Ludwig Ganghofer
Das Schweigen im Walde
Ludwig Ganghofer

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Elftes Kapitel

Ein Morgen, sonnig und mit wolkenlosem Himmel. Aber der Wind zog unruhig durch das Bergtal empor. Die höchsten Spitzen der Wände waren von milchigem Dunst umwoben, und der Sebensee leuchtete nicht wie sonst. Sein matt gekräuselter Spiegel hatte ein dunkles, schwermütiges Grün. Trotz alles Sonne redete etwas aus dem Bilde der Natur wie leise Angst.

Von der Unruhe des Windes merkte man nicht viel beim kleinen Seehaus, dessen Blumengarten im Schutz des nahen Waldes lag. Nur selten tönten in den Wipfeln des Harfenbaumes die Glocken.

Lolo kniete am Saum eines Beetes, um die verwelkten Almrauschdolden von den Stöcken abzulösen. Ihr Bruder, den die Joppe und das Lederhöschen besser kleidete als das schwarze Studentenröckl, saß im Schatten des Harfenbaumes am Tisch. Trotz der vierzehn »ganz freien« Tage hatte er seine Schulbücher mit zum Sebensee genommen, und da saß er jetzt über einer schriftlichen Aufgabe aus der römischen Geschichte. An der Feder war ihm die Tinte trocken geworden. Mit der Hand den Kopf stützend, blickte er sinnend zum dunstigen Blau des Himmels auf.

»Bubi?« fragte die Schwester. »Wo bist du mit deinen Gedanken?«

Aufatmend schob er die Feder hinters Ohr und nahm die Wangen zwischen die beiden Fäuste. »Weißt du, die Geschichte dieser Gracchen gibt mir furchtbar zu denken! Die haben es doch wirklich gut mit dem armen römischen Volk gemeint. Und doch haben sie unrecht bekommen und sind zugrunde gegangen. Eine solche Ungerechtigkeit sollte der liebe Gott nicht zulassen. Freilich, die alten Römer haben noch an ihre heidnischen Götter geglaubt, die doch in Wirklichkeit gar nicht existierten. Wir Christen glauben doch jetzt an den rechten, wahren Gott. Aber es ist doch eigentlich heutzutage auch nicht viel anders als im Altertum.«

Die Schwester lächelte. »Hast du das in der Schule gelernt?«

»Gottbewahre! Von so was reden sie doch in der Klasse nicht. Aber man hört und sieht doch so viel Unglück und so viel Trauriges. Weißt du, da muß ich immer drüber nachdenken, und da fallen mir oft Dinge ein, die ich mir gar nicht erklären kann.«

»Sag mir so ein Ding!«

»Alles Gute und Schöne in der Welt, das kommt doch von Gott, nicht wahr?«

»Ja, Bubi.«

»Und dann, ich weiß schon, es gibt ja auch Unglücksfälle – zum Beispiel, wenn ein Haus einstürzt, wie neulich in Innsbruck, und sieben arme Menschen erschlägt –, da kann natürlich der liebe Gott nichts dafür. Die Menschen hätten das Haus eben besser bauen sollen.«

»Da hast du recht!«

»Aber es gibt doch auch viel Unglück, an dem die Menschen nicht schuld sind. Ein Bergsturz oder eine große Überschwemmung. Oder der Blitz, der in ein Haus schlägt. Denkt nur, er schlägt sogar am liebsten in die Kirchen! Wie darf denn der liebe Gott so was zulassen? Oder eine Lawine, die einen ganