Theophile Gautier
Novellen der Antike
Theophile Gautier

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IV

Zitternd, in einem an Verzweiflung grenzenden Zustande hatte sich Gyges davongemacht, indem er genau die Anweisungen seines Königs einhielt, und hätte sich Nyssia nicht zufälligerweise umgewendet und ihn hinwegschleichen gesehen, sie hätte zweifelsohne nimmermehr von der Schmach gewußt, die ein mehr leidenschaftlicher als gewissenhafter Gatte ihrer Schamhaftigkeit angetan hatte.

Der junge Krieger, der alle Gänge und Winkel des Palastes kannte, gelangte unbemerkt ins Freie. Hastig und ziellos irrte er zuerst eine Zeitlang in den Straßen der Stadt umher, dann verließ er das Gewirre der Häuser und suchte den Wiesengrund vor der Stadt auf. Sein Kopf brannte, seine Wangen waren fiebergerötet, pfeifend drang ihm der Atem über die getrockneten Lippen. Er warf sich, Kühlung suchend, auf den nachttaufeuchten Rasen, und als er im Schatten, zwischen hohen Gräsern und Kressenpflanzen, das silberne Tönen einer Quelle vernahm, schleppte er sich hin, tauchte Hände und Arme in das kristallklare Wasser, wusch sich das Gesicht und schlürfte heißdürstig einige Handvoll von dem kalten Element, um das innere Feuer, das ihn verzehrte, zu dämpfen. Wer ihn beim matten Schimmer der Sterne so verzweifelt über diesen Quell gebeugt hätte stehen sehen, würde ihn für Narzissus gehalten haben, der nach seinem eigenen Spiegelbilde schmachtet. Aber Gyges verging nicht aus Begierde nach sich selbst.

Die plötzliche Erscheinung Nyssias hatte seine Augen wie ein greller Blitzstrahl geblendet. Er sah sie vor sich in einem Lichtwirbel schweben und er begriff, daß er nie im Leben dieses Bild erjagen würde. Seine Liebe war mit einem Male ins Ungeheuerliche gewachsen; sie war plötzlich in Blüte geschossen wie jene Pflanzen, die sich mit einem Donnerschlage öffnen. Seine Leidenschaft zu beherrschen versuchen war nunmehr ein Ding der Unmöglichkeit. Ebensogut hätte man den von Poseidons Dreizack aufgewühlten, weißschäumenden Fluten des Meeres befehlen mögen, sich in ihrem Sandbette ruhig zu verhalten und nicht an das Felsengeklipp des Strandes zu branden. – Gyges war nicht mehr Herr seiner selbst, und er befand sich in der düsteren Verzweiflung eines auf einem Wagen sitzenden Menschen, der sehen muß, wie seine Rosse, dem Zügel nicht mehr gehorchend, entfesselt dahinstürmen und dem Abgrund entgegeneilen.

Hunderttausend Pläne, der eine abenteuerlicher als der andere, wogten in seinem Hirne durcheinander. Er klagte das Schicksal an, verfluchte seine Mutter, daß sie ihn geboren, und die Götter, die ihm keinen Thron als Erbschaft beschieden, denn dann hätte er die Tochter des Satrapen als Gattin heimführen können.

