Otto Gildemeister
Essays - Zweiter Band
Otto Gildemeister

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Der Herzog von Saint-Simon.

(1892.)

Wenn man im Gespräch und ex abrupto mich aufforderte, die Bücher, die mir am meisten Vergnügen gemacht hätten, aufzuzählen, so würde ich sicherlich schon im ersten oder zweiten Dutzend die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon nennen. Als ich vor langen Jahren ihre Bekanntschaft machte, wußte ich noch nicht, daß man ihnen ein anderes als ein stoffliches Interesse abgewinnen könne; ein etwas banges Gefühl beschlich mich, als ich die zwanzig starken Bände vor mir liegen sah und mir sagte: das alles sollst du lesen! Was mich gelockt hatte, die ungeheure Masse mit aufs Land zu schleppen, war der Wunsch, über eine merkwürdige, glänzende und zugleich verhängnißvolle Periode der französischen Geschichte mehr zu erfahren, als ich wußte, und aus den zahlreichen Citaten, die man in den Werken über Ludwig XIV. und seine Zeit antrifft, hatte ich mir abstrahirt, daß es sich der Mühe verlohnen müsse, direkt sich an die Quelle, aus der so vieles geschöpft war, zu wenden. Freilich verlohnte es sich der Mühe, und in unendlich höherem Maße, als ich es mir gedacht hatte. Nicht allein eine Fülle des interessantesten Details, sondern ein von Leben strotzendes Gesammtbild des Versailler Hofs trat mir entgegen, eine Reihenfolge von Scenen, von Portraits, von charakteristischen Zügen, von scharfen Urtheilen, von fesselnden Reflexionen, die nur höchst selten (ich komme gleich darauf zurück) das Gefühl der Ermüdung aufkommen ließ und den zwanzigsten Band ebenso anziehend machte wie den ersten. Und noch mehr als das. In der Darstellung und Erzählung zeigte sich ein Meister, der ohne alle litterarische Schulung die höchsten und seltensten Wirkungen erzielte, mit anderen Worten, eine Persönlichkeit von einziger Originalität, der die Gabe verliehen war, alles, was beim Anblick der Welt, dieser Welt, in ihrem Innern sich bewegte, Liebe und Haß, besonders Haß, Bewunderung und Verachtung, besonders Verachtung, Anerkennung und Hohn, besonders Hohn, mit natürlich strömender Beredsamkeit auf das Papier zu projiciren. Ich wunderte mich nicht im mindesten, als ich bald nach Beendigung dieser Lektüre erfuhr, daß die Franzosen den Herzog zu ihren »großen Schriftstellern« rechneten, ihn neben Pascal, Bossuet, Madame de Sévigné, Madame de Lafayette, Vauvenargues und Larochefoucauld nannten, obwohl er allen diesen so unähnlich ist, wie nur Rembrandt dem Correggio unähnlich sein mag. Sainte-Beuve hat das Wort, das Buffon von der Natur im Frühling gebraucht, auf diese Memoiren angewandt: »Alles wimmelt da von Leben, tout y fourmille de vie.« Das große Werk, das die Librairie Hachette & Co. unter dem Titel »Les Grands Ecrivains Français« schon seit Jahren mit Erfolg ausführt, hat neuerdings auch dem Herzog von Saint-Simon einen Band gewidmet, dessen Abfassung der Feder Gaston Boissiers (Mitglied der französischen Akademie) anvertraut wurde. Diese soeben erschienene, ganz vortreffliche Studie ist für mich der Anlaß geworden, einige Worte über den alten Franzosen zu sagen, der in Deutschland viel weniger bekannt ist, als er es verdient. Die kleine Schrift des Herrn Gaston Boissier lieferte mir einen Leitfaden, ohne den ich es nicht gewagt haben würde, mich nochmals in dem ungeheuren Labyrinthe des weitschichtigen Werkes umzusehen.

Wenn ich vielleicht einen oder den anderen Leser, der die Memoiren nicht kennt, anreizen sollte, sich an diese Lektüre zu machen, so will ich, um meine Verantwortlichkeit einzuschränken, nicht unterlassen, eine Warnung hinzuzufügen. Um zu genießen, muß man über die Geschichte des geschilderten Zeitalters einigermaßen orientirt sein; der Memoirenschreiber, als Zeitgenosse, setzt natürlich eine Menge von Dingen und Personen als bekannt voraus; und man muß für das Zeitalter Ludwigs XIV. sich interessiren, einen deutlichen Begriff von seiner ganz eigenthümlichen Bedeutung, ein gewisses Wohlgefallen an seiner Physiognomie haben und sich mit sympathischer Phantasie in Details vertiefen können, die zu einem lebendigen Ganzen nur dann zusammenschießen, wenn man eine Idee von diesem Ganzen schon mitbringt. Sodann muß man sich auf einige wüste Strecken gefaßt machen, weitläufige und unersprießliche Abhandlungen über staatsrechtliche Fragen, über Rangverhältnisse und geschichtliche Legenden, in denen nicht einmal Belehrung zu finden ist. Solche Strecken muß man einfach überschlagen; der Werth des Buches hängt von ihnen so wenig ab wie der Werth der Ilias von dem Schiffskatalog. Vor deutschen Übersetzungen zu warnen ist wohl überflüssig; ich vermuthe, daß es keine giebt; der Umfang des Werkes wird es vor dieser Industrie geschützt haben. Jedenfalls muß man es entweder im Original lesen oder gar nicht. Ich als Nichtfranzose würde mir nicht herausnehmen, über die Sprache eines französischen Schriftstellers zu urtheilen, da aber die kompetenten Richter in Frankreich einig sind, Saint-Simon zu ihren ersten Prosaikern zu stellen, so darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß er auch auf den deutschen Leser – immerhin nur annähernd – ebenso wirkt wie auf seine Landsleute, das heißt, daß auch der deutsche Leser unter dem Zauber dieser Sprache unmittelbar empfindet, weshalb die Franzosen ihn ein »unique phénomène de notre litterature« nennen. Er schreibt nicht wie ein Schriftsteller von Profession, sondern wie ein Weltmann, der, weil er keine Hörer findet, Leser sucht und nun mit diesen ganz in dem Tone redet, den er in der mündlichen Mittheilung anschlagen würde, ein Weltmann freilich, dem alle Hilfsquellen einer reichen Umgangssprache jeden Augenblick zu Gebote stehen, der ohne Anstrengung über die bequemen Wendungen, die malerischen Worte, die lebensvollen Ausdrucksweisen verfügt, die eine angeregte, geistreiche Gesellschaft zum täglichen Gebrauche für sich selbst prägt. Die Vortragsart ist das Gegentheil von akademisch; sie giebt uns einen Begriff von der Konversation der gebildeten Kreise im siebenzehnten Jahrhundert.

