Otto Gildemeister
Essays - Zweiter Band
Otto Gildemeister

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Die Memoiren Talleyrands.

I.

(1891.)

Statt aller Einleitung will ich einen Auszug aus dem ersten Bande geben, die Stelle, wo Talleyrand von den Vorbereitungen für die Zusammenkunft der Kaiser in Erfurt erzählt. Man erinnere sich, daß damals, im Spätsommer 1808, Talleyrand bereits mit Napoleon auf gespanntem Fuße stand, daß er aus dem Ministerium des Auswärtigen ausgeschieden war und nur noch als Großkämmerer und Vizegroßwähler in Verbindung mit dem Hofe stand. Zu seinem Nachfolger im Ministerium hatte Napoleon Herrn de Champagny ernannt, einen guten Büreauchef, der aber für die in Erfurt zu lösende Aufgabe, den Zaren zu bezaubern, nicht ausreichte.

»Mein Antheil an dem Vertrage von Tilsit (erzählt Talleyrand), das besondere Wohlwollen, das Kaiser Alexander mir bewiesen hatte, und die Verlegenheit, in der Napoleon sich mit Herrn de Champagny befand, der, wie er sagte, jeden Morgen mit seinem Diensteifer komme, um seine gestrigen Ungeschicklichkeiten zu entschuldigen, endlich meine persönliche Verbindung mit Herrn de Coulaincourt (Botschafter am russischen Hofe), alle diese Motive veranlaßten den Kaiser, das peinliche Gefühl mir gegenüber zu überwinden und die stürmischen Vorwürfe zu vergessen, die er mir gemacht hatte, weil ich sein Unternehmen gegen Spanien tadelte. Er schlug mir also vor, ihn nach Erfurt zu begleiten und die dort beabsichtigten Unterhandlungen zu übernehmen. Ich willigte ein. Das Vertrauen, das er mir in unserer ersten Unterredung zeigte, war für mich eine Art Genugthuung. Er ließ mir die ganze Correspondenz des Herrn de Coulaincourt geben, die ich vortrefflich fand. In wenigen Stunden orientirte er mich über alle in Petersburg geführten Sachen, und ich beschäftigte mich nur noch mit den Mitteln, um, so viel an mir liege, zu verhindern, daß der Unternehmungsgeist allzu sehr in dieser seltsamen Zusammenkunft vorhersche.«

»Napoleon wollte sie sehr glänzend machen; es war ihm eigen, fortwährend mit seiner Umgebung von der ihn beschäftigenden Idee zu sprechen. Ich war noch Großkämmerer; jeden Augenblick schickte er nach mir, nach General Duroc, Großmarschall des Palastes, und nach Herrn de Rémusat, dem Intendanten der Schauspiele. Meine Reise muß sehr schön werden! wiederholte er uns täglich. Bei einem seiner Frühstücke, an dem wir drei theilnahmen, fragte er mich, welche Kammerherren den inneren Dienst versehen sollten. Mir scheint, sagte er, daß keine großen Namen da sind; die will ich; nur solche, die Wahrheit zu sagen, verstehen es, an einem Hofe zu repräsentiren; das muß man dem französischen Adel lassen, dazu ist er vortrefflich. – Sire, Sie haben Herrn de Montesquiou. – Gut. – Prinz Sapieha. – Nicht übel. – Zwei genügen wohl, da die Reise kurz ist, Ew. Majestät können sie immer bei sich haben. – Meinetwegen. ... Rémusat, ich muß täglich ein Schauspiel haben. Lassen Sie Dazincourt kommen; ist der nicht Director? – Ja, Sire. – Ich will Deutschland durch meine Pracht überraschen. – Ohne Zweifel, sagte Duroc, ist es Ew. Majestät Absicht, einige hohe Personen nach Erfurt einzuladen, und die Zeit drängt. – Einer von Eugens Adjutanten reist heute; man könnte ihm sagen lassen, was er seinem Schwiegervater insinuiren soll, und wenn einer von den Königen kömmt, werden sie alle kommen wollen. Aber nein, Eugen darf man dazu nicht gebrauchen; Eugen hat dazu nicht genug Esprit; er versteht genau zu thun, was ich will, aber zum Insinuiren taugt er nicht. Talleyrand taugt besser dazu; als Kritiker über mich, fügte er lachend hinzu, wird er sagen, daß man mir Freude mache, wenn man komme. Mir wird's hernach überlassen bleiben, zu zeigen, daß mir nichts daran liegt, ob man kömmt oder nicht, und daß es mich vielmehr belästigt hat.«

»Tags darauf ließ der Kaiser Dazincourt beim Frühstück rufen. Dazincourt, Sie wissen, daß ich nach Erfurt gehe. – Ja, Sire. – Ich will die Comédie-Française dort haben. – Soll sie Lustspiel und Tragödie spielen? – Ich will nur Tragödien; unsere Komödien würden nichts nützen; jenseits des Rheins versteht man sie nicht. – Ew. Majestät wollen gewiß eine sehr schöne Aufführung? – Ja, unsere schönsten Stücke. – Sire, man könnte Athalie geben. – Athalie! pfui doch! der Mann versteht mich nicht. Gehe ich nach Erfurt, um diesen Deutschen einen Joas in den Kopf zu setzen? Athalie! zu dumm! Lieber Dazincourt, genug davon. Benachrichtigen Sie Ihre besten tragischen Schauspieler, daß sie sich für Erfurt bereit halten; wegen der Abreise und der Stücke werde ich Ihnen meine Befehle zugehen lassen. Gehen Sie. Was diese alten Leute dumm sind! Athalie! Freilich ist es auch meine Schuld; warum frag' ich sie? Ich sollte keinen Menschen fragen. Hätte er noch Cinna gesagt; da sind große Interessen in Bewegung, und dann eine Begnadigungsscene, was immer gut ist. Ich habe fast den ganzen Cinna auswendig gewußt, aber ich habe nie gut deklamirt. Rémusat, kömmt dies nicht im Cinna vor:

Tous ces crimes d'état qu'on fait pour la couronne,
Le ciel nous en absout, lorsqu'il nous la donne?

»Ich weiß nicht, ob ich gut Verse spreche? – Sire, das ist aus Cinna, aber es heißt, glaub' ich: Alors qu'il nous la donne. [Napoleon machte einen metrischen Schnitzer.] – Wie geht es weiter? nehmen Sie einen Corneille. – Sire, es ist nicht nöthig, ich erinnere mich der Verse.

Le ciel nous en absout, alors qu'il nous la donne,
Et dans le sacré rang où sa faveur l'a mis,
Le passé devient juste et l'avenir permis.
Qui peut y parvenir ne peut être coupable;
Quoiqu'il ait fait ou fasse, il est inviolable.

»Das ist ausgezeichnet, besonders für diese Deutschen, die immer an denselben Ideen festhaften und noch von dem Tode des Herzogs von Enghien sprechen. Man muß ihre Moral größer machen. Ich denke dabei nicht an den Kaiser Alexander; einem Russen machen solche Dinge nichts aus; aber es ist gut für Leute von melancholischer Denkart, von denen Deutschland voll ist. Man wird also Cinna geben, das wäre ein Stück, und für den ersten Tag. Rémusat, Sie werden überlegen, welche Tragödien man die folgenden Tage geben könnte, aber berichten Sie mir, ehe Sie etwas anordnen.«

Ex ungue leonem, aus solchen Proben erkennt man deutlicher als aus bogenlangen Abhandlungen, weshalb die Franzosen nach dem Erscheinen der Talleyrandschen Aufzeichnungen erklärten, daß ihre ohnehin so reiche Memoirenlitteratur um ein Werk bereichert sei, das sich den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint-Simon an die Seite stelle. Meines Erachtens steht das neue Werk dem alten doch insoweit voran, als die Ereignisse und die geistige Höhe des Verfassers in Betracht kommen. So wenig das Zeitalter Ludwigs XIV. sich mit dem der Revolution, so wenig der große Monarch sich mit Napoleon messen kann, so wenig läßt sich der mißvergnügte Chronikenschreiber des Versailler Hofes mit dem activen Minister vergleichen, der während der ereignißvollsten Zeiten mitten in den Geschäften der großen Politik gestanden hat, als einflußreichster Rathgeber und Unterhändler bald, und bald – in dem Jahre nach Napoleons Sturz – geradezu als Leiter der Geschicke Frankreichs. Saint-Simon ist fast immer nur Zuschauer, Talleyrand ist Mitspielender, und er spielt eine Hauptrolle. Das giebt seinen Aufzeichnungen einen Charakter natürlicher Ueberlegenheit, die ohne irgend eine Anstrengung dem Leser imponirt und ihn doch nie verdrießlich stimmt. Man beachte, wie diese stille Ueberlegenheit in dem Genrebilde, das ich extrahirt habe, sich bemerklich macht, wie der Erzähler, während er nur eine merkwürdige Frühstücksscene zu schildern scheint, zugleich mit nachlässig hingeworfenen Strichen seine eigene Stellung neben Zar und Kaiser, in gewissem Sinne sogar über ihnen, als des vernünftigen Moderators, wirksam hervortreten läßt, und wie er, ohne es zu sagen, die kleine Scene benutzt, um den Charakter des Despoten, den er zu bändigen umsonst versucht hatte, zu beleuchten.

Der kleinen Scene möge eine große folgen, die Talleyrand mit Empfindungen angeblickt hat, wie man sie ihm vielleicht nicht zugetraut hätte.

»Der Kaiser kam am 27. September 1808 in Erfurt an. Schon Tags zuvor umgab eine zahllose Menge die Anfahrt zu seinem Palais. Jeder wollte den sehen, dem sich nähern, der alles austheilte, Throne und Elend, Befürchtungen und Hoffnungen. Die drei Menschen, die auf Erden die meisten Lobeserhebungen empfangen haben, sind Augustus, Ludwig XIV. und Napoleon. Die Epochen und das Talent haben dem Lobe verschiedene Fassungen gegeben, aber die Sache bleibt dieselbe. Meine Stellung als Großkämmerer gab den erzwungenen, den geheuchelten und selbst den aufrichtigen Huldigungen, die man dem Kaiser darbrachte, weil ich sie in größerer Nähe sah, in meinen Augen monströse Verhältnisse. Die Gemeinheit hatte nie so viel Genie gehabt; sie lieferte den Gedanken, auf dem Terrain, wo der Kaiser die Schlacht bei Jena gewonnen hatte, eine Jagd zu geben. Eine Metzelei von Sauen und Rothwild diente dazu, in den Augen des Siegers die Erinnerung an jenen Waffenerfolg zu erneuern. Mehrere Male habe ich bemerken müssen, daß man, je mehr man dem Kaiser zu grollen Anlaß hatte, desto mehr seinem Glück lächelte, desto mehr den hohen Geschicken Beifall spendete, die ihm, wie man sagte, der Himmel bestimmt habe.

»Ich bin versucht zu glauben, und der Gedanke ist mir in Erfurt gekommen, daß es Geheimnisse der Schmeichelei giebt, keinem offenbart als solchen Fürsten, die nicht vom Thron gestiegen sind, die aber ihren Thron einem immer drohenden Protektorat unterworfen haben. Sie verstehen es, den geschicktesten Gebrauch davon zu machen, wenn sie sich in der Nähe der Macht befinden, die sie beherscht und sie zerstören kann. Ich habe oft den Vers irgend einer schlechten Tragödie citiren hören: Tu n'as su qu'obéir, tu serais un tyran. Ich bin in Erfurt keinem Fürsten begegnet, von dem ich nicht lieber gesagt hätte: Tu n'as su que régner, tu serais un esclave. Und das erklärt sich. Mächtige Souveräne wollen, daß ihr Hof die Größe ihres Reiches veranschauliche; kleine Fürsten dagegen wollen, daß ihr Hof ihnen die engen Grenzen ihrer Macht verstecke. Um einen kleinen Souverän wird alles aufgebauscht, Etikette, Diensteifer, Schmeichelei; vornehmlich an den Schmeicheleien mißt er seine Größe; er findet sie nie übertrieben. Diese Gewöhnung seines Urtheils wird ihm natürlich, und er ändert sie nicht, wenn das Glück wechselt; führt der Sieg in seinen Staat, in seinen Palast einen Mann, vor dem er selbst nur noch ein Höfling sein wird, so stellt er sich zu dem Sieger so tief, wie er seine Unterthanen unter sich sehen wollte. Einen anderen Begriff hat er nicht von der Schmeichelei. Man kennt an den großen Höfen ein anderes Mittel, um sich selbst größer zu machen: man bückt sich; die kleinen Fürsten verstehen nur sich auf die Erde zu werfen, und da bleiben sie liegen, bis das Glück sie wieder aufrichtet. Ich habe in Erfurt keine einzige Hand die Mähne des Löwen mit Anstand streicheln gesehen.«

Hiernach begreift man, mit welcher innerlichen Erquickung Talleyrand unserem trefflichen Wieland zugehört hat, als er in seiner edlen Unschuld dem Löwen die Wahrheit über Tacitus sagte. Alle Zeitungen haben mit Recht sich beeilt, den Bericht Talleyrands über diese denkwürdige und köstliche Scene mitzutheilen. Die Art, wie der Erzähler sich ausdrückt, verräth, allerdings nur mit Untertönen, nur dem aufmerksamen Ohr eine gewisse Freude an den besseren Seiten der menschlichen Natur, an unabhängiger Gesinnung, an vornehmer Haltung, und sogar eine starke Antipathie gegen den bornirten und frivolen Egoismus der Mächtigen, die mit dem Glück der Völker spielen, um sich angenehm zu erregen. Man fragt sich befremdet, ob der Mann, der jetzt spricht, derselbe ist, dessen Name wie der Name Machiavels beinahe gleichbedeutend geworden ist mit politischer Unsittlichkeit und vielleicht noch einen übleren Klang hat als der des Florentiners, weil die moralische Indifferenz des letzteren, die doch nur theoretisch sich kundgab, in Talleyrand zur Praxis geworden zu sein schien. Vielleicht ist das landläufige Urtheil doch ein wenig zu summarisch ausgefallen. Ueber Machiavel hat man bekanntlich günstiger zu denken gelernt, seitdem man außer dem Principe noch andere Werke seiner Feder zu lesen anfing und namentlich seit man sich gewöhnte, die Zeit, in der, und die Menschen, mit denen er lebte, in Betracht zu ziehen. Möglich, daß auch Talleyrands Leumund gewänne, wenn man sich mehr, als es zu geschehen pflegt, vergegenwärtigte, wo, wie und wann er heranwuchs, durch welche politische Schule er ging, unter welchen Ereignissen und Umständen er sein Tagewerk verrichtete.

Die große Menge, wenn man sie nach Talleyrand fragt, wird antworten: er hat ein halbes Dutzend falscher Eide geschworen, er ist seiner Kirche abtrünnig geworden, er hat alle Regierungen, denen er diente, verrathen, er hat Deutschland und Preußen um den wohlverdienten Siegespreis geprellt, er hat ein kolossales Privatvermögen zusammengeraubt, er hat ein epicuräisches und galantes Leben geführt und er hat gelehrt, daß dem Menschen die Sprache gegeben sei, um seine Gedanken zu verbergen. Wie die Kirche, der er abtrünnig wurde, aussah; wie die Regierungen, die er verrieth, beschaffen waren; welche Verpflichtungen er gegen Deutschland und Frankreich hatte; welche Gewohnheiten und Anschauungen vor hundert Jahren hinsichtlich der Bereicherung der Staatsmänner bestanden; welchen Werth die Zeit- und die Standesgenossen auf Sittenstrenge legten, – diese und ähnliche wohl aufzuwerfende Fragen werden in der Regel nicht weiter erörtert. Es ist das merkwürdige Schicksal des merkwürdigen Mannes gewesen, mit seiner ausgezeichneten Intelligenz und Kaltblütigkeit lauter Regierungen zu dienen, die sich durch Verblendung, Unfähigkeit oder Leidenschaft ruinirten und zugleich das Land zu ruiniren drohten; bei jeder der fünf oder sechs Katastrophen hatte er den Bankrott kommen sehen und rechtzeitig sich eingerichtet, aus der Masse zu retten, was zu retten war, damit ein lebensfähiger Geschäftsnachfolger es möglich finde, die Firma Frankreich fortzusetzen, und die Folge ist gewesen, daß auf sein Haupt die sämmtlichen Bankrottirer, das Ancien Régime, die Republik, das Directorium, die Bonapartisten und die Restauration die Schalen ihres Zorns entleert haben. Unter den Geschichtsschreibern seines Landes hat er keinen Vertheidiger gefunden, der diesem Consensus der Parteien Trotz zu bieten gewagt hätte, und unter den deutschen Historikern hat keiner es vergessen können, daß Talleyrand auf dem Wiener Congresse mehr an die französischen als an die deutschen Interessen gedacht hat. Am gerechtesten und unbefangensten hat über ihn ein englischer Schriftsteller, Sir Henry Lytton Bulwer, geschrieben.

Man erwartet natürlich in den Memoiren einen breiten Platz der Selbstvertheidigung angewiesen zu sehen, aber man sieht sich getäuscht. Nur ab und an fließt eine gelegentliche und gelassene Abwehr ein, da z. B., wo er erzählt, wie er als Minister unter dem Directorium eigentlich nur die ihm fertig zugestellten Schriftstücke zu expediren hatte, günstigsten Falls die Fassung etwas mildern konnte.

»Ich adelte diese seltsame Stellung, indem ich den andern, ein bischen auch mir selbst sagte, daß jeder Fortschritt zur Ordnung im Innern unmöglich sei, solange man nicht draußen Frieden habe, und daß ich, einmal zur Mitarbeit berufen, darauf alle meine Bemühungen richten müsse. Ich weiß, daß einige Leute (nicht damals, aber seit der Restauration) gefunden haben, daß es Unrecht sei, in Revolutionszeiten, wo das unbedingt Gute unmöglich werde, ein Amt anzunehmen. Mir ist es immer so vorgekommen, als liege eine gewisse Oberflächlichkeit in dieser Art zu urtheilen. In den Geschäften dieser Welt darf man sich nicht allein an den Augenblick halten. Das, was ist, ist sehr wenig, wenn man nicht bedenkt, daß aus dem, was ist, entsteht, was sein wird . ... Es ist nicht immer persönliche Berechnung, was die Menschen veranlaßt, ein Amt anzunehmen, und ich könnte sagen, daß man ein sehr großes Opfer bringt, wenn man einwilligt, verantwortlicher Herausgeber der Werke anderer Leute zu sein. Egoismus und Furcht haben nicht so viel Entsagung; aber man muß sich sagen, daß, wer in Zeiten des Umsturzes seine Thätigkeit verweigert, der gewährt den Zerstörern eine Leichtigkeit mehr. Man übernimmt das Amt nicht, um Menschen und Dingen, die uns mißfallen, zu dienen, sondern damit sie zum Vortheil der Zukunft dienen.«

In den meisten Fällen beschränkt der Verfasser sich darauf, die Dinge, wie sie ihm erschienen, darzustellen und dem Leser die Nutzanwendung zu überlassen. Zu viel von der eigenen Person zu reden, erlaubte dem Sohne des achtzehnten Jahrhunderts die gute Lebensart nicht. Den weitaus breitesten Raum nehmen die geschichtlichen Ereignisse ein; die Jugendzeit und die Jahre vor der Revolution werden mit kurzer Skizzirung abgefertigt. Diese Skizzen sind so gezeichnet, daß wir bedauern, nicht mehr ihrer Art zu finden.

Die Memoiren beginnen so nüchtern und knapp wie Cäsars gallischer Krieg: »Ich bin 1754 geboren; meine Eltern hatten wenig Vermögen; sie hatten eine Hofstellung, die zu allem führen konnte, sie und ihre Kinder.« Sie hatten wenig Vermögen, das heißt, sie gehörten nicht zu den subalternen Familien, die schon seit Generationen sich zum Hofdienst gedrängt und die Gunst der Könige ausgemünzt hatten. Die »großen Häuser« kamen später, und zu ihnen gehörte das »Haus« Talleyrand-Périgord. Ihr Stolz machte sie dem Monarchen minder angenehm. Unter Ludwig dem Fünfzehnten hatten sie sich bereits vollständig an die Atmosphäre von Versailles gewöhnt: »sie begriffen keine Macht, keinen Glanz, die nicht vom König ausflossen.« Das war der Anfang der Laufbahn, die von ihrem Ursprunge so weit abführen sollte. Aber der Ursprung ist doch nicht ohne Nachwirkung geblieben: das Selbstgefühl und die überlegene Sicherheit des Grand seigneur, ohne die Talleyrands Erfolge und seine europäische Stellung kaum sich hätten erreichen lassen, sie stammen daher. Von Erziehung war damals in den vornehmen Häusern nicht viel die Rede: »man überließ sie ein wenig dem Zufall; die Hauptsache war, es so zu machen wie alle Welt. Viel Sorgfalt hätte man pedantisch, stark betonte Zärtlichkeit geschmacklos gefunden. Kinder waren Erben des Namens und des Wappens. Man glaubte für sie genug gethan zu haben, wenn man ihnen Beförderung, Stellen, Anwartschaften besorgte, sich mit ihrer Verheirathung beschäftigte, ihr Vermögen verbesserte. La mode des soins paternels n'était pas encore arrivée. Die Mode war vielmehr in meiner Kindheit das gerade Gegentheil.« Er verbrachte seine vier ersten Lebensjahre bei einer Wartefrau, die ihn eines Tages von einer Kommode fallen ließ und es verschwieg, daß der eine Fuß ausgerenkt war. Als man später den Schaden bemerkte, war es zu spät zur Heilung: »je suis resté boiteux.« Mit diesen vier Worten und keiner Silbe mehr resumirt der Verfasser den Unglücksfall, der über sein Schicksal entschied und den er achtzig Jahre lang täglich zu beklagen hatte. Das nenne ich guten Geschmack.

