Otto Gildemeister
Essays - Zweiter Band
Otto Gildemeister

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Bürgermeister Johann Smidt.

Festrede, gehalten bei der Smidtfeier im Künstlerverein zu Bremen am 5. November 1873 von Bürgermeister Gildemeister.

»Vor hundert Jahren!« das sagt man leicht über die Lippen weg. Aber je älter die Welt wird, desto mehr will das bedeuten. Von je her hat den Jahrhunderten die Macht innegewohnt, zahlloses Leben nicht allein zu zerstören, sondern auch das Gedächtniß des Zerstörten zu vertilgen. Immer war es die ungeheure Mehrzahl der Geborenen, welche im Laufe eines Säculum klanglos zum Orcus hinabsanken, und ihre Stätte kannte sie nicht mehr. Aber stets größer wird diese Sterblichkeit der Namen, je bewegter und rascher das Leben der Menschheit selbst wird, immer kleiner die Zahl derjenigen, deren Andenken festzuhalten das Zeitalter Zeit behält. Wenn der Name Johann Smidts dem gemeinen Loose des Vergessenwerdens entgeht, so kann man wahrlich nicht sagen, das Zeitalter, in welchem er lebte, habe es ihm leicht gemacht. Denn niemals, so lange die Welt steht, hat die Menschheit so bewegt, rasch und in gewaltigem Fortschreiten gelebt, wie in dem Jahrhundert, welches zwischen der Geburt des Mannes, dem unsere Erinnerungsfeier gilt, und diesem heutigen Tage liegt.

Man sagt es leicht: »vor hundert Jahren,« aber die Phantasie muß sich anstrengen, wenn sie erfassen will, was alles in diesen Worten liegt. Wir lernen in den Schulen, daß die Welt ihr Angesicht veränderte, als die Buchdruckerkunst und das Schießpulver erfunden, das Studium des klassischen Alterthums erneuert, Amerika entdeckt und die Kirche reformirt ward. Aber die Veränderungen, welche das hinter uns liegende Jahrhundert bewirkt hat, und ganz besonders in Deutschland bewirkt hat, stellen selbst das Jahrhundert des Columbus und Luthers in Schatten. In viel höherem und weiterem Sinne können wir bei unserem Rückblicke sagen: es ist alles neu geworden. Jene Welt vor hundert Jahren ist der unsrigen kaum minder unähnlich, als das Zeitalter des Julius Cäsar oder Friedrich Barbarossas. Sie ist uns nur deshalb innerlich verwandter, weil aus ihrem Schoße die Kinder geboren wurden, die hernach als Männer den großen Umschwung vollbrachten. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß, mit einigen wenigen Ausnahmen, von alle demjenigen, was heute unser Leben erfüllt, unser Interesse bewegt, unsere Existenz trägt, vor hundert Jahren nichts war. Man bedenke nur, um von Eisenbahnen, von Dampfindustrie und Telegraphen zu schweigen und um von dem übrigen nur einiges herauszugreifen, daß es weder Goethe noch Schiller, noch einen deutschen Shakespeare gab, keine einzige Zeitung, wie wir sie gewohnt sind, keine deutschen Geschichtsschreiber und von der gigantischen Entwickelung der Naturwissenschaften erst – immerhin glänzende – Anfänge, ohne Effekt für die weite Laienwelt, welche heute auf Schritt und Tritt den mächtigen Einfluß ihrer Enthüllungen spürt. Man bedenke, daß von einem öffentlichen Leben nirgend die Rede war, daß selbst da, wo die Bürger sich einen gewissen Antheil an den allgemeinen Angelegenheiten bewahrt hatten, wie z. B. in unserer Stadt, doch alles in die engsten und steifsten Formen sich einschachtelte, die jeden frischen Luftzug hemmten, daß noch alle die treibenden Kräfte, welche heute in unaufhörlichem Ringkampfe unsere höchste Theilnahme in Haß und Liebe fesseln, gebunden lagen und alle die großen Losungsworte, welche seitdem von allen vier Enden der Welt wiederhallten, nur erst als prophetische Andeutungen, unverstanden von den meisten, hier und dort leise ertönten. Man bedenke, daß noch keine Vereinigten Staaten von Amerika, daß überhaupt noch keine transatlantischen Staaten, sondern nur eifersüchtig abgesperrte Colonien jenseits des Oceans existirten, gar nicht davon zu reden, daß Namen wie Indien, China, Japan mehr der Märchenwelt als der Wirklichkeit anzugehören schienen, oder – um mehr in der Nähe zu bleiben, – daß auf unserem Continent der Name New-York, man kann wohl sagen, unbekannt war.