Der Darstellung allein verdankt Saint-Simon freilich nur einen Theil seines Erfolgs; der Stoff, der sich ihm darbot, hat die Eigenschaft, seine Anziehungskraft über die Jahrhunderte, durch so viele Umwälzungen zu bewahren. Die Franzosen nennen das Zeitalter Ludwigs XIV. das große Jahrhundert, nicht mit Unrecht, wenn man den Begriff der Größe nicht allzu eng und streng nimmt. In diesem Jahrhundert und unter diesem König hat sich der monarchische Absolutismus, die erste Form des modernen Staats, zur höchsten Macht und Pracht entfaltet, und unter ihm und mit ihm ist Frankreich zum vollen Bewußtsein seiner nationalen Kraft, seines materiellen und seines geistigen Reichthums, zu einer Höhe der Civilisation im Staatsleben, in Handel und Gewerbe, in Künsten und Wissenschaften, in Feinheit und Freiheit des geselligen Verkehrs gelangt, die ihm den ersten Platz in Europa anwies und im Lande selbst eine Fülle bis dahin latenter Ideen und Gedanken weckte. Es ist charakteristisch, daß unter dem absolutistischen König zuerst solche Worte wie patriote und citoyen in ihrem modernsten Sinne Gemeingut der Schrift- und Umgangssprache wurden. Der Glanz des königlichen Hofes, der Ruhm der königlichen Armeen wurden als Besitzthümer der Nation aufgefaßt und dienten dazu, der Nation das Gefühl ihres eigenen Werths zu schärfen, ein Gefühl, das hernach dem Absolutismus den Untergang bereitete.

Dazu kömmt, daß nie und nirgend das absolute Königthum, rein künstlerisch betrachtet, in einem so sinnfälligen, blendenden und formvollendeten Schauspiel sich dargestellt hat wie am Hofe Ludwigs XIV., namentlich während der Jahre, die in dem Riesenschlosse von Versailles verlebt wurden. Dort, in den Palasträumen und den Parkanlagen, verkörperte sich, jedem blödesten Auge erkennbar, in einem übersichtlichen Bilde, die Machtfülle des gekrönten Oberhauptes, keineswegs bloß in Pomp und Festen, an denen es ja nicht fehlte, sondern auch in dem Walten des Herschers, der hier, umgeben von seinen Räthen und Feldherren, persönlich die Zügel des Regiments führte, dem Kaiser Fehde ansagte, dem Papste Trotz bot, das Reich erweiterte, die Provinzen regierte, die Gesetze und Ordnungen erließ, Aemter und Gnaden und Privilegien austheilte, oder auch je nach den Umständen als schrecklicher Richter Bann und Kerker und Tod verhängte. Eine wirkliche moderne Großmacht, nicht bloß der Monarch, residirte in Versailles, aber noch hatten die neuen Institutionen nicht durch Schreibwerk und Kanzleimechanismus das persönliche Element völlig in den Hintergrund gedrängt; die Ungebundenheit der feudalen Zeiten zuckte noch durch die straffen Fesseln der neuen Ordnung; die menschliche Komödie wurde noch nicht so ausschließlich wie später und wie in den deutschen Staaten hinter verschlossenen Thüren abgespielt. Die ungeheure Anziehungskraft dieses Mittelpunktes gereichte wohl dem Lande zum Schaden, aber ihm selbst verschaffte sie, so lange es dauerte, einen beispiellosen Glanz. Nach Versailles drängte sich alles, was Frankreich an Adel und Reichthum, an Talent und aufstrebendem Ehrgeiz besaß, und auch die Künste und Wissenschaften suchten ihre höchste Aufgabe darin, zur Verherrlichung des Thrones beizutragen. Der König verstand sich darauf, alle Mittel, die seinem Ruhme dienen konnten, in Bewegung zu setzen, auf allen Gebieten des französischen Lebens als das Oberhaupt zu scheinen; nicht nur Truppen und Flotten, Paläste und Marställe, sondern auch die feinsten Blüthen der Bildung und des Geschmacks sollten seine Größe verkünden und der Welt anschaulich machen. Racine und Molière arbeiteten für sein Theater, Lebrun ordnete seine Staatsceremonien, Le Notre legte seine Gärten an, und Bossuet predigte vor ihm. Alles um ihn stimmte zu einer einzigen Harmonie zusammen, deren Grundton er selbst angegeben hatte; nicht mit Unrecht hat man von einem Stile Louis quatorze gesprochen, der in Baukunst und Malerei, in Poesie und Litteratur, selbst in den Moden, das einheitliche Gepräge des Zeitalters trägt, wie ein Product innerer Notwendigkeit uns anmuthet und noch heute mit seiner barocken Majestät und gravitätischen Eleganz imponirt.

Dem Maler, der an diesem Hofe seine Skizzen entwerfen wollte, kam nun ein Umstand besonders zu Statten, der sich meines Wissens so nirgend wiederholt hat, höchstens annähernd im Vatican. Die kleine Welt, deren Gott der König von Frankreich war, concentrirte sich nicht bloß, wie es auch anderswo vorkam, in einer einzigen Stadt, sondern gewissermaßen in einem einzigen Hause, einem ungeheuren Bau, in dem der Monarch, die Prinzen, die Hofstaaten, die Behörden, hohe und niedrige Diener, alle beisammen hausten und in dessen Räumen außerdem die ganze vornehme Gesellschaft, auch die außerhalb des Palastes wohnende, Tag für Tag zusammenkam, um zu huldigen, um zu intrigiren, um eine Gunstbezeugung zu erlangen, um ernsthafte oder frivole Interessen zu fördern, oder auch einfach, um sich zu amüsiren. Die vornehmsten, die Herren des hohen Adels, erschienen schon in der Frühe, um dem König bei seiner Morgentoilette aufzuwarten, beglückt, wenn sie ihm Waschbecken oder Handtuch reichen durften; ein größerer Schwarm begleitete ihn zur Messe, folgte ihm in ehrerbietiger Entfernung auf dem Spaziergange durch den Park, umstand andächtig die Tafel, an der Seine Majestät einsam speiste. Abends waren alle Säle von dem Salon de la guerre bis zur Kapelle geöffnet und erleuchtet und angefüllt von Gesellschaft; Tanz, Concert, Spiel vertrieben die Zeit und währten mitunter bis tief in die Nacht. Um zehn Uhr war das Souper des Königs, an dem die Prinzen und Prinzessinnen Theil nahmen, umringt von dem zuschauenden Kreise der Höflinge. Das tägliche Einerlei wurde unterbrochen durch Jagden auf Hirsch und Wolf – man traf noch Wölfe im Walde von Meudon und sogar im Boulogner Gehölz, – oder durch ein paar Wochen Sommerfrische in Compiègne, Fontainebleau und Marly. Zu diesen Partien eingeladen zu werden, war der Gipfel irdischer Glückseligkeit. Fünftausend Menschen wohnten damals unter dem Dache des Königs; um ihm nahe zu sein, begnügten sich die Besitzer großer Hotels und herrlicher Schlösser mit den engsten Quartieren, entsagten sie aller Freiheit und Behaglichkeit, setzten sie sogar ihre Gesundheit aufs Spiel. Denn in diesem ungeheuren Hause, das bis unters Dach vollgepfropft von Menschen war, fanden alle ansteckenden Krankheiten, wenn sie einmal ausbrachen, den günstigsten Nährboden und schonten dann weder Groß noch Klein. Erlag ihnen eine fürstliche Person, so munkelte man von Gift; das Gift war aber kein anderes, als das der verdorbenen Luft. Auch ein moralisches Gift sammelte sich an in Folge dieser übertriebenen Concentration: Streberthum, Intrigue, Rivalität wurden heftiger durch die täglichen persönlichen Berührungen, und es bildete sich innerhalb dieser kleinen Welt allmählich eine Atmosphäre, zu der die frische Luft von außen keinen Zugang fand, eine Abschließung gegen die Nation, der gegenüber das Königthum sich mehr und mehr isolirte, – man weiß, mit welchen Folgen.