»Man schickte mich nach Périgord zu meiner Großmutter Madame de Chalais, die nach mir verlangt hatte. Obgleich sie meine Urgroßmutter war, habe ich sie immer meine Großmutter genannt, ich glaube, weil dieser Name mich ihr näher rückte.« Diese alte Dame, eine Tochter des Herzogs von Mortemart, war in zweiter Ehe mit Talleyrand, Fürsten von Chalais, Granden von Spanien, verheirathet gewesen; sie scheint in dem Stammschlosse der Familie ihren Witwensitz gehabt zu haben. Ihr Geist, ihre Sprache, ihre Manieren, ihre Stimme, sagt der Verfasser, hatten einen großen Zauber. »Sie war die erste Person meiner Familie, die mir Herzlichkeit zeigte, die erste auch, die mich das Glück zu lieben kennen lehrte. Dank sei ihr! ... Jawohl, ich liebte sie sehr! Ihr Andenken ist mir noch theuer. Wie oft in meinem Leben hab' ich sie vermißt! Wie oft hab' ich es bitter empfunden, welchen Werth aufrichtige Herzlichkeit, die man in der eigenen Familie fände, besitzen müßte. Solche Herzlichkeit neben sich zu wissen, ist in den Mühen des Lebens ein großer Trost, und ist man getrennt, so bleibt sie eine Erquickung für Geist und Herz und ein Asyl für die Gedanken.«

Dies ist siebenzig Jahre nach dem Besuche bei der »Großmutter« geschrieben; wie tief der Eindruck war, sieht man aus der Schilderung, die der Greis nach sturmbewegtem Leben von der Existenz seiner ehrwürdigen Ahnfrau entwirft. Was an liebenswürdigen Seiten mit der Feudalität verknüpft war, hatte sich unauslöschlich seinem Gedächtnisse eingeprägt. Alte Leute, deren Laufbahn beendigt war, zogen sich gern in die Provinz zurück, die einst die Größe ihrer Familie gesehen hatte. Die Erinnerungen des Landes, die Ehrfurcht der adlichen Familien geringeren Ranges schufen ihnen eine hervorragende Stellung. Sie ihrerseits, die Ersten in ihrer Provinz, »hätten sich für entehrt gehalten, wenn sie nicht höflich und wohlthätig gewesen wären.« Die angesehenen Nachbarn umgaben die alte Herrenfamilie wie ein freiwilliger Hof, die Bauern sahen ihre Herrschaft nur, wenn sie Hülfe und Trost brauchten. »Die Sitten des Adels in Périgord glichen seinen alten Schlössern; sie hatten etwas großes und dauerhaftes; das Licht drang nur wenig ein, aber es kam milde. Man schritt mit einer heilsamen Langsamkeit fort, einer helleren Civilisation entgegen.«

Sonntags begab sich Madame de Chalais in seidenem Spitzenkleide, begleitet von den ergrauten Kavalieren der Nachbarschaft, zur Kirche; neben ihrem Betstuhle hatte der Urenkel sein Schemelchen. Nach der Messe begab sich die ganze adliche Gesellschaft ins Schloß zurück, um sich dem Krankendienste zu widmen. Ein großer Raum war als Apotheke eingerichtet; da thronte in einem grünen Sammetfauteuil hinter einem großen schwarzlackirten Tische die Schloßherrin: im Vorzimmer warteten die Kranken. Die älteste Kammerfrau ließ einen nach dem andern der Hülfesuchenden in die Apotheke; zwei barmherzige Schwestern fungirten als Sachverständige: nach ihren Angaben mußten die Kavaliere Töpfe und Flaschen, Charpie und Leinwand von den Gestellen und aus den Schränken herbeiholen. Die alte Dame schnitt selbst die Kompressen und Verbandstreifen, deren man bedurfte, und ließ dem Kranken allerlei Gutes, Kräuter, Wein, Drogen, mit auf den Weg geben. Und jedem gab sie ein gutes und freundliches Wort zum Abschiede. Manche Heilstätten für arme Leute, bemerkt Talleyrand, mögen von gelehrteren Aerzten verwaltet werden, »aber den meisten fehlen die großen Heilmittel für das Volk, Zuvorkommenheit, Achtung, Vertrauen und Dankbarkeit. Die Seele regiert den Leib; der Verwundete, in dessen Schaden man einigen Trost gießt, der Kranke, dem man die Hoffnung zeigt, ist bereit zur Genesung; sein Blut kreist besser, seine Säfte läutern sich, seine Nerven beleben sich, der Schlaf kömmt wieder, und der Körper gewinnt seine alte Kraft.«

Bis zu seinem neunten Jahre blieb der Knabe auf dem alten Familiengute; überall begegneten ihm die Leute mit respectvoller Zutraulichkeit; fortwährend hörte er Worte wie »diese Kirche hat der Herr Großvater gebaut,« »er hat uns dies Land gegeben,« »unsere Familie hat von je her einem Mitgliede Ihres Hauses gedient,« »gute Bäume schlagen nicht aus der Art; Sie werden auch gut bleiben, nicht wahr?« Diesen ersten Jahren, meint Talleyrand (man stutzt ein wenig), verdanke er wahrscheinlich »l'esprit général de sa conduite.« »Wenn ich Gefühle des Wohlwollens, selbst der Zärtlichkeit, ohne viel Vertraulichkeit gezeigt, wenn ich in verschiedenen Umständen einige Höhe der Gesinnung ohne Hochmuth bewahrt habe, wenn ich die alten Leute liebe und ehre, so hab' ich das in Chalais gelernt, bei meiner Großmutter. Es giebt ein Erbgut an Gefühlen, das sich von Geschlecht zu Geschlecht mehrt, dessen Schönheit die neuen Größen noch lange Zeit nicht kennen werden. Die besten unter ihnen protegiren zu sehr.« Ich sage, man stutzt ein wenig, wenn man »den alten Sünder« so fein reden hört, aber ich kann mich nicht entschließen, das alles für Phrase zu halten.

Direct von der Großmutter ward der Knabe nach Paris in die Schule, ins Collège d'Harcourt gebracht. Es war ein Alumnat; nur Sonntags speiste er bei den Eltern; nach Tische entließ man ihn regelmäßig mit den Worten: »sei artig, mein Sohn, und mache, daß der Herr Abbé mit dir zufrieden ist.« Ich sollte vielleicht übersetzen »mit Ihnen zufrieden,« denn damals gaben die Väter den Söhnen noch das Vous. Drei Jahre scheint der kleine Junker harmlos und heiter verlebt zu haben; dann bekam er die Blattern. Die Eltern schickten eine Sänfte und ließen ihn in ein Privatlazareth bringen. Hier ward er hinter dicht verklebten Fenstern, hinter doppelten Vorhängen, bei starkem Kaminfeuer mit hitzigen Getränken behandelt, aber er genas trotz alledem und trug nicht einmal eine Narbe davon. Aber die Krankheit hatte andere tiefe Wirkungen. »Während der Genesung erstaunte ich über meine Lage. Die geringe Theilnahme, die ich während der Krankheit gefunden hatte, mein Eintritt in die Schule, ohne meine Eltern gesehen zu haben, einige andere trübe Erinnerungen verwundeten mein Herz. Ich fühlte mich vereinsamt, ohne Stütze, stets auf mich selbst zurückgewiesen; darüber beklag' ich mich nicht, denn ich glaube, dies stete Einkehren in mich selbst hat meine Kraft nachzudenken schneller entwickelt. Den Schmerzen meiner Knabenjahre verdankte ich die Gewöhnung, tiefer zu denken, als ich es vielleicht bei mehr Zufriedenheit gethan hätte. Möglich auch, daß sie mich gelehrt haben, die Zeiten des Unglücks mit leidlicher Gleichgültigkeit zu ertragen, nur beschäftigt mit den Hülfsquellen, die ich in mir selbst zu finden zuversichtlich hoffte. Eine Art Stolz macht es mir angenehm, an diese ersten Zeiten meines Lebens zurückzudenken. Ich habe später begriffen, daß meine Eltern, als sie einmal im vermeintlichen Familieninteresse beschlossen hatten, mich einem Berufe, für den ich nicht die geringste Neigung zeigte, zuzuführen, sich den Muth, bei diesem Entschlusse zu bleiben, nicht zutrauten, wenn sie mich allzu oft sähen. Diese Besorgniß ist ein Beweis von Zärtlichkeit, für die ich ihnen gern Dank weiß.«

Um ihm Geschmack an der geistlichen Laufbahn beizubringen, schickte man ihn nach Rheims, wo sein Oheim Alexander de Talleyrand als Coadjutor des Fürsterzbischofs eine prächtige und üppige Existenz führte. Man suchte ihn zu verführen, indem man ihm die Denkwürdigkeiten der großen Kardinale Richelieu, Retz, Ximenez in die Hand gab. Aber es half wenig; das Leben an dem weibischen Prälatenhofe war ihm unerträglich; »mit funfzehn Jahren, wo das Herz noch ehrlich ist,« begreift man nicht, »daß es eine höchst einfache Sache ist, in einen Beruf einzutreten, um einen andern auszuüben, die Rolle der Weltentsagung zu übernehmen, um desto sicherer der Laufbahn des Ehrgeizes zu folgen, ins Seminar zu gehen, um Finanzminister zu werden.« Ob einfach oder nicht, die Sache war nicht zu ändern, und wenn er kein Mittel des Widerstandes sah, hat Talleyrand sein Leben lang das Nachgeben vorgezogen: »ich konnte meinem Schicksal nicht entgehen, mein ermüdeter Geist ergab sich in das Unvermeidliche; ich ließ mich in das Seminar von Saint-Sulpice führen.« So wurde das Weltkind in den Bannkreis der Kirche genöthigt, knirschend und halbverzweifelt; es ist nicht so sehr zu verwundern, daß er die Gelegenheit, die ihm die Revolution bot, eifrig ergriff und benutzte, wieder ins Freie zu gelangen.

Im Seminar erhielt Talleyrand seine erste »wahrhaft nützliche Erziehung.« Sie hatte sehr wenig Geistliches an sich, und sie wurde im wesentlichen von ihm selbst besorgt. Während der drei Jahre, vom siebenzehnten bis zum neunzehnten, die er in Saint-Sulpice verlebte, verbrachte er die Tage vorzugsweise mit Lesen. Die Bibliothek war reichhaltig und wohlgeordnet. Er lernte die großen Historiker, die Biographien der bedeutenden Staatsmänner, die Moralisten, einige Dichter kennen. Er verschlang die Reisebeschreibungen, namentlich wenn sie von Ländern sprachen, wo große Umwälzungen und Katastrophen stattgefunden hatten. »Dann schien meine Lage mir minder unwiderruflich.« Auch ihn konnte ja nur eine große Umwälzung aus den geistlichen Ketten befreien, deren Last ihn äußerst unglücklich machte und mit tiefem Groll erfüllte. Er glaubte, in den Augen der anderen zu nichts gut zu sein, während er in sich selbst mit großer Lebhaftigkeit die Kraft fühlte, gute und sogar edle Dinge zu vollbringen. Dies Gefühl erweckte manchmal Vorahnungen, die einen unerklärlichen Zauber hatten. Inmitten seiner Umgebungen blieb er einsam; seine Lectüre war immer »ein tête-à-tête mit dem Autor.« Aber das gedieh seiner geistigen Entwicklung zum Vortheil: »Da ich meinen Autor nur mit meinem eigenen Urtheil beurtheilen konnte, so begegnete es mir, wenn wir verschiedener Meinung waren, fast immer, daß ich dachte, ich hätte Recht. So blieben meine Gedanken meine; die Bücher haben mich aufgeklärt, aber nie unterjocht. Eine solche Erziehung, die man ganz aus sich selbst schöpft, muß einigen Werth haben. Wenn die Ungerechtigkeit unsere Fähigkeiten entwickelt, ohne sie allzu sehr zu verbittern, so wird man den starken Gedanken, den hohen Gefühlen, den Schwierigkeiten des Lebens gegenüber unbefangener.« Sollte in dieser beiläufigen Bemerkung nicht mehr pädagogischer Sinn stecken als unsere Schulweisheit sich träumen läßt?

Die jugendlichen Bekenntnisse wären zu einseitig ohne das folgende, das mir, was Vortrag betrifft, ein Muster guten Geschmacks zu sein scheint.

»Der Zufall führte eine Begegnung herbei, die auf meine damalige Stimmung von Einfluß war. Ich denke mit Vergnügen daran, weil ich wahrscheinlich es ihr verdanke, daß ich nicht alle Wirkungen tiefster Schwermuth zu kosten hatte. Ich hatte das Alter der geheimnißvollen Offenbarungen der Seele und der Leidenschaften erreicht, den Zeitpunkt des Lebens, wo alle Fähigkeiten thätig und überströmend sind. Mehrmals hatte ich in einer Capelle der Kirche Saint-Sulpice ein schönes junges Frauenzimmer bemerkt, dessen einfaches, sittsames Wesen mir ausnehmend gefiel. Mit achtzehn Jahren, wenn man unverdorben ist, wird man durch solche Eigenschaften gewonnen; ich wurde pünktlicher bei den großen Messen. Eines Tages, als sie die Kirche verließ, machte ein starker Regen mir Muth, ihr meine Begleitung anzubieten, wenn sie nicht zu weit entfernt wohne. (Zeigt sich nicht in dieser Klausel die Klugheit des künftigen Diplomaten, der sich im voraus gegen alle Eventualitäten zu sichern sucht?) Sie nahm die Hälfte meines Schirms an. Ich führte sie nach der Rue Férou, wo sie wohnte; sie erlaubte mir, miteinzutreten, und ohne alle Verlegenheit, wie ein ganz reines junges Frauenzimmer, forderte sie mich auf, wiederzukommen. Ich kam anfänglich jeden dritten oder vierten Tag, hernach öfter. Ihre Eltern hatten sie gegen ihren Willen gezwungen, auf die Bühne zu gehen, ich war gegen meinen Willen im Seminar. Diese Tyrannei des Eigennutzes und des Ehrgeizes, unter der wir beide litten, stiftete zwischen uns ein rückhaltloses Vertrauen. Alle meine Schmerzen und Verstimmungen, alle ihre Widerwärtigkeiten erfüllten unsere Gespräche. Man hat mir später gesagt, daß sie nicht sehr geistreich sei; obgleich ich sie zwei Jahre lang beinahe täglich sah, hab' ich es nie bemerkt. Durch ihren Einfluß wurde ich, selbst für das Seminar, liebenswürdiger oder wenigstens erträglicher. Die Oberen mußten wohl einigen Verdacht hegen, was mich dem gewöhnlichen Leben wieder näher brachte und mir sogar einige Fröhlichkeit einflößte. Aber der Abbé Couturier (der Chef des Seminars) hatte sie die Kunst, die Augen zu schließen, gelehrt; er hatte sie angewiesen, niemals einem jungen Seminaristen Vorwürfe zu machen, der nach ihrer Ansicht bestimmt sei, hohe Aemter zu bekleiden, Coadjutor von Reims zu werden, vielleicht Cardinal, vielleicht Minister, vielleicht Ministre de feuille (d. h. Verwalter der königlichen Patronatsrechte). Was kann man wissen?«

Die erste Liaison Talleyrands ist die einzige, deren in den Memoiren Erwähnung geschieht; die junge Dame, von der er hier spricht (ich habe den Namen vergessen), gehörte zum Théâtre français; sie eröffnet eine lange Reihe schöner, liebenswürdiger, geistreicher Frauen, die in dem Leben des Verfassers eine mehr oder minder bedeutende Rolle gespielt haben, aber, so viel ich weiß, nie eine politische. Er nennt von ihnen allen nur diejenigen – und ihrer ist eine große Zahl – mit denen ihn eine reine Freundschaft verband, Damen der großen Welt, deren manche auf dem Schaffott heldenmüthig gestorben sind, andere das bittere Brot des Exils gegessen haben.

Im Jahre 1775 trat der Seminarist in die Sorbonne. Uns klingt das Wort wie der Inbegriff finsterer scholastischer Grübeleien und fanatischer Theologeneifersucht, aber das leichtlebige Jahrhundert hatte selbst in diese dunklen Hallen seinen lustigen Kerzenschimmer geworfen. »Zwei Jahre verbrachte ich dort mit allem anderen als mit Theologie,« so berichten die Memoiren; »das Vergnügen nimmt im Tagewerk eines jungen Baccalaureus viel Platz ein, und auch der Ehrgeiz fordert einige Augenblicke; das Andenken des Cardinals Richelieu, dessen schönes Mausoleum in der Kirche der Sorbonne stand, war in dieser Beziehung nicht entmuthigend. Ich kannte den Ehrgeiz nur erst in der guten Bedeutung; ich wollte zu alle dem gelangen, was ich gut leisten zu können glaubte.«

Auf die Sorbonne folgte die Freiheit. »Wer nicht die zwölf Jahre vor der Revolution in der Gesellschaft von Paris gelebt hat, der kennt das Glück nicht,« hat Talleyrand später einmal geäußert. Mit den eleganten Zerstreuungen einer raffinirten Civilisation vereinigte sich eine neue Trunkenheit der Geister, die einer unbekannten Zukunft hoffnungsvoll entgegenschwärmten. Der König verlieh dem jungen Abbé de Périgord die Abtei Saint-Denys in Reims und damit die Mittel, in Paris einen standesgemäßen Haushalt zu führen. Die glänzendsten Salons öffneten sich dem Neuangekommenen, der schnell den Ruf eines der geistreichsten Plauderer erwarb; um seinen Frühstückstisch versammelten sich die Koryphäen der adlichen Jugend, die den Genuß der Gegenwart durch den Traum der Zukunft würzten und verklärten. Choiseul, »der Mann, den ich am meisten geliebt habe,« Narbonne, der famose Lauzun, der Poet Delille, Chamfort, Mirabeau gehörten zu den Gästen der Tafel, an der Talleyrand präsidirte. »Man sprach ein wenig von allem und mit der größten Freiheit. Es gab Genuß und Belehrung für uns alle, in Wirklichkeit einigen Ehrgeiz in Perspective. Es waren ausgezeichnete Vormittage, für die ich noch heute (d. h. ich Siebenziger) Geschmack haben würde.« Man erörterte nicht allein die frivolen Interessen der Gesellschaft, die Hofgeschichten, die Theater, sondern auch Politik, Verwaltungsreform, Finanzen, den neuen Handelsvertrag mit England (1786). Auch in die Salons drang die Politik ein; die einen waren der Königin ergeben, die anderen huldigten »den neuen Ideen.« Wer die liberalen Salons vorzog, mußte auf das Lächeln Marie Antoinettes verzichten; Talleyrand gehörte zu denen, die in Versailles wie Luft behandelt wurden.

Er war keineswegs einer von den Freiheitsschwärmern, wie sie damals unter den vornehmen Franzosen zahlreich waren, die sich an schönen Idealen ergötzten, ohne zu fragen, ob sie und wie sie sich verwirklichen ließen. Er erkannte, daß eine Reform an Haupt und Gliedern nothwendig sei, daß der Thron sich mit gewählten Körperschaften umgeben müsse, daß das Deficit zu beseitigen und eine solide Finanzordnung unentbehrlich sei. Aber er erkannte auch die ungeheuren Schwierigkeiten und Gefahren der Cur, und er sah mit klarem Blicke, wie die Maßregeln der Regierung die Krankheit von Jahr zu Jahr verschlimmerten. Seiner Eigenart, die sich später in großen Krisen wiederholt bethätigt hat, entsprach es, sich ohne Vorurtheil und Täuschung alle Schwächen der Situation zu vergegenwärtigen, dagegen die vorhandenen Hülfsquellen und Rettungsmittel zu berechnen und danach, unbekümmert um Tradition und Pietätsrücksichten, den Plan zu entwerfen: dies muß geschehen, wenn wir nicht dem Chaos verfallen wollen. Er arbeitete allerlei Projecte aus, z. B. wie die Reichthümer der Geistlichkeit, die man auf zwei Milliarden schätzte, für die Heilung der Staatsfinanzen nutzbar gemacht werden könnten, ohne doch das Eigenthumsrecht der Kirche anzutasten und den Cultus zu schädigen. Er arbeitete Denkschriften über den Getreidehandel und andere brennende Tagesfragen aus. Aber sein Einfluß reichte damals nicht weit genug, um solche Vorschläge in den entscheidenden Kreisen zur Annahme zur bringen. Regierung, Adel und Geistlichkeit trieben mit geschlossenen Augen in den Strudel, der sie verschlingen sollte.