Es war eine andere, eine jetzt untergegangene Welt, in welche vor hundert Jahren der Sohn des alten würdigen Pfarrherrn zu St. Stephani in der kaiserlich freien Reichs- und Hansestadt Bremen eintrat. Und wenn irgendwo, so hatte das Alte, jetzt Untergegangene, gerade hier hinter den Festungswällen und den gesperrten Thoren der abgelegenen Kaufmannsstadt noch unerschütterte, von dem Hauche des philosophischen Jahrhunderts kaum berührte Geltung. Selbst von denjenigen geistigen Bewegungen, welche in günstiger gelegenen deutschen Städten bereits ein Publikum fanden, wie wir es aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« von Frankfurt und Leipzig, wie wir es von Hamburg und Berlin wissen, gelangte in unsere nordwestliche Ecke nur ein kaum merklicher Wellenschlag; in einem kleinen Kreise von Gelehrten, in einigen gebildeteren Familien nahm man wohl lebhaften Antheil an den bedeutenden Erscheinungen der Leipziger Druckerpressen, der englischen und französischen Schriftstellerwelt, aber alles dies war viel zu vereinzelt, um an der Physiognomie der Stadt etwas zu ändern. Ich fürchte, wir thun unseren Vorfahren nicht Unrecht, wenn wir sie uns im Großen und Ganzen als eingerostetes Spießbürgerthum darstellen. Auch läßt sich zu ihrer Entschuldigung vieles anführen. Schon das eine erklärt vieles, daß an einen Reiseverkehr, wie er heutzutage die Menschen durcheinander schüttelt und den Horizont selbst des Philisters erweitert, auch nicht entfernt zu denken war. Die große Mehrzahl kam eigentlich niemals über die Grenzen der Heimath hinaus. Die Schiffer freilich gingen über See, aber selbst das stellte nicht viel vor; denn meistens fuhr das Schiff zwischen zwei Endpunkten Jahr aus Jahr ein hin und her, nahm immer die nämlichen Güter mit, brachte immer dieselben Artikel zurück. Die Handwerksgesellen gingen auf die Wanderschaft, wie die Zunftgesetze es geboten; der Musterreiter, damals noch seinen Namen mit Recht führend, ritt auf Kundschaft aus, die Pistolen im Halfter und manchmal den Compaß auf dem Sattelknauf, um in den weiten Einöden den Weg zu finden; der wohlhabendere Kaufmann sandte den hoffnungsvollen Sohn nach Holland oder Antwerpen, vielleicht gar nach London und Bordeaux, um ihn im Hause eines Geschäftsfreundes »die Handlung erlernen zu lassen;« sehr reiche Leute reisten wohl ein oder zweimal im Leben nach Paris oder Genf, nach Pyrmont oder Spa; endlich die jungen Schüler der Wissenschaft mußten natürlich eine Hochschule besuchen, um dermaleinst rite promoviren und daheim das prädestinirte Amt bekleiden zu können. Fremde kamen nach Bremen nur, wenn sie durch ein Geschäft dazu genöthigt wurden, und selten gehörten sie einer Kategorie an, von welcher man das Hereintragen befruchtender Kulturkeime hätte erwarten können; die gelehrten Aemter der Stadt wurden, so weit irgend thunlich, den Söhnen der eingesessenen Familien vorbehalten; höchstens zum Predigeramte und zum Syndicat berief man hin und wieder, wenn die eignen Kräfte nicht genügten, einen Auswärtigen. In der Hauptsache bestand die Gehirnarbeit aller darin, den von den Vätern ererbten Vorrath von