marsfelde und an Blücher im Palais Royal denkt? wie viel lebhafter erregt es ihn, wenn er sich die weltbeherschende Größe seiner Nation während der Zeiten vor der Katastrophe ausmalt! Nicht um von der Niederlage zu lernen, sondern um sich an den Triumphen der Vorzeit aufzurichten, kehrt das französische Publikum mit erneutem Eifer zu der Betrachtung der Bilder aus der heroischen Vergangenheit zurück, sicherlich nicht ohne mit den stolzen Erinnerungen leise Hoffnungen zu verbinden. Was einmal war, kann wieder werden.

Der Zauber, den das Schauspiel auf eine nach Ruhm und Wohlleben dürstende Nation ausübt, ist begreiflich genug. Man muß nicht vergessen, daß nicht bloß Fahnen erobert wurden, sondern auch Beutestücke von soliderer Natur. Zu dem Gefühl des Stolzes, der ersten Nation der Erde anzugehören, gesellte sich für den Franzosen des Kaiserreichs die Befriedigung des Erwerbstriebes, dem die eroberten Länder zahllose neue Hülfsquellen darboten. Der Kaiser fügte dem alten Frankreich vierundvierzig neue Departements hinzu mit sechzehn Millionen Einwohnern, und auf diesem ungeheuren Gebiet wurden die Aemter fast nur mit Franzosen besetzt, – »für große und kleine Ambitionen ein neuer weiter Markt,« sagt Taine. Und – bemerkt derselbe Schriftsteller ferner – zu diesem neuen Markt kam noch ein nicht minder großer außerhalb Frankreichs hinzu; denn die unterworfenen Fürsten und die Vasallenkönige, Eugen, Ludwig, Jérome, Murat, Joseph, bringen jeder ein französisches Personal mit in ihre Staaten, Vertraute, Hofbeamte, Generale, Minister, Verwalter, sogar Kommis und Subalterne, wäre es auch nur, um die Eingeborenen in die Militärfächer und Civilfächer des modernen Systems einzuordnen und ihnen an Ort und Stelle Conscription, Administration, Code civil, Comptabilität nach Pariser Muster beizubringen. Auch in den selbständigen oder verbündeten Staaten, in Preußen, in Polen, im Rheinbunde schalteten und walteten, dauernd oder vorübergehend, Franzosen, die den Contingenten vorstanden, Festungen innehatten, Lieferungen abnahmen, Kriegscontributionen eintrieben. Bis herab zum Korporal und zum Zahlmeister am Strande von Danzig und von Reggio wog das Bewußtsein des eroberten Primats wie der Besitz eines Ranges; in seinen Augen waren die Landesbewohner Halbbarbaren, eingerostete, zurückgebliebene Menschen, die nicht einmal französisch sprechen konnten; er fühlt sich überlegen, wie weiland der Señor soldado des sechzehnten Jahrhunderts oder der Civis romanus. Seit der großen spanischen Monarchie und dem römischen Reich hat niemals ein erobernder und für ein neues System Propaganda machender Staat seinen Unterthanen solche Genüsse der Eigenliebe gewährt, allen ihren Ambitionen eine so weite Laufbahn geöffnet.

Im Munde Taines ist diese Schilderung eine Strafpredigt. Um solcher weltlicher Herrlichkeit willen – das ist der Sinn seiner Rede – hat das französische Volk dem Dämon seine Seele verkauft, ist vor ihm niedergefallen und hat ihn angebetet. Aber es ist die Frage, ob seine Darstellung auf das heutige Geschlecht abschreckend wirkt. Ohne daß er es will, ja, indem er das Gegentheil will, mischt sich in seine abmahnenden Worte ein Klang patriotischen Stolzes, der auf minder philosophische Naturen eher berauschend als ernüchternd wirkt. Der durchschnittliche Franzose wird, wenn man so zu ihm redet, eher geneigt sein, dem Satan zuzurufen »komm wieder!« als »hebe dich von mir!« Es würde, wenn heute die Wahl ebenso stände wie vor neunzig Jahren, das Plebiscit wahrscheinlich eine ungeheure Stimmenmehrheit für Lucifer ergeben, und alle Gelehrsamkeit, mit der Taine seinen Landsleuten die infernale Natur des modernen Cäsar auseinandergesetzt hat, würde sich als Luft erweisen. Höchstens würde sie bewirken, daß man heute mit Bewußtsein thäte, was die Großväter unter dem Einflusse einer sehr natürlichen Verblendung gethan haben.