Talleyrand trat als Deputirter der Geistlichkeit (er war mittlerweile Bischof von Autun geworden), in die Versammlung der Generalstände ein. Es entging ihm nicht, daß die Reform in eine Revolution umschlagen müsse, wenn die Krone nicht mit Entschiedenheit dem dritten Stande, der mehr und mehr sich in die Rolle des Inhabers der Souveränität hineinlebte, entgegentrete. Er hielt einen solchen Widerstand selbst dann noch für möglich, nachdem der dritte Stand die beiden anderen Curien lahm gelegt und sich mit den Uebergängern der Geistlichkeit und des Adels in die constituirende Nationalversammlung verwandelt hatte. Zu den Uebergängern gehörte auch Talleyrand. Nachdem einmal die beiden ersten Stände vom Hofe preisgegeben waren, hielt er es für den einzigen vernünftigen Schritt, der noch übrig blieb, freiwillig zu thun, was sich nicht abwenden ließ, nachzugeben, so lange das Nachgeben noch als verdienstlich galt. »Dadurch konnte man verhindern, daß alles sogleich auf die Spitze getrieben werde, man zwang den dritten Stand, Rücksichten zu nehmen, man gewann Zeit, was oft so viel heißt, wie alles gewinnen, und wenn es überhaupt ein Mittel gab, Terrain zurückzuerobern, so war dies Mittel das einzige, das sich darbot.« Seine Meinung war, der König solle, unter Aufrechthaltung aller liberalen Zugeständnisse, die Nationalversammlung auflösen und an die Nation appelliren. Seine Ueberzeugung war, daß eine constitutionelle Erbmonarchie, obwohl neun Zehntel der Nation und der Versammlung selbst sie wollten, unvereinbar sei mit dem Gange, den die Verfassungsarbeiten nahmen. Mit der Versammlung über ihre angebliche Souveränität zu rechten, hätte nichts geholfen. Aber der König konnte sagen:

»Ihr setzt als Princip, daß dem Volke die Souveränität gehöre, und ihr setzt als Thatsache, daß es euch die Ausübung der Souveränität ohne Einschränkung übertragen habe. Ich habe dabei meine Zweifel, um nicht mehr zu sagen. Diese Frage muß durchaus entschieden werden, ehe wir weitergehen. Ich verlange nicht, darüber Richter zu sein, und ebenso wenig könnt ihr es sein; das Volk aber ist ein Richter, den ihr nicht ablehnen könnt. Ich werde es befragen, seine Antwort soll unser Gesetz sein.«

Alle Wahrscheinlichkeiten sprechen dafür, so meint Talleyrand, daß damals, wo die revolutionären Ideen noch nicht in die Massen eingedrungen, die revolutionären Interessen noch nicht entstanden waren, das Volk die Usurpation der Versammlung verleugnet haben würde. Nichts wäre dann leichter gewesen als sie aufzulösen; einmal verdammt, wäre die revolutionäre Doctrin für alle Zeit verdammt gewesen. Hätte dagegen das Volk sie gut geheißen, so war der Monarch frei von Verantwortlichkeit; die Folgen trafen mit Recht das Volk, das sich vor ihnen schützen konnte und es nicht wollte. Auch in diesem Falle wäre das Uebel nicht so groß geworden, wie es wurde; man hätte es in seiner wahren Natur erkannt, sich keinen Täuschungen hingegeben, es nicht mit verkehrten Maßregeln bekämpft und verschlimmert, und Europa hätte sich nicht in falsche Sicherheit einwiegen lassen. Man hätte dem Unheil seinen freien Lauf gelassen, bis es seine letzte Entwickelung erreicht hätte, und wäre erst dann mit Heilversuchen eingeschritten.

Im Bunde mit einigen gleichgesinnten Freunden bemühte Talleyrand sich, den Hof für diese Ideen zu gewinnen. Er erklärte sich bereit, mit einem solchen Programm die Regierung zu übernehmen und alle Ruhestörungen zu unterdrücken. Es fanden verschiedene Unterredungen zwischen ihm und dem Grafen von Artois, den der König als seinen Vertrauensmann bevollmächtigt hatte, statt, aber sie führten zu nichts. In der zweiten Nacht nach dem Bastillensturm ließ Talleyrand den Grafen im Schlosse Marly aus dem Bette holen, um einen letzten Ueberredungsversuch zu machen, und er erreichte wenigstens, daß der Prinz sich zum Könige begab, um dessen letztes Wort einzuholen. Mit dem König war nichts anzufangen, er wollte keinen Widerstand, bei dem ein Tropfen Blut fließen könnte. »Was mich betrifft,« sagte der Graf von Artois, »so steht mein Entschluß fest; ich reise morgen früh ab und verlasse Frankreich.« Talleyrand versuchte, dem Prinzen diesen verhängnißvollen Entschluß auszureden; auszuwandern, in einem solchen Augenblicke, schien ihm das verderblichste, was geschehen könne. Endlich, da der Prinz unerschütterlich blieb, sagte er: »Dann also, Monseigneur, bleibt jedem von uns nur noch übrig, an seine eigenen Interessen zu denken, da der König und die Prinzen ihre Interessen und die der Monarchie im Stiche lassen.« »Freilich,« erwiderte der Prinz, »das rathe ich Ihnen; ich kann Sie nicht tadeln, was auch kommen mag, und auf meine Freundschaft können Sie zählen.« Als im Jahre 1814 der Graf von Artois nach Frankreich zurückkehrte, ließ Talleyrand ihn durch den Baron de Vitrolles interpelliren, ob er sich dieser Unterredung erinnere. Der Prinz, so berichtet Herr de Vitrolles, sagte mir, ohne auf Einzelheiten einzugehen, er habe den Vorfall nicht vergessen, und alles, was ich ihm vorgetragen habe, sei völlig der Wahrheit gemäß.

Ob Talleyrand, wenn man auf ihn gehört hätte, die Revolution abgewendet haben würde, ist zweifelhaft; jedenfalls wäre es ein fesselndes Schauspiel geworden, ihn an der Arbeit zu sehen. Ich denke mir, wenn der König ihm carte blanche gegeben hätte, wäre Talleyrands erster Weg zu Mirabeau gewesen. Er schreibt, es seien unter den Führern des dritten Standes große Ehrgeizige anderen Standes gewesen, die man vielleicht ohne Mühe hätte lenken können. »Man fühlte das Bedürfnis erst, als es nichts mehr nützen konnte.« Mirabeau und Talleyrand, Arm in Arm das Jahrhundert in die Schranken fordernd, wer kann sagen, was sie im ersten Anfange der Revolution ausgerichtet hätten?

Daß Talleyrand die alte Monarchie »verrathen« habe, ist allen Umständen nach eine ungereimte Behauptung. Nachdem die Monarchie sich selbst aufgegeben hatte, suchte er in dem Sturme das Staatsschiff, das ihn an Bord hatte, möglichst im Fahrwasser zu halten. Künftigen Geschlechtern, die noch einmal gegen revolutionäre Sturmfluth zu kämpfen haben möchten, stellt er sein Verhalten als Vorbild hin: »Ich beschloß, Frankreich nicht zu verlassen, bis eine persönliche Gefahr mich dazu nöthige; nichts zu thun, was sie provoziren könnte, nicht gegen einen wilden Strom zu kämpfen, den man vorübergehen lassen mußte, aber zur Stelle und in der Lage zu bleiben, wo ich mitwirken könne, zu retten was zu retten wäre, kein Hinderniß aufzurichten zwischen der Gelegenheit und mir und für sie mich zu erhalten.«

Man weiß, daß dies nicht gerade heroische, aber, wie mir scheint, auch nicht sehr verbrecherische Programm von dem klugen Manne bis ans Ende durchgeführt worden ist. Es hat ihm einen schlechten Namen gemacht, weil es so erfolgreich war. Uebrigens so ganz passiv, wie die Worte besagen, war Talleyrands Rolle während der beiden ersten Revolutionsjahre doch nicht. Er betheiligte sich an den Arbeiten der Nationalversammlung in vielseitiger Thätigkeit und meistens in einem Sinne, den man damals konservativ nannte. Ordnung der Finanzen, Gründung einer Nationalbank, Einheit des Maßes und Gewichtes, Organisation des öffentlichen Unterrichts, Emanzipation der Juden beschäftigten ihn und verliehen ihm eine bedeutende Stellung in der Versammlung, die ihn sogar im Februar 1790 zu ihrem Präsidenten wählte. Unter den Maßregeln, die er beantragte, ist eine, die zu den großen Freveln der Revolution wenigstens von den Anhängern des alten Regime gerechnet wurde. Am 10. October 1789 brachte der Bischof von Autun eine Resolution in Vorschlag, die Güter der Geistlichkeit für Staatszwecke zu verwenden und die Besoldung der Geistlichen auf die Staatskasse zu übernehmen. Damit begann jene revolutionäre Kriegführung gegen die römische Kirche, die Einführung der »bürgerlichen Verfassung der Geistlichkeit,« nach der Pfarrer und Bischöfe vom Volke gewählt und als Staatsbeamte vereidigt werden sollten, die Verfolgung der renitenten Geistlichen, die Zerrüttung des Cultus, der Bürgerkrieg in der Vendée. Talleyrand war wohl nicht der Vater dieser weitergehenden Eingriffe der Staatsgewalt in religiöses Gebiet, aber er ist jedenfalls ihr Mitschuldiger gewesen; er theilte, wie sich von selbst versteht, die Geringschätzung kirchlicher Ideen, deren Stärke er nicht ahnte; er widersetzte sich nicht nur nicht, sondern bethätigte sein Einverständniß durch Ableistung des vom Staate geforderten Eides; er celebrirte bei dem ersten Föderationsfeste das Hochamt auf dem Marsfelde und bekannte sich damit öffentlich zu der vom Papste verdammten Sache. Er verfiel der Excommunication mit allen denjenigen, die für die revolutionäre Maßregel gestimmt hatten und mit allen eidleistenden Priestern; alsbald legte er seine bischöfliche Würde nieder und betrachtete sich hinfort als Laien. Ueber alle diese Vorgänge gehen die Memoiren flüchtig hinweg; nur gelegentlich wird einmal bemerkt: »Die Einführung der bürgerlichen Kirchenverfassung war der größte politische Fehler, den die Versammlung begangen hat; welchen Antheil ich selbst daran gehabt haben mag, muß ich es eingestehen.« Später, als Minister des ersten Consuls, hat er den Fehler durch eifrige Mitwirkung bei dem Concordat gutzumachen sich bemüht; die Kirche hat die Einziehung ihrer Güter nachträglich genehmigt, und ihre geistlichen Rechte ihr möglichst vollständig wiederzugeben, hat Talleyrand sich redlich bemüht. Dem ersten Consul gegenüber war er nicht selten der Anwalt Roms, und Pius VII. war ihm dankbar. Als einmal ein Prälat das Gespräch auf den excommunicirten Exbischof von Antun brachte, sagte der Papst: Talleyrand? que dieu ait son âme, ah, ah! mais je l'aime beaucoup.. Zur Belohnung heilte der Papst die etwas incorrecte Situation, in der sein geliebter Anwalt sich befand: er entband ihn durch ein Breve von den priesterlichen Weihen und nahm ihn als Laien wieder in den Schoß der Kirche auf. Wo es sich um die Anschuldigung eines an der Kirche begangenen Frevels handelt, haben wir wohl keinen Grund, strenger zu richten als der heilige Vater.

»Nach dem Ausscheiden aus dem geistlichen Stande,« schreibt Talleyrand, »stellte ich mich den Ereignissen zur Verfügung, und vorausgesetzt, daß ich Franzose blieb, war mir alles recht. Die Revolution versprach der Nation neue Geschicke; ich folgte ihr in ihrem Gange und lief ihre Chancen. Ich widmete ihr alle meine Fähigkeiten, entschlossen, meinem Lande als solchem zu dienen, und ich setzte alle meine Hoffnungen auf die constitutionellen Prinzipien, die zu verwirklichen man sich so nahe glaubte. Dies erklärt, warum und wie ich zu wiederholten Malen in die Staatsgeschäfte eingetreten, ausgetreten und wieder eingetreten bin, und auch die Rolle, die ich in ihnen gespielt habe.« Auf Einzelheiten läßt er sich nicht ein. Die Jahre, welche nun folgten und alle schönen Hoffnungen schrecklich zu Schanden machten, hinterließen in ihm eine Erinnerung, bei der er ungern verweilte. Er spricht von ihnen, wie man von einem entsetzlichen Traume redet, in dem aller vernünftige Zusammenhang fehlt. Die Möglichkeit, dem Staate mit seinen Fähigkeiten zu dienen, verschwand, als die Macht in die Hände der extremen Parteien, der Clubs und der Commune von Paris überging. Der letzte Dienst, den er dem Staate leistete, bestand in einer diplomatischen Mission nach London, der ersten in seinem Leben; nach seiner Rückkehr aus England fand er, daß der Boden des Vaterlandes doch zu heiß für seine Füße werde. Er war Augenzeuge des »zehnten Augusts,« es wurde ihm klar, daß Leute seines Schlages ihres Lebens nicht mehr sicher seien. Unter dem Vorwande, daß es nützlich sei, wegen der Maß- und Gewichtsreform mit England sich zu verständigen, ließ er sich von dem Ministerium nochmals nach London schicken. Seine eigentliche Absicht war, Frankreich für einige Zeit zu verlassen, aber nicht als Emigrirter, sondern mit einem regelrechten Passe. Die Vorsicht half ihm nicht viel; der Convent erklärte ihn für vogelfrei. Erst nach vierjähriger Abwesenheit konnte er, nachdem Frau von Staël und andere Freunde die Aufhebung der Acht erwirkt hatten, nach Frankreich zurückkehren. Als er in den Vereinigten Staaten, wo er drittehalb Jahre zubrachte, die Nachricht von seiner Rehabilitirung empfing, war er eben im Begriffe, an Bord eines von ihm mit Waaren befrachteten Schiffes nach Ostindien zu segeln.

Wenn ein gewandter Weltmann ein bestimmtes Thema von der Unterhaltung fern zu halten wünscht, bringt er einen anderen Gegenstand aufs Tapet und sucht, über diesen plaudernd, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer von der interessanteren Sache abzulenken. So schiebt Talleyrand in seinen Memoiren an der Stelle, wo man Bilder aus der Revolutionszeit erwartet, sechzig Seiten ein, die den Herzog von Orleans schildern, und etwa ein Dutzend Seiten, die sich mit Amerika beschäftigen, »dem großen Lande, dessen Geschichte beginnt.« Ich kann mich bei diesen beiden Kapiteln nicht aufhalten, möchte aber niemandem empfehlen sie zu überschlagen. Ich will nur anmerken, daß der französische Exbischof sich recht wohl in die transatlantische Welt zu finden wußte und mit den ernsten Republikanern sich vortrefflich vertrug. Unter allen gefiel ihm General Hamilton, Washingtons Finanzminister, am besten; »er schien mir, selbst zu Lebzeiten der Herren Pitt und Fox, den ersten Staatsmännern Europas ebenbürtig.« Mit General Hamilton unterhielt er sich gern über Handelspolitik; der Amerikaner, nur auf das Praktische gerichtet, behandelte Talleyrands Ansichten, was ihm gewiß nicht oft begegnet ist, als Illusionen eines Philanthropen. Die Welt, meinte er, werde vielleicht einmal für allgemeine Verkehrsfreiheit reif werden, aber bis dahin brauche man sich mit diesen schönen Ideen nicht zu beschäftigen. »Ich vertheidigte die Ökonomisten nur schwach, aber es fiel mir schwer, den Gedanken aufzugeben, daß es keine liberale Combinationen geben könne, aus denen nicht ein Vortheil für alle Handelsvölker erwüchse. Die weltbeglückenden Ideen strömen einem in Fülle zu, wenn man in seinem eigenen Lande vogelfrei erklärt ist.«

Mit dem Ende der Vogelfreiheit, mit der Rückkehr nach Paris (September 1796) traten in der That die akademischen Betrachtungen weit zurück; eine ganz praktische Aufgabe bot sich dem Heimkehrenden dar. Frankreich, erschöpft von den Fieberanfällen, die es überstanden hatte, tief zerrüttet im Innern, von unfähigen, liederlichen Politikern beherscht, sehnte sich nach dem Erlöser, der im Stande wäre, Ordnung und Autorität wiederherzustellen und mit starker Hand zu schützen. Der kluge Kopf neben und im Bunde mit dieser starken Hand zu sein, das war eine lockende Aussicht, das versprach eine glänzende Laufbahn, Macht und Reichthum, Ansehen und Wohlwollen dem Glücklichen, dem der Wurf gelang, und zugleich der Nation eine bessere Zukunft. Frau von Staël vermittelte es, daß Talleyrand mit Barras bekannt wurde; Barras bewirkte, daß das Directorium ihm das Ministerium des Auswärtigen übertrug; er hatte von nun an die Depeschen der Regierung an die im Auslande commandirenden Heerführer zu expediren; es lag ihm nahe, daß der neue Minister sich den Feldherren schriftlich vorstellte. So kam es, daß ein äußerst verbindliches Schreiben Talleyrands an den General Bonaparte in Italien gelangte, und daß zwischen den beiden ein sehr freundschaftlicher vertraulicher Briefwechsel sich entwickelte. Die starke Hand und der kluge Kopf hatten einander gefunden.

In eine sehr schlechte Gesellschaft trat Talleyrand ein, als er dem Direktorium seine Dienste widmete. Aber, wenn er sich eine Laufbahn eröffnen wollte, hatte er keine Wahl, er mußte sich mit den unfähigen und unwürdigen Erben der Revolution zu vertragen suchen. Man fühlt es ihm nach, obwohl er sich aller starken Ausdrücke enthält, wie übel ihm in dieser Umgebung zu Muthe war. »Mit diesen Männern mußte der Versuch gemacht werden, Frankreich wieder in die europäische Gesellschaft einzuführen: ich warf mich in dies große Unternehmen.« Schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt machten sie den Staatsstreich vom achtzehnten Fructidor, in dem die ganze Rechtlosigkeit und Grausamkeit der Schreckenszeit wieder auflebte, ohne Blutvergießen freilich: man half sich mit der Verbannung der Gegner nach dem mörderischen Klima von Cayenne, mit der »trocknen Guillotine,« wie der Volkswitz es nannte. Der Minister des Auswärtigen mußte in einer Depesche an die französischen Gesandten, den Staatsstreich vor den Höfen Europas rechtfertigen; Talleyrand hat sich der unsauberen Aufgabe nicht entzogen. Er selbst war sicherlich unbetheiligt bei dem Verbrechen, aber er lieh der Vertheidigung seine Feder. Davon steht in seinen Aufzeichnungen nichts, aber wir finden die Depesche in dem fast gleichzeitig mit den Memoiren erschienenen Werke G. Pallains: »le Ministère de Talleyrand sous le Directoire«, das uns das werthvollste Material für die Kontrolle der Memoiren liefert. An sich ist es ja nicht so unbedingt zu verdammen, wenn ein Minister des Auswärtigen einen Akt seiner Regierung, den er selbst verwerflich findet, vor dem Auslande thunlichst beschönigt; aber man muß sagen, daß in diesem Falle die Selbstverleugnung ein wenig weit ging. Nur darf andererseits auch die furchtbare Zerrüttung der Zeit nicht außer Ansatz bleiben. Während der Jahre 1789–1814 war es, wie Beugnot sagt: »viel schwerer, seine Pflicht zu kennen, als sie zu thun.« In Pallains Werk finden wir ein Seitenstück zu der Rechtfertigung des achtzehnten Fructidor, das einen noch tieferen Schatten zu werfen scheint. Als am 10. August 1792 die Tuilerien vom Pöbel erstürmt worden waren, überreichte Talleyrand, der damals nicht Minister war, dem provisorischen Exekutivausschusse den Entwurf einer an die Gesandten zu richtenden, das Blutbad beschönigenden Depesche, nicht weil er mit dem Pöbel sympathisirte, sondern weil er es für nützlich hielt, der »europäischen Gesellschaft« gegenüber den Schein zu retten. Jedenfalls kann man nicht sagen, daß erst der Umgang mit dem Direktorium ihn korrumpirt hätte.

Eher mag dies auf einem anderen Gebiete zutreffen, auf dem der Selbstbereicherung. Als er in die Regierung eintrat, herschte in diesem Punkte die laxeste Moral. Daß man seinen amtlichen oder politischen Einfluß verwerthe, um sein Vermögen zu verbessern, galt fast für selbstverständlich. Aus Gesandtschaftsberichten wissen wir, daß es ganz üblich war, Geldgeschenke zu machen, um eine stockende Unterhandlung vorwärts zu bringen; nicht selten wurden solche Spenden geradezu gefordert, etwa durch Vermittlung eines Sekretärs, der dann seinen Theil abbekam. Die Praxis hat sich unter dem Kaiserreich fortgesetzt, nur mit dem Unterschiede, daß Napoleon seinen Generalen, Kommissaren und Präfekten genau auf die Finger paßte und ihnen nur in ausländischen Revieren die Jagd nachsah. Die öffentliche Meinung billigte diese Dinge nicht, aber sie nahm auch nicht sehr lebhaften Anstoß daran. Für uns ist es immer befremdlich, zu sehen, daß die Freunde Talleyrands, unter denen sich nicht wenige anständige Leute befanden, die ihnen wohlbekannte Thatsache seines übelerworbenen Reichthums auf die leichte Achsel nehmen, wie wir kleine Schwächen guter Freunde mit in den Kauf nehmen. Talleyrand selbst spricht nie von seinen Geldangelegenheiten, Frau von Rémusat aber, die sich doch später sehr mit ihm befreundete, behandelt es als ein öffentliches Geheimniß, daß er sein Vermögen seinem politischen Einflusse verdankte. Sie amüsirt sich, wenn Talleyrand die schwache Seite gegen boshafte Spötter mit kaltblütiger Eleganz zu vertheidigen weiß. Der Kongreß von Rastatt, der unter französischem Vorsitze die Vertheilung der mediatisirten deutschen Lande und Städte unter die bevorzugten Fürsten besorgte, wurde für den Minister der Republik zu einer Goldquelle, aus der er um so unbedenklicher schöpfen mochte, als es sich um deutsches Gold handelte, und es nicht einmal nöthig war, politische Interessen zum Opfer zu bringen. Denn für Frankreich war es gleichgültig, ob ein deutscher Fürst einige Quadratmeilen mehr oder weniger erhielt. Der erste Konsul, dem es Vergnügen machte, die Leute in Verlegenheit zu setzen, richtete einmal an der Tafel vor zahlreichen Gästen die Frage an Talleyrand, woher eigentlich sein Vermögen stamme. Ohne mit den Wimpern zu zucken, antwortete der Gefragte: »Nun ich habe vor dem 18. Brumaire gekauft und nach dem 18. Brumaire verkauft.« Später, als Napoleon Kaiser geworden war, stattete er seinen Minister so reichlich aus, daß Nebeneinnahmen überflüssig wurden. Er machte ihn zum Vice-Großwähler mit 300 000 Francs, zum Oberkämmerer mit 50 000 Francs Einkommen und belehnte ihn mit dem Fürstenthum Benevent, das ihm jährlich 120 000 Francs abwarf. Dazu kam das Privatvermögen, das man auf achtzehn Millionen schätzte.