geschäftlichen Fäden, sei es nun in Handel und Gewerbe, sei es in Verwaltung, Rechtspflege, Kirche oder Schule, einförmig und behaglich weiter zu spinnen und sie vorsichtig vor den Störungen und Schäden zu bewahren, mit denen injuria temporum, als kriegerische Zeitläufte, Gelüste mächtiger Nachbarn und die allgemeine Miserabilität der Reichsverhältnisse, sie bedrohte. In älteren Zeiten war die Stadt gezwungen gewesen und auch im Stande, mit dem Schwerte in der Hand ihre Rechte und ihre Interessen zu vertheidigen. Sie hatte gekämpft, erobert, neue Niederlassungen gepflanzt. Dies adelnde und erfrischende Geschäft hatte man von den Vätern nicht geerbt. Die kriegerische Macht und Tüchtigkeit war erloschen; der Spießbürger war geblieben, aber der Spieß verschwunden. Und für diesen Ausfall, diese Verarmung des Lebens bot sich nicht etwa der Ersatz, welcher später für die Wiedergeburt des deutschen Bürgerthums in den Seestädten sich so wichtig erweisen sollte, kein großartiges, von kühner Unternehmung beflügeltes, in gefährliche Fernen führendes Verkehrsleben. Wohl heißt Bremen in den alten Handbüchern der Geographie und in lokalpatriotischen Tractaten »berühmte Kauff- und Handelsstadt,« aber Handel und Kauffahrtei bewegten sich sowohl räumlich als nach dem Umfange des Umsatzes und nach der Art des Betriebes in Gleisen, welche von Großartigkeit nichts an sich hatten; sie vermochten nicht der Bevölkerung den Mangel an geistigen Anregungen zu ersetzen, den Geistern die Schwung- und Schnellkraft zu verleihen, welche, bei günstigem Stande der Gestirne, zu großen Dingen auch auf edleren Gebieten geschickt macht. Ich glaube, man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß, was Handel und Verkehr und Industrie anlangt, die Kluft zwischen den Jahren 1873 und 1773 größer ist als die Kluft zwischen 1773 und dem Zeitalter der Phönicier. Vor hundert Jahren war es noch ganz allgemein Sitte, die Schiffe Winters im Hafen anzubinden; wären nicht die Barbareskenstaaten gewesen, welche die Meere unsicher machten, man würde kaum begreifen, weshalb man so gewissenhaft von den Kanzeln für wohlbehaltene Fahrt beten ließ. Im Binnenlande knüpfte sich der einigermaßen große Umsatz an die vorgeschriebenen Meßzeiten; außerhalb derselben war alles schläfriger Kramhandel. Ueberhaupt Schläfrigkeit war die Signatur der Zeit. Das alte Leben hatte sich so ausgelebt in den gewohnten Formen, daß es allmählich einzuschlummern begehrte; es war jene dunkelste und stillste Stunde der Nacht, welche dem neuen Morgen die nächste ist. Die Hähne hatten schon gekräht, an allen Ecken und Enden, aber die Schläfer lagen noch unaufgeschreckt im hochgethürmten altfränkischen Bette. Jeder Vergleich hinkt, also auch dieser; aber das Bild vom Schlafe hat meines Erachtens einen guten Platz hier. Denn es zeigte sich später, daß der Geist und die Kraft, welche in den großen Zeiten unserer Geschichte gewaltet hatten, nicht abgestorben, daß sie nur betäubt gewesen waren und nichts weiter bedurften als eines mächtigen Schüttelns und Rüttelns, um in alter Glorie zu erwachen. Woran es denn bekanntlich nicht gefehlt hat.