Im allgemeinen sind die Völker doch geneigt, dem moralischen Helden den Vorzug zu geben; wenn der Held selbst unmoralisch gewesen ist, hilft die Volksphantasie seinen Mängeln liebevoll ab. Im Grunde ihres Herzens beklagen die Franzosen es, daß die Kritik ihnen die Gestalt des großen Imperators, die so eng mit der glänzendsten Periode ihrer Geschichte verknüpft ist, verdorben hat. Wenn sie, wie nicht wohl zu leugnen ist, von dem Gewaltigen sich mit Begeisterung haben unterjochen lassen, so ist es ein angenehmer Gedanke, daß der Unterjocher ein Halbgott gewesen sei, anbetungswürdig nicht bloß wegen seines Genies, sondern auch wegen seiner Güte. Aber diesen Gedanken zu hegen ist schwierig, wenn man sich in der einschlägigen Litteratur umgesehen hat. Jedenfalls gehört eine sehr hartnäckige Verliebtheit dazu. Nun haben, glaube ich, die Franzosen ein besonderes Talent zu solchem Eigensinn im Festhalten schmeichelhafter Illusionen, wennschon ich durchaus nicht behaupten will, daß wir Deutschen von dieser Schwäche frei seien. Wir haben in unserer Geschichte keinen Napoleon, aber an Beispielen unkritischer Heroenvergötterung fehlt es auch bei uns zu Lande nicht. Nomina sunt odiosa.

Eigentlich ist es ein hübscher Zug in der menschlichen Natur, daß sie so eifrig bemüht ist, die Gegenstände ihrer Bewunderung mit verehrungswürdigen und liebenswürdigen Eigenschaften auszustatten. Die Kinder, das gemeine Volk, die naive Sage denken sich immer den gefeierten Helden als einen vortrefflichen Menschen: Achilleus, Siegfried, Roland sind in ihrem Kreise nicht nur die stärksten und tapfersten, sondern auch die edelsten und redlichsten. Auch der gereifte, welterfahrene Mann, wennschon er den kindlichen Glauben nicht ohne Weiteres theilen kann, würde doch beglückt sein, wenn er öfter, als es der Fall ist, den Wunsch erfüllt sähe, den Schiller ausspricht:

»O, wären sie immer vereinigt,
Immer die Güte auch groß, immer die Größe auch gut!«

Man darf sich also nicht verwundern, nicht einmal sich beklagen, wenn die Menge, die weder reif noch welterfahren ist, von den Zeugnissen der Geschichte sich nicht stören läßt in dem dichterischen Geschäfte, das aus den gemischten Erzen der Wirklichkeit lauteres Gold zu zaubern versteht. Seltsam dagegen ist es, wenn diese Alchymie sich mit der Methode der exakten Forschung verbindet, die Apparate der echten Chemie in ihren Dienst nimmt und vor das gebildete Publikum mit dem Anspruche tritt, als Wissenschaft angesehen und behandelt zu werden. Diese Seltsamkeit hat der Verfasser des Buches »Napoléon intime« zu Stande gebracht, mit einer Gelehrsamkeit und einer Naivetät, die beide höchst charakteristisch sind für den modernen Aberglauben, der zugleich das Fabelhafte und den Schein der Vernunft von seinen Magistern und Doctoren fordert. Aeußerlich macht das Werk des Herrn Arthur Lévy ganz den Eindruck einer vornehmen Ausgabe der besten französischen gelehrten Litteratur; eine angesehene Verlagshandlung hat den stattlichen Band aufs schönste ausgestattet; beim Durchblättern begegnet das Auge fast auf jeder Seite Auszügen aus Quellenwerken und unter dem Texte sorgfältigen Angaben über die benutzten Korrespondenzen, Aktensammlungen, Denkwürdigkeits- und Geschichtswerke. Der Verfasser behauptet nichts, ohne es mit Kapitel und Vers zu belegen, ungefähr in derselben Art, wie Taine es in seinen Origines de la France Contemporaine macht. Zu dem düsteren Napoleonsbilde dieses letztgenannten Schriftstellers ein lichtes Gegenbild zu liefern, ist es Herrn Lévy nützlich erschienen, die Methode seines Gegners, die mühsame Zusammenfügung von tausend Mosaiksteinchen, nachzuahmen.

Und was behauptete er auf Grund seiner methodischen Analyse? »Napoleon war weder ein Gott noch ein Ungeheuer, sondern ganz einfach ein Mensch, dem, nach der berühmten klassischen Formel, nichts Menschliches fremd war. Hoher Familiensinn, Güte, Dankbarkeit, Herzlichkeit, das waren seine wesentlichen Eigenschaften.« – Ich will noch hinzufügen, daß diesem verblüffenden Satze der Vorrede das Buch selbst die nicht minder erstaunliche Thesis folgen läßt, daß Bonapartes Charakter recht eigentlich ein Typus der Bourgeoisie, der guten französischen Bourgeoisie, gewesen sei, guter Sohn, Bruder, Gatte, Vater, guter Geschäftsmann und Hauswirth, mäßig, sparsam, gemüthlich; sein Wahlspruch leben und leben lassen! Daß die kriegerische Laufbahn seines Helden dem ein wenig zu widersprechen scheine, vermag Herr Lévy freilich nicht zu leugnen; er findet auch nicht das Material, um die weit verbreitete Ansicht, daß sein Bourgeois von unersättlicher Eroberungsgier besessen gewesen sei, direkt zu widerlegen, aber er giebt zu verstehen, daß, wenn nur erst einmal die fremden Archive ihre Geheimnisse enthüllten, die vertrauliche Correspondenz der Souveräne gedruckt würde, dann sich zeigen dürfte, daß der Kaiser, weit entfernt der Anstifter des Krieges zu sein, immer nur von feindseligen Koalitionen genöthigt worden sei, zur Vertheidigung Frankreichs das Schwert zu ziehen.

Für diese verschiedenen Behauptungen, abgesehen von der letzten, sind nun massenhafte Beweisgründe zusammengesucht, die im einzelnen wohl acceptirt werden mögen, die aber im ganzen nichts beweisen als das eine, daß der Mensch, wie Goethe sagt, ein sehr complicirtes Geschöpf ist. Die Charakteristik Taines, die sich nur mit den politischen Folgen der persönlichen Eigenschaften des Kaisers beschäftigt, hat manche Seiten seiner Natur als für den Zweck gleichgültig auf sich beruhen lassen; sie verweilt bei den großen Linien des Charakters, die sich in der Gestaltung des modernen Frankreich verhängnißvoll aus- und eingeprägt haben. Nachzuweisen, welchen maßgebenden Antheil an der Geschichte Europas und Frankreichs die Persönlichkeit dieses einen außerordentlichen Menschen gehabt hat, wie in seinem Falle eine unerhörte Gunst der Umstände und ein nicht minder unerhörtes Maß der Begabung zusammentrafen, einem schrankenlosen Egoismus und einer kolossalen Phantasie die Verwirklichung verwegenster Träume möglich zu machen und das Leben einer großen Nation dem einen Ziele der Selbsterhöhung dienstbar zu machen, mit solchem praktischen Verstande, solcher soliden Rechenkunst, daß die Spuren seiner verwaltenden und gesetzgebenden Thätigkeit noch heute, nach achtzig Jahren, die Fundamente des französischen Staats bilden, – dies nachzuweisen, nicht in allgemeinen Zügen, sondern im Detail und im steten engsten Zusammenhange mit der innersten Natur des Kaisers, seiner alles an sich reißenden und doch nie ersättigten Selbst- und Herschsucht, das ist die Aufgabe, die Taine sich gestellt hatte und deren Natur es mit sich brachte, daß er der Ausmalung des häuslichen Lebens, der Familienverhältnisse, der Freundschaften, der kleinen Liebhabereien des Kolosses keinen Raum gönnte. Daß es in dem Leben Napoleons an solchen »intimen« Partien nicht fehlte, hat Taine so gut wie jemand gewußt, – er streift sie gelegentlich, um zu zeigen, wie wenig sie an dem Hauptergebnisse der Analyse ändern, – und er würde vielleicht sie breiter behandelt haben, wenn er statt einer historisch-politischen Abhandlung eine Biographie hätte schreiben wollen. Denn auch die Kleinigkeiten und Nebendinge sind, wenn es sich um Napoleon handelt, interessant. Nichts zeigt dies deutlicher als das Buch des Herrn Lévy, das in seiner Tendenz und seinem leitenden Gedanken läppisch ist und trotzdem die Aufmerksamkeit des Lesers in hohem Grade fesselt, weil es durch seine Methode gezwungen ist, eine Masse napoleonischer Aussprüche, Briefe und Anekdoten in authentischer oder wohlverbürgter Fassung vorzuführen.