Ein entsetzlicher, bohrender Schmerz zerwühlte ihm das Herz: er war auf den König eifersüchtig. Seit dem Augenblick, da die Tunika zu Nyssias Füßen niedergefallen war, hatte er die Empfindung, daß sie ihm gehörte und daß er von Kandaules um sein Gut betrogen sei. In seinen verliebten Träumereien hatte er bisher kaum an den Gatten gedacht; er dachte an die Königin wie an eine bloße Abstraktion, ohne sich irgendwie alle jene Einzelheiten der ehelichen Gemeinschaft auszumalen, die so bitter und grausam für jenen sind, der die Frau eines anderen liebt. Und nun hatte er sehen müssen, wie der blonde Kopf Nyssias sich gleich einer Blütendolde über den braunen Kopf des Königs neigte, und dieser Gedanke machte ihm das Blut aufwallen, obwohl seine Vernunft ihm doch sagen mußte, daß es nicht anders sein könne, und er fühlte in seiner Seele einen fürchterlichen, ganz sinnlosen Haß gegen seinen Herrn aufkeimen. Es kann ihm wie eine entsetzliche Verhöhnung vor, daß er der Entkleidung der Königin hatte beiwohnen müssen, wie eine ausgesuchte, spitzfindig ausgeklügelte Grausamkeit. Dabei vergaß er ganz und gar, daß seine Liebe zu Nyssia doch dem König völlig unbekannt war, daß jener in ihm nur einen Vertrauten und Kenner der Schönheit gesucht habe. Was er als hohe Gunstbezeugung hätte ansehen sollen, empfand er vielmehr als tödliche Beleidigung, für die er Rache zu nehmen sann. Wenn er daran dachte, daß sich morgen die Szene, deren unsichtbarer und stummer Zeuge er heute gewesen, unwiderruflich wiederholen würde, klebte ihm die Zunge am Gaumen, seine Stirn benetzte sich mit Perlen kalten Schweißes und seine Hand tastete bebend nach dem Griff seines zweischneidigen Schwertes.

Aber die Frische der Nacht, dieser guten Ratgeberin, beruhigte ihn allmählich ein wenig und er kehrte nach Sardes zurück, ehe der Tag hell genug war, daß die Sklaven, die bereits die Straßen belebten, die Blässe auf seiner Stirn und die Unordnung seiner Kleider wahrnehmen konnten. Er bezog den Ort, den er im Palaste gewöhnlich innehatte und war gefaßt darauf, ja, erwartete, daß Kandaules ihn alsbald werde rufen lassen, und wie widerstreitend die Gefühle auch waren, die ihn durch tobten, er durfte es nicht wagen, dem Zorn des Königs zu trotzen; allein er war auch nicht länger imstande, diese Vertrautenrolle zu spielen, die ihm nur mehr Ekel erregte.

Im Palaste angelangt, setzte er sich auf die Stufen des mit Zypressenholz getäfelten Vorraumes, lehnte sich gegen eine Säule und indem er Ermüdung infolge der unter Waffen durchbrachten Nacht vorschützte, hüllte er den Kopf in seinen Mantel und tat, als ob er schliefe, um den Fragen der anderen Wachen zu entgehen.

War die Nacht für Gyges fürchterlich, so war sie es für Nyssia nicht minder, denn sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß er von Kandaules im Schlafgemach verborgen worden war. Die Hartnäckigkeit, mit der der König in sie gedrungen hatte, sich nicht so vollständig zu verschleiern und dem Volke doch das von den Göttern für die Bewunderung der Menschen geschaffene Gesicht zu zeigen, der Unwille, den er geäußert hatte, als sie sich weigerte, bei den Opferhandlungen und öffentlichen Feierlichkeiten nach griechischer Art gekleidet zu erscheinen, der Spott, mit dem er sie nicht verschonte wegen ihrer wilden Barbarei, wie er es nannte, dies alles bewies ihr, daß der junge Heraklide, wie ein athenischer oder korinthischer der Schamhaftigkeit achtloser Bildhauer irgend jemand zum Mitwisser seines allen anderen unbekannten Geheimnisses hatte machen wollen. Denn niemand wäre tollkühn genug gewesen, sich ohne seine Erlaubnis, ja ohne sein Zutun, in ein solches Unternehmen einzulassen, dessen Entdeckung dem Unbesonnenen den sofortigen Tod gebracht hätte.

Langsam, qualvoll vergingen ihr die Stunden der Nacht. Mit einer entsetzlichen Angst harrte sie des Morgens, der seine blaulichen Streiflichter mit den gelben Strahlen der fast erloschenen Lampe vermengen würde. Es kam ihr vor, als ob Apollon nie wieder seinen Wagen besteigen würde, als ob eine unsichtbare Hand den Staub in der Sanduhr aufhielte. Diese Nacht, die ebenso lang und ebenso kurz war wie eine andere, schien ihr sechs Monate zu währen, so wie man es von den Nächten im Lande der Kimmerier erzählte.