»Um Ludwig XIV. zu verstehen,« sagt Herr Boissier, »muß man Versailles besuchen. Zwar ist da nicht alles unversehrt; der Park wurde mehrmals verwüstet, das Schloß ist ungeschickten Restaurationen nicht entgangen. Man hat die Natur der beiden Flügel entstellt, aber die Gemächer des Königs sind noch vorhanden, und wenn man sie sieht, schimmernd mit ihren alten Vergoldungen, ihren Holzsculpturen, ihren Marmorwänden und Spiegelflächen, so ist es uns, als ob die Vergangenheit erwache. Leider ist das Haus leer, die Bewohner sind verschwunden. Die Gemälde, die man aufgehängt hat, geben uns einen leidlichen Begriff von ihren Zügen und ihren Trachten, aber die Menschen selbst sind nicht mehr da. Saint-Simon allein vermag es, die Oede wieder zu bevölkern. Auf seinen Wink steigen alle diese Personen in mächtigen Perücken und gestickten Röcken aus ihren Rahmen und wandeln durch die Säle. Er hat sie alle gekannt und ist erbötig, sie uns vorzustellen. Nicht nur redet er selbst die Sprache, in der sie einst sich unterhielten, sondern er giebt ihnen auch, so scheint es, das Wort zurück. Die Illusion ist vollständig; das ganze Zeitalter wird wieder lebendig.«

Vermöge seines Ranges hatte Saint-Simon Zutritt zu dem Innersten des Heiligthums, und fast während eines Menschenalters verbrachte er den größten Theil seines Lebens damit, alles, was sich den Blicken darbot, zu beobachten, und alles, was sich den Blicken entzog, auszukundschaften. Nie gab es Späheraugen wie die seinen, nie eine unermüdlichere Neugier. Große und kleine Dinge, Ceremoniell und Staatsactionen, erregten seine gleiche Aufmerksamkeit, und nie unterließ er es, sich an den Platz zu drängen, wo etwas zu sehen war, die Leute zu cultiviren, von denen er etwas hören konnte. Obwohl er ein kleines Hotel in der Stadt Versailles besaß, quartierte er sich gern bei Freunden ein, die im Schlosse wohnten. Erst im Jahre 1710, fünf Jahre vor dem Tode des Königs, gelang es ihm, da seine Frau Ehrendame der Herzogin von Berry wurde, eine Wohnung im Schlosse zu beziehen, – zwei Zimmer und zwei Cabinette oder, wie er selbst sagte, Löcher, in die weder Licht noch Luft drang. An Muße zum Beobachten und zum Aufzeichnen gebrach es ihm nicht; eine amtliche Stellung erlangte er nicht, so lange Ludwig XIV. lebte; obwohl er aufs pünktlichste die Pflichten des Hofmanns erfüllte, scheint er dem König ein gewisses Mißtrauen eingeflößt zu haben. Und zeitraubende Leidenschaften, noble Passionen hatte er nicht, außer der Leidenschaft, alles zu erkunden und über alles zu richten. Er begnügte sich keineswegs, die Außenseite der Dinge zu betrachten, die Fäden, an denen alles hing, die verborgenen Zusammenhänge, das Innerste der handelnden Personen wollte er kennen lernen, und nicht minder lebhaft beschäftigte ihn die Frage, was denn die wundervolle und prächtige Maschinerie, deren Räderwerk vor seinen Augen sich so gigantisch bewegte, an nützlichen Fabrikaten für den Staat liefere, wie seine Kosten sich bezahlt machten, welche Bilanz das Geschäft der nächsten Generation hinterlassen werde. Und auf diese Frage ertheilte er sich selbst – wohl auch den wenigen Freunden, die er mit seinem vollen Vertrauen beehrte – eine sehr ungünstige Antwort. Wenn der König ihm mißtraute, so hatte der König einen richtigen Instinkt. Cäsar traute dem Cassius nicht, weil er einen hohlen Blick hatte, zu viel dachte, viel las, ein großer Prüfer war,

»er durchschaut
Das Thun der Menschen ganz, er liebt kein Spiel,
Wie du, Antonius, hört nicht Musik
Und lächelt selten.«

Als Saint-Simon an den Hof kam, war freilich die Glanzperiode des großen Monarchen vorüber; im Jahre 1675 geboren, in der Mitte der neunziger Jahre, nach kurzem Kriegsdienst in Versailles sich etablirend, lernte er nur noch den alternden Ludwig, den Gatten der Frau von Maintenon, den Besiegten des spanischen Erbfolgekrieges kennen, und es war schon nicht mehr so viel Scharfblick nöthig, um unter der schillernden Hülle die tiefen Schäden des Reichs zu sehen. Aber immerhin war doch auch damals noch dieser Scharfblick nur wenigen eigen; in der ganzen Litteratur, namentlich auch in den Memoiren jener Zeit herschte, wenn die Rede auf den Monarchen kömmt, der Ton uneingeschränkter Bewunderung, ja Anbetung, vor. Saint-Simon im Gegentheil spricht vorwiegend als das, was man heute Nörgler nennt. Bei aller Empfänglichkeit für den äußeren Glanz läßt er sich nicht von diesem blenden; er sieht die Schattenseiten mehr als das Licht, bei den Personen sowohl als den Dingen. Man fährt mit ihm auf einer Prachtgaleere, die langsam, aber unaufhaltsam einem Katarakte zutreibt. Die Verschwendung des Hofes, die Menschen- und Geldopfer der Eroberungskriege, die Lockerung des Staatsgefüges erfüllen ihn mit schwerer Sorge; er spricht das Wort Revolution aus als das Ende dieser anscheinend so fest begründeten Monarchie; er weist hin auf das Elend des Volks, auf den unabwendbaren Bankrott der leichtsinnigen Wirtschaft, und er zermartert sein Gehirn mit Heilungsprojekten, für die vielleicht unter der nächsten Regierung noch Zeit sein möchte. Für diese Projekte einflußreiche Männer der Zukunft zu gewinnen, den Herzog von Burgund, den Herzog von Orleans, ist sein heißester Wunsch, sein ernstlichstes Bemühen. In den Fächern seines Schreibpults verwahrte er ganze Stöße von Reformvorschlägen, wie sie in der Einsamkeit einem unverantwortlichen Zuschauer leicht zu gelingen pflegen, Entwürfe zu einer ganz neuen Organisation des Reichs, Pläne einer vernünftigen Finanzwirthschaft, alle mehr oder weniger auf die Voraussetzung der Einberufung der Generalstände gestützt. Für den Zusammentritt, die Eröffnung, die Geschäftsordnung dieser erträumten Reichsvertretung hatte er alles bis ins kleinste, bis auf das Ceremoniell und die Einrichtung der Lokale vorbedacht und niedergeschrieben; es scheint, daß er den muthmaßlichen Thronfolger, den Herzog von Burgund, für seine Ideen gewonnen hatte und daß nach dessen plötzlichem Tode der künftige Regent, der leichtlebige Herzog von Orleans, ihm geneigtes Gehör schenkte; als es aber zum Klappen kommen sollte, scheute doch der Regent vor dem großen Schritte zurück, der vielleicht, wenn man ihn gethan hätte, der Weltgeschichte eine andere Wendung gegeben haben würde.