Gerade an der Grenzscheide zwischen zwei Welten ward in unsrer Stadt Smidt geboren, in einer Familie, welche wir uns als Hüterin ehrbarster, reichsstädtischer Traditionen und strengreformirter Kirchlichkeit denken dürfen, angesehen sowohl auf dem Rathhause wie im Venerando Ministerio. Ohne sich dies zu vergegenwärtigen, ohne sich das Aussehen jener alten Welt klar zu machen, kann man weder Smidts Persönlichkeit noch seine Bedeutung für die vaterstädtische Geschichte recht begreifen. Denn sowohl jene, wie diese wurzelt ganz und gar in dem gewaltigen Umschwunge vom Alten zum Neuen, welcher schon in dem Jahre seiner Geburt einzusetzen begann und welcher, als der Knabe anfing mit Bewußtsein um sich zu blicken, bereits in sausende Bewegung gerathen war, wenn auch noch fernab von unseren Gegenden. Friedrich der Große vollendete damals die innerliche Auflösung des Reichs; in Frankreich bereitete sich die große Katastrophe des Königthums und der daraus folgende zwanzigjährige Weltkrieg vor; in Deutschland erhob sich am Horizont das Doppelgestirn einer allesumwälzenden Philosophie und einer alleserhebenden Dichtung. Die moderne Zeit kam mit Sturmeswehen, und sie drückte ihren vollen scharfen Stempel auf die Stirn des jungen Weltbürgers, ihn ganz hinnehmend in ihren Dienst. Smidt war ein moderner Mensch durch und durch, nicht allein in seinen Anschauungen und Sympathien, sondern auch in seinem Wesen, in Form, Sprache und Haltung, völlig frei von altfränkischer Steifheit und Schnörkelei, republikanisch bis in die Fingerspitzen, kühl und kritisch gegen Traditionen und Autoritäten, mit dem höchsten Interesse seines Geistes hingegeben an die Gegenwart und ihre mächtigen Fortschritte und Probleme. Diesem seinem modernen Interesse gereichte es zu besonderer Würze und Schärfung, daß er ja das dem Untergange verfallene Alte selbst noch mit Augen gesehen, seine stockige Atmosphäre gerochen, seine beengenden Formen empfunden hatte. Aber merkwürdig! Aus diesem scharfen lebendigen Gefühle eines so unermeßlichen Kontrastes zog er nicht die Konsequenz revolutionären Hasses, radikalen Hochmuths gegenüber dem Alten, sondern ihm entsprang auf dem Boden jener Gegensätze gerade umgekehrt der Quell einer patriotischen Liebe, welche sein Leben lang all sein Streben und Wirken beseelt, ja man kann sagen, es erzeugt und geboren hat. Und diese seine patriotische Liebe wirft rückwärts ein verklärendes Licht in die Vergangenheit, welche uns so engbrüstig und welk erscheint. In der steifen zopfigen Reichsstadt müssen trotz Zopf und Perrücken doch im Stillen Kräfte und Tugenden gewaltet haben, welche im Stande waren, das Herz des vorurtheilsfreien, aufstrebenden, geistvollen Jünglings mit leisem Zauber zu gewinnen und ihm jene unwandelbare Kindesliebe zu der engen Heimath einzuflößen, die man oft genug räthselhaft gefunden hat. Schwerlich hat Smidt selbst die Motive dieser Anhänglichkeit, ihr Zusammengehen mit kosmopolitischem Sinne mikroskopisch untersucht; in ihm war es eine naive Thatsache, welche sich zu erklären er kein Bedürfniß empfand; für uns ist es ein Problem, ohne dessen Verständniß uns der Schlüssel zu seinem Leben fehlen würde.

Mit hellem Auge, mit klarem Bewußtsein, mit warmer Sympathie Zeuge des Um- und Aufschwunges ringsumher, die befruchtende Kraft der Stürme erkennend, aber auch ihre niederreißende Heftigkeit ermessend, fand er die ihm zukommende besondere Arbeit am sausenden Webestuhle der Zeit. Daß von diesem Umschwunge die liebe alte Vaterstadt nicht niedergeworfen werden, daß sie von dem Aufschwunge ihren vollen Antheil erlangen, daß sie im Sturme verjüngt in der jungen Zeit die alten Keime zu neuer Blüthe und Frucht entfalten möge, darin erkannte er von Anfang an die Aufgabe seines Lebens, und für diese Aufgabe hat er gelebt, mit unwandelbarer Treue, mit nie ermattendem Eifer, mit dem vollen Einsatz seiner Kräfte, bis zur letzten Stunde. Gewiß ist es echt deutsch zu nennen, dieses Zusammengehen weltüberschauender Geisteshöhe und gemüthvoller Versenkung in