Während es Nacht war, hielt sie sich regungslos und steif ganz am äußersten Rande des Lagers, aus Angst vor jeglicher Berührung von seiten Kandaules'. Hatte sie bis zu diesem Tage auch keine leidenschaftliche Liebe für den Sohn des Myrsus empfunden, so brachte sie ihm zumindest jene Güte und Nachsichtigkeit entgegen, die jede anständige Frau ihrem Gatten zeigt, obgleich die ganz griechische Ungebundenheit seiner Sitten ihr oft mißfiel und ihre Ansichten über Schamhaftigkeit den seinen durchaus zuwiderliefen. Aber nach einer derartigen Beleidigung fühlte sie nur mehr kalten Haß und eisige Verachtung. Lieber den Tod als noch eine Zärtlichkeit von ihm! Eine solche Schmach konnte sie niemals verzeihen, denn es gereichte bei den Barbaren, ganz besonders aber bei den Persern und Baktrern, zu höchsten Schande, ohne Kleider gesehen zu werden, und die galt nicht bloß für die Frauen, sondern auch für die Männer.

Endlich erhob sich Kandaules und Nyssia, die eben aus ihrem geheuchelten Schlummer erwachte, verließ in größter Eile dieses in ihren Augen entweihte Gemach, als ob es dem zügellosen orgiastischen Treiben von Bakchanten und Dirnen überlassen gewesen wäre. Sie wollte keinen Augenblick länger diese unreine Luft atmen, und um sich ihrem Schmerz ganz überlassen zu können, flüchtete sie in die den Frauen vorbehaltenen Obergemächer, rief ihre Sklavinnen und ließ sich Ströme Wasser auf Arme, Schultern, Brust und Leib gießen, als ob sie gehofft hätte, durch dieses Mittel die ihr von Gyges' Augen angetane Schmach und Besudelung abzuwaschen. Sie hätte sich am liebsten irgendwie diese Haut weggerissen, in welche die gierigen Strahlen fremder Augen Löcher gebohrt zu haben schienen. Dann riß sie den Sklavinnen die weichen Tücher aus der Hand, die zum Aufsaugen der letzten Wasserperlen des Bades bestimmt waren und rieb sich den Leib mit solcher Heftigkeit, daß die Haut sich stellenweise purpurrot färbte.