Uebrigens wäre es grundfalsch, wollte man sich Saint-Simon als einen Vorläufer der Revolution, als einen verfrühten Liberalen und Anwalt der Rechte der Nation vorstellen. Aufgewachsen in dem Hause seines alten, mißvergnügten Vaters, der mit dem Leben abgeschlossen hatte, seit Ludwig XIII. im Grabe lag, hatte der junge Herzog gelernt, die Zeit vor Ludwig XIV. als den Höhepunkt und die Gegenwart als die beginnende Decadenz anzusehen. Bis an sein Lebensende ist er alljährlich am Todestage des dreizehnten Ludwig nach Saint-Denis gegangen, um dort an der Gruft des längst vergessenen Monarchen zu beten, »ich ganz allein,« schreibt er, »ich habe nie jemand dort angetroffen.« Damit also, daß der König von Frankreich mächtig sei, wie Richelieu ihn gemacht hatte, war er ganz einverstanden, aber er hatte sich ein Grundgesetz des Reichs construirt, wonach der König nicht absolut, wie Ludwig XIV., sondern nur innerhalb gewisser Schranken, nur im Einklange mit seinen »geborenen Rathgebern«, nur mit Beachtung der geheiligten Ueberlieferungen zu regieren habe. Die geborenen Rathgeber der Krone waren ihm zufolge die großen Vasallen, die Pairs des Reichs, Herzoge und andere Grand Seigneurs, denen allein, wenn alles nach den Rechten gegangen wäre, Sitz und Stimme im Staatsrath und die Bekleidung der obersten Reichswürden, Statthalterschaften und militärischen Commandos gebührt hätte, während unter diesen les gentilshommes, die Familien des landsässigen Geschlechtsadels, die mittleren und unteren Stellen zu besetzen berufen gewesen wären, erst in dritter Linie, als ein nothwendiges Uebel gewissermaßen, les nobles, der Dienst- und Briefadel, Berücksichtigung verdienten. Der dritte Stand mochte in städtischen Obrigkeiten zur Geltung kommen, im Staate, im Heere mitbefehlen zu wollen, war von Seiten eines unedelgeborenen Mannes widernatürliche Anmaßung. Als Gesetzeskundiger, als Finanzmann, als Kanzleibeamter mochte der Bürgerliche dem hochgeborenen Chef an die Hand gehen und seine Ehre darin finden, diesem die Arbeit abzunehmen, die besondere Kenntnisse erforderte, aber nimmermehr durfte er an einen Platz gestellt werden, der ihm mehr Autorität verlieh als dem Edelmann.

Von allen diesen schönen Regeln wurde in der Wirklichkeit, die den Herzog von Saint-Simon umgab, täglich und stündlich abgewichen, und nach seiner innigsten Ueberzeugung war diese »himmelschreiende Confusion«, diese »Wegschwemmung aller Grenzmarken«, diese »Verkennung aller Rechte« die Ursache der öffentlichen Leiden, die er beklagte. Denn man muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er das öffentliche Wohl ernstlich und aufrichtig wollte, auch das der Bürger und Bauern; in einem wohlgeordneten Einflusse der mit eigenen Rechten ausgestatteten Aristokratie sah er nicht bloß eine Befriedigung seines Standesgefühls, nicht bloß eine Schranke gegen die Eigenmächtigkeiten der Krone, sondern auch die beste und sogar die für Frankreich allein mögliche Bürgschaft gegen Mißregierung. Er ist nie auf den Gedanken gekommen, daß man an der Wahrheit seiner Grundsätze zweifeln könne; nur Ruchlosigkeit, Eigennutz und frevelhaften Leichtsinn erblickt er in denen, die diese Grundsätze in der Praxis verleugneten; er begriff nicht, daß die Gleichmacherei, die Verwischung der auf Geburtsrecht beruhenden Rangunterschiede, über die er so empört war, die natürliche Wirkung des Absolutismus sein mußte, wie ihn Richelieu begründet und Ludwig XIV. consequent ausgebildet hatte. Der absolute Monarch verleiht die Macht entweder den brauchbarsten oder den ihm bequemsten Dienern, ohne viel nach ihrer Geburt zu fragen; die niedriggeborenen sind oft brauchbarer und fast immer bequemer. Ludwig XIV. machte nie einen Grand Seigneur zum Minister; ein solcher genirte ihn zu sehr.

Wie unter diesem geschichtlichen Prozesse das Gemüth eines altmodigen Patrioten und Pairs leiden mußte, das ist in den Memoiren auf das anschaulichste dargestellt. Es wirkt zugleich tragisch und höchst ergötzlich, wie die Geschichte des Don Quijote, nur daß der herzogliche Schriftsteller selbst gar nicht ahnt, wie ergötzlich er ist.

Die beiden hervorragendsten Portraits in der Galerie des Herzogs von Saint-Simon sind die des Königs und der Frau von Maintenon. Weder das eine noch das andere ist mit liebender Hand gemalt, aber der Unterschied ist groß zwischen ihnen. Man merkt, daß Saint-Simon den König gern in günstigerem Lichte gezeigt hätte; er sucht alles hervor, was dem Bilde zum Vortheil gereichen kann. Für die Virtuosität, mit der Ludwig XIV. die Krone trägt, Frankreich repräsentirt, ist er voll Bewunderung, aber die Bewunderung blendet ihn nicht, wie sie fast alle andern blendete. Die Frau von Maintenon dagegen haßt er mit allen Arten des Hasses; der Grand Seigneur ist empört über die Erhöhung der Abenteurerin ohne Ahnen, der Patriot über die verderbliche Rathgeberin des Monarchen, der Privatmann über seine persönliche Gegnerin, wofür er sie – vielleicht nicht ohne guten Grund – von Anfang an gehalten hat.

Von Ludwig XIV. erkennt er an, daß er wie kein anderer es verstanden habe, »Höflichkeit und Galanterie mit Anstand und Majestät zu verbinden,« aber er findet ihn geistig unbedeutend, »unter der Mittelmäßigkeit,« und herzlos, – sécheresse du coeur ist sein Ausdruck, den unsere Sprache nicht wiederzugeben vermag. Die nicht einmal mittelmäßige intellektuelle Begabung des glänzenden Herrschers ist doch wohl nur cum grano salis zu verstehen; es ist schwer zu begreifen, daß ein ganz unbedeutender Kopf so viele Jahrzehnte hindurch die Rolle hätte durchführen können, die doch ohne Frage – ob zum Heil oder zum Unheil – dieser König an der Spitze des Hofs, des Reichs und – geraume Zeit – Europas gespielt hat. Man nennt noch heute die zweite Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts das Zeitalter Ludwigs XIV., was doch sicherlich mehr ist als ein Nachklang höfischer Schmeichelei. Wahr ist, daß der König sehr ungebildet war; seine Erziehung war höchst mangelhaft gewesen, und als er erwachsen war, las er nie ein Buch. Aber er verstand es gleichwohl, sich mit der geistreichen und boshaften Gesellschaft, die ihn umgab, abzufinden, nicht allein ohne sich Blößen zu geben, sondern mit dem positiven Erfolge, daß er als der leitende Mann anerkannt wurde. Manches erklärt sich aus dem angeborenen Gefühl der königlichen Würde, das leicht über die schwierigen Stellen des Weges hinwegtragen mochte; aber gewiß kam dazu auch viel natürlicher Takt und die Erkenntniß der eigenen Mängel, die es ihm möglich machte, alle Klippen klug zu umschiffen. Er versuchte nie zu glänzen, wo es die Natur ihm nicht erlaubte, zum Beispiel in der Unterhaltung. Im Gespräch war er zurückhaltend, kurz angebunden; wenn er aber durch die Situation genöthigt war, aus dem Schweigen herauszutreten, fand er doch das angemessene Wort, das man von einem Monarchen erwartet. Sein berühmtestes Wort »l'état c'est moi« hat er nie gesagt.