Läppisch ist ein hartes Wort, aber paßt es nicht auf einen Schriftsteller, der von der kindlichen Meinung ausgeht, daß Napoleon unmöglich ein egoistischer Despot habe sein können, weil er bisweilen liebenswürdig, selbst gutmüthig, dankbar gegen seine Wohlthäter, leutselig gegen Niedrigstehende war? Wenn jemand behauptet hätte, der Kaiser sei ein entmenschter Wütherich, ein blutdürstiges Ungeheuer gewesen, allen menschlichen Regungen fremd, in Grausamkeit schwelgend, das Böse liebend um des Bösen willen, so würde Herr Lévy ihn widerlegt haben. Aber niemand denkt sich heutzutage den modernen Attila in so teuflischer Gestalt. Schon sein hoher Verstand würde diesen Tyrannen abgehalten haben, nutzlose Greuel zu begehen, selbst wenn sein Temperament, was nicht der Fall war, dazu geneigt hätte. Der Apologet stößt offene Thüren ein, wenn er uns aktenmäßig belehrt, daß Napoleon sich von Iwan dem Schrecklichen in einigen Stücken unterschied.

Bezeichnend für diese Kindlichkeit der Auffassung ist die Verwunderung, die Herr Lévy fühlt und von uns erwartet, weil Napoleon in seinen Briefen an Josephine sich ungefähr so ausdrückt wie ein gewöhnlicher Mensch, der an seine Frau schreibt: »In dieser Korrespondenz erscheint nichts vom Consul oder Kaiser; man meint einen guten Familienvater auf einer Geschäftsreise vor sich zu haben: es sind dieselben Details über kleine Reisevorfälle, über mehr oder minder gute Nachtquartiere, dieselben hausväterlichen Ermahnungen, dieselben Plaudereien über die unbedeutendsten Gegenstände.« Erinnert das nicht ein wenig an das Erstaunen des Kindes, das den König zum ersten Mal sieht und die Mutter fragt, weshalb Seine Majestät ohne Krone, Scepter und Reichsapfel spazieren fahre.


Der Egoismus ist, für sich allein genommen, das wenigst Merkwürdige an Napoleon. Unzählige mittelmäßige Menschen würden in diesem Punkte ihm ähnlich und gleich erscheinen, wenn ihnen die Gelegenheit und das Genie Napoleons verliehen wäre. Was ihn zu einem Gegenstande immer neuen Staunens macht, das ist die gigantische geistige Kraft, die es ihm möglich machte, die ausschweifendsten Gelüste, die bei Millionen gewöhnlicher Menschen nie über das Stadium dunkler Regungen hinaus gelangen, in Wirklichkeit zu übersetzen; und die Verwegenheit der Phantasie, die ungeheure Unternehmungen so behandelte, wie wir naheliegende und einfache Geschäfte ins Auge fassen und zur Ausführung bringen. Die gewöhnlichen Egoisten fühlen sich der Welt gegenüber viel zu schwach, um auch nur den tausendsten Theil ihrer geheimen Begierden ernsthaft zu kultiviren; Napoleon kannte diese Schranke nicht; er war sich einer allen überlegenen Kraft bewußt, und dies Bewußtsein gab ihm den Muth zu den äußersten Wagnissen. Darin liegt, daß er erst mit der Zeit, erst an der Hand des Erfolges zur vollen Entfaltung der ihm angeborenen despotischen Selbstsucht gelangen konnte. »Nichts macht so kühn wie der Sieg,« hat er selbst gesagt. Es beweist nichts für seine Anspruchslosigkeit, wenn man uns briefliche Aeußerungen von ihm citirt, aus denen erhellt, daß er als junger Brigadegeneral sich für seinen Bruder Joseph mit einem Konsulatsposten in Neapel begnügt hätte. Der Gedanke, nach Königskronen zu greifen, reifte nur allmählich, freilich schnell genug. Auch beweist es nicht viel, wenn man uns zeigt, daß die ersten Jahre des Consulats voll sind von Proben weiser Mäßigung; daß in dieser Zeit noch auf den Rath anderer gehört, bedeutenden Männern Einfluß auf die Geschäfte eingeräumt, von Kontinentalsperre und Unterjochung Europas noch nicht gesprochen wird. Die Cäsarennatur gleicht der Fama Virgils, – vires acquirit eundo. In ihrer ganzen Macht und Furchtbarkeit enthüllt sie sich erst, wenn sie die Welt zu ihren Füßen liegen sieht. Es ist kein Zufall, daß die Entlastungszeugen des Herrn Arthur Lévy vorzugsweise von den Jahren vor der Aufrichtung des Kaiserthrons reden.