Seine Thätigkeit als Minister des Direktoriums hat Talleyrand als äußerst unbedeutend dargestellt. Er habe seinen Namen unter die Schriften anderer Verfasser setzen müssen, höchstens einige Korrekturen anbringen können. Dies ist übertrieben. Pallain veröffentlicht eine Fülle zum Theil ausgezeichneter Depeschen und namentlich mehrere Denkschriften von Talleyrands Hand, der immer von neuem versuchte, die Direktoren zu einer maßvollen und consequenten auswärtigen Politik zu bekehren. Unter den Denkschriften befindet sich eine vom 10. Juli 1798, über die allgemeine Lage Europas, die man als ein klassisches Meisterwerk bezeichnen kann, auch von Seiten des Stils, der eindringliche Deutlichkeit mit höchster Einfachheit verbindet. Aus den Veröffentlichungen Pallains ersieht man auch, daß die Expedition nach Aegypten, die uns eher wie ein tolles Abenteuer vorkömmt, von Talleyrand wie von Bonaparte als ein aussichtsreiches Unternehmen angesehen und von ersterem eifrig gefördert wurde. Er hatte sich bereit erklärt, als Botschafter nach Konstantinopel zu gehen, sobald die Waffenerfolge in Aegypten den psychologischen Moment zu einer Verhandlung mit der Pforte herbeigeführt haben würden. So wenig war er auf den Mißerfolg vorbereitet, daß er mit Bonaparte vor dessen Abfahrt nach Aegypten verabredete, er wolle sich zu dem gedachten Botschafterposten ernennen lassen und dann sofort das Ministerium abgeben. Die Niederlagen der Franzosen auf dem europäischen Kriegsschauplatze, die das Direktorium veranlaßten, Bonaparte zurückzurufen, retteten diesen und Talleyrand aus der peinlichsten Lage.

Die Memoiren verschweigen vieles, aber darüber, daß ihr Verfasser in alle Vorbereitungen für den Staatsstreich eingeweiht und mit seinen Rathschlägen dabei betheiligt war, sind sie ganz offenherzig. Von Anfang an will Talleyrand gewußt haben, daß Bonaparte nach der obersten Gewalt strebe, und er war ganz damit einverstanden. Er war der Meinung, daß nur die Monarchie, zunächst die lebenslängliche, Frankreich retten könne, und er glaubte, daß Bonaparte auch eine neue Dynastie zu gründen im Stande sein werde. »Man mußte die Monarchie herstellen, oder der 18. Brumaire war umsonst gemacht.« Zwar bedurfte es Zwischenstufen, aber die Aufrichtung des Throns mußte das Ziel bleiben. »Die Rückkehr zur alten Dynastie war, solange Frankreich sich nicht in der Gewalt fremder Mächte befand, unbedingt unmöglich; die Ermordung Ludwigs XVI. hatte ein unübersteigliches Hinderniß geschaffen.« An dem Umsturz der bestehenden Verfassung mitzuwirken, hat ihm augenscheinlich nicht das mindeste Bedenken gekostet; sein Gewissen macht ihm deshalb keine Vorwürfe; nicht daß er die Republik beseitigen half, erschien ihm in seinem Greisenalter als etwas, was der Entschuldigung bedürfe, wohl aber beklagte er, daß er einem Bonaparte zu viel Gutes zugetraut habe. Die Erfahrung, die er unter dem Direktorium gemacht hatte, daß die weisen Ermahnungen zu Mäßigung und Friedfertigkeit nichts ausrichten, wo Gewaltsamkeit und Eroberungsgier das entscheidende Wort führen, diese Erfahrung mußte er unter Bonaparte noch einmal machen, freilich mit dem Unterschiede, daß der neue Herr kein Unfähiger war und in den ersten Jahren seiner Herrschaft die Erwartungen, die Talleyrand von ihm hegte, glänzend zu erfüllen schien.

Talleyrand hat ohne Zweifel von vornherein Bonaparte gegenüber das Gefühl der Ebenbürtigkeit und sogar der Ueberlegenheit gehabt, und er hatte ein gewisses Recht dazu. Auf seiner Seite war die größere Welterfahrung, die genauere Kenntniß der Verhältnisse Europas, die ruhige Besonnenheit, die nüchterne Verständigkeit, die Selbstbeherschung, das Bewußtsein, dem neuen Herscher ausgezeichnete, zum Theil unentbehrliche Dienste leisten zu können. Er durfte sich der Hoffnung hingeben, daß es ihm gelingen werde, die geniale Kraft des jungen Feldherrn, der vierzehn oder fünfzehn Jahre jünger war, wenn auch nicht zu seinem Werkzeuge zu machen, doch zu zügeln und auf guten Wegen zu halten. Es ist nicht etwa ein erst nachträglich zurecht gelegtes Schema, wenn der Verfasser der Memoiren sein Verhältniß zu Napoleon als den – allerdings an der dämonischen Leidenschaft des Kaisers gescheiterten – Versuch darstellt, diese gewaltige Naturkraft zum Besten des Landes einigermaßen zu reguliren. Unparteiische Berichterstatter bestätigen durchweg die Richtigkeit dieser Darstellung, und es liegen Staatsschriften Talleyrands vor, die beweisen, daß er von jeher ein entschiedener Gegner der Eroberungspolitik gewesen und immer geblieben ist. Schon im Jahre 1792 richtete er an die französische Regierung eine Denkschrift (abgedruckt in Pallains Werk »Talleyrands Mission in London«), die seine Idee, daß Frankreich sich am besten stehe, wenn es sich mit den Grenzen von 1792 begnüge und die Sicherheit seiner Nachbarn nicht bedrohe, mit Nachdruck begründet. Es versteht sich von selbst, daß im Jahre 1799 auf dies Programm nicht zurückgegriffen werden konnte; die Erwerbung Belgiens und des linken Rheinufers ließen sich nicht rückgängig machen, aber auch mit diesen bedenklichen Erweiterungen hätte Frankreich unter einer weisen Regierung sich behaupten können, ohne die Feindschaft aller Nationen gegen sich zu entfesseln. »Im Jahre 1807, als er Oesterreich, Preußen und Rußland besiegt hatte und die Geschicke Europas in der Hand hielt, konnte Napoleon die größeste, edelste Rolle spielen. Er war der erste und der einzige, der dem Welttheil ein seit Jahrhunderten umsonst gesuchtes, und heute (1820?) ferner als je liegendes Gleichgewicht hätte geben können. Dazu brauchte er nur 1. Italien zur Einheit zu berufen, unter Verpflanzung des Hauses Bayern dorthin; 2. Deutschland zu theilen zwischen dem Hause Oesterreich, das sich bis zur Donaumündung ausgedehnt haben würde, und dem Hause Brandenburg; 3. Polen wiederzuerwecken und es dem Hause Sachsen zu geben.« Wiederholt finden wir Warnungen vor der Gefahr, die im Osten Europas aufziehe, und vor der Sorglosigkeit, mit der man das Eingreifen russischen Einflusses in die westeuropäischen Verhältnisse behandle, die Hauptbollwerke gegen den halbasiatischen Staat, Oesterreich und Preußen, schwäche oder zerstöre. Polens Herstellung sollte auch zur Abwehr der Moskowiter dienen: aber schon 1814 erklärte Talleyrand sie für undenkbar. In der von ihm verfaßten Instruktion der Bevollmächtigten Frankreichs zum Wiener Kongreß, die er den Memoiren einverleibt hat, heißt es:

»Die Herstellung des Königreichs Polen wäre ein Gewinn, ein großer Gewinn, aber nur unter folgenden drei Bedingungen: 1. daß es unabhängig wäre; 2. daß es eine starke Verfassung hätte; 3. daß es nicht nöthig wäre, Preußen und Oesterreich für die Herausgabe ihrer Antheile zu entschädigen. Bedingungen, die alle unerfüllbar sind und die zweite noch unerfüllbarer als die beiden andern.«

Bei solchen Gesinnungen muß es keine angenehme Thätigkeit gewesen sein, die Talleyrand seit seiner Rückkehr nach Frankreich auszuüben hatte. Napoleon, wie vorher das Direktorium, nahm von ihm die Dienste an, die ihm paßten, und schlug die Rathschläge und Warnungen, die dem Ehrgeiz unbequem waren, in den Wind. Eine solche Existenz erinnert ein wenig an die Rolle der Kassandra; nur daß Talleyrand nicht tragisch gestimmt und nicht fatalistisch gesinnt war. Er zuckte die Achseln und that was ihm zuwider war. Der Minister predigte die Friedenspolitik, der Kaiser schlug die Schlachten von Austerlitz, Jena und Friedland, und der Minister unterzog sich der Redaktion der Verträge von Preßburg und Tilsit, wie der Uebermuth des Siegers sie ihm vorzeichnete. Die maßlose Grausamkeit, mit der Napoleon Preußen behandelte, beleidigte Talleyrands politischen Sinn, und warum sollte sich in ihm nicht auch menschliche Theilnahme geregt haben, als er die schreckliche Katastrophe einer ruhmreichen Monarchie in nächster Nähe vor Augen hatte? »Ich war empört von allem, was ich sah und hörte, aber ich mußte meine Empörung verbergen.« Die Höflichkeit des altfranzösischen Edelmannes mußte die Roheit, mit der Napoleon in Tilsit der Königin Louise begegnete, haarsträubend finden. Napoleon richtete eines Tages die brutale Frage an sie: »Wie konnten Sie Madame, mit ihren schwachen Mitteln es wagen, mit mir Krieg anzufangen?« Die Königin antwortete: »Sire, ich muß es Ew. Majestät sagen, der Ruhm Friedrichs II. hatte uns über unsere Macht irregeführt.« Diese Antwort fand Talleyrand »superbe«. Der Ruhm Friedrichs, im Salon Napoleons zu Tilsit so glücklich heraufbeschworen, – es entzückte ihn und er erzählte es so oft wieder, daß der Kaiser es übel nahm und ihm sagte: »Ich weiß nicht, was Sie an dem Worte der Königin von Preußen so schön finden; Sie thäten ebenso gut, von etwas anderem zu sprechen.« Dafür belohnte ihn die schöne Königin, als er sie zum letzten Mal an ihren Wagen geleitete, mit einem freundlichen Abschiedsworte. »Mein Prinz,« sagte sie, »zwei Personen bedauern es, daß ich hierher gekommen bin, ich und Sie. Nicht wahr. Sie sind nicht ungehalten, wenn ich diese Meinung mitnehme?« »Unter den Rückblicken auf mein Leben,« fügt der Erzähler hinzu, »sind nothwendig viele peinliche, aber es beglückt mich, wenn ich an das denke, was diese Königin einer anderen Zeit mir zu sagen, mir fast anzuvertrauen die Güte hatte. Thränen der Rührung und des Stolzes waren meine Antwort auf ihre letzten Worte. Alle Bemühungen dieser edlen Frau blieben bei Napoleon nutzlos: er triumphirte, und dann war er unbeugsam.«

Bald nachher schied Talleyrand aus dem Ministerium aus, freiwillig, wie er es darstellt. Der Kaiser verlieh ihm die glänzende Sinecure eines Vizegroßwählers, und diese Gelegenheit, sagt er, benutzte ich, meinen aktiven Dienst bei ihm zu beenden. Der Frage, warum erst jetzt? da er doch schon seit dem Frieden von Amiens die kaiserliche Politik als völlig maßlos erkannt haben will, begegnet er im voraus: »Ich hatte bis dahin Napoleon treu und eifrig gedient. Lange fügte er sich meinen Anschauungen, die diese zwei Punkte zur Richtschnur nahmen: für Frankreich Aufrichtung einer Monarchie, die innerhalb gerechter Schranken die Autorität des Souveräns verbürge; Europa schonen, damit es Frankreich sein Glück und seinen Ruhm verzeihe. Im Jahre 1807, das erkenne ich an, hatte Napoleon sich längst von dem Wege, in dem ich ihn festzuhalten mir alle Mühe gab, entfernt, aber ich hatte bis dahin meinen Posten nie verlassen können; es war nicht so leicht, wie man vielleicht denkt, das Dienstverhältniß zu ihm abzubrechen.« Die Schwierigkeit des Abdankens wird wohl auch ein wenig in Talleyrand selbst gelegen haben, und es ist ebenso zu vermuthen, daß im Jahre 1807 der Herr bei der Auflösung des Verhältnisses nicht unbetheiligt war. Der Diener war ihm unbequem geworden. In den ersten Jahren seines Regiments hatte Napoleon die Mitarbeit eines so geschickten, wohlunterrichteten und erfahrenen Ministers unentbehrlich, wenigstens sehr vorteilhaft gefunden; der Verkehr mit einem Manne, der seine unabhängige Meinung hatte und sie geistreich vertrat, war ihm eine Art Erquickung in der Oede einer Umgebung von lauter blinden Werkzeugen und Jasagern. Talleyrand behauptete dem ersten Konsul gegenüber den Ton und die Formen eines gesellschaftlich Gleichstehenden; dem Kaiser zeigte er sich zwar als Unterthan, aber immer mit dem Selbstgefühl des vornehmen Mannes und des eminenten Geistes. Er verstand es, dem Herscher unangenehme Wahrheiten zu sagen, ihm zu widersprechen; er hatte manchmal den Muth, Befehle unausgeführt zu lassen oder nur mit mildernden Modificationen zu vollziehen, sicher, daß nachträglich ihm Recht gegeben werde. »Talleyrand ist unter euch allen der einzige, mit dem man reden kann«, hat Napoleon einmal vor seinen versammelten Hofleuten erklärt. Aber mit der Zeit, mit der zunehmenden Machttrunkenheit verlor der Despot den Geschmack an geistreichem Widerspruch, und die Nähe eines Mannes belästigte ihn, von dem er fühlen mußte, daß dieser ihn durchschaue und sich nicht imponiren lasse wie Andere. Die Gründe, mit denen der Rathgeber die Lieblingsprojekte des Eroberungsdurstigen bekämpfte, waren um so widerwärtiger, je triftiger sie dem unbefangenen Urtheil erscheinen mußten.

»Das denkwürdigste aller Attentate Napoleons,« die verrätherische Gefangennahme der spanischen Königsfamilie und die Verwandlung ihres Reichs in eine bonapartische Secundogenitur, beschleunigte den Bruch. Die Memoiren widmen dieser Angelegenheit ein besonderes Kapitel, obwohl ihr Verfasser nicht mehr aktiv dabei betheiligt war. »Der Kaiser,« heißt es, »hatte mir mehrmals von seinem Plane gesprochen; ich bekämpfte ihn mit allen meinen Kräften, indem ich die Unmoralität und die Gefahren des Unternehmens darlegte. Er verschanzte sich zuletzt immer dahinter, daß Spanien ihm einmal an der Pyrenäengrenze eine Diversion machen könnte, wenn er am Rhein oder in Italien auf Schwierigkeiten stieße.« Nun schlug Talleyrand vor, er möge sich begnügen, Katalonien als Unterpfand zu besetzen, mit dem Versprechen, es herauszugeben, sobald der Friede mit England zu Stande komme. Wer weiß, fügte er hinzu, ob in der Zwischenzeit Catalonien sich nicht an Frankreich gewöhnt und wir es dann endgültig behalten können. Der Kaiser wollte nicht davon hören; ihm kam es darauf an, die Bourbonen zu verdrängen und für seinen Bruder Joseph einen Thron frei zu machen. Sei es Bosheit, sei es Berechnung, er befahl Talleyrand, die gefangenen Prinzen vorläufig in seinem Schlosse Valencay zu beherbergen, bis ein dauerndes Unterkommen für sie eingerichtet sei. Die Prinzen waren junge Männer, aber Moderluft der Vergangenheit schien sie zu umgeben. Es war, als kämen sie aus vergangenen Jahrhunderten; als sie in Valencay vorfuhren, meinte der Schloßherr, eine Karosse Philipps V. komme daher. Talleyrand machte es sich zur Pflicht, vielleicht auch mit einiger Bosheit, seine Gäste mit höchster Auszeichnung zu behandeln. Dem Gendarmerieoffizier, den Napoleon ihnen mitgegeben hatte, bedeutete er, daß im Schlosse und Park von Valencay der Kaiser nichts zu sagen habe. Er schrieb vor, daß man nur im habit habillé vor den Prinzen erscheinen dürfe; das Leben im Schlosse wurde mit sorgfältigster Rücksicht ihren Gewohnheiten und Wünschen angepaßt. Jeden Abend beschloß eine feierliche Andacht, an der alle Hausgenossen, selbst die Gendarmen, Theil nehmen mußten, und dieser gemeinsame Gottesdienst hatte die schönste Wirkung: er beruhigte die Gefangenen, er machte die Wächter sanfter. Diese jungen Bourbonen waren in Spanien niemals ohne schriftliche Erlaubniß des Königs spazieren gegangen; sie hatten nie getanzt, nie geritten, nie eine Flinte abgeschossen. Talleyrand ließ ihnen Tanz- und Reitstunden geben, vertraute sie der Leitung eines erfahrenen Jägers, veranstaltete ihnen Ballfeste mit Guitarren und Rondos. Auch in seiner Bibliothek versuchte er sie einige Stunden täglich zu unterhalten, aber obwohl man bis zu Bilderbüchern hinabstieg, erwies sich dies Bemühen als ganz hoffnungslos.

Napoleon war mit dieser Ausführung seines Befehls wenig zufrieden. Es kam zu gereizten Erörterungen zwischen ihm und Talleyrand. Eines Tages sagte er im spöttischen Tone, sich die Hände reibend: »Was ist nun aus Ihren prophezeiten Schwierigkeiten geworden? sie sind alle in mein Netz gegangen, und ich bin Herr der Lage in Spanien wie im übrigen Europa.« Diese Prahlerei (berichtet Talleyrand) ärgerte mich; und ich antwortete ruhig, daß er nach meiner Ansicht durch die Ereignisse von Bayonne mehr verloren als gewonnen habe. »Wie meinen Sie das?« – »Du lieber Himmel, das ist sehr einfach; ich will es an einem Beispiel klar machen. Wenn jemand in der Welt Thorheiten begeht, Maitressen hält, seine Frau schlecht behandelt, sogar sich gegen seine Freunde gröblich vergeht, dabei aber reich, mächtig und geschickt ist, so kann er noch auf die Nachsicht der Gesellschaft rechnen. Wenn derselbe Mann beim Spiel betrügt, so wird er auf der Stelle aus der guten Gesellschaft ausgestoßen und sie verzeiht ihm nie.« Der Kaiser erblaßte und sprach an dem Tage nicht mehr mit mir; aber ich kann sagen, daß von diesem Augenblick der Bruch zwischen uns datirt.«

Wie und weshalb trotzdem Napoleon sich nach Erfurt von Talleyrand begleiten ließ, haben wir schon gesehen. Daß die Zusammenkunft mit dem Zaren nicht den von Napoleon gewollten Erfolg hatte, schreibt Talleyrand sich zu, und er nennt es den letzten Dienst, den er bis zum Sturze des Kaisers Europa und, wie er hinzufügt, diesem selbst leisten konnte. Er gewann in Erfurt das Vertrauen Alexanders, er warnte ihn vor Napoleons Absichten, die dahin zielten, mit russischer Hilfe Oesterreich ebenso zu behandeln, wie er Preußen behandelt hatte, und er legte vor allem dort den Grund zu einer persönlichen Stellung, die es ihm, als die Alliirten in Paris einzogen, möglich machte, den vielleicht größesten diplomatischen Sieg, den die Geschichte kennt, zu erringen.

Seit Erfurt, sagt Talleyrand, führte ich wieder das unbedeutende Leben eines Großwürdenträgers. Das heißt, er stellte sich wieder »den Ereignissen zur Verfügung.« Sein Glaube an die Dauer des napoleonischen Regiments schwand mehr und mehr; es galt, sich vorbereiten für den Tag der Katastrophe. Gewiß hat Talleyrand nicht konspirirt, aber ebenso gewiß hat er in Gedanken sich lebhaft mit dem, was eventuell zu thun sein werde, beschäftigt und seine persönlichen Verbindungen im Hinblick auf die Zukunft sorgfältig gepflegt. Mehr zu thun, hätte schon die scharfe Wachsamkeit der kaiserlichen Polizei gehindert. »Seit dem Zuge nach Moskau konnte jeder denkende Kopf den Sturz des besiegten Usurpators fast auf Tag und Stunde voraussehen; aber Frankreich – welche Gefahren drohten ihm alsdann? welche Mittel der Rettung blieben? welche Regierungsform sollte es annehmen? Seit mehreren Jahren beschäftigte mich der Gedanke; je näher die fürchterliche Lösung kam, desto aufmerksamer prüfte ich die Hilfsquellen, die uns noch zu Gebote stehen möchten.« Die Lage Frankreichs im Frühjahre 1814 war dunkler, als man sie sich gewöhnlich vorstellt; die verbündeten Mächte wußten selbst nicht, was sie an die Stelle des kaiserlichen Regiments setzen sollten. Einige dachten an eine Regentschaft Marie Louisens, andere an Bernadotte oder Eugen Beauharnais, noch andere wollten es den Franzosen überlassen, sich einzurichten, wie es ihnen beliebe, was nach Talleyrands Meinung Anarchie und Bürgerkrieg bedeutet hätte. Selbst die Möglichkeit einer Theilung des Landes beunruhigte die erregten Gemüther. Die Rückkehr der Bourbonen war noch im März sowohl von Alexander als von Metternich für unmöglich gehalten worden. Die Verbündeten zogen in Paris ein, ohne sich über ein Programm geeinigt zu haben.