Die Herzensbeschaffenheit hat der Beobachter wohl richtig charakterisirt, und er läßt es nicht an Illustrationen seines Urtheils fehlen. Er zeigt den König, wie er im Innern seines Palastes und überall das despotische Gesetz seines Beliebens, seines Geschmacks, seiner Bequemlichkeit der Umgebung auferlegt, rücksichtslos, nur an sich selbst denkend. Zum Beispiel auf der Reise, wenn er in einer seiner ungeheuren Karossen sitzt, umgeben von den höchsten Damen des Hofs: »Der König liebte die Luft und wollte alle Fenster offen; er hätte es sehr übel genommen, wenn eine Dame den Vorhang zugezogen hätte, gegen Sonne, Wind oder Kälte; man durfte so etwas nicht einmal bemerken, noch irgend eine andere Unbequemlichkeit. Sich unwohl fühlen war ein Vergehen auf Niewiederkommen.« (Wobei zu bedenken, daß in der Karosse Seiner Majestät zu fahren, als der Gipfel irdischer Glückseligkeit galt.) Die Prinzessinnen seines Hauses entgingen diesen Tyranneien nicht; ob krank, ob schwanger, ob kaum vom Wochenbett aufgestanden, sie mußten ihre Prunkgewänder anthun, alle Feste mitmachen, die Reisen nach Compiègne und Fontainebleau absolviren, ohne mit den Wimpern zu zucken. Einmal, am Karpfenteich zu Marly, mußte man dem König anzeigen, daß sein besonderer Liebling, die muntere kleine Herzogin von Burgund, die er trotz ihrer Schwangerschaft mitgeschleppt hatte, in Folge der Anstrengung fausse couche gemacht habe. Der König antwortete darauf mit einem so brutalen Wort, daß sogar die abgehärtetsten Hofschranzen betroffen dastanden. Es entstand eine Stille, erzählt Saint-Simon, »daß man eine Ameise laufen hören konnte. Ich, ich prüfte alle Anwesenden, mit Augen und Ohren, und ich wußte es mir Dank, seit langem geurtheilt zu haben, daß der König sich allein liebe, sich allein zähle und er selbst sein letzter Zweck sei.«

Dies war einer von den höchst seltenen Fällen, wo der König durch seine üble Laune sich hinreißen ließ, vor seinem Hofe etwas unwürdiges zu sagen oder zu thun. Das Mißgeschick eines anderen seiner Lieblinge führte eine weit skandalösere Scene herbei. Einmal, bei feierlichem Mahle, erhob sich der König plötzlich von der Tafel, ergriff sein spanisches Rohr, rannte einem der Lakaien nach und prügelte ihn vor der erstarrten Hofgesellschaft höchst eigenhändig. Der Lakai hatte Kuchen oder dergleichen von der Schüssel in die Tasche praktizirt, der König hatte es gesehen und war in einen Wuthanfall gerathen. Kein Mensch konnte begreifen, wie eine solche Lumperei zu einem so unerhörten Auftritt führen konnte; aber Saint-Simon, der alles mit angesehen hatte, erspürte sehr bald die wahre Ursache. Der König hatte vor Tisch Depeschen von der Armee erhalten; sein und der Frau von Montespan Sohn, der junge Duc du Maine, machte seinen ersten Feldzug mit; der kommandirende General hatte Auftrag, dafür zu sorgen, daß der junge Herr Gelegenheit erhalte, sich hervorzuthun. Nun meldeten die Depeschen, daß der junge Herr zwar die Gelegenheit gehabt, aber sie nicht benutzt habe, – im Gegentheil. Der Lakai mußte dafür büßen, daß der König sich in seiner väterlichen Eitelkeit so tief verletzt fühlte und nun seinen Grimm an dem ersten Besten auslassen wollte.

Der nämliche Mensch aber, der die Fassung verlor, weil er sich gedemüthigt fühlte, wußte unter weit schwereren Schicksalsschlägen seine königliche Haltung zu bewahren. Während der Niederlagen und des Elendes, die seine letzten Jahre verdüsterten, gestand Saint-Simon ihm willig zu, daß er »mit immer gleicher Sorge, so lange er konnte, das Steuer hielt, gegen alle Hoffnung hoffte, in allen Stücken das Aeußere desselben Königs zeigte. Dessen wären wenig Menschen fähig gewesen, und dies hätte ihm vielleicht den Beinamen des Großen, mit dem man so voreilig bei der Hand gewesen war, verdienen können.«