heimatliche Interessen, aber vielleicht nie berührte sich, wie in ihm, mit solcher Leidenschaft und Ausdauer, mit so gleich, ja eins gewordener Innigkeit diese Doppelnatur des deutschen Genius, der Gedanke, welcher weit hinaus, und der, welcher ins Enge blickt, der weltgeschichtliche Trieb und die liebevolle Arbeit am bescheidenen Herde, der Sinn für das Universelle und der für die vaterstädtische Eigenart, für die bremische Familie. Schien es, als sei nur diese ihm fest ans Herz gewachsen, so war es eben nur Schein; wie er nie an das Allgemeine dachte, ohne zugleich Bremens Platz im Allgemeinen sofort vor Augen zu haben, so auch umgekehrt war der Gedanke an Bremen ihm stets unzertrennlich verknüpft mit dem Bewußtsein, daß diese Stadt ihre natürliche Stelle und Aufgabe im Haushalt der Nation habe und behaupten müsse. Daß sie dazu die Anlagen und Kräfte besitze, eine besonders entwickelte bürgerliche Eigenart, fähig, – unter richtiger Leitung und unter dem Schutze der Freiheit – zu tüchtigem Aufstreben, das erkannte er, vielleicht richtiger, er fühlte es mit der Sicherheit des Instinctes schon damals, als noch Rath und Bürger sich genügen ließen, in dem überkommenen, brockfälligen Bau der früheren Jahrhunderte fortzuvegetiren, froh, wenn man sie nur in Ruhe ließ. Meines Wissens hat er nie, auch nicht im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, als seine Studien in Jena beendet waren, als er mit der feinsten Blüthe geistigen Lebens in persönliche Beziehung getreten war, nie hat er daran gedacht, für seine Talente eine größere Bühne, einen lohnenderen Markt zu suchen, einem anderen zu dienen als der Stadt, der er selbst im Geiste weit voraus war und mit dem Herzen gleichwohl so nahe blieb, wie in den Tagen seiner Kindheit. In dem Alten wurzelte seine Liebe; aus den Ruinen einer großen Katastrophe trug er rettend die ehrwürdigen Penaten mit sich in die neue Zeit, wie der fromme Aeneas die Hausgötter aus dem eingeäscherten Ilion. Weit entfernt, ein Lobredner des Vergangenen zu sein, vorurtheilsfrei wie nur irgend ein Radikaler, wenn es sich um den Fortschritt und das Heilsame handelte, hegte er doch im innersten Kerne des Herzens das, was ihn von den Radikalen weltweit schied, die Pietät. Wie ein genialer Sohn den braven, beschränkten, wunderlichen Vater lieben mag, zugleich mit lächelndem Humor und mit treuer Ehrfurcht, so liebte Smidt die alte Stadt mit ihren komischen Perücken und ihren rechtschaffenen Herzen, ihrer gravitätischen Steifheit und ihrer patriarchalischen Unschuld. Wir besitzen von seiner Hand ein idyllisches Gedicht in Vossischer Weise, welches behaglich und liebevoll die freundliche Beschränktheit des damaligen Familienlebens schildert; auf dem väterlichen Landsitze zur Dunge erscheint zum sonntäglichen »Kindertage« die wohlansehnliche Verwandtschaft aus der Stadt, unter ihr kein geringerer, als der hochgebietende Bürgermeister Pundsack, und die Verse bewahren noch jetzt, nach achtzig Jahren, den eigenthümlichen Hauch stiller frugaler Gemüthlichkeit, welchen ohne den Humor der Liebe der Dichter nicht hätte erfassen und wiedergeben können. Auch von Politik ist die Rede. Die alten würdigen Herren discurriren beim Kaffee und der Thonpfeife über die Händel der Welt, ganz wie die Bürger im Faust, über weitentlegene Kriegs- und Staatsaktionen, wenn auch nicht gerade in der Türkei, doch wenigstens in Spanien. Die Belagerung und Vertheidigung Gibraltars ist das große Ereigniß der Zeit; um solche, jetzt fast verschollene Dinge drehten sich die Gespräche der Kundigsten, welche der Knabe im Vaterhause vernahm. Als der Knabe ein junger Mann geworden war, wie entwachsen mußte er sich innerlich diesen Kreisen fühlen, wie ganz andere Welthändel erfüllten da den Schauplatz; wie viel ernstere Sorgen brachte die stürmische Zeit! Aber in der Liebe, welche der Knabe in sein Herz geschlossen hatte, fand der Mann die Kraft, diese ernsteren Sorgen zu tragen, und niemals, selbst nicht in den hoffnungslosesten Stunden, an der Vaterstadt zu verzweifeln.