Der Kaiser von Rußland hatte in Talleyrands Hotel Quartier genommen. Zu seiner Ueberraschung vernahm er von seinem Wirthe, daß die Herstellung der Bourbonen mit einer freien Verfassung der Wunsch Frankreichs sei. Keine andere Lösung sei möglich; nur unter dem Hause Bourbon werde Frankreich die erlittenen Niederlagen verschmerzen, mit Würde in seine natürlichen Grenzen zurücktreten, Europa die gewollten Bürgschaften geben können. »Frankreich wird aufhören gigantisch zu sein, um wieder groß zu sein.« Der Zar fragte: wie kann ich erkennen, daß Frankreich die Bourbonen wünscht? Talleyrand antwortete, die einzige Körperschaft, die im Namen der Nation sprechen könne, sei der Senat, den möge man fragen. Der Zar willigte ein; Talleyrand berief unverweilt den Senat, und dieser decretirte alsbald die Absetzung des Kaisers, die Wiederaufrichtung der legitimen Monarchie mit konstitutionellen Bürgschaften und die Einsetzung einer provisorischen Regierung, die unter dem Vorsitze des Fürsten Talleyrand die Zügel ergriff, im Namen Ludwigs XVIII. Außerordentliches war damit gewonnen: nicht das Ausland, sondern die Vertretung der Nation, so gut man sie haben konnte, hatte den Thron aufgerichtet, und die Sieger fanden bei den nunmehr beginnenden Friedensverhandlungen nicht mehr den Mann, gegen den aller Haß und alle Rachsucht Europas sich angesammelt hatte, sondern den schuldlosen Märtyrer der beendigten Revolution, der aus dem Exil in sein rechtmäßiges Erbe zurückkehrte, sich gegenüber. Die unerwartete Wendung der Dinge übte auf die Stimmung der fremden Souveräne ihren Einfluß; Alexanders Unterstützung war sicher; es kam darauf an, die Gunst des Augenblicks auf das schnellste zu benutzen. Binnen drei Wochen brachte Talleyrand den Präliminarfrieden vom 23. April zu Stande, dem am 30. Mai der definitive folgte. Mit gerechtem Stolze schrieb er seiner Freundin, der Herzogin von Kurland: »Meine Freunde müssen mit mir zufrieden sein.« Er hatte das Unglaubliche erreicht. Frankreich behielt seine Grenzen von 1792, einschließlich Avignon, Savoyen, Landau und Mümptelgard; es behielt alle geraubten Kunstschätze; es hatte keine Kriegsentschädigung zu zahlen; die verlorenen Kolonien wurden zurückgegeben; die feindlichen Heere verließen sofort das Land; die in fremden Festungen blockirten französischen Truppen, über zweihunderttausend Mann, kehrten mit Waffen und Material in die Heimath zurück. Die Bedingungen wurden erlangt, während das Land völlig wehrlos und von zahllosen Armeen, racheschnaubenden Völkern besetzt war, die seit zwanzig Jahren von den Franzosen geplündert, gemißhandelt, gekränkt worden waren und nun endlich den Tag der Vergeltung gekommen glaubten.

Gleichwohl gab der französische Staatsmann sich mit diesem Erfolge noch nicht zufrieden: »der Pariser Friede rettete Frankreich vom Untergange, aber er gab ihm nicht den ihm gebührenden Rang im europäischen System zurück. Mehrere leitende Bevollmächtigte hatten den geheimen Wunsch, es auf eine untergeordnete Rolle zu beschränken, und die geheimen Artikel zu dem Friedensvertrage setzten fest, daß die Theilung der Frankreich abgenommenen Gebiete von den Verbündeten, d. h. ohne Frankreich vorgenommen werden solle.« Nach Talleyrands Ansicht mußte Frankreich, wenn es sich nicht großen Gefahren aussetzen wollte, einer derartigen Ausschließung und Erniedrigung von vornherein auf das äußerste, schlimmsten Falls mit den Waffen sich widersetzen. Es sollte nichts für sich verlangen, aber im Rathe der Großmächte als Großmacht auftreten. Die Aufgabe war noch schwieriger als der Abschluß des Pariser Friedens; denn als der Wiener Kongreß zusammentrat, bereuten mehrere Mächte schon, Frankreich so wohlfeilen Kaufs entlassen zu haben, und auf die Unterstützung des russischen Kaisers war nicht mehr zu rechnen. Gerade ihn von der Weichsel zurückzudrängen und Preußen die sächsische Beute und Mainz zu entreißen, erschien damals dem Pariser Kabinet vor allem wichtig. Vor Preußen hat Talleyrand große Furcht. »Der Ehrgeiz ist für diese Monarchie nach ihrer physischen Beschaffenheit eine Art Nothwendigkeit. Die Verbündeten haben ihr versprochen, sie wieder mit zehn Millionen Unterthanen auszustatten; man lasse sie gewähren, und sie wird bald zwanzig Millionen haben, und ganz Deutschland wird ihr unterworfen sein. Man muß also ihren Besitzstand zuerst und dann, durch die Bundesverfassung, ihren Einfluß thunlichst einschränken.«

Wir können heute mit Gelassenheit an diese Dinge zurückdenken, froh, daß Napoleon III. keinen Talleyrand zur Seite gehabt hat. Ein Deutscher, der nicht allzusehr an retrospectivem patriotischem Ingrimm leidet und sich in die Lage und die Seele eines Franzosen von 1814 zu versetzen vermag, kann mit ungetrübtem Vergnügen die Erzählung vom Wiener Kongreß lesen, die den zweiten Theil der Memoiren zum großen Theile ausfüllt. Wir wußten ja längst, wie in der Hauptsache alles verlaufen ist, wie der Bevollmächtigte Frankreichs, Anfangs isolirt, mißtrauisch bei Seite geschoben, allmählich den Bund der vier Großmächte sprengte, sich an die Spitze einer neuen Koalition emporarbeitete, der Mittelpunkt aller Verhandlungen wurde und dem Kaiser von Rußland den Ausruf entlockte: »Talleyrand tritt hier auf wie ein Gesandter Ludwigs XIV.!« Aber es im einzelnen von dieser Feder dargestellt zu lesen, ist ausnehmend ergötzlich, auch sehr lehrreich hin und wieder. Wie man auch sonst über den Mann urtheilen mag, man muß zugeben, daß er auf dem Boden Wiens zu einer gewissen Größe heranwächst. Er arbeitet mit großen Gesichtspunkten, mit kühner Zuversicht, ganz und gar im Dienste seines Landes und, was die Hauptsache ist, mit Erfolg. Denn dafür konnte er nichts, daß gerade in dem Augenblicke, wo er sein Werk vollendet hatte, die Rückkehr Napoleons von Elba alles wieder über den Haufen warf. Mit diesem Zusammenbruche seines stolzesten Werkes, den er ohne viel Wehklagen einfach einregistrirt, schließt der zweite Band. Von dem Inhalt der noch ausstehenden drei Bände weiß man nur, daß sie eine Darstellung der Ereignisse, die mit der Ermordung des Herzogs von Enghien zusammenhängen, bringen werden.

II.

(1892.)

Vor Jahresfrist etwa durfte ich dem Genusse, mit dem ich die beiden ersten Bände der Memoiren Talleyrands gelesen hatte, Ausdruck geben; seitdem sind abermals zwei Bände erschienen. Sie unterscheiden sich nicht unerheblich von ihren Vorgängern, denen sensationsgierige Leser schon vorwarfen, daß sie zu wenig Enthüllungen, Anekdoten und Skandalosa enthielten. Die neuen Bände enthalten dergleichen so gut wie gar nicht. Die vor einem Jahre mehrfach ausgesprochene Ansicht, daß man der Feder Talleyrands ein Seitenstück zu dem berühmten Werke des Herzogs von Saint-Simon verdanke, muß als unrichtig aufgegeben werden. Einige Partien der ersten Bände, die Jugenderinnerungen, die Erfurter Tage, das Kapitel von den spanischen Prinzen, die erste Restauration, und noch einige andere Kabinetstücke, konnten den Glauben erwecken, daß wir in eine Sammlung feingezeichneter und feingefärbter geschichtlicher Bildnisse und Skizzen eingetreten seien. Jetzt, nachdem der größte Theil der Aufzeichnungen vor uns liegt, müssen wir einsehen, daß diese Skizzen nur Nebenwerk sind, daß die Bedeutung des Buches ganz anderswo liegt, nämlich in der Persönlichkeit des Mannes, der zu uns spricht. Niemand wird sich der Lektüre erfreuen, der nicht von vornherein das Außerordentliche dieser Persönlichkeit, ihrer seltenen intellectuellen Höhe, ihrer sittlichen Corruption und ihres fast beispiellosen Einflusses auf die Zeitgenossen sich vergegenwärtigt, und der den Reiz nicht empfindet, in den eigenen Worten des Darstellenden dem Geheimnisse seiner innersten Natur nachzuspüren, aus der allein das ganze als ein ganzes, als lebendiges Wesen, mit widerspruchsvollen Zügen allerdings, aber mit einheitlicher Physiognomie, angeschaut werden kann. Wem Talleyrand einfach ein schlauer Hallunke ist, der kann nicht ernstlich genug vor dem Lesen seiner Denkwürdigkeiten gewarnt werden. Wer dagegen ohne vorgefaßte Meinung das Buch liest, wird den Eindruck gewinnen, daß bloße Schlauheit und Abwesenheit aller sittlichen Empfindung nicht ausgereicht hätten, um so erstaunliche Erfolge zu erringen. Für unsere arme menschliche Natur ist es am Ende doch tröstlich zu sehen, daß selbst ein Talleyrand unmöglich seine große Rolle hätte spielen können, wenn er nichts anderes als ein Egoist von eminenter Klugheit gewesen wäre.

Die abfälligen Urtheile über den Werth der Memoiren (und sie sind häufig genug) gehen fast alle von zwei unerfüllbaren Forderungen aus: der Verfasser soll sich als ein unanfechtbarer Biedermann darstellen, und er soll uns lauter unbekannte Dinge mittheilen. Weder das eine noch das andere geschieht, und nun meint man, die Herausgeber hätten sich ihre Mühe sparen können. Sogar das wird zum Vorwurf, daß die vier Bände eine große Menge von Briefen Talleyrands und seiner Correspondenten umfassen – und daß augenscheinlich der Verfasser der Memoiren in ihnen eine besonders werthvolle Gabe und zugleich die beste Beglaubigung für die Richtigkeit seiner Erzählung erblickt hat. Er hat natürlich nicht geahnt, daß einmal ein Herr Pallain alle diese kostbaren Briefe, oder die meisten, aus dem Archive des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten in die Druckerei befördern werde, ehe noch die Memoiren an die Oeffentlichkeit gelangen würden. Daß die von Pallain herausgegebenen Sammlungen den Memoiren viel von ihrer Wirkung vorweggenommen haben, ist richtig, aber es ist nur für den Leserkreis der Spezialisten, nicht für das gebildete Publikum richtig. Denn dieses liest keine archivalistischen Publicationen. Wohl aber kann es sich für die archivalistischen Texte interessiren, wenn sie im Zusammenhange einer Erzählung, unterbrochen von den Erläuterungen des kompetentesten Kommentators, mit Ausscheidung alles unwichtigen, ihm vorgeführt werden. Da hört man die Stimmen und Stimmungen längst vergangener und noch immer denkwürdiger Tage gleichsam ipsissimis verbis reden. Mit Recht, dünkt mich, hat Talleyrand bemerkt, daß nichts so lebhaft eine politische Situation veranschauliche, als der Brief, den er unter ihrer unmittelbaren Herrschaft, ehe er wußte, was die Zukunft bringe, im Bewußtsein schwerer Verantwortlichkeit, dem Könige oder dem Minister schrieb. Diese Methode der Darstellung gewährte ihm freilich auch eine besondere Befriedigung: mit ihrer Hülfe konnte er urkundlich und ohne Selbstlob zeigen, daß seine Beurtheilung der jedesmaligen Lage, seine Weisheit und Klugheit, seine Kaltblütigkeit und Standhaftigkeit, seine Mäßigung und Nachgiebigkeit nicht erst nachträglich im Lichte der vollendeten Thatsachen herausstaffirt worden sind, sondern mitten in Gefahr und Krisis, im Dunkel der schwierigsten Stunden sich geltend gemacht haben.

Sich den Sittenrichtern gegenüber zu vertheidigen, hat Talleyrand bei der Abfassung seiner Memoiren nicht oder doch nur in geringem Maße beabsichtigt. Schon im ersten Bande spricht er von seiner Person und seinem Privatleben nicht viel, in den drei folgenden Bänden fast gar nicht. Wahrscheinlich ist mir, daß er einen Theil seiner sittlichen Gebrechen milde beurtheilt hat, als ein Grand seigneur der Zeit Ludwigs XV., der es natürlich fand, die Gunst der politischen Conjuncturen auch dazu zu benutzen, sich die Mittel zu einer fürstlichen Existenz zu verschaffen, wie Richelieu und Mazarin und viele minder Berühmte es ohne Bedenken auch gethan hatten; der ferner in einer Atmosphäre groß geworden war, die ungebundenem Lebensgenusse volle Freiheit ließ, wenn nur ein gewisses Decorum und der Ehrencodex der vornehmen Welt gewahrt blieben; der endlich der Kirche, deren priesterliches Gewand er einige Zeit lang trug, niemals mehr als eine äußerliche Unterwerfung schuldig zu sein geglaubt hatte. Vorwürfe, die sich auf diese drei Punkte bezogen, abzuwehren, wird er nicht der Mühe werth gehalten haben; höchstens seine Betheiligung an der Zerstörung der alten Kirchenverfassung hat er mit einigem Ernste bedauert und zu beschönigen versucht. Von einer anderen Gattung von Vorwürfen hat er sich gesagt, daß er von ihnen am besten möglichst wenig rede. Das sind die Vorwürfe, die sich auf seine weitgehende Schmiegsamkeit gegenüber den revolutionären Factionen und den Männern des Direktoriums beziehen. Ueber diese Dinge, die schlimmsten in seiner Laufbahn, geht er schweigend oder mit einigen verächtlichen Sarkasmen hinweg. Daß er dies thut, gehört mit zu seinem Charakterbilde. Er schämt sich ihrer. Aber sie erdrücken ihn nicht; er hat das sehr lebhafte Gefühl, daß seine politische Thätigkeit ihr eigentliches und dauerndes Gepräge durch Leistungen erhält, die ihm Anspruch auf die Dankbarkeit seiner Nation gewähren und ein sehr starkes Gegengewicht gegen die Last seiner Sünden bilden. Diese seine politische Thätigkeit für große Interessen Frankreichs während des Kaiserreichs, während der Restauration und in den ersten drei Jahren nach der Julirevolution darzulegen, an der Hand der Urkunden die Thatsachen für sich und ihn reden zu lassen, und auf diese Weise den Vorwurf, der ihm am meisten zu Herzen gegangen ist, zu widerlegen, den Vorwurf nämlich, daß er allen Regierungen gedient und allen die Treue gebrochen habe, – dieser Gedanke und diese Absicht haben ihm, als er seine Aufzeichnungen redigirte, die Feder geleitet.

Für die Napoleonische Zeit bedurfte es immer noch einer sorgfältigen Auswahl, der Unterdrückung verfänglicher, der Heraushebung günstiger Momente; vom Jahre 1814 an aber hat er nichts mehr zu verhüllen; um Reichthum, Ansehen, Macht braucht er nicht mehr zu ringen; seine gesicherte glänzende Stellung überhebt ihn der Anwendung kleinlicher und demüthigender Mittel; alle Kräfte sind ihm frei geworden und können in den Dienst der öffentlichen Sache gestellt werden. Mich dünkt, daß er den Beweis, den er führen wollte, erbracht hat. Nur muß man freilich nicht von ihm jene Vasallentreue erwarten, die nur das Wohl des Herschers im Auge hat und ihm das Schicksal der Unterthanen bereitwillig opfert. Von solcher Romantik war in ihm keine Spur; er fühlt sich gerechtfertigt, wenn er sagt: ich diente Napoleon, ich diente den Bourbonen getreulich, bis sie selbst sich ins Verderben stürzten; von dem Augenblicke an dachte ich nur noch daran, zu verhindern, daß sie Frankreich mit sich zögen. Dieser Patriotismus ist wahrscheinlich verstärkt worden durch die Erwägung, daß Frankreichs Verderben auch das Verderben des Fürsten Talleyrand und das Ende seines angenehmen Lebens gewesen wäre; aber ich finde nicht, daß diese Erwägung sich auf Kosten des Landes praktisch geltend gemacht hätte.

Von seiner Regel, nicht von seinem Charakter und von seinen Sünden zu sprechen, macht Talleyrand zweimal eine Ausnahme. Im Jahre 1823 hatte Savary (Herzog von Rovigo) einen Auszug aus seinen Memoiren veröffentlicht, in dem er behauptete, Talleyrand sei der Anstifter der Ermordung des Herzogs von Enghien gewesen. Diese Anklage, von dem eingeweihtesten Helfer Napoleons ausgesprochen, konnte nicht vornehm ignorirt werden, wenn Talleyrand sich nicht aus der Gesellschaft ausgestoßen sehen wollte. Er richtete sofort ein Schreiben an den König und bat, ihm zu erlauben, den Fall vor der Pairskammer zum Austrag zu bringen und seinen Verleumder zur Rechenschaft zu ziehen. Der König ließ ihm durch den Minister Villèle antworten: »Seine Majestät hat gewollt, daß die Vergangenheit dem Vergessen übergeben bleibe, ausgenommen nur die Dienste, die Sie Frankreich und dem König geleistet haben. Der König könnte einen überflüssigen und ungewöhnlichen Schritt nicht billigen, der unliebsame Debatten entfachen und schmerzlichste Erinnerungen erwecken würde. Der hohe Rang, den Sie, mein Fürst, am Hofe sich erhalten haben, ist ein sicherer Beweis, daß die fraglichen Anschuldigungen auf Seine Majestät keinen Eindruck gemacht haben.« Die Blätter meldeten zugleich, daß der König dem Herzog von Rovigo den Eintritt in die Tuilerien verboten habe. Der Nachwelt gegenüber hat Talleyrand diese Genugtuung nicht für ausreichend gehalten; er legt, wie es scheint, höchsten Werth darauf, vor ihr nicht mit einem Blutfleck zu erscheinen. Er hat daher in einem besonderen Abschnitte den Beweis seiner Unwissenheit und Unschuld hinsichtlich des Verbrechens vom Jahre 1804 angetreten, einen Beweis, der natürlich immer nur negativ sein konnte, der aber wohl auch überflüssig war. Meines Wissens hat kein glaubwürdiger Zeitgenosse und kein Geschichtsforscher von Bedeutung dem Herzog von Rovigo Recht gegeben. Frevel wie jener Mord schienen in der That der ganzen Natur Talleyrands fern zu liegen, und seine Zeitgenossen würden, wenn sie es nicht gefühlt hätten, schwerlich gerade ihm den Ausspruch in den Mund gelegt haben: »c'est plus qu'un crime, c'est une faute.« Eine der seltenen Proben pathetischer Schreibweise hat uns Talleyrand geliefert, als er unter dem Eindruck dieser Anschuldigung stand. In seiner Eingabe an den König sagt er:

»Während aller Stürme, die wir in den letzten dreißig Jahren durchlebten, hat die Verleumdung mich mit vielen Anklagen überschüttet, aber eine wenigstens hat sie mir bis jetzt erspart. Keine Familie hat sich berechtigt geglaubt, von mir das Blut eines Angehörigen zurückzufordern, und nun kömmt ein Wüthender auf den Einfall, daß ich, mit Verleugnung aller Milde und Mäßigung des Charakters, die selbst meine Feinde mir nicht abgesprochen haben, der Urheber, der Anstifter des fluchwürdigsten Meuchelmordes geworden sei! Ich, der niemals – und ich danke dem Himmel dafür – ein Wort des Hasses, einen Rath aus Rache gegen irgend jemand, auch nicht gegen meine erbittertsten Feinde, von mir gegeben habe, ich hätte eine einzige Ausnahme gemacht, mit wem? mit einem Prinzen aus der Familie meiner Könige, den mir als Opfer auszusuchen und so mein erstes Auftreten in der Laufbahn eines Meuchelmörders zu signalisiren!«

Verächtlicher und gelassener verwahrt Talleyrand sich in demselben Anhange vom Jahre 1824 gegen eine Anklage des Marquis de Maubreuil, eines fahrenden Ritters, dessen Laufbahn von dem Aufstande der Vendée zur Würde eines Stallmeisters im Dienste König Jéromes lustigen Angedenkens geführt hatte. Er versicherte, daß im April 1814 ein Secretär der provisorischen Regierung ihn im Namen des Fürsten Talleyrand aufgefordert habe, den Kaiser Napoleon, der sich auf dem Wege nach Elba befand, zu ermorden, unter der Zusicherung, daß man ihn dafür mit »Pferden, Equipagen, dem Generallieutenantsrang, dem Herzogstitel und dem Gouvernement einer Provinz« belohnen werde. Mit Recht meint Talleyrand, daß diese Anklage durch ihre eigene Ungereimtheit widerlegt werde. Und welchen Nutzen hätte das Verbrechen gewährt? Napoleon galt nach seiner Abdankung in Fontaineblau auch so klugen Leuten wie Talleyrand »für einen niedergeworfenen Feind, dessen Leben niemand mehr gefährlich werden konnte.« Daß wirklich dies die Ansicht Talleyrands gewesen war, erkennt man aus der Korrespondenz während des Wiener Congresses zwischen ihm und Ludwig XVIII. Man denkt sich gewöhnlich, daß der Congreß auf die Nachricht von Napoleons Flucht aus Elba vor Schrecken erstarrt sei. Davon findet man in Talleyrands Briefen keine Spur. Die Nachricht, daß der Kaiser am 26. Februar Abends die Insel mit zwölfhundert Mann verlassen habe, erreichte Wien erst am 6. März; man erfuhr nicht, wohin er sich gewandt habe, glaubte aber, daß er in Italien etwas unternehmen wolle, in Verbindung mit König Murat. Talleyrand behandelt in seinem ersten Briefe an den König (vom 7. März 1815) die Sache zwar nicht als Bagatelle, aber doch nichts weniger als tragisch; er hält es für unwahrscheinlich, daß der Exkaiser etwas im Süden Frankreichs versuchen sollte; in diesem Falle müsse man ihn ganz als Räuberhauptmann behandeln; einige Vorsichtsmaßregeln seien immerhin anzuordnen. Vielleicht biete der Zwischenfall eine erwünschte Gelegenheit, Bonaparte des ihm thöricht belassenen kaiserlichen Ranges zu entkleiden und alle Mittel, neues Unheil über Europa zu bringen, ihm zu entziehen. Dann geht der Brief ruhig auf die sächsische Angelegenheit über. Noch am 12. März beginnt Talleyrand ein Schreiben mit einem ausführlichen Bericht über eine Zusammenkunft mit dem König von Sachsen und kömmt erst dann auf »Bonaparte« zu sprechen. Man weiß jetzt, daß er in der Bai von Jouan gelandet ist, hält jedoch die Sache für nicht sehr beunruhigend, wennschon man der Vorsicht halber militärische Anordnungen trifft, um im Nothfall die französische Regierung unterstützen zu können. Dies Anerbieten, meint der Botschafter, könne füglich nicht zurückgewiesen werden, es würde aber traurig sein, wenn Frankreich Gebrauch davon machen müßte, was nur in einem äußersten, hoffentlich nicht eintretenden Falle geschehen dürfe. Uebrigens bringe cet incident, d'ailleurs si désagréable, den Vortheil mit sich, daß er den Eifer aller Staaten, zum Abschlusse der Congreßgeschäfte zu gelangen, verdoppele.