Weit entfernt, eine solche Despotennatur für unvereinbar mit menschlichen Regungen und liebenswürdigen Eigenschaften zu halten, kann ich mich bei Napoleon doch des Eindrucks nicht erwehren, daß sehr vieles von dem, was sein Anwalt preist, entweder mit politischer Berechnung oder mit seinem kolossalen Selbstgefühl eng zusammenhängt. – Von der Tugend der Sparsamkeit will ich nicht reden; sie war bei Napoleon wie bei Friedrich dem Großen staatsmännische Klugheit und hatte nur eine oberflächliche Aehnlichkeit mit der bürgerlichen Sparsamkeit, die auf freiwilligem Entbehren persönlicher Genüsse beruht. Die Dankbarkeit Napoleons, für die Herr Lévy viele Belege beibringt, hat ein starkes egoistisches Gepräge. Wer ihm gedient hatte, der sollte vor aller Augen wie ein Gesegneter der Gottheit dastehen, der wurde aus der Dunkelheit hervorgezogen und mußte den Leuten verkünden, welche reiche Zinsen es trage, wenn man für den Gewaltigen etwas, sei es auch noch so unscheinbares, gethan habe. Ein Compliment, das man ihm zur rechten Zeit gemacht hatte, konnte überraschende Früchte bringen. Josephine hatte Beziehungen zu jener Frau von Montesson, die als Witwe des Herzogs von Orleans, des Vaters von Philipp Egalité, die Revolution überlebt hatte, auf den Trümmern einer vormals glänzenden Existenz sitzend. Der alte Hof hatte ihr reichliche Pensionen ausgesetzt, die Revolution strich diese Jahrgelder, und die verwöhnte Dame mußte sich mühsam genug über Wasser halten. Als der General Bonaparte von Aegypten zurückkam, amüsirte er sich eines Tages damit, Josephinens Correspondenz durchzublättern, er fand einen Brief der Frau von Montesson und in dem Briefe die Stelle: »Sie dürfen nie vergessen, daß Sie die Gattin eines großen Mannes sind.« Als General Bonaparte Konsul geworden war, wurde Frau von Montesson in den Genuß ihrer Pension wieder eingesetzt. Dieser Fall ist typisch für viele andere.

Die ›Gutmüthigkeit‹ Napoleons wird von einer der Damen Josephinens mit den Worten gezeichnet: »Er konnte sehr liebenswürdig sein, wenn man ihn nicht geärgert hatte.« Und andere bezeugen: »Er war unwiderstehlich, wenn er bezaubern wollte.« Nun lag ihm, aus guten Gründen, sehr viel daran, den gemeinen Mann, zumal den gemeinen Soldaten, zu bezaubern, und es ist ihm im höchsten Maße gelungen. Ohne ein gewisses Talent des Herzens, wenn ich mich so ausdrücken darf, wäre das schwer erklärlich; ohne alle Sympathie, sollte man meinen, ließe sich eine solche Rolle nicht achtzehn Jahre lang durchführen; aber man kann dies gern zugeben und doch erkennen, daß schließlich auch diese angeborene Bonhommie sich ganz und gar dem despotischen Willen unterordnen und ihm als Instumentum regni dienen mußte. Man findet übrigens die Kunst, in ähnlicher Weise sich populär zu machen, bei vielen anderen genialen Herschern und Feldherren.