Die unverzeihliche Sünde des Monarchen war in den Augen des Herzogs, daß er neben sich keinerlei selbständige Größe dulden, alles allein entscheiden, und weil das nicht möglich war, die wirkliche Macht lieber allerlei willkürlich gewähltem Gesinde, Kommis, Federfuchsern, Plebejern auf jederzeitigen Widerruf anvertrauen, als das Regiment mit den ihm von Gott beigeordneten Gehilfen, den Pairs des Reichs, den großen Häusern des Adels theilen wollte. »Er wollte keine Größe, die nicht von ihm ausfließe; alle andere war ihm verhaßt; alle ohne Unterschied brachte er unter dieselbe Kelter, und aus allen, großen und kleinen, machte er ein gemeines Volk, in völliger Gleichheit, un vil peuple en toute égalité« Daß man vor dem Gesalbten des Herrn sich bis zur Erde beuge, das war schön und recht, aber daß erlauchteste Häupter, deren Vorfahren unter Karl dem Großen die Krone als Nächste umstanden hatten, weniger gelten sollten als gens de robe, gens de plume, als die Legisten des Parlaments, als die Intendanten und Kanzleichefs, darin lag doch eine Umkehr aller göttlichen und natürlichen Ordnung, das war die Folge einer frevelhaften Ueberhebung des Königs, der seine vergängliche Person zur einzigen, ausschließlichen Quelle des Rechtes machen wollte. Freilich, wie konnte man sich über die Verletzung herzoglicher Privilegien wundern, wenn selbst die Heiligthümer des königlichen Hauses nicht sicher waren vor dem sacrilegischen Eigenwillen des Königs! Daß Ludwig XIV. seine Bastarde, »die Kinder seiner Person,« gleichzustellen versuchte »den Kindern Frankreichs,« jene mit diesen verheirathete, ihnen den Rang der Prinzen von Geblüt beilegte, ja sogar sie für thronfolgeberechtigt erklärte und einem von ihnen, dem Duc du Maine, testamentarisch die Regentschaft übertrug, das war in den Augen Saint-Simons das äußerste Maß der despotischen Gewissenlosigkeit, eine Versündigung, für die kein Wort der Entrüstung stark genug war. Die erste dieser Missethaten, die doch auch dem Hofe als etwas ungeheuerliches erschien, fällt in das Jahr 1692, als Saint-Simon siebenzehn Jahre zählte, trotz seiner Jugend aber schon ein schrecklicher Aufpasser war. Der König wollte der Tochter, die ihm Frau von Montespan geboren hatte, ein großes »Etablissement« dicht neben dem Thron verschaffen und beschloß, Mademoiselle de Blois (so wurde die junge Dame genannt) mit dem ältesten Sohn seines eigenen Bruders, des Herzogs von Orleans, dem Herzog von Chartres (dem späteren Regenten) zu vermählen. Die Nachricht versetzte den Hof in furchtbare Aufregung; man war gespannt darauf, wie das Haus Orleans sich gegen die unerhörte Zumuthung wehren würde. Zwar von dem schlaffen Oberhaupte der Seitenlinie erwartete man wenig, aber »Madame,« die deutsche Gemahlin des Herzogs von Orleans, Liselotte, von ihr sah man hartnäckigen Widerstand voraus. Sie wollte keine Bastarde in ihrem Hause, sie drohte mit einem offenen Eclat. Saint-Simon spitzte die Ohren und riß die Augen auf. »Da ich mir wohl dachte, daß es heftige Scenen geben werde, machte die Neugier mich sehr aufmerksam und beharrlich.« Natürlich war er nicht Zeuge der Unterredungen, die im Kabinet des Königs zwischen den fürstlichen Personen stattfanden, aber der öffentlichen Scene wohnte er bei, als am Abend die Säle des Schlosses sich der Hofgesellschaft aufthaten. Er sah, wie »Madame« wüthend in der Galerie promenirte, von einer vertrauten Palastdame begleitet, mit großen Schritten, das Taschentuch in der Hand, weinend, laut sprechend und gestikulirend, empört über die Nachgiebigkeit ihres Mannes und ihres Sohnes, »ein Bild der Ceres, die voll Wuth ihre entführte Tochter Proserpina sucht und von Jupiter zurückheischt.« Rings um sie, um ihren Gemahl und den unglücklichen Bräutigam ist alles stumm und verlegen; Zwang und Beklommenheit liegt auf der strahlenden Versammlung. Das Souper des Königs beschließt die peinliche Scene; unter allen aufgeregten und bedrückten Gesichtern zeigt nur das des Monarchen die gewohnte Heiterkeit. »Ich bemerkte, daß der König Madame fast von allen vor ihm stehenden Schüsseln anbot und daß sie fast alle stramm abwies, ohne die höfliche Aufmerksamkeit des Königs auch nur einmal zu erschüttern.« Hernach beim Aufbruch »machte er vor Madame eine sehr markirte und sehr tiefe Verbeugung, während deren sie eine Pirouette so richtig ausführte, daß der König, als er sich wieder aufrichtete, nur noch ihren Rücken vor sich fand.« Und Tags darauf, als Madame durch die Galerie sich zur Messe begab, »trat ihr Herr Sohn heran, um ihr, wie er's jeden Tag that, die Hand zu küssen. In diesem Augenblick versetzte Madame ihm eine so schallende Ohrfeige, daß man es mehrere Schritte weit hörte. Der arme Prinz war, Angesichts des Hofs, zerknirscht vor Scham, und die Zuschauer, unter denen ich war, wurden überwältigt von wunderlichem Erstaunen.« Die Ohrfeige änderte nichts; das Sacrilegium vollzog sich: »das reine Blut der Könige wurde vermischt mit dem Koth eines doppelten Ehebruchs.« Das Fräulein von Blois wurde Herzogin von Chartres und hernach von Orleans und blickte fortan hochmüthig herab auf die edelsten Töchter Frankreichs, als wäre sie im Purpur geboren. Dafür steht von ihr in den Memoiren geschrieben – ich wage es nicht zu verdeutschen – »elle se sentait petite-fille de France jusque sur la chaise percée.«

Das tragische Pathos, mit dem der Herzog die einbrechende Auflösung der alten aristokratischen Weltordnung beklagt, die ingrimmige Energie, mit der er für seinen Theil die letzten Reste der Standeswürde vertheidigt, hat einen äußerst komischen Beigeschmack für den, der sich die Ursprünge des Hauses Saint-Simon etwas näher ansieht. Ein solches Haus existirte vor dem siebenzehnten Jahrhundert überhaupt nicht, und wenn irgend eins, so verdankte dieses einer königlichen Laune seine Entstehung. Der Vater unseres Herzogs Claude de Saint-Simon stammte von rechtschaffenem niederem Adel der Grafschaft Vermandois; er diente als siebenzehnjähriger Page am Hofe des Königs Ludwig XIII., dessen Gunst er, wie der Sohn selbst erzählt, zuerst in folgender Weise gewann: »Der König liebte leidenschaftlich die Jagd. Mein Vater, der seine Ungeduld beim Pferdewechseln bemerkte, kam auf den Einfall, ihm das frische Pferd mit dem Kopf an der Croupe des anderen Pferdes vorzuführen. Auf die Art konnte der König sich von dem einen auf das andere schwingen, ohne den Fuß auf die Erde zu setzen, und das geschah im Nu. Dies gefiel ihm; er verlangte immer denselben Pagen beim Umsteigen, er erkundigte sich nach ihm und nahm ihn nach und nach in Affection. Da der erste Stallmeister Baradat sich ihm unausstehlich machte durch Hoffart und Anmaßung, so jagte er ihn weg und gab das Amt meinem Vater.« Der neue Günstling stieg rasch von einer Staffel zur anderen, wurde mit Aemtern und Reichthümern überhäuft und schließlich, im Jahre 1635, mit der höchsten Würde des Reichs geehrt, der eines Herzogs und Pairs. Die Rangerhöhung war aber so außerordentlich und unverhältnißmäßig, daß es nöthig schien, sie ein wenig herauszustaffiren. In der königlichen Urkunde wurde daher der alte Adel der Familie pomphaft gepriesen und behauptet, daß sie in direkter Linie von den Grafen von Vermandois abstamme, die ihrerseits ihr Geschlecht auf Bernhard, König von Italien, Enkel Karls des Großen, zurückführten. Diese imaginäre Genealogie galt natürlich in dem neugebackenen herzoglichen Hause für unanfechtbare historische Wahrheit; unser Memoirenschreiber, der sich über die schwachen Seiten anderer Stammbäume mit überlegener Ironie lustig zu machen pflegt, hätte eher an dem Evangelium gezweifelt, als an seiner Abkunft von dem großen Kaiser.Herr Boisster bemerkt hierzu, daß noch der Großneffe des Herzogs, der revolutionäre Sektenstifter Graf de Saint-Simon, gern erzählte, wie während der Schreckenszeit, als er im Kerker lag, sein Ahnherr Kaiser Karl ihm im Traum erschienen sei und ihm prophezeit habe, daß er, der Graf, als Philosoph die Familie ebenso zieren werde, wie Karl sie als Regent geziert habe! Man kann es ihm nachfühlen, wie enttäuscht er sein mußte, als er bei seinem Eintritt in die Welt sah, daß die französische Monarchie von dem erlauchten Blut wenig Notiz nahm, sobald es sich um praktische Dinge handelte, z. B. um den Waffendienst.