Seit sechs Monaten von Frankreich abwesend, war der Botschafter in Wien nicht hinreichend orientirt, um die Größe der Gefahr richtig zu beurtheilen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß vor dem bloßen Erscheinen des Kaisers die Monarchie der Bourbonen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen und die französische Nation keine Hand rühren werde, um dem Usurpator Widerstand zu leisten. Gleichwohl versäumte er nichts, was ängstlichste Vorsicht hatte gebieten können. Sofort war sein Augenmerk auf den schwärzesten Punkt der neuen Situation gerichtet, auf die verhängnißvollen Folgen, die das Abenteuer, wenn es einen nationalen Charakter annehme, für Frankreich haben werde. Um jeden Preis mußte die Sache Frankreichs von der Sache Bonapartes getrennt werden, wenn nicht alles wieder verloren gehen sollte, was eine fast wunderbare Gunst des Schicksals und die Kunst des Unterhändlers beim ersten Friedensschlusse gerettet und auf dem Congreß gewonnen hatte. Die Achterklärung der fünf Großmächte vom 13. März gegen Napoleon war von diesem Gesichtspunkte aus von Talleyrand abgefaßt und den anderen Botschaftern annehmbar gemacht worden. Der Exkaiser wurde in diesem Proclam in der That als ein Räuberhauptmann großen Stils behandelt, als Feind des menschlichen Geschlechts, der sich außerhalb der civilisirten Gesellschaft gestellt und die öffentliche Rache auf sein Haupt herabbeschworen habe. Zugleich wurde den Großmächten die feierliche Erklärung in den Mund gelegt, daß sie fest entschlossen seien, den Pariser Friedensvertrag vom 30. Mai 1814 unversehrt aufrecht zu erhalten und nötigenfalls dem König von Frankreich und der französischen Nation auf Verlangen jeden Beistand gegen den Störer der Ordnung Europas zu leisten.

Der Nothfall trat bekanntlich sehr bald ein, und die Ereignisse machten es von Tag zu Tag schwieriger, den Standpunkt zu behaupten, den Talleyrand eingenommen hatte. Aber keine Schwierigkeit lähmte seine Anstrengungen, Ludwig XVIII. einerseits, die Großmächte andererseits auf der vorgezeichneten Linie zu erhalten. In Wien erhielt er das Ansehen der französischen Botschaft auf der Höhe, als ob sich nichts geändert hätte; dem bald eintretenden Geldmangel wußte er durch ein finanzielles Abkommen mit der englischen Regierung abzuhelfen; das entstehende politische Vacuum verhüllte er durch sicheres Auftreten und sinnreiche Combination imponirender Phrasen mit nützlichen Rathschlägen. Ein kritischer Augenblick war es, als die vier »Alliirten« ohne Frankreich sich über die militärischen Maßregeln verständigten, die zur Sicherheit Europas gegen das Abenteuer Napoleons zu ergreifen seien. Bereits hatte Ludwig XVIII. sein Reich verlassen, der Usurpator stand wieder an der Spitze einer Armee und Frankreich lag ihm zu Füßen. Aber selbst jetzt noch (25. März) gelang es Talleyrand, einen Artikel in den Vertrag der vier Mächte zu bringen, welcher besagte, daß es »der einzige Zweck des Vertrags sei, Frankreich gegen Bonapartes Unternehmung zu stützen, und daß daher Seine Allerchristlichste Majestät besonders eingeladen werden solle, ihm beizutreten« und die ihm noch verbleibenden Streitkräfte für die gemeinsame Sache zu verwenden. Diesen Beitritt erklärte der französische Botschafter natürlich sofort mit größter Behendigkeit. Unermüdlich schickte er von Tag zu Tag dem König Rathschläge, Warnungen, Mahnungen, immer in der nämlichen Richtung, unbeirrt durch die täglich schlimmer lautenden Nachrichten aus Frankreich. Wo möglich soll der Hof Paris nicht verlassen, wo möglich mindestens in Frankreich bleiben, jedenfalls in nächster Nähe der Grenze. Als der König sich nach Ostende begiebt, schreibt er ihm sofort, daß der Aufenthalt in dieser Küstenstadt einen schlechten Eindruck mache und den Glauben erwecke, Seine Majestät wolle über See sich in Sicherheit bringen. Nach der Schlacht bei Waterloo befindet er sich wieder in der Umgebung des flüchtigen Monarchen, und nun bietet er seine ganze Beredsamkeit auf, ihn zu einer selbständigen Rückkehr in sein Reich zu bewegen, um alles in der Welt den Schein zu vermeiden, als ob die fremden Bayonette ihn wieder einsetzten. Er soll nach Lyon gehen, dort seine Regierung organisiren und von da aus mit den fremden Heerführern verhandeln, als der Souverän, der mit ihren Souveränen gemeinschaftliche Sache gemacht hat.

Solchem Rathe zu folgen, gebrach es dem Könige an Entschlossenheit; er kehrte »avec les bagages de l'armée anglaise«, wie Talleyrand sich ausdrückt, in seine Hauptstadt zurück, um bald genug die Erfahrung zu machen, daß die Franzosen ihn als den Schützling des Auslandes ansahen, die Fremden ihn als Besiegten behandelten, dem sie großmüthig seinen Thron ließen. Ob es anders gekommen wäre, wenn man das Programm Talleyrands durchgeführt hätte? Die völkerrechtliche Fiktion, die er ersonnen hatte, war zu fein und abstrakt, um in dem entfesselten Kriegssturm Stand zu halten. Er selbst beharrte unerschütterlich bei seiner legitimistischen Theorie, um den Siegern den geforderten Kampfpreis streitig zu machen, die Landabtretungen, die diesjährige Besetzung französischer Departements, die Entschädigung von achthundert Millionen, die Herausgabe der einst geraubten Kunstwerke. Wie könnt ihr, so fragte er die fremden Diplomaten, den Souverän, den ihr als Verbündeten anerkennt, auf solche Weise berauben? Es ist ein Rückfall in die schlimmsten Traditionen der Revolution und des Kaiserreichs! Aber die Thatsachen sprachen allzu gewaltig gegen die scharfsinnigsten Deductionen, und den fremden Diplomaten stand die öffentliche Meinung der Völker zur Seite, als sie Frankreich für die Friedensstörung verantwortlich machten und für die neue Situation eine Abrechnung forderten. Es ist merkwürdig genug, daß ein so kühler Beurtheiler menschlicher Dinge wie Talleyrand die unerbittlichen Konsequenzen dieser Lage nicht eingesehen hat; daß er sie während der Verhandlungen heftig abwies, lag in seiner Rolle, aber auch in den für die Nachwelt bestimmten Aufzeichnungen hält er hartnäckig daran fest, daß die Mächte ihren Sieg mißbraucht und der französischen Nation arges Unrecht angethan hätten. Er meint, man hätte allenfalls die Abtretung einiger Grenzplätze und einen Beitrag zu den Kriegskosten, etwa zwei- bis dreihundert Millionen, mit Ehren bewilligen können, und man hätte sich damit abgefunden, wenn man nur fest zu allem weiteren Nein gesagt hätte. Er erbot sich, diesen Widerstand zu leisten, aber der König wollte das hohe Spiel nicht wagen; der Minister erklärte sich darauf bereit, sein Amt niederzulegen, und der Monarch nahm das Erbieten an, »mit augenscheinlicher Erleichterung.« »Le Roi accepta ma démission de l'air d'un homme fort soulagé.«

Mit diesem Abschlusse seiner öffentlichen Thätigkeit beendete Talleyrand ursprünglich seine Aufzeichnungen, im August 1816, »entschlossen, niemals die Leitung der Staatsgeschäfte wieder zu übernehmen,« »hinfort nur noch im Stande, mit meinen Wünschen dem Vaterlande und seiner Regierung zu dienen,« übrigens voll Zuversicht, daß die constitutionelle Monarchie, wenn richtig verstanden und aufrichtig angewandt, die beste Verfassung für die Nation sei und Frankreich bald wieder auf den Platz stellen werde, den es zur eigenen Ehre und zum Heil der Welt und der Civilisation einnehmen sollte. Ganz buchstäblich sind solche Aeußerungen nicht zu verstehen; sowohl jene Resignation als diese Zuversicht haben hernach anderen Stimmungen Platz gemacht. Nach der Ermordung des Herzogs von Berry war, worüber freilich die Memoiren schweigen, Talleyrand sehr bereit und sehr eifrig bemüht, die Leitung der Geschäfte zu übernehmen, aber Ludwig XVIII. wollte sich nicht zum zweiten Male von ihm retten lassen, sondern zog dem alten Meister einen jüngeren Mann von bescheideneren Gaben vor, Herrn de Villèle. Talleyrand blieb Zuschauer, manchmal besorgter Zuschauer, aber bis 1829 nie an eine neue Revolution glaubend. Erst als Karl X. seine »unsinnigen Entschließungen« faßte, konnte auch er nicht mehr zweifeln, daß der Abgrund sich öffne. Der Sturz der älteren Linie der Bourbonen rief den Zuschauer wieder auf die Bühne und zu einer mehrjährigen großen staatsmännischen Action, der letzten dieses merkwürdigen Lebens.

Warum fühlte Ludwig XVIII. sich erleichtert, als Talleyrand ihm seine Entlassung anbot, als in gefahrvollstem Fahrwasser der erfahrenste Lootse das Staatsschiff zu verlassen sich erbot? Selten war ein Monarch einem Minister so großen Dank schuldig wie König Ludwig dem Manne, der ihn aus dem Elend und den Demütigungen eines zwanzigjährigen hoffnungslosen Exils auf den Thron erhoben, und diesem Throne selbst eine Stellung, die unwiederbringlich verloren schien, zurückerobert hatte. Ludwig dem Achtzehnten gebrach es nicht an Geist und Einsicht, um die Leistungen des Ministers würdigen zu können; unter den letzten Bourbonen war er ohne Vergleich der gescheiteste. Leopold Ranke, der vor fünfzig Jahren ein Publikum über neuere Geschichte las, behandelte ihn mit einer gewissen Zärtlichkeit. Nicht ohne Schwächen sei dieser Monarch gewesen; aber – der Dozent machte eine Kunstpause und lächelte uns Zuhörer schlau an, – »aber es ist ihm geglückt, als König von Frankreich in seinem Bette zu sterben.« Jedenfalls war dieser Monarch frei von den bigotten Vorurtheilen seiner Umgebung, die in dem Fürsten Talleyrand den abtrünnigen Bischof, das Mitglied der revolutionären Constituante, den Diener Bonapartes haßte. Hatte er doch sogar Fouché sich als Minister gefallen lassen, als die Staatsraison es zu fordern schien. Auch an dem Lebenswandel seines Retters wird er schwerlich sich gestoßen haben. Gleichwohl empfand er die Nähe des geistreichen, angenehmen Gesellschafters und gewandtesten Hofmanns als eine Pein, von der er sich bei erster Gelegenheit zu trennen suchte. Der Widerwille war stärker als alle Vernunftgründe. Worauf beruhte er?

Etwas mag die revolutionäre Vergangenheit Talleyrands mitgewirkt haben, den König gegen ihn zu stimmen, aber sie hat sicherlich nicht den Ausschlag gegeben. Die Hauptschuld Talleyrands bestand in der unbezahlbaren Wohlthat, die er der Dynastie erwiesen hatte. Ihm verdankte das Königthum, daß es aus dem Nichts wiedererstanden war; das war unverzeihlich. Die zweite Schuld war seine Überlegenheit, seine Autorität, seine hohe Stellung in der europäischen Welt. Nach Napoleons Sturz war Talleyrand der erste Mann Frankreichs; neben seinem Glanze nahmen sich die Prinzen des Hauses Bourbon, die fast vergessen aus thatenloser Verborgenheit wieder auftauchten, etwas kümmerlich aus, und dieser Kontrast war unerträglich. Um so mehr war er es, als Talleyrand sich nicht damit begnügte, auf den erworbenen Lorbern auszuruhen und sich still an dem Schimmer seiner Erfolge zu sonnen, sondern seine Stellung benutzte, um die von ihm als nothwendig erkannte Politik, eine Politik der Versöhnung zwischen dem alten und dem neuen Frankreich, dem Monarchen vorzuzeichnen und gegen die blinden Leidenschaften der Royalisten zu vertheidigen. Ludwig XVIII. theilte wohl im Allgemeinen die Ansichten seines Mentor, aber stets einen Mentor neben sich zu haben, der jeden Mißgriff rügte, – und Mißgriffe kamen nur zu oft vor, – war ihm doch lästig, vielleicht gerade deshalb, weil der Mentor fast immer Recht hatte. Er erkannte die Nothwendigkeit der konstitutionellen Formen, »aber er fügte sich nur ungern in ihre Konsequenzen, in die Selbständigkeit der Minister, und er trug nur mit Mühe die Last des Dankes, den er Talleyrand schuldig zu sein erkannte.«

Wie während der unheilvollen »hundert Tage« der Minister die Schritte des Monarchen von Wien aus zu lenken bemüht war, habe ich vorher angedeutet. Als die Lage kritischer wurde, der Hof über die Grenze floh, hielt Talleyrand den psychologischen Augenblick für gekommen, um dem zwar gescheiten, aber lässigen und bequemen König schärfer die Notwendigkeit liberaler Versöhnungspolitik, wenn er nicht seine Krone verspielen wolle, zu Gemüthe zu führen. In verbindlichster und ehrerbietigster Form sagte er die unangenehmsten Wahrheiten: man habe im ersten Probejahre der Restauration die zu lösende Aufgabe verfehlt, und man müsse sich gründlich bessern, wenn die Dynastie die Katastrophe überdauern solle. Gern benutzte er, um das stärkste zu sagen, eine indirekte Form; die herbsten Warnungen wurden dem russischen Kaiser, den fremden Staatsmännern in den Mund gelegt und so dem König berichtet, in einem Tone jedoch, daß kein Zweifel blieb, der Berichterstatter theile die vorgetragene Ansicht. In einem Briefe vom 23. April theilt er dem König mit, daß er keineswegs ohne weiteres auf die Unterstützung der Mächte rechnen könne; diese verlangten vor allem eine dauerhafte und feste Regierung für Frankreich, und nach den gemachten Erfahrungen fingen sie an zu zweifeln, ob die restaurirte Dynastie sich mit der Nation auf den richtigen Fuß zu stellen verstehe. Vor allem sei Kaiser Alexander mißtrauisch geworden.

»Er hat wiederholt geäußert, daß er schon im vorigen Jahre während seines Aufenthalts in Paris befürchtet habe, die Regierung könne sich nicht halten; die Anschauungen der Prinzen schienen ihm unvereinbar mit denen einer Generation, die während ihrer Abwesenheit geboren wurde. Nun sei es aber unmöglich, im Widerspruch mit den Ideen seiner Zeit zu regieren. Seine Besorgniß steige, wenn er sehe, was für Männer Ew. Majestät in Ihren Rath beruft, sehr schätzbare Männer gewiß, die aber während der Revolution im Auslande gelebt haben, das Land nicht kennen und der Erfahrung entbehren, die selbst das Genie nicht zu ersetzen vermag .... Das schlimmste Übel sei die Macht, die Ew. Majestät den Prinzen eingeräumt habe; das Vorurtheil gegen diese sei ein unheilbarer Schaden, gefährlicher als die Feindseligkeiten, die sich gegen Ew. Majestät selbst richten, weil die Unzufriedenheit mit dem Herscher gedämpft werde durch die Hoffnungen, die man auf den Nachfolger setzt, während diese Hoffnungen fehlen, wenn es der Nachfolger ist, den man fürchtet. ... Ich habe die Genugthuung zu sehen, daß die Mächte Ew. Majestät ein aufrichtiges Interesse widmen; wie glücklich wäre ich, wenn ich hinzufügen dürfte, daß dies Interesse sich auch auf Monsieur und die Herren von Angoulême und von Berry erstreckte. Liegt aber die Staatsgewalt einmal ausschließlich in den Händen Ew. Majestät und verantwortlicher Minister, die das Vertrauen des Königs und des Landes genießen, so werden die übertriebenen Eindrücke, die begangene Fehler und Unvorsichtigkeiten hervorgerufen haben, sich allmählich verwischen.«

Was aber in diesem selben Briefe den König am tiefsten berühren mußte, war folgendes. Kaiser Alexander hatte eine Unterredung mit Lord Cathcart, dem britischen Botschafter, gehabt. Er hatte ihm gesagt, daß zwar die nächste Aufgabe der Mächte sei, Napoleon unschädlich zu machen, daß man aber sich zu fragen habe, was nach Erledigung dieser Pflicht weiter geschehen solle. Er für seinen Theil wünsche die Wiedereinsetzung Ludwigs XVIII., wie aber, wenn es sich zeige, daß sie unausführbar sei, daß sie keinen Bestand verspreche? Solle Europa es darauf ankommen lassen, daß Frankreich zum zweiten Male Europa in Verwirrung stürze, wie in diesem Augenblicke? Was heute geschehe, könne morgen wieder geschehen. Man müsse sich also verständigen, was zu thun sei, wenn eine zweite Restauration auf unüberwindliche Hindernisse stoße. »Ich,« sagte der Kaiser, »sehe kein Mittel, alles zu versöhnen, außer den Herzog von Orleans. Er ist Franzose, er ist ein Bourbon, er hat Söhne, er hat als junger Mann der konstitutionellen Sache gedient, er hat die dreifarbige Kokarde getragen, die man, ich hab es oft in Paris gesagt, nie hätte ablegen sollen. Er würde alle Parteien vereinigen. Meinen Sie nicht auch, Mylord, und wie denkt England darüber?«

Pillen von solcher Bitterkeit lassen einen Nachgeschmack zurück, der sich nicht leicht wieder tilgen läßt. Ludwig XVIII. hätte ein größerer König sein müssen, als er war, um nicht mit Begierde die Gelegenheit wahrzunehmen, einen Arzt, der ihm so unschmackhafte Arznei aufnöthigte, zu verabschieden. Immerhin hat er während der folgenden neun Jahre sich einigermaßen nach dem Rezepte, das Talleyrand verordnet hatte, der reaktionärsten Fieberanfälle zu erwehren gesucht.

In gewissem Sinne war Talleyrand selbst ein Miturheber der Katastrophe, die sein Werk von 1814 theilweise zertrümmerte und ihn selbst von der Macht entfernte. Napoleon hätte nie daran denken können, von Elba in die Tuilerien zurückzukehren, wenn nicht der Friedensschluß im Mai 1814 so schnell und unter so günstigen Bedingungen zu Stande gekommen wäre. Dieser Friede brachte mehr als hunderttausend Soldaten aus der Gefangenschaft und den blockirten Plätzen nach Frankreich zurück, lauter Mißvergnügte, die den Kaiser sehnsüchtig erwarteten, und er befreite zugleich den französischen Boden von jeder fremden Besatzung. Wären die verbündeten Truppen in den nördlichen Provinzen und Grenzfestungen stehen geblieben, wie sie es nach dem zweiten Pariser Frieden thaten, so wäre die Episode der hundert Tage wohl nicht eingetreten. So gereichte der Triumph des französischen Unterhändlers dem Lande schließlich doch zu schwerem Schaden. Und dasselbe gilt von seinem zweiten Haupterfolge, den er auf dem Wiener Kongresse errang, als er den Dreibund Oesterreich-Frankreich-England gegen Rußland und Preußen stiftete. Der streng geheim gehaltene Vertrag der drei Verbündeten, vom 3. Januar 1815, war, als der Hof floh, im Archiv des auswärtigen Amtes liegen geblieben, und, wie es scheint, hat ein Beamter dem Kaiser Napoleon, sobald dieser in den Tuilerien abgestiegen war, das Aktenstück überbracht. Napoleon hatte nichts eiligeres zu thun, als dem russischen Monarchen eine Abschrift zu schicken, in der Hoffnung, damit die Mächte unter sich zu entzweien. Darin verrechnete er sich zwar, Alexander ließ sich nicht irre machen, aber mit seinem Wohlwollen für Frankreich, zumal für Talleyrand, war es doch seitdem nicht mehr so gut bestellt wie im Jahre vorher. Während damals Alexander die Liebenswürdigkeit selbst für das besiegte Land war, kehrte er nach der Schlacht bei Waterloo die rauhe Seite hervor. »Meine Entlassung,« schreibt Talleyrand, »war auch für den russischen Kaiser eine Erleichterung; er erwies mir die Ehre, mich zu hassen, nicht als den Freund der Engländer (denn er wußte sehr wohl, daß ich mir die Engländer zu Helfern erst dann machte, als er sich Hoffnung gemacht hatte, die Grenzen seines Reichs bis an die Oder vorzurücken, und daß ich nur so weit ihr Freund war, als die Interessen Europas und Frankreichs es forderten), sondern er haßte mich als den Mann, der ihn sehr in der Nähe, in den verschiedensten Lagen, im Glück und im Unglück gesehen hatte, der genau wußte, was von seiner Großmuth, von seinem früheren Liberalismus und von seiner neuen Frömmigkeit zu halten sei. Er brauchte eine dupe, und die konnte ich nicht sein.«


Mérimée hat gesagt: »Ich liebe von der Geschichte nur die Anekdote.« Er hat gemeint, nur das, was mir die handelnden Personen lebendig macht, mir gestattet, mich in ihren Charakter, ihre menschliche Natur hineinzudenken. Der Reiz der Memoiren beruht großentheils darauf, daß sie dieser Liebe Mérimées entgegenkommen, mehr oder weniger. Die Bedingung ist aber, daß die Anekdote charakteristisch für die Person und daß sie authentisch sei, das heißt entweder wahr oder so erfunden, daß sie zeigt, wie die Person ihren Zeitgenossen, ihrer Umgebung erschien. Talleyrand hat diese Würze der Geschichte nur mit sparsamer Hand angebracht, zumal in den letzten Bänden; er hat auf eine andere Art des Interesses gerechnet. Wir finden bei ihm kein Wort von der ergötzlichen Geschichte, die Graf Beugnot uns erzählt, wie im April 1814 nach dem triumphirenden Einzuge des ersten Bourbon, des Grafen Artois, in Paris, im Kreise der provisorischen Regierung unter Talleyrands Leitung der Moniteurartikel redigirt wird, der dem Lande und der Welt das große Ereigniß berichten soll. Unglücklicher Weise hat der Prinz, als er auf seinem Schimmel in die jubelnde Stadt einritt und von huldigenden Deputationen begrüßt wurde, nur Dank gestammelt, nichts geantwortet, was der Situation angemessen gewesen wäre und im Moniteur sich gut ausnehmen würde. Man muß also für ihn eine gute Phrase erfinden, einfach und doch sonor, patriotisch, aber theatralisch. Allerlei Vorschläge werden von den offiziellen Konzipienten dem Conseil vorgelegt, aber Talleyrands Geschmack ist nicht zu befriedigen. Endlich bringt Beugnot die Worte: »Rien n'est changé, il n'y qu'un Français de plus,« Und Talleyrand sagt: »Voilà notre affaire.« Von diesem amüsanten Detail, wie gesagt, schweigen unsere Memoiren, und wenn das auch kein Grund ist, die Geschichte zu bezweifeln, so wird sie doch noch weniger dadurch bestätigt, was nicht überflüssig gewesen wäre. Denn Beugnot steht ein wenig im Verdachte der Aufschneiderei.