Man wird, fürchte ich, finden, daß ich allzu lange bei den Anfängen verweile. Aber was ich sagte, ist nur ein Echo dessen, was Smidt selbst in seinen Gesprächen hervorzukehren liebte, den Jüngeren zum Fingerzeige, aus welchem schwierigen Baugrunde heraus das Gebäude der verjüngten Stadt von ihm und den Mitstrebenden aufgeführt werden mußte, aus welchem Wuste und welcher Misère, und weshalb gleichwohl die Bauleute in ihrem treuen Eifer nicht müde wurden, nicht andere, bequemere Stätten für ihre Wirksamkeit aufsuchten. Auch scheint es mir, daß es dieser Stunde mehr entspricht, zurückzuweisen auf die treibenden Keime und die nährenden Wurzeln, als auf die äußeren Früchte dieses Lebens. So weit es erforderlich ist, auch an letztere zu erinnern, ist dies ja in würdigen Festschriften zur Genüge geschehen, und ich würde nur Bekanntes oder doch leicht Kennenzulernendes wiederholen, wenn ich die Reihe der einzelnen Erfolge aufzählen wollte, durch welche Smidt und seine Genossen das Ziel erreichten, das ihm vorgeschwebt hatte, aus der Stadt Bremen ein politisch und wirthschaftlich lebensfähiges Glied am Körper Deutschlands zu machen, zuvörderst sie und ihre Selbständigkeit aus dem zwiefachen Schiffbruche, einmal des deutschen, dann des Napoleonischen Reichs zu retten, danach aber ihr die freie Bewegung und die Lebensbedingungen zu verschaffen, ohne welche sie am großen Welthandel nicht Theil nehmen, zu frischer Blüthe als bürgerliches Gemeinwesen nicht gelangen konnte. Wie, mit unverwandtem Hinblicke auf dies Ziel, bei der Zertrümmerung des h. Römischen Reichs nicht allein der Mediatisirungslust der Mächtigen gewehrt, sondern die kleine Republik sogar besser consolidirt und abgerundet ward, wie nach der Leipziger Schlacht diese dringlichste Arbeit sofort mit energischem Eifer wieder aufgenommen und gegen furchtbare Chancen glücklich durchgeführt, wie im Innern das Regiment mit neuem Leben erfüllt und der mittelalterliche Hausrath durch wirklich leistungsfähige Staatseinrichtungen ersetzt, wie die Freiheit der Weserschiffahrt errungen, wie Bremerhaven gegründet und damit eine neue Aera für die Stadt eröffnet wurde, dies und was sonst noch zu diesem gehört, bedarf keiner vielen Worte, jeder Bremer weiß es, und jeder weiß, daß der Dank für alles dies »dem alten Smidt,« wenn nicht allein, doch vor allen anderen gebührt: daß wir in diesem Augenblicke die Bürger eines fröhlich gedeihenden, und noch größerem Gedeihen entgegenreifenden Gemeinwesens sind, daß wir unsere Angelegenheiten selbst verwalten, Herren im eigenen Hause sind, keinem unterthan als dem Reiche, das ist ohne Zweifel Smidts Werk, sein Vermächtniß. Wäre er nicht gewesen, Bremen würde jetzt, so weit man es übersehen kann, wahrscheinlich eine verfallende Landstadt sein, und die Rolle, die es im Weltverkehr spielt, würde theils ausgestrichen, theils von holländischen oder belgischen Häfen übernommen sein.