»Ich würde«, sagte sie, indem sie die feuchten Lappen erschöpft zu Boden warf und ihre Dienerinnen wegschickte, »vergebens das Wasser aller Ströme der Erde, ja den Ozean selbst mit seinen unermeßlichen Fluten über mich ergießen, nichts könnte mich reinigen. Ein solcher Blick ist nur mit Blut abzuwaschen. Ach! Dieser Blick, dieser Blick! Er ist in mich eingedrungen wie ein Pfeil, er umgibt mich, daß ich zu ersticken vermeine, er verbrennt mich wie das Nessushemd den Herakles in Flammen setzte. Ich fühle den Blick unter meinen Gewändern, als hätte ich ein vergiftetes Gewebe an meinem Leibe, das nicht zu entfernen ist. Was nützte es mir, wenn ich Kleid über Kleid häufte, wenn ich die undurchsichtigsten Stoffe wählte, die dicksten Mäntel? Ich trage doch immer auf meinem bloßen Fleische jene aus einem schamlosen, ehebrecherischen Blick gewobene Hülle. Vergebens bin ich dem keuschen Busen meiner Mutter entsprungen, vergebens bin ich in der Verborgenheit erzogen worden, wie Isis, die ägyptische Göttin, vergebens umhüllte mich stets ein Schleier, den niemand gelüftet hätte, ohne diese Tollkühnheit mit seinem Leben zu bezahlen. Vergebens sind bisher keinerlei schlechte Wünsche zu mir gedrungen, vergebens blieb mein Leib den Menschen unbekannt, blieb er jungfräulich wie der Schnee hoher Berge, die nicht einmal ein Adler erreicht. Die übermütige, frevlerische Laune eines griechischen Lydiers hat genügt, um mich in einem Nu ins Verderben zu stürzen, ohne daß ich schuldig bin, um die Frucht langer Jahre der Vorsicht und Zurückgezogenheit zu pflücken. Schuldlos und ehrlos, allen verborgen und dennoch im Munde aller . . . das ist das Los, welches mir Kandaules bereitet hat! . . . Wer sagt mir, daß nicht Gyges eben jetzt mit irgendeinem Krieger auf der Schwelle des Palastes über meinen Leib schwatzt? O Schmach! o Schande! Zwei Männer haben mich nackt gesehen und erfreuen sich beide noch des sanften Sonnenlichts! – Worin unterscheidet sich Nyssia gegenwärtig von der schamlosesten Hetäre, von der feilsten Buhldirne? – Dieser Leib, den ich würdig erhalten wollte, einer reinen und edlen Seele als Wohnstätte zu dienen, gibt jetzt den allgemeinen Gesprächsstoff ab; man spricht von ihm wie von irgendeinem unzüchtigen Götterbild, das aus Sikyon oder aus Korinth gekommen ist; man lobt es, man tadelt es, die Schulter ist vollkommen, der Arm wunderbar, vielleicht ein klein wenig zu mager, was weiß ich? Alles Blut meines Herzens steigt mir bei dem Gedanken an solche Reden in den Kopf. O Schönheit, himmlische Gabe der Götter! Warum bin ich nicht das Weib irgendeines armen Ziegenhirten der Berge, eines einfältigen, rechtschaffenen Mannes? Er hätte in seine Hütte sicherlich keinen seiner Genossen eingelassen, um ihn sein bescheidenes Glück entweihen zu lassen! Meine abgemagerten Formen, mein ungepflegtes Haar, mein vom rauhen Nord versengtes Gesicht hätten mich vor einer solchen Beleidigung geschützt und meine ehrbare Häßlichkeit hätte nicht erröten brauchen. Wie werde ich es wagen, nach dem, was sich heute nachts abspielte, stolz und aufrecht neben anderen Männern, denen ich nichts mehr zu verbergen habe, unter den Falten meiner Tunika umherzugehen? Ich glaube, ich werde vor Schande tot zu Boden sinken! Kandaules, Kandaules, ich hatte wohl sicherlich Anspruch auf mehr Achtung, und mein Benehmen hat dir keine Veranlassung geboten, mir einen solchen Schimpf anzutun. War ich eine jener Gattinnen, deren Arme sich wie Efeuranken um den Hals des Gatten schlingen, und die eher für Geld zum Vergnügen des Gebieters erstandenen Sklavinnen gleichen denn edelgeborenen freien Frauen? Habe ich jemals nach dem Mahle üppige, ausgelassene Lieder zur Leier gesungen, mit weinfeuchten Lippen, entblößter Schulter, rosenbekränztem Haar, habe ich mich je irgendwie unzüchtig benommen, daß man mich wie eine Buhlerin behandelt, die man bei Festgelagen seinen Zechgenossen vorführt?«

Während Nyssia so in ihrem Schmerz versank, rollten ihr große Tränen, die den Regentropfen im Azurkelche einer Lotosblüte glichen, über die blassen Wangen und fielen auf ihre schönen Hände, die jetzt untätig, kraftlos, halb entblätterten Rosen vergleichbar, herabhingen. Niobe, die ihr vierzehntes Kind den Pfeilen Apollons und Dianens erliegen sah, mochte wohl keine traurigere und verzweifeltere Haltung zur Schau getragen haben. Aber Nyssias Schmerz wuchs noch an; es dauerte nicht lange, da warf sie sich auf den Boden hin, zerriß ihre Kleider, warf Asche auf ihre dichte Haarkrone, zerkratzte mit den Nägeln Brüste und Wangen, wobei sie krampfhaft schluchzte, und überließ sich all den wildesten Ausbrüchen orientalischen Jammers, der jetzt umso heftiger wurde, als sie vorher gezwungen war, ihren Unwillen, ihre Schmach, das Gefühl ihrer geschändeten Würde in sich zu verbergen. Denn der Stolz ihres ganzen Lebens war vernichtet, und der Gedanke, daß sie selbst sich nichts vorzuwerfen hatte, war ihr kein Trost. Wie es ein Dichter ausgedrückt hat: Der Unschuldige allein kennt die Gewissensbisse. Sie bereute das von einem anderen begangene Verbrechen.

Indes raffte sie sich nach einiger Zeit wieder auf, befahl, die mit Wollzeug in verschiedenen Farben gefüllten Körbe und die mit Flachs versehenen Spindeln herbeizubringen und teilte ihren Frauen wie immer die tägliche Arbeit zu. Aber es kam ihr dabei vor, als ob die Sklavinnen sie heute auf eine ganz besondere Art ansähen und nicht mehr die angsterfüllte Achtung vor ihr hätten wie bisher. Ihre Stimme klang nicht mehr so sicher und entschieden, ihr Gang hatte etwas Demütiges, Schleichendes an sich, sie fühlte sich innerlich gebrochen.

Zweifellos waren ihre Seelenqualen übertrieben, und ihre Tugend hatte tatsächlich durch Kandaules' Torheit nichts eingebüßt; aber mit der Muttermilch erworbene Vorstellungen haben eine zwingende, unwiderstehliche Gewalt und die Schamhaftigkeit in bezug auf den Körper ist bei den orientalischen Völkern in einer für die abendländischen Völker fast unverständlichen Art ausgebildet. Wollte daheim in Baktra, im Palaste des Megabazes, ein Mann mit Nyssia sprechen, so mußte er es mit zu Boden gesenkten Augen tun, und zwei Eunuchen mit Dolchmessern in den Händen standen an seiner Seite, bereit, ihre Schneide in sein Herz zu tauchen, wenn er unvorsichtig oder verwegen genug war, den Kopf zu erheben, um die Prinzessin zu betrachten, obgleich ihr Haupt verschleiert war. Man wird nun gut begreifen, welch tödliche Beleidigung für ein so erzogenes Weib Kandaules' Tat sein mußte, die von jeder anderen sicherlich höchstens als ein leichter Verstoß gegen die gute Sitte aufgefaßt worden wäre. Auch der Rachegedanke war sofort in Nyssias Brust emporgetaucht, und dieser hatte ihr soviel Herrschaft über sich selbst verliehen, daß sie imstande war, den Schrei ihres verletzten Schamgefühls zu unterdrücken, ehe er über ihre Lippen drang, als sie bei ihrem Umwenden den aus dem Dunkel blitzenden Augapfel Gyges' wahrgenommen hatte. Sie hatte damals den Mut des im Hintergrunde liegenden Kriegers aufbringen müssen, der, von einem verirrten Pfeil getroffen, keinen einzigen Klagelaut äußert, da er zu befürchten hat, daß er sich hinter seinem Schutzwall aus Laubwerk oder Dornbüschen verrät und lieber schweigend das Blut aus der Wunde rieseln läßt. Hätte sie sich nicht zurückgehalten, so wäre Kandaules aufmerksam geworden und hätte die Ausführung ihrer Absichten hindern oder ganz vereiteln können.

Sie hatte zwar noch keinen klaren, durchdachten Plan; aber sie war fest entschlossen, den ihrer Ehre zugefügten Schimpf bitter zu rächen. Zu allererst dachte sie daran, Kandaules während des Schlafes mit dem neben dem Lager hängenden Schwerte mit eigener Hand zu töten. Aber es widerstrebte ihr, ihre Hände mit Blut zu besudeln; auch besorgte sie, sie könnte den Stoß verfehlen; überdies fühlte sie sich nicht stark genug zur Ausführung einer solchen Tat, die einer Frau wohl kaum anstand.