Die bekannte Anekdote von dem Pont de Jéna, den Blücher in die Luft sprengen wollte und der nur gerettet wurde, weil König Ludwig hochherzig erklärte, er werde sich auf die Brücke setzen und mit in die Luft fliegen, wird zu meinem Erstaunen von Talleyrand als historische Thatsache behandelt. »Vor der Wuth und Plünderung der Preußen konnten wir nicht viele Depots bewahren, aber wir retteten die Jenabrücke, die sie ihres Namens wegen zerstören wollten. Ein herrlicher Brief des Königs erhielt sie uns. Man verhandelte, und die Brücke erhielt den Namen pont de l'Ecole militaire, einen Namen, der die rohe (sauvage) Eitelkeit der Preußen befriedigte, der aber durch das Wortspiel einen vielleicht noch pikanteren Sinn gewann als der ursprüngliche Name Jena.« Der herrliche Brief des Königs, der sogar im Facsimilie mitgetheilt wird, ist an Talleyrand gerichtet, der aufgefordert wird, alles aufzubieten, die Sprengung der Brücke zu hintertreiben, nötigenfalls den Herzog von Wellington, Lord Castlereagh anzurufen, die beide in der Kontributionssache sich sehr löblich benommen hätten, und er schließt mit den Worten: »Ich für meine Person werde mich, wenn es sein muß, auf die Brücke tragen lassen; man wird mich, wenn man will, in die Luft sprengen.« So gut beglaubigt sind solche Geschichten selten, und doch, was soll man für wahr halten, wenn man dagegen die Darstellung Beugnots liest, der als Talleyrands Sekretär die Brückengeschichte als nächster Zeuge miterlebte? Die Preußen unterminirten die Brücke, die französischen Minister waren in höchster Erregung; Talleyrand befahl dem Grafen Beugnot schleunigst zu Blücher zu eilen, um jeden Preis die Katastrophe abzuwenden. »Was soll ich denn sagen? welche Argumente, welche Drohungen soll ich anwenden? ich sehe kein Mittel, auf den preußischen General Eindruck zu machen; soll ich etwa sagen, der König werde sich mit in die Luft sprengen lassen?« So fragte der unglückliche Unterhändler, aber der Minister ließ sich nicht auf Instruktionen ein: »Sagen Sie, was Sie wollen; folgen Sie Ihren Inspirationen; nur retten Sie die Brücke.« Beugnot erzählt dann, wie er ins preußische Hauptquartier fuhr, wie man Blücher aus einer Spielhölle des Palais Royal herbeiholte, wie zwischen ihm und dem Marschall eine durch die Verschiedenheit der Sprachen nicht eben erleichterte Unterredung sich entspann und wie schließlich, nach langen Mühen, die Preußen sich mit der Umtaufung der Brücke zufrieden gaben, ohne daß von dem heroischen Entschlusse des Königs die Rede gewesen sei. Er, Beugnot, habe nie ernsthaft an so etwas gedacht und jene Wendung nur gebraucht, um Talleyrand zu zeigen, wie rathlos er sich fühle. Zu seiner Verwunderung habe er einige Tage später von Anderen gehört, daß Ludwig XVIII. sich dem Opfertode habe weihen wollen und daß er solches seinem Minister schriftlich erklärt habe. Nach abermals etlichen Tagen sei die Legende vom Hofe acceptirt worden; man habe dem Könige Huldigungen und Komplimente ob seiner Heldenhaftigkeit dargebracht, und der König habe sich die Schmeicheleien ohne Wimperzucken gefallen lassen und schließlich wohl selbst an die Fabel geglaubt.

Welche der beiden Versionen die richtige ist, wird sich kaum mehr ermitteln lassen; ich neige mich, ehrlich gestanden, mehr auf die Seite Beugnots, dessen Erzählung nicht allein pikanter ist, sondern auch eine gewisse innere Wahrscheinlichkeit für sich hat. Der eigenhändige Brief Ludwigs XVIII. an den Fürsten Talleyrand kann sehr wohl geschrieben worden sein, als der kritische Augenblick vorüber war; Talleyrand mag dem König die Wendung, deren Beugnot sich im Gespräche bedient hatte, erzählt haben, und er oder der König oder beide mögen auf den Einfall gekommen sein, die heroische Phrase im Interesse der Popularität Seiner Majestät, die einige Aufmunterung sehr gut gebrauchen konnte, auszunutzen.

Weit interessanter als dieser ist ein anderer Widerspruch, in dem Talleyrand sich mit Frau von Rémusat befindet. Es handelt sich um eine merkwürdige Stunde im Leben Napoleons, deren einzige Zeugen Herr von Rémusat und Talleyrand gewesen sind. Frau von Rémusat berichtet natürlich nach der Erzählung ihres Gatten, eines durchaus glaubwürdigen Mannes, aber sie schrieb dreizehn oder vierzehn Jahre nach dem Vorfall, während man annimmt, daß Talleyrand schon vor dem Sturze des Kaisers seine Erinnerungen aus der Napoleonischen Zeit aufzeichnete.

Frau von Rémusat erzählt: »Im Begriffe, Mainz zu verlassen (um den Feldzug gegen Preußen zu eröffnen), gab der Kaiser meinem Manne das Schauspiel eines Auftritts, der diesen sofort höchlich frappirte. Talleyrand befand sich im Kabinet des Kaisers, Rémusat nahm die letzten Befehle entgegen; es war Abend, die Wagen waren angespannt; der Kaiser hieß meinen Mann Josephine holen; sie kam alsbald stark weinend. Der Kaiser, gerührt von ihren Thränen, drückte sie lange an sich, als könne er sich schwer von ihr trennen. Er war lebhaft bewegt, auch Talleyrand schien ergriffen. Der Kaiser trat, seine Frau in die Arme schließend, zu Talleyrand, reichte ihm die Hand, faßte sie beide in seine Arme und sagte zu Rémusat gewandt: Es ist doch sehr schmerzlich, die beiden Menschen zu verlassen, die man am meisten liebt! – Und während er diese Worte wiederholte, steigerte sich die Art nervöser Rührung, die er empfand, dermaßen, daß er in Thränen ausbrach und fast gleichzeitig von einigen Konvulsionen befallen wurde, die stark genug waren, ein Erbrechen zu verursachen. Man mußte ihn niedersetzen, ihm Orangenblüthenwasser geben; er vergoß Thränen. Das währte eine Viertelstunde. Dann faßte er sich, stand rasch auf, drückte Talleyrands Hand, küßte seine Frau und sagte zu Rémusat: Die Wagen sind da? benachrichtigen Sie die Herren; gehen wir!«

Die Erzählerin fügt hinzu, daß sie eine Art Freude empfunden habe, als sie dies von ihrem Manne erfuhr. Daß natürliche Herzensregungen über Bonaparte ab und an so viel vermöchten, erschien ihr wie ein Sieg des Guten. Taine hat diese Stelle der Rémusatschen Memoiren nicht übersehen, als er seine großartige Analyse der Napoleonischen Psyche schrieb; er führt sie an als Zeugniß für die eigenthümliche Reizbarkeit der Nerven und die Heftigkeit ihrer Schwingungen, die auf das Gemüth des Despoten manchmal räthselhaften Einfluß gewannen. Als Taines Buch erschien, war Talleyrands Schrift noch nicht entsiegelt worden. Wie aber schildert dieser den Vorgang? Daß Ort und Zeit verschieden sind in jener und in dieser Lesart, fällt nicht ins Gewicht; daß beide Quellen von dem nämlichen Vorfalle reden, wird man nicht bezweifeln. Talleyrand schreibt (1. Band, Seite 295):

»Ich erhielt den Befehl, den Kaiser nach Straßburg zu begleiten, um unter Umständen dem Hauptquartier folgen zu können (September 1805). Eine Gesundheitsstörung, die den Kaiser im Beginn dieses Feldzugs befiel, erschreckte mich eigentümlich. Am Tage seiner Abreise von Straßburg hatte ich mit ihm gespeist; von der Tafel war er allein zur Kaiserin Josephine gegangen, einige Minuten später kam er plötzlich zurück; ich war im Salon, er nahm mich beim Arm und führte mich in sein Schlafzimmer. Herr von Rémusat, der Oberkammerherr, trat zugleich mit uns ein, da er sich noch einige Befehle vor der Abreise des Kaisers zu erbitten hatte. Kaum waren wir drinnen, so fiel der Kaiser zur Erde; er hatte nur noch Zeit, mir zu sagen, ich solle die Thür zumachen. Ich riß ihm die Kravatte ab, weil er zu ersticken schien; er erbrach sich nicht; er stöhnte und geiferte. Herr von Rémusat gab ihm Wasser, ich übergoß ihn mit kölnischem Wasser. Er hatte verschiedene Konvulsionen, die nach einer Viertelstunde aufhörten; wir hoben ihn in einen Lehnstuhl; er fing an zu sprechen, ordnete seinen Anzug, empfahl uns Geheimhaltung, und eine halbe Stunde später war er auf dem Wege nach Karlsruhe. Gleich nach seiner Ankunft in Stuttgart schrieb er mir; der Brief endete mit den Worten: es geht mir gut u. s. w.«

Man sieht, aus diesem Bilde ist alles verschwunden, was Frau von Rémusat gerührt und Taine interessirt hatte; ein rein körperlicher Vorfall bleibt über; die Gestalt Josephinens wird unsichtbar. Es ist undenkbar, daß Talleyrand es vergessen hätte zu erwähnen, wenn Napoleon ihn wirklich umarmt und zu seinen »liebsten Menschen« gerechnet hätte, Thränen vergießend. Andererseits kann man nicht glauben, Rémusat habe seine Darstellung völlig aus der Luft gegriffen oder seine Frau habe sie völlig falsch wiedergegeben. Es ist einer der Fälle, wo man mit Pilatus fragen muß: »Was ist Wahrheit?«


Der letzte Abschnitt, »la Révolution de 1830« ist für den Referenten der sprödeste: man muß den Text selbst lesen, der großentheils aus Briefen von und an Talleyrand besteht, und der nur im Zusammenhange ein Bild giebt, ein Bild feiner, zäher diplomatischer Arbeit, die dem sechsundsiebenzigjährigen Greise den letzten und nicht den geringsten seiner politischen Erfolge eintrug, Erhaltung des europäischen Friedens, Einführung der Julimonarchie in die Gesellschaft der großen Höfe, engen Anschluß Frankreichs an England, Gründung eines kleinen neutralen Königreichs an der französischen Nordgrenze auf eben dem Boden, wo die Alliirten von 1814 und 1815 den niederländischen Festungsgürtel gegen Frankreich angelegt und einem leistungsfähigen Staate von sieben Millionen überantwortet hatten. Wie, unter welchen Schwierigkeiten und Wechselfällen das Werk der Londoner Konferenzen langsam vorrückte und schließlich zu Stande kam, wesentlich im Sinne des französischen Botschafters, gegen die Antipathien der nordischen Höfe, den Eigensinn Hollands, die revolutionären Unklugheiten der Belgier, die vielfachen Bedenken Englands und auch gegen die nervöse Hast und Ambition der eigenen Regierung sicher ans Ziel geführt wurde, das tritt in den veröffentlichten amtlichen und vertraulichen Schriftstücken anschaulich und noch heute spannend zu Tage. Für den Diplomaten, dünkt mich, muß diese Lektüre ungemein lehrreich sein; er sieht gewissermaßen vor Augen, wie fest zugleich und wie vorsichtig leise, wie frei von Aufregung die Hand des erfahrenen Meisters die Fäden leitet, scheinbar oft gar nicht eingreifend, der Zeit und dem Spiel der fremden Interessen die Hauptsache überlassend und doch immer im richtigen Augenblick die richtige Linie festhaltend oder herstellend. Ein halbes Dutzend Prinzen werden als Kandidaten für den neuen belgischen Thron aufgestellt, und zu diesen kömmt noch eine Partei, die Vereinigung mit Frankreich fordert, eine nicht einflußlose Partei, der, wie sich denken läßt, viele Herzen in Frankreich, einige sogar in den Tuilerien sympathisch entgegen schlagen. Talleyrand ist von Anfang an überzeugt, daß Leopold von Koburg der allein richtige Mann ist, aber er rührt keinen Finger für ihn, er scheint allen Bewerbern gleiches kühles Wohlwollen zu widmen; er erspart sich jedes Ankämpfen gegen die Vorurtheile, die seinem Bevorzugten im Wege stehen, in der Ueberzeugung, daß die anderen Kandidaturen ohne sein Zuthun scheitern und dem Koburger allein das Feld überlassen werden, – wie es denn schließlich auch geschieht; der Koburger, der sogenannte »englische Kandidat«, wird König und heirathet die Tochter Ludwig Philipps.

Zu den Witzworten, die man Talleyrand in den Mund gelegt hat, gehört auch das bekannte Surtout pas de zèle! Ob er es je so kondensirt ausgesprochen hat, mag man bezweifeln, aber es ist in seinem Geiste erfunden, wenn es erfunden ist. Wohl zehnmal in dieser Londoner Korrespondenz kommen Stellen vor, wo er gegen den Eifer eifert, seinen Hof, seinen Minister und seine Agenten in der Kunst des Wartens unterrichtet. »Ich habe vielleicht (schreibt er) zu lange Auszüge aus meinen Depeschen gegeben, aber ich that es in der doppelten Absicht, die verschiedenen Punkte, auf die es bei meiner Verhandlung ankam, recht ins Licht zu stellen, zugleich den jungen Diplomaten, denen diese Erinnerungen einmal in die Hände fallen mögen, zu lehren, daß eins der ersten Elemente in der Kunst des Unterhandelns die Geduld ist.« Ich mußte lächeln, als ich diese Worte las: vor langen, langen Jahren sagte mir einmal ein sehr kluger, in Geschäften ergrauter deutscher Staatsmann, der alte Bürgermeister Smidt von Bremen: »In Unterhandlungen ist nichts so perniciös wie Ungeduld.«

III.

(1892.)

Mit dem fünften Bande liegt nunmehr das posthume Werk Talleyrands abgeschlossen vor; diese letzte Portion, die uns aufgetragen wird, dürfte das Urtheil, das man über die vorhergegangenen gefällt hat, wenig ändern. Dem sensationslüsternen Leser bietet der fünfte Band wo möglich noch weniger als irgend einer der früheren; die Inedita, die für manche Fachleute allein Reiz haben, sind nur spärlich unter die Zahl bereits bekannter Briefe gemischt; Urtheile über Zeitgenossen finden sich nur selten eingestreut, und nie gehen sie über die leise Andeutung, den gedämpften Ausdruck höflichen Zweifels hinaus; noch weniger läßt sich der Verfasser zu jenen ausführlichen Erörterungen verführen, in denen memoirenschreibende Staatsmänner die eigene Weisheit und die Thorheit ihrer Gegner zu beleuchten lieben. Talleyrand begnügt sich, uns eine lange Reihe unanfechtbarer Urkunden, Briefe, die er geschrieben, Briefe, die er empfangen hat, Depeschen, Berichte, nur hier und da mit ganz kurzen Erläuterungen versehen, vorzulegen und es uns zu überlassen, die Rolle zu rekonstruiren, die er während der ersten vier Jahre nach der Julirevolution als Botschafter in London gespielt hat, die Gefahren, die zu beschwören, die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, die Mittel, deren er sich bediente, den Einfluß, den er nach allen Seiten hin geltend machte, die Resultate, die er erzielte: nämlich Einführung des revolutionären Frankreich in die europäische Familie, englisch-französische Entente als Gegengewicht gegen die drei osteuropäischen Höfe, Gründung des neutralen Königreichs Belgien, Stützung der konstitutionellen Throne in Spanien und Portugal, Verhinderung einer bewaffneten Intervention Rußlands zwischen dem Sultan und Mehmed Ali, endlich die Bewahrung des allgemeinen Friedens. Wer sich die Mühe nicht verdrießen läßt, aufmerksam den ihm vorgeführten Tages- und Momentbildern zu folgen, dem wird sich ein Schauspiel von Talleyrands diplomatischer Thätigkeit entfalten, das lebhaft an die Tage des Wiener Kongresses erinnert. Wie damals hat er bald die leitende Stellung, gruppirt er um sich alle hülfreichen Einflüsse, neutralisirt er die widerstrebenden Tendenzen, führt er gegen Mißtrauen, bösen Willen, Schwankungen auf allen Seiten mit unerschütterlicher Festigkeit und unermündlicher Geduld den Hauptgedanken, der ihn erfüllt, durch: die durch die Julirevolution erschütterte Stellung Frankreichs neu zu befestigen, ohne das Gleichgewicht und die Ruhe Europas in Gefahr zu bringen, die belgische Frage auf eine für Frankreich nützliche Weise zu lösen, ohne in Konflikt mit den Ostmächten zu gerathen, und – fünfzehn Jahre nach Waterloo – die englischen Staatsmänner in Bundesgenossen zu verwandeln. Wie in Wien handelt er als der eigentliche Führer der französischen Politik, nach Instruktionen, die er selbst entwirft, und wie damals Ludwig XVIII., so erscheint jetzt Ludwig Philipp als der gegängelte Theil, der zwar seine eigenen Pläne und Intrigen nicht ganz unterdrückt, aber am Ende doch immer sich dem besseren Ermessen seines Botschafters fügen muß. Die Regierung in Paris hängt mit ihrem steten Bedarf an auswärtigen Erfolgen völlig von ihrem Gesandten in London ab, der allein im Stande ist, ihr für Thronreden, Kammerdebatten und Polemik mit den Oppositionsblättern die unentbehrlichen Beweise von Frankreichs wieder empor steigendem europäischem Einfluß zu liefern. Soweit es seine Zirkel nicht turbirt, zeigt der greise Diplomat sich gefällig, meistens aber verweist er die begehrlichen Dränger zur Ruhe, ermahnt er sie, zu warten, die Hauptsache nicht dem Augenblicke zu opfern: »die Hauptsache ist, daß wir mit England zusammenhalten; alles andere ist untergeordnet.« Er ist in einer Lage, wie ein General, von dem man zu Königs Geburtstag einen Sieg verlangt, der aber schließlich nichts unternimmt, was militärisch bedenklich wäre. Casimir Périer und überhaupt die klügeren unter den Ministern sehen sehr wohl ein, daß es das zweckmäßigste ist, den alten General thun zu lassen, was er für gut findet: sie begreifen, daß er allein im Stande sein wird, die Aufgabe zu lösen, von der das Schicksal der Julimonarchie abhängt. Als nach Casimir Périers Tode der Herzog von Broglie ein neues Kabinet gebildet hatte, schrieben er und seine Kollegen zunächst Huldigungsbriefe an Talleyrand, als an ihr wirkliches Oberhaupt und den eigentlichen Lenker des Reichs. Der Herzog von Broglie schrieb: »Ich bitte um Ihren Rath und Ihren Beistand, wohl wissend, in wessen Händen gegenwärtig unsere Zukunft liegt.« Guizot beschwor ihn, der Regierung das zu geben, ohne das sie nicht bestehen könne, das Vertrauen des Auslandes. Admiral de Rigny drückte sich so aus: »Ohne dies (einen vernünftigen Abschluß der belgischen Frage) wird der parlamentarische Kampf uns hinwegreißen und mit uns den letzten Deich. Ihr hoher Einfluß, mein Fürst, kann allein uns helfen, und das Werk ist Ihrer würdig.« Thiers bleibt hinter den anderen nicht zurück: »Von allen Seiten muß man uns beistehen: Sie, mein Fürst, Sie können es besser als irgendwer ... Unterstützen Sie uns mit Ihrem ganzen Genie, Ihrem ganzen Einfluß.« Auch Madame Adelaide stimmt in diesen Ton ein; freilich ist sie im tiefsten Herzen überzeugt, daß ihr angebeteter Bruder, notre cher roi, wie sie ihn beständig nennt, der wahre Steuermann sei, aber so viel versteht sie doch von den Geschäften, um zu wissen, daß auch der beste Steuermann in gefährlichen Revieren des Lootsen bedarf, und als solchen behandelt sie Talleyrand in ihren zahlreichen Briefen mit der äußersten Zuvorkommenheit. Louis Philipp bediente sich der Feder der Schwester, um zwanglos seine Gedanken dem überlegenen Diener mitzutheilen, und Talleyrand antwortete ihr gern, weil er wußte, daß sie sofort alles dem Könige zutragen werde. »Ich sehe gern,« schrieb er z. B., »daß auch Ihnen der Gedanke, Familieninteressen auf politische Interessen zu pfropfen, ganz fern liegt; dadurch hat Napoleon seinen Thron gestürzt.« Er wußte sehr wohl, daß Louis Philipp für sein Leben gern das Haus Orleans mit Secundogenituren in Brüssel und Lissabon ausgestattet hätte; die versteckte Warnung war, wie später die Geschichte der spanischen Heirathen und der dadurch herbeigeführten Entzweiung der beiden Westmächte gelehrt hat, wohlangebracht, wennschon vergeblich.