Es verstand sich für den Sohn eines Herzogs von selbst, daß sein Degen dem König zur Verfügung gestellt wurde. Mit siebenzehn Jahren trat Saint-Simon in die Armee ein, in ein vornehmes Regiment freilich, aber doch nur als gemeiner Soldat, als Mousquetaire. So forderte es die neumodische Heeresverfassung, die Louvois geschaffen hatte, die für die alten feudalen Herrlichkeiten keinen Raum mehr gewährte. Zwar kaufte man noch Kommandos über Regimenter und Kompagnien, aber man bedurfte, um dazu zu gelangen, eines vorgängigen Dienstes in Reih und Glied und der Genehmigung des Königs, und auch nachdem man Kapitän oder Oberst geworden war, konnte man nicht mehr wie vormals nach Belieben über seine Leute schalten. Die Verwaltung und die Ernennung der Offiziere hingen nicht mehr ausschließlich vom Inhaber des Regiments ab; alles wurde von den Inspektoren des Kriegsministers scharf überwacht, und diese Inspektoren waren meistens alte gediente Militärs von Profession, »gens de rien« die pedantisch und strenge die Aufsicht führten, ohne sich im geringsten um Stammbäume und Pairschaften zu kümmern. Rang und Adel spielten freilich auch in der modernen Armee noch eine Rolle, aber nur noch eine äußerliche; die Macht und der Einfluß konzentrirten sich in der Hand des Königs. Ein hochgeborener Jüngling wurde, wenn er in seine Laufbahn als »Avantageur,« wie wir es nennen, eintrat, mit zarteren Händen angefaßt, als ein gewöhnlicher Offiziersaspirant. Er absolvirte sein Lehrlingsjahr in der Leibgarde, la maison du Roi, und seinen Wachdienst lernte er durch Postenstehen vor den Gemächern in Versailles. Wenn er ins Feld rückte, gestattete man ihm, sich mit prinzlicher Bedienung und einem weitläufigen Train zu umgeben. Als unser junger Seigneur seinen ersten Feldzug mitmachte, hatte er zwei Edelleute zur Aufwartung, außerdem Bedienten und Stallknechte, und seine »Equipage« bestand aus fünfunddreißig Pferden und Maulthieren. Es spricht zu seinen Gunsten, daß ihn der bloße Pomp seines Ranges nicht befriedigte, wennschon in der Sache seine Nörgeleien über das System Louvois unbegründet waren. Uebrigens scheint er, obwohl er mit Ehren diente, nicht gerade von kriegerischem Feuer beseelt gewesen zu sein. Als er neunzehn Jahre alt war, kaufte er ein Reiterregiment und wurde Oberst, mestre de camp; als er aber sah, daß der König nicht geneigt war, ihm ein höheres Kommando anzuvertrauen, nahm er, erst sechsunddreißig Jahre alt, unter dem Vorwande schwacher Gesundheit seinen Abschied und widmete sich fortan ganz dem Versailler Leben, am Tage den bitteren Honig seiner Beobachtungen sammelnd, den er am Abend in seinen Heften deponirte. Für die Nachwelt war es so besser.

Ich habe schon im Vorübergehen von dem Hasse gesprochen, den Saint-Simon den Bastarden des Königs widmete, vor allen dem Herzog von Maine, den Ludwig XVI. nicht allein über die Pairs von Frankreich erhöht, nicht allein den Prinzen von Geblüt gleichgestellt, sondern schließlich sogar zum Regenten während der Minderjährigkeit des Thronfolgers designirt hatte, ohne Rücksicht auf agnatische Rechte, durch letztwillige Verfügung, die schrankenlose Willkür gleichsam über den physischen Tod hinaus verlängernd. Mit gleicher, wenn nicht noch heftigerer Inbrunst haßte der Herzog das Pariser Parlament, das heißt die juristischen Mitglieder dieses obersten Gerichtshofs, zu dem ja auch, wenn er in pleno saß, die Prinzen und die Pairs gehörten, dessen Funktionen und politischen Einfluß aber allmählich die Rechtsgelehrten, deren Aemter sich in gewissen Familien forterbten, vollständig an sich gerissen hatten, aus dem einfachen Grunde, weil sie die eigentliche Arbeit thaten, während die vornehmen Herren nur bei den außerordentlichen Galasitzungen sich einfanden, ähnlich wie noch heute, wenn das englische Haus der Lords als Appellhof fungirt, der Lordkanzler mit den juristischen Peers allein zu bleiben pflegt. Diese »Legisten«, diese »noblesse de robe«, erschienen dem Herzog von Saint-Simon als Usurpatoren, die sich frech an die Stelle der Seigneurs gedrängt hätten und nun in ihrem Uebermuthe, dank der sträflichen Nachsicht der Krone, sich als die Hauptperson geberdeten, während sie nach seiner Meinung eigentlich nur als subalterne Rathgeber, »zu unsern Füßen sitzend,« den geborenen Räthen des Königs mit ihrer Gelehrsamkeit Beistand leisten sollten. Während langer Jahre sammelte sich in seinem Herzen unermeßlicher Groll an, wenn er ohnmächtig mit ansehen mußte, wie diese Legisten das Parlament beherschten, die Präsidentenstühle ausfüllten, die Pairs als ihres Gleichen behandelten, sich gewissermaßen als Inhaber einer Art von Souveränität betrachteten, die nur den Thron als etwas höherstehendes anerkannten. Wie gewöhnlich verschmolz sich bei ihm die Sache, das Wesen der Macht, mit dem äußeren Zeichen, das eben deshalb in seinen Augen die höchste Wichtigkeit hatte. Wenn in einer Plenarsitzung der Präsident des Parlaments Umfrage hielt, lüftete er vor den Prinzen von Geblüt das Barett; dieselbe Ehrenbezeugung kam, so behauptet wenigstens Saint-Simon, auch den Herzogen zu, aber die Präsidenten kehrten sich nicht mehr an diese altehrwürdige Regel. Diese »énorme usurpation du bonnet«, wie er es nennt, erschien ihm als die Krönung eines Systems heillosester Konfusion. Aber es kam ein Tag der Vergeltung, der freilich an der hereinbrechenden Konfusion nichts geändert, ihm persönlich aber Stunden der höchsten Wonne und die schönsten Erinnerungen seines Lebens verschafft hat.