Auch die Energie des Familiensinns, die man Napoleon nachrühmt, trifft man nicht selten bei Gewaltmenschen an, namentlich in der Form eines patriarchalischen Souveränitätsgefühls. Das Interesse des Familienchefs umfaßt das der Angehörigen, wie der Kopf das Wohl und Weh der Glieder als seines empfindet. Ohne Zweifel waren in früheren, stürmischeren Zeiten die Bande der Blutsverwandtschaft stärker als heute, und in Corsica zumal hatten sie im vorigen Jahrhundert noch nichts von ihrer alten Festigkeit verloren. Dem Kanzler Pasquier, dessen Memoiren eben jetzt erschienen sind, erschien die Art, wie die Bonapartes sich zu einander verhielten, als etwas ganz eigenartiges, nichtfranzösisches. »Jedes Mitglied dieser erstaunlichen Rasse (sagt er) besaß den Familiengeist im höchsten Grade; die heiligsten Pflichten aber und die lebhaftesten Herzensneigungen verschwanden alsbald, wenn politische Kombinationen es zweckmäßig erscheinen ließen.« Napoleon war schon vor seiner Erhöhung ein eifriger Beschützer und Versorger seiner Geschwister; in den Tagen seiner Macht verlieh er ihnen Königreiche und Fürstenthümer, aber er verlangte zugleich von ihnen, daß sie sich seinem Willen blindlings und ohne Einschränkung unterordneten. Daß sie von Zeit zu Zeit sich dem furchtbaren Drucke dieses Willens zu entziehen versuchten und ein wenig auch an das Interesse der ihnen geschenkten Länder dachten, empfand Napoleon als schnödesten Undank, und Herr Lévy giebt ihm vollständig Recht.

Die menschlichsten Seiten seiner Natur hat Napoleon in seinem Verhältniß zu Josephine gezeigt, das schon den Zeitgenossen, eben weil es so banalen Charakters war, so seltsam und räthselhaft vorkam. Man konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Kriegsgott und Welterschütterer eine Frau, bloß weil er in sie verliebt war, hätte heirathen und hernach, als der Rausch verflogen war, bloß weil er sich an sie gewöhnt hatte und einen Bruch unbequem fand, neben sich auf dem Throne hätte dulden können. Man hat deshalb allerlei geheime Motive erfunden, die das Räthsel lösen sollten, einen Heirathsschacher, mittels dessen Barras seine Maitresse anständig untergebracht und Bonaparte das Commando in Italien erkauft haben soll. Die Fabel hat Herr Lévy zwar nicht zerstört, denn sie war schon vor ihm als Fabel erkannt worden, aber er hat sich das Verdienst erworben, durch Zusammenstellung der Urkunden, namentlich der Briefe an Josephine, diese Liebesepisode und das Eheleben des seltsamen Paars auch dem gewöhnlichen Leser höchst anschaulich zu machen. Der Eindruck ist für Napoleon günstiger als für die Frau; er ist aufrichtig und »bis über die Ohren verliebt,« was ihn doch nicht hindert, die österreichischen Heere zu besiegen; sie erscheint als eine frivole Kokette, die nur ein gutes »Etablissement« für sich und ihre Kinder im Auge hat und im Vertrauen auf die Macht ihrer Reize die Toleranz ihres Mannes auf die härtesten Proben stellt. Nicht zu bezweifeln ist, daß Napoleon mit Bewußtsein ein betrogener Ehemann war und daß er lieber mit dieser Rolle sich abfand, als einen Eclat herbeiführte. Er war schließlich zufrieden, wenn der Schein nur leidlich gewahrt blieb, und fühlte sich allmählich in dem nicht sehr würdigen Verhältnis auf seine Art sogar ganz behaglich. Vermuthlich erschienen ihm diese häuslichen Angelegenheiten um so unwichtiger, je olympischer er im Laufe der Zeit sich selbst vorkam. Man darf es ihm nicht allzusehr verargen; selbst wir, die wir dem Verehrungstaumel seiner Zeitgenossen entrückt sind, finden, daß die menschlichen Schwächen und die sittlichen Gebrechen, die dem Bilde anhaften, auch wenn man sie noch so scharf ins Auge faßt, der Größe des Bildes keinen Abbruch thun. Um so thörichter ist es, Schatten wegwischen zu wollen, die dem Gemälde erst sein lebendiges Relief geben.


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