Man denke sich, Fürst Bismarck hätte im Verlauf der siebenziger Jahre, etwa nach dem Türkenkriege, als Botschafter in London fungirt und dort auf einem Kongresse Deutschland vertreten, so würde das Verhältniß zwischen ihm und dem auswärtigen Amte in der Wilhelmstraße vermuthlich sich ungefähr so gestaltet haben, wie es zwischen dem Pariser Kabinet und Talleyrand bestand. Der Botschafter hätte die Zügel geführt. In den dreißiger Jahren wurde die Selbständigkeit des Botschafters noch begünstigt durch die Langsamkeit der Kommunikationen; der Vorwand, man habe nicht auf Instruktionen warten können, war ungemein bequem, wenn es darauf ankam, vollendete Thatsachen zu schaffen. Heute stellen wir uns nur mühsam vor, was es in jenen telegraphen- und eisenbahnlosen Zeiten auf sich hatte, ein Einvernehmen auch nur zwischen Paris und London binnen weniger Tage herbeizuführen und nun gar mit Berlin und Wien, mit Petersburg und Konstantinopel Fühlung zu behalten. Es kömmt vor, daß Talleyrand verlangt, man solle – in irgend einer erheblichen Angelegenheit – die russische Regierung lieber gar nicht fragen, weil sie, wenn man es thäte, leicht erst nach Monaten sich zu einer Antwort herbeilassen könnte. Einmal unterbleibt eine große Staatsaktion, eine gemeinsame Englands und Frankreichs, die den Sultan hindern sollte, den Vertrag von Unkiar-Skelessi zu ratifiziren, bloß deshalb, weil man ausrechnet, daß der Kurier nicht früh genug in Konstantinopel eintreffen möchte. Nicht selten findet man in den Aktenstücken, daß Talleyrand »der Zeitersparniß wegen« den französischen Gesandten in Brüssel, im Haag, in Berlin und Madrid direkt Anweisungen ertheilt, auch wohl dem Admiral des französischen Kanalgeschwaders ohne Vermittelung seiner Regierung vorschreibt, was er thun und lassen soll. Freilich berichtet er hinterdrein dem Minister und hofft nachträglich Gutheißung, aber man merkt es ihm an, daß er im Grunde keinen Vorgesetzten über sich fühlt. So sehr er die korrekte Form beachtet, entschlüpft ihm doch in einzelnen Fällen eine Wendung, die das Bewußtsein seiner Selbständigkeit verräth. Als er den großen Coup, die Quadrupelallianz der vier konstitutionellen Königreiche, zu Stande gebracht hat, schickt er den soeben unterzeichneten Vertrag mit folgenden begleitenden Worten nach Paris:

»Ich bin überzeugt, daß die Regierung des Königs die Vortheile des Vertrages würdigen wird; gleichwohl werden Sie mir erlauben, Ihnen kurz die Gründe darzulegen, die mich bestimmt haben, unseren Eintritt in die Allianz zu bewirken. Ich habe ihn unter seinen verschiedenen Gesichtspunkten ins Auge gefaßt, und ich bin nach reiflichem Nachdenken zu der Ansicht gelangt, daß er uns wirkliche Vortheile ohne irgend welche Gefahr biete, u. s. w.«

Diese, im Munde eines Gesandten auffälligen Worte entsprechen vermuthlich dem Sachverhalt besser als das Kompliment, das Madame Adelaide dem Fürsten schrieb: »Unser lieber König ist zwar der Vater des Gedankens, Sie aber haben ihn aus der Taufe gehoben.« Taufpathen sprechen nicht so von den Kindern anderer Leute.


Zu allem Ueberflusse wissen wir, daß der Gedanke der Quadrupelallianz, der nur eine andere Form des englisch-französischen Bündnisses bedeutete, keine Improvisation war. Schon im Jahre 1791 hatte Talleyrand den Anschluß an England als den Weg des Heils gepredigt, und im Jahre 1814 war es sein eifrigstes, nur durch die Rückkehr Napoleons vereiteltes Bemühen gewesen, auf diesem Wege, mit dem auch Oesterreich sich befreunden sollte, ein Gegengewicht gegen die »politique envahissante« Rußlands zu schaffen. Für Europa und insbesondere für Frankreich erblickte er die Hauptgefahr in dem Wachsthum dieser Macht, die unangreifbar bei sich zu Hause die unerschöpflichen Massen einer unterthänigen Barbarenbevölkerung für eine ebenso vorsichtige als konsequente Eroberungspolitik organisire und nur durch den einträchtigen Widerstand der civilisirten Nationen verhindert werden könnte, eine dominirende Stellung am mittelländischen Meer und im Herzen des Kontinents zu gewinnen. Seit dem Sturze Napoleons beschäftigte diese Sorge ihn unablässig; was würde er gesagt haben, wenn er hätte voraussehen können, daß einst seine Landsleute bemüht sein würden, die Schutzwälle Oesterreich und Deutschland zu zertrümmern und Konstantinopel preiszugeben!

Die hundert Tage und die Schlacht bei Waterloo hatten den Allianzvertrag vom 3. Januar 1815, den Talleyrand in Wien mit Oesterreich und England abgeschlossen hatte, rettungslos hinweggefegt; jetzt, als der Julithron sich leidlich befestigt, als Frankreich sich stark genug gezeigt hatte, allein mit England den absolutistischen Höfen die Theilung der Niederlande abzunöthigen, jetzt schien der Augenblick gekommen, den Vertrag von 1815 wieder zu erwecken und zu versuchen, ob er Lebenskraft bewahrt habe. Im Sommer 1833 hatte Rußland zu Unkiar-Skelessi mit dem Sultan sich über eine Art von Sonderbund verständigt, der die Westmächte vom Orient ausschließen zu sollen schien; eine Zusammenkunft der drei Souveräne Osteuropas zu Münchengrätz wurde als eine bedrohliche Erscheinung aufgefaßt; man fühlte in Paris sich unbehaglich; Talleyrand, der in Valençay seine Ferien genoß, wurde vom König ersucht, sich in der Hauptstadt einzufinden. Der König, der Herzog von Broglie und der Fürst beratschlagten, was die Lage erfordern möchte: »nach reiflicher Erwägung,« so heißt es in den Memoiren, »schlug ich ihnen vor, zu versuchen, die englische Regierung zum Abschluß eines Allianzvertrags zu bewegen, der so allgemein zu halten wäre, daß er keins der beiden Kabinette in lästiger Weise binde, aus dem man aber je nach den Umständen die Folgerungen ziehen könne, die man wünsche.« Man willigte ein, und Talleyrand kehrte nach London zurück, den Versuch zu machen. Er wußte wohl, daß die Sache schwierig sei, und in der That fand er die englischen Staatsmänner abgeneigt, eine Allianz vertragsmäßig abzuschließen. Mit dem Gedanken befreundeten sie sich rasch, aber die Form widerstrebte ihren Traditionen und den Rücksichten, die sie auf das Parlament zu nehmen hatten. Aber im wesentlichen erreichte der Fürst doch seinen Zweck, der mehr auf den moralischen Eindruck als auf unmittelbare Erfolge gerichtet war; denn die sogenannte Quadrupelallianz, die er im nächsten Jahre zu Stande brachte, hatte, obwohl sie nur die Pacifikation der pyrenäischen Halbinsel zum Gegenstande hatte, doch eine viel weiter gehende Wirkung, indem sie der Welt das Zusammengehen der beiden Westmächte und ihren Gegensatz zur heiligen Allianz nachdrücklich vor Augen führte. Und in einer solchen Wirkung bestand nach Talleyrands Ansicht der eigentliche Werth solcher Allianzen. Mit einer Weisheit, die auch heute noch nicht veraltet ist, warnt er vor allen Allianzverträgen, die mehr als gemeinsame Abwehr im Auge haben; die Allianz mit England, sagt er, sollte lediglich den Sinn haben, daß beide Mächte entschlossen seien, den status quo, oder wie des Wohlklangs wegen der Herzog von Broglie lieber sagte, die Heiligkeit der Verträge gegen jeden Friedensstörer zu schützen. Freilich verstehe sich das im Grunde von selbst; ein Allianzvertrag sei aber nur ein Avis au lecteur, den Gegner zu warnen; er würde keinen Sinn haben, wenn nicht die Allianz an sich, auch ohne Vertrag, sich aus den gemeinsamen Interessen ergebe. Nun sei es ein großer Unterschied, ob die mit ehrgeizigen Plänen beschäftigte Macht sich zu Friedensstörungen hinreißen lasse, die die natürlichen Alliirten zur bewaffneten Abwehr nöthigen würden, oder ob sie, jene ehrgeizige Macht, schon im voraus die alliirten Wächter des Status quo einig und wachsam vor sich sehe. Sie werde sich dann zweimal besinnen, ehe sie einen Schritt vorwärts thue, und in der Regel werde die Wirkung einer solchen Defensivallianz die sein, daß der Casus foederis gar nicht eintrete. Dazu bedürfe es nur weniger allgemeiner Sätze; der englisch-französische Allianzvertrag brauche nur einen einzigen Artikel zu enthalten, dahin lautend, daß die beiden Souveräne bei eintretender Gefährdung des Status quo sich über die Anwendung der geeigneten Mittel verständigen würden, um dieser Gefahr gemeinsam entgegenzutreten. Alle Welt, mit Einschluß der russischen, österreichischen und preußischen Staatsmänner, werde fest glauben, daß geheime Artikel zu dem publizirten Vertrage gehörten, und dieser Glaube werde etwaige Eroberungsgelüste dämpfen. Er werde nicht minder alle schwächeren Staaten mit neuem Vertrauen erfüllen und sie zu Bundesgenossen der Westmächte machen.

Der dritte im Bunde, Oesterreich, fehlte bei der neuen Kombination; Talleyrand hätte ihn gern auf seine Seite gezogen, aber er erkannte die Unmöglichkeit, Metternich, der sich ganz und gar von der Angst vor den deutschen und italienischen Liberalen beherschen ließ und zur Zeit den Kaiser Nikolaus als Hort der Legitimität verehrte, in dasselbe Boot mit dem Julikönig und Lord Palmerston zu bringen. Was er fürchtete, war dies, daß die drei Ostmächte, durch die gemeinsame Furcht vor der Revolution näher an einander gerückt, sich gegenseitig Konzessionen machen würden, die, wenn man sie gewähren ließe, zu sehr bedenklichen Machtverschiebungen führen könnten. Um dies den Engländern zu veranschaulichen, ließ er sich von Broglie einen ostensiblen Brief schreiben, der augenscheinlich von ihm selbst inspirirt worden ist und der zu den interessantesten Aktenstücken des fünften Bandes gehört. Ich übersetze folgende Stelle:

»Zwischen den drei Nordmächten besteht eine ähnliche Solidarität wie zwischen Frankreich und Großbritannien, obwohl auf schnurstracks entgegengesetzte Prinzipien begründet. Diese Solidarität hält sie geeinigt, und wir sehen täglich Beweise dieser Einigung ... Diese Lage kann zwei Resultate herbeiführen. Das erste wäre ein augenblicklicher Verzicht auf alle Gedanken an Gebietserweiterung oder Steigerung des Einflusses, das Opfer jeder besonderen preußischen, österreichischen, russischen Politik zu Gunsten der europäischen Konservation. Dies ist 1830, 1831 geschehen, als die Revolutionsgefahr groß und dringlich war.

Das zweite ist eine Art Kompromiß zwischen den Wünschen und Ansprüchen der drei Mächte, ein Handel, wodurch sie sich gegenseitig das und das Stück Europa ausliefern, gegen Entgelt von hüben und drüben. Dies geschieht heute (1833), wo die Sorgen geringer sind und die Hoffnungen auf Vergrößerung wieder ein wenig überwiegen können.

Rußland sagt zu Oesterreich: ums Himmelswillen zanken wir uns nicht, bleiben wir einig gegen den gemeinsamen Feind; aber mittlerweile laß mich nach meinem Gutdünken über die Türkei verfügen. Oesterreich antwortet: einverstanden, zanken wir uns nicht; aber wenn ich dich in der Türkei gewähren lasse, so hilf du mir zu der Herrschaft, die ich in Italien einrichten will. Und der Handel wird geschlossen.

Preußen sagt zu Oesterreich: ich will dir bei deinen italienischen Plänen gern Waffenhilfe leisten, aber laß du mich meinen Zollverein zu Stande bringen, meine Mautgrenzen bis an den Bodensee vorrücken, meine Tarife dem ganzen deutschen Bunde auferlegen, den Widerstand aller hartnäckigen Staaten unterjochen und den Grund zu einer deutschen Einheit legen, die ihre Früchte etwas später tragen wird. Und Oesterreich läßt Preußen gewähren.

Vorläufig handelt es sich in der Türkei, in Italien, in Deutschland nur erst um Steigerungen des Einflusses, um Protektorate, Vormundschaften, Akte der Obmacht; aber wer die Geschichte gelesen hat, wer ein bischen Einsicht in den Gang der Ereignisse hat, der weiß, wohin das führt und was aus den Protektoraten wird.«

Man sieht, daß Talleyrand Preußen keineswegs als eine quantité négligeable ansah; wenn er an eine Allianz mit ihm nicht dachte, sondern Oesterreich für den werthvolleren Bundesgenossen hielt, so hatte das seinen Grund in der Ansicht, daß Preußen mit dem Status quo, um dessen Schutz es sich doch handelte, unmöglich zufrieden sein könne. In einer zwanglosen Causerie über den Herzog von Choiseul, die in dem fünften Bande mit abgedruckt ist, sagt er beiläufig, daß für eine Friedensallianz Preußen untauglich sei wegen seiner schlechten geographischen Verfassung, die es ihm unmöglich mache, nicht eroberungslustig und nicht abhängig zu sein. England könne jeden Augenblick seinen Seehandel ruiniren, Rußland könne Posen und Schlesien überziehen, ehe ein preußisches Heer sich versammelt habe. Das Gebot der Selbsterhaltung zwinge diesen Staat, den eine einzige unglückliche Schlacht in mehrere Stücke zertheilen könne, fortwährend nach einer Veränderung zu trachten; denn es scheine unvermeidlich, daß Preußen entweder binnen kurzem untergehen oder einen beträchtlichen Theil Deutschlands unter seine Herrschaft bringen müsse. Verdanke es seinem berühmtesten König einen erhöhten Glanz und Rang in der Reihe der Mächte, so verdanke es ihm doch keineswegs bessere Bürgschaften dauernder Sicherheit.

In derselben Schrift über Choiseul finden sich Betrachtungen über Frankreichs Verhältniß zu Rußland, die in unseren Tagen ein von dem Verfasser vielleicht nicht geahntes Interesse gewonnen haben. Die erste freundschaftliche Annäherung der beiden Reiche, sagt Talleyrand, datirt von Tilsit, und ihr Motiv war die Begier nach neuen Eroberungen. Aus der Annäherung entwickelte sich der Zusammenstoß, dessen furchtbare Gefahren Frankreich erst eben (die Schrift ist 1816 verfaßt worden) überwunden hat. »Wir tragen gegenwärtig die Strafe für den Ehrgeiz, der uns Rußland annäherte. Nur dasselbe Motiv könnte in Zukunft die beiden Länder wieder zusammenführen; denn gemeinschaftliche Interessen haben sie nie gehabt, und alle Interessen, die sie früher getrennt haben, werden sie fortan womöglich noch mehr trennen. Und wenn trotzdem, allen Rathschlägen der Klugheit zuwider, Frankreich zum zweiten Mal diese Allianz suchen sollte, so würde die unfehlbare, unmittelbare Folge ein enges Bündniß Österreichs und Preußens sein (an Italien konnte Talleyrand natürlich nicht denken), und Frankreich würde sich dann in eine so falsche Stellung gebracht haben, daß es nichts so sehr zu fürchten hätte wie die Niederlage der beiden deutschen Mächte. Denn, träte das ein, so würden dieselben Ursachen, die schon einmal die unnatürliche Allianz in Feindschaft verwandelt haben, Russen und Franzosen von neuem entzweien, und der Ausgang des dann zwischen ihnen entbrennenden Kampfes würde noch viel weniger zweifelhaft sein als der jenes ersten, den Frankreich begann, als es unter seinen Fahnen die Truppen ganz Europas ins Feld schleppte. Die drei nordischen Mächte würden sicherlich sich unter einander auf Kosten Frankreichs verständigen, und man würde eine Wiederholung der Ereignisse von 1813 und 1814 erleben, wahrscheinlich mit noch schlimmeren Folgen.«


Im einundachtzigsten Lebensjahre (November 1834) schied Talleyrand aus der großen europäischen Stellung aus, die er, begünstigt von den Ereignissen, sich geschaffen hatte. »Mein Werk ist vollbracht,« schrieb er dem König, »und ich habe wohl ein Recht auf die Ruhe, deren ich bedarf.« Und an Madame Adelaide: »Ich bin alt und gebrechlich, und es stimmt mich trübe, zu sehen, wie schnell meine Generation verschwindet. Ich bin der Mann einer anderen Zeit und fühle, daß ich der gegenwärtigen fremd werde .... Seit vier Jahren haben wir von England alles erlangt, was es uns nützliches bieten könnte; möge es uns nie Schädliches bringen! England hat sich merkwürdig verändert (es war die Zeit der Reformbill), und ich glaube nicht, daß es wird Halt machen können auf dem neuen Wege, den es beschreitet. Ich fühle mich, offen gestanden, nicht berufen, ihm zu folgen. ... Ich glaube übrigens, es der Stelle, die mir die Geschichte anweisen mag, schuldig zu sein, das Andenken an Dienste nicht zu kompromittiren, die ich während fünfzig wechselvoller Jahre Frankreich zu leisten das Glück gehabt habe. Setzte ich meine Thätigkeit fort, die jetzt gegenstandslos geworden ist, so würde ich meinem Lande nichts nützen und könnte ich nur meiner persönlichen Würde schaden.«

Der König fand angemessene Worte des Abschiedes von seinem hervorragendsten Diener und des Dankes für die großen Verdienste, die sich dieser um Land und Thron erworben habe. Der Abschluß dieser in ihrer Art einzigen politischen Laufbahn vollzog sich in den einfachen Formen des guten Geschmacks und doch nicht ohne ein gewisses Pathos.

Nicht volle vier Jahre überlebte Talleyrand seinen Rücktritt, und in diesen Jahren hat er die beiden letzten Bände seiner Denkwürdigkeiten zusammengestellt. Am 17. Mai 1838 ist er gestorben, bis zum letzten Augenblicke darauf bedacht, seine Rolle schicklich zu Ende zu spielen. Als der König ihm den letzten Besuch abstattete, verfehlte der Sterbende nicht, ihm zuvörderst die im Krankenzimmer anwesenden Personen vorzustellen. Am Tage seines Todes unterzeichnete er noch zwei Schriftstücke, die bereits seit dem 10. März fertig lagen und die bestimmt waren, sein bekanntlich etwas fragwürdiges Verhältniß zur Kirche richtig zu stellen. In dem einen, das die Überschrift führt »Widerruf des Fürsten von Talleyrand,« verdammt er »aufrichtig die schweren Irrthümer, die während dieser langen Jahre die katholische, römische, apostolische Kirche betrübt und bedrückt haben und an denen ich das Unglück hatte, mich zu betheiligen.« Er erklärt »seine völlige Unterwerfung unter die Lehre und Zucht der Kirche und unter die Entscheidungen des heiligen Stuhls in den geistlichen Angelegenheiten Frankreichs;« er erinnert daran, daß er sich oft bemüht habe, der Religion und den katholischen Geistlichen zu nützen; er habe nie aufgehört, sich als einen Sohn der Kirche zu betrachten, der seine letzten Wünsche gölten. Das zweite Schriftstück ist ein Schreiben an Gregor XVI., dem er seine Hoffnung auf die Nachsicht der Kirche ausspricht, zwei »mildernde Umstände« für sich anführend, »die allgemeine Verwirrung der Zeit, der ich angehörte,« und »meine ganze Jugenderziehung, die mich einem Berufe zuführte, für den ich nicht geschaffen war.« Ein zerknirschtes Gemüth spricht sich in diesen Schriftstücken nicht aus; wahrscheinlich war das Auge dessen, der sie verfaßte, mehr auf diese Welt, Rücksichten des kirchlichen Anstandes, Traditionen des Hauses Talleyrand-Périgord, als auf die Ewigkeit gerichtet. Förmliche Verhandlungen mit dem Papste, vermittelt durch den Erzbischof von Paris, waren dem »Widerrufe« vorangegangen und hatten jeden Zweifel, ob die Schreiben in Rom gut aufgenommen werden würden, beseitigt: erst als er sicher war, daß alles sich in angenehmen Formen erledigen werde, entschloß der alte Weltmann sich zu dieser Abschiedshöflichkeit. Natürlich hatten die Damen seines Hauses, seine Nichte, die Herzogin von Dino, und deren junge Tochter, die Hand im Spiele gehabt; Talleyrand liebte sie sehr, und es ist sehr wohl möglich, daß er vor allem ihnen einen Gefallen thun wollte.


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