Im neuerstandenen deutschen Reiche freilich hat manches, was früher von großem Werthe erschien, an Bedeutung eingebüßt. Die politische Selbständigkeit der drei Hansestädte zu vertheidigen, wiederzuerobern und neu zu befestigen, ein solches Programm hätte gegenwärtig einen anderen und sicherlich einen minder hohen Sinn als in Smidts Zeit. Die meisten Zwecke, um deren willen er seine Lebenskraft an dies Programm setzte, würden heute sich verwirklichen lassen, auch ohne daß es gerade schlechterdings nothwendig wäre, die Souveränität der drei städtischen Republiken aufrecht zu erhalten. Die Vertretung der commerciellen Interessen Deutschlands im Auslande, der Abschluß von Handels- und Schiffahrtsverträgen mit fremden Nationen, die Freiheit der deutschen Wasserstraßen von Raubzöllen, die Geltendmachung der Bedürfnisse des Verkehrs, alles dies und was damit zusammenhängt, hat im neuen Reiche mächtigere Bürgschaften und wirksamere Organe gefunden, als die Städte jemals seit dem Verfall der alten Hansa es gewesen sind. Aber in der Zeit, welche Smidt mit seinem Streben ausfüllte, war alles das völlig anders. Für ihn stand die Alternative nicht wie für uns. Keine einheitliche Reichsregierung nahm sich des deutschen Welthandels an, kein Reichstag, keine einflußreiche Presse, keine Reihe blühender Handels- und Industrieplätze im Innern Deutschlands bildete damals wie jetzt ein mächtiges Gegengewicht, im Interesse der wirtschaftlichen und bürgerlichen Entwickelung, gegen die Engherzigkeiten und Einseitigkeiten der bureaukratischen Routine und die Gleichgültigkeit der kleinen Fürstenhöfe. Berlin, heute einer der großen Börsenplätze der Welt, war damals nur ein etwas vergrößertes Potsdam; Hamburg unbestritten die mächtigste und vornehmste unter den deutschen Städten; Hannover, jetzt ein Sitz schwungreicher Industrie, eine kleine schläfrige Residenz ohne Sinn und Eifer für die großen Bewegungen der internationalen Märkte. Der Herzog von Cambridge, Vicekönig von Hannover, gestand es unserem Bürgermeister, daß es in Hannover geradezu unmöglich gewesen sein würde, den Ständen und den Beamten die Zustimmung zu einer Schöpfung wie die Bremerhavens abzuringen, und es war nicht bloß witzig, sondern auch wahr, wenn Smidt sagte: »So lange die Souveräne nicht handeln, muß der Handel souverän sein,« – ein Wort beiläufig, welches beweist, daß er der bloß relativen Berechtigung unserer Ausnahmestellung sich sehr wohl bewußt war, daß unser Privilegium für ihn nicht einen mystischen überweltlichen, sondern einen durchaus rationellen Charakter trug. Sollten die drei Städte, in denen fast allein noch etwas von dem wagenden und rührigen Geiste des alten deutschen Bürgerthums sich erhalten hatte, sollten sie unter die Vormundschaft der Amtleute, Kämmererdiener und Zöllner eines Mittelstaates gerathen, oder sollten sie ihre letzten Kräfte zusammenraffen, um die Selbstverwaltung zu retten, die allein ihnen freie Bewegung sichern konnte, die freie Bewegung, ohne welche sie den Wettkampf mit der Uebermacht Englands und Hollands nimmermehr hätten bestehen können? So lautete damals die Frage, so stand damals das Problem, und erst seit sieben Jahren stehen wir auf anderem Boden. Und daß wir auf den neuen Boden übertreten konnten in rüstiger Gesundheit und Kraft, nicht als verkümmerte historische Reliquien, sondern als lebendige Glieder am Leibe unseres Volks, daß Lübeck, Bremen und Hamburg auch in der Städtekrone des Reichs als glänzende Edelsteine leuchten, heller als die meisten Fürstensitze, das wäre doch wohl nicht geschehen, wenn am Steuer des gebrechlichen Schiffs in den Stürmen und in dem bösen Fahrwasser der Napoleonischen Periode und der Restaurationszeit ein minder trefflicher Pilot gestanden hätte, minder scharfen Blicks, minder fester Hand und minder treuen Herzens. Ja, und wer will ausrechnen, was über unser Weichbild hinaus, was für Deutschland dieses Mannes Wirksamkeit werth gewesen ist? Das läßt sich nicht mit der Elle messen und nicht mit der Wage wägen; aber will jemand es bestreiten, daß die gegenwärtige Macht des deutschen Handels und der deutschen Industrie, welche sich nunmehr stark genug zeigt, um die Gesetzgebung und die Verwaltung nach den Bedürfnissen des Verkehrs zu lenken, solche Stärke gewonnen hätte ohne die Impulse, welche fünfzig Jahre lang unablässig von den Hansestädten ausgingen, ohne den Sporn ihres Beispiels, ohne den Neid, den ihre Freiheit – mit Recht – erweckte, ohne die Hülfe ihrer Capitalkraft und ohne jenen Kranz kaufmännischer Kolonien, mit welchen sie alle Küsten der Erde umsäumten.