Der erste Triumph war, sofort nach dem Tode des Königs, die Vernichtung des königlichen Testaments, die Verdrängung des Bastards durch den Agnaten, eine Aktion, an der Saint-Simon mit Feuereifer Theil nahm und die er uns in allen Einzelheiten mit einem Strome von Beredsamkeit beschreibt, daß seine Leidenschaft uns ansteckt und wir schließlich ganz vergessen, wie fern uns doch diese Dinge liegen. Der zweite Triumph ward ihm zu Theil, als der Regent, zum Theil wohl von Saint-Simon inspirirt und gedrängt, sich entschloß, durch königliches Dekret den Bastarden ihre abnormen Vorrechte wieder zu entziehen und sie in die Reihe der gewöhnlichen Menschen zurückzuversetzen, auch dem Pariser Parlamente eine Ordnung aufzuerlegen, die den alten Rangverhältnissen wieder einige Geltung verschaffte und den Hochmuth der Legisten dämpfte. Durch ein Lit de justice – denn das Parlament weigerte sich, die königlichen Ordonnanzen einzuregistriren – wurde am 26. August 1718 der große Akt der Gerechtigkeit vollzogen, nach dem wenigstens ein Mann in Frankreich sich in jahrelanger Sehnsucht verzehrt hatte. Endlich sah er mit Augen die frechen Emporkömmlinge gedemüthigt, den Herzogen und Pairs ihre Ehre zurückgegeben, alle Ungeheuerlichkeiten zerstört, die Ludwig XIV. in der Abgeschlossenheit seiner letzten Jahre, »zwischen seinem alten Weibe und seinem Bastard«, sanktionirt hatte. Den Tag, an dem dies geschah, haben die Memoiren mit unvergänglichen Farben geschildert; die Aufregung des Erzählers theilt sich uns mit; mit einer Spannung, als ob es auch für uns sich um höchste Güter handelte, folgen wir dem Verlaufe der Aktion: wie am frühen Morgen Trommelschlag die Truppen versammelt; wie man ängstlich sich fragt, ob das Parlament der Ladung in die Tuilerien Folge leisten oder offnen Widerstand leisten wird; wie dann der lange Zug der Parlamentsräthe in Sicht kommt, paarweise, in rothen Roben, während Saint-Simon frohlockend am Fenster des Palastes steht; dann die ganze Scene des Lit de justice, deren Einzelheiten, Worte, Geberden, Gruppen, mit dem Entzücken befriedigter Rache wundervoll beschrieben werden, das Staunen der Unbeteiligten, die Freude der Sieger, die Vernichtung der Besiegten. Der erste Präsident, – »dieser Bösewicht«, wird er genannt, hatte er doch die »énorme usurpation du bonnet« begangen – knickt vor unseren Augen zusammen unter der Last der Vergeltung: »er fletschte die letzten ihm annoch verbliebenen Zähne,« sinkt über seinem Stabe zusammen, daß es aussieht, als ob das Kinn ihm auf seine Kniee gefallen wäre: – »ein minder malhonnetter Mensch wäre dran krepirt.« Er selbst muß sich Gewalt anthun, um ehrbar und bescheiden dreinzublicken und nicht laut zu jubeln; »er erstickt am Schweigen;« die Verlesung der Deklaration zu Gunsten der Pairs tönt seinem Ohr lieblicher als Musik. »Ich schwitzte (schreibt er) in der beklemmenden Gefangenschaft meines Entzückens, und diese Beklemmung selbst war eine Wollust, wie ich sie nie, weder vor noch nach diesem schönen Tage, genossen habe ... Ich empfand alle unaussprechlichen Wonnen, den Anblick dieser hochmüthigen Legisten, die uns den Gruß zu verweigern wagten ... meine Augen, eingebohrt, festgeklammert an diesen frechen Bourgeois, schweiften über diese große Bank Knieender oder Stehender und die weiten Falten von Pelzmänteln, die bei jeder langen oder verdoppelten Kniebeugung wogten und wallten, gemeines petit-gris,petit gris ist Pelzwerk von nordischen Eichhörnchen; der deutsche Name, wenn ein solcher existiert, ist mir nicht bekannt, Hermelinmäntel trugen die Herzoge an Galatagen, und Saint-Simon hat sich in diesem Schmuck malen lassen. das wie Hermelin aussehen sollte, und diese entblößten Köpfe, die sich bis zur Höhe unserer Füße demüthigten ... Ich mittlerweile starb vor Freude. Ich fürchtete, in Ohnmacht zu fallen; mein Herz fand keinen Raum mehr, sich auszudehnen. Die Gewalt, die ich mir anthat, um mich nicht zu verrathen, war maßlos, und trotzdem war die Folter süß. Ich triumphirte, ich rächte mich, ich schwamm in meiner Rache, ich genoß die volle Befriedigung der heftigsten, beharrlichsten Wünsche meines ganzen Lebens, ich war versucht, mich um nichts mehr zu bekümmern.«

Es ist kein großes Verdienst, wenn wir die fundamentale Verkehrtheit der Idee durchschauen, die diesem feudalen furor zu Grunde liegt. Wir würden aber vielleicht doch irren, wenn wir den blinden Glauben an die Heiligkeit gewisser Erstgeburtsrechte für ganz erloschen in der modernen Gesellschaft hielten. Ihm fehlt aber, wenn er noch existirt, die Gabe, zu sagen, was und wie er empfindet, die hohe schriftstellerische Kraft, die, wie wir an diesem Beispiele wieder sehen, unabhängig ist von dem Werthe des Systems, zu dem sich einer bekennt. Auch dürften unsere Feudalen nicht immer die Entschuldigung für sich anführen können, die dem Franzosen zur Seite steht, die Ueberzeugung nämlich, die er hegte, daß die von ihm geträumte aristokratische Verfassung wirklich einmal bestanden und der Nation zum Segen gereicht habe. Er will aufrichtig das Wohl des Landes, auch der Bürger und der Bauern; er ist in der That nicht so verrückt, wenn er annimmt, dieses Wohl des Landes würde sich besser stehen, wenn der Monarch von einer wirklichen Geburtsaristokratie, als wenn er von einer gemischten Gesellschaft hungriger Streber umgeben wäre. Man sieht nicht, daß er für seine Person oder für seinen Stand Geldvortheile verlangt hätte; seine Pairs und Herzoge sollten, das verstand sich ihm von selbst, durch ererbten Reichthum über die gemeine Gier, die in Versailles sich nach Pfründen und Pensionen drängte, erhaben sein. Auch war sein Glaube nicht so blind, daß er nicht in lichten Augenblicken sich die Frage vorgelegt hätte, ob denn der Adel Frankreichs, der hohe und der niedere, einigermaßen der Rolle gewachsen sein werde, die er ihm zuertheilen wollte: Land und Heer gerecht und weise zu verwalten. Zürnend schreibt er einmal: »Unser Adel ist zu nichts mehr gut, als sich für den König todtschießen zu lassen.« Napoleon hat diesem Adel noch eine andere Qualität zugesprochen: Kammerherren ohne Gleichen zu liefern.

Voltaire hat bekanntlich auch über »das Jahrhundert Ludwigs XIV.« geschrieben und es ist sehr interessant zu sehen, – Herr Boissier hebt es nach Gebühr hervor, – wie verschieden von Saint-Simon er die Dinge beurtheilt. Gerade das, was dem Herzog Ekel und Entrüstung einflößte, die Verwischung der feudalen Standesunterschiede, ist in Voltaires Augen ein Ruhmestitel für das Zeitalter des grand monarque. Denn aus diesem »Chaos,« wie Saint-Simon wehklagt, ist die Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts, in der Voltaire die Herscherrolle spielen konnte, hervorgegangen. »Vormals, sagt er, war jedermann eingepfercht in seinem Stande, und jeden Stand erkannte man an seinen Fehlern, den Militär an seinem ungestümen Wesen, den Mann des Rechts an einer abstoßenden Gravität. Nicht wenig trug dazu bei, daß jeder, selbst am Hofe, in der Tracht seines Standes erschien. Das hat sich alles geändert; mit der Tracht hat man auch den Geist der Kaste abgelegt. Alles rückt näher zusammen; die Vorzüge der höheren Klassen theilen sich den anderen mit; der feine Ton, der das Privileg weniger Hotels war, verbreitet sich bis in die Kaufläden. Die ungemeine Leichtigkeit des Umgangs, die Leutseligkeit, die Einfachheit, die Kultur des Geistes haben aus Paris eine Stadt gemacht, die, was Annehmlichkeit des Lebens betrifft, Rom und Athen in den Zeiten ihres Glanzes wahrscheinlich um vieles übertrifft. Die Reize eines zwanglosen Lebens, die Gesellschaften, in die keiner seinen Rang und die Vorurtheile seines Standes mitbringt, wo jeder nur durch sein Verdienst etwas gilt, diese sind es, die Frankreich zum Muster für alle Nationen gemacht haben!«

Beide, der grämliche Lobredner des Alten und der fröhliche Verkünder des Neuen, haben Recht und haben Unrecht gehabt. Der eine erkannte die Auflösung einer alten Weltordnung, ohne zu gewahren, daß aus ihr eine höhere Entwicklung sich emporringe; der andere sah die höhere Entwicklung, ohne die Auflösung und ihre Gefahren unter der glänzenden Oberfläche zu bemerken. Jeder der beiden war bornirt in seiner Art, wie wir es alle sind, mehr oder weniger, aber diese beiden sind trotz aller Bornirtheit große Schriftsteller geworden.


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