Plötzlich tauchte aber ein anderer Plan ihn ihrer Seele auf. Sie ließ Statira, eine ihrer Sklavinnen, die sie aus Baktra mit sich genommen hatte, kommen, auf die sie sehr viel Vertrauen setzte. Sie sprach einige Minuten leise mit ihr, obwohl niemand dritter zugegen war. Indes galt es, höchst vorsichtig zu sein.

Statira verneigte sich tief und ging.

Wie alle Menschen, denen irgendeine große Gefahr droht, wähnte sich auch Kandaules in vollkommener Sicherheit. Er war, überzeugt davon, daß Gyges sich unbemerkt hinweggeschlichen hatte, und er malte sich schon das Glück aus, mit ihm über die unvergleichliche Schönheit Nyssias zu plaudern.

Alsbald ließ er ihn rufen und begab sich mit ihm wieder in die Bilderhalle der Herakliden.

»Nun, Gyges!« begann er lächelnd, »ich habe dich also nicht getäuscht, als ich dir versicherte, du würdest es nicht zu bereuen haben, einige Stunden hinter der glückbringenden Türe zu verbringen. Habe ich recht? Kennst du ein Weib, das schöner wäre als die Königin? Wenn du ein solches kennst, sag es mir offen und frei heraus und bringe ihr diese Perlenschnur, das Sinnbild der Macht.«

»O Herr!« erwiderte Gyges mit vor Erregung bebender Stimme, »kein menschliches Geschöpf ist würdig, mit Nyssia verglichen zu werden; ihr sollte nicht die königliche Perlenschnur, sondern der Sternenkranz der Unsterblichen die Stirne krönen.«

»Ich wußte es, dein Eis würde vor dem Feuer dieser Sonne zerschmelzen! Du verstehst also jetzt meine Leidenschaft, meine Tollheit, meine unsinnigen Wünsche. Nicht wahr, Gyges, das Herz eines Mannes ist nicht groß genug, eine solche Liebe zu fassen? Es muß überströmen oder bersten.«

Gyges Wangen färbten sich dunkelrot. Er verstand jetzt die Begeisterung des Königs nur allzu gut.

Der König bemerkte dies und sagte mit halb lächelnder, halb strenger Miene:

»Mein armer Freund, begehe doch nicht etwa die Torheit, dich in Nyssia zu verlieben, denn du würdest dich ganz umsonst verzehren. Es ist eine Statue, die ich dir gezeigt habe und kein Weib. Ich habe dir erlaubt, einige Strophen eines schönen Gedichtes zu lesen, dessen einzige Handschrift in meinem Besitz ist, um deine Meinung darüber einzuholen. Das ist alles.«

»Du hattest es nicht nötig, o Herr, von meiner Nichtigkeit Gebrauch zu machen. Bisweilen erscheint dem elendsten Sklaven im Traume irgendeine strahlende, überirdische Erscheinung, von vollendeter Gestalt und mit ambrosischen Locken. Ich habe mit offenen Augen geträumt; du bist der Gott, der mir dieses Traumgesicht gesendet hat.«

»Ich brauche dir nicht erst strengstes Stillschweigen zu gebieten,« sagte der König, »wenn du nicht ein Siegel auf deine Lippen drückst, könntest du erfahren, daß Nyssia nicht so gut wie schön ist, und diese Erkenntnis käme dir teuer zu stehen.«

Der König gab seinem Günstling ein Zeichen der Verabschiedung und ging, um ein altes, von Ikmalius, einem berühmten Künstler, geschnitztes Bett, das man ihm zum Kaufe angeboten hatte, zu besichtigen.

Kaum war Kandaules verschwunden, als ein Weib, das in einen langen Mantel gehüllt war, und zwar von Kopf bis Fuß, so daß man kaum ihre Augen sah, aus dem Schatten einer Säule hervorglitt, hinter der sie sich während der Unterredung des Königs mit Gyges versteckt gehalten hatte. Die Gestalt ging geradewegs auf Gyges zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und machte ihm ein Zeichen, ihr zu folgen.

 


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