Wie dem auch sei, die liebevolle Verehrung, welche Smidt im Leben und über das Grab hinaus bei seinen Mitbürgern gefunden hat, ist nicht das Facit einer bloßen Berechnung, sie ist nicht einmal vorzugsweise die Frucht der Dankbarkeit, sondern sie ist erwachsen aus der Freude an dem Wesen und der Trefflichkeit des Mannes. Die Menschen vergessen leicht die empfangene Wohlthat, sie verehren nicht die bloße Geistesschärfe und Geschicklichkeit, sie errichten nicht freiwillig der herzlosen Klugheit marmorne Standbilder. Und namentlich widmen die Menschen ihr nicht, wenn sie selbst erloschen, todt und begraben ist, eine Säcularfeier. Solches Gedächtniß wird nur dem Guten und Gerechten zu Theil. Freilich, um die Aufmerksamkeit zu fesseln, die Bewunderung zu entzünden, bedarf es seltener und glänzender Geistesgaben und großer Erfolge, aber nur das lautere Gemüth und das warme Herz erwirbt jene edlere Popularität, die den Tod überlebt. Nur von dem Gerechten sagt die Schrift, daß sein Andenken in Segen bleibe, und nur dem guten Bürger reichte einst Rom den Eichenkranz. In solchen ehren wir unsere eigenen Ideale. Und so ehren wir heute nicht den gewandten Staatsmann, den kundigen Piloten, den weisen Hafengründer, – alles das ist nur das Piedestal für die Statue, – sondern wir ehren den guten Bürger, die nimmer ermüdende, nimmer verzagende Liebe seines Herzens zu dem Gemeinwesen, die volle leidenschaftliche Hingabe an ein Allgemeines, Ueberpersönliches, die eine Tugend, von welcher wir wissen, auch wenn wir sie nicht üben, sie ist das Beste auf Erden! das Beste in Kunst und Wissenschaft, im hülfreichen Streben der Menschenliebe, im Dienste der Kultur, und wahrlich vor allem auch im Staate, in der Politik. Zu leben, nicht für sich, sondern für ein höheres, das Ich überragendes, das ist das Ideal, das Heil der Staaten und Völker, selten verwirklicht, aber nie genug zu preisen, wenn es einmal als lebendiges Beispiel zu uns tritt. In reiner Vollkommenheit es darzustellen, wird keinem gelingen: Gebrechen und Mängel haften dem Besten an. Aber von ihnen brauchen wir nicht zu reden: daß sie machtlos sind, das Bild des Gefeierten dauernd zu trüben, das ist hoher Ruhm. Sechzig Jahre lang stand dieser Mann, in oft höchst schwierigen, ja verzweifelten Zeitläuften, an hervorragender Stelle, den Blicken aller ausgesetzt, von der Eifersucht und der Verkleinerungssucht bewacht, aber nicht Eifersucht, nicht Verkleinerungssucht konnten dem Lobe widersprechen: daß in den sechzig Jahren kein Tag gewesen, wo dieser Mann mehr an sich und sein Wohl gedacht hätte als an das gemeine Beste, kein Tag, der nicht uneigennützigem Bürgerdienste geweiht war. Wo sind heute die Dissonanzen, die im irdischen Dasein ihm nicht erspart bleiben konnten? wer gedenkt heute der Schwächen und Einseitigkeiten, die dem Lebenden als unseres Fleisches Erbtheil mitgegeben waren? Vor unserm Auge steht das verklärte Bild, wie die Kunst es geschaffen, im idealen Gewande, die wohlverdiente Bürgerkrone in der Hand, entrückt den zufälligen Mängeln der Zeitlichkeit. Vor unserm Ohr lösen sich die vergänglichen Dissonanzen, und dem Gedächtnisse des Gerechten ertönt auch heute wieder jener uralte Accord, den vor zwei Jahrtausenden der Dichter zum Ruhme echter Bürgergröße anstimmte, der Hymnus, an welchem die Jahrhunderte nichts verändern, der Preis des wahren Patrioten, ausharrend und treu, derselbe in Glück und Unglück, rechtschaffenen Wandels, rein von Frevel, integer vitae, scelerisque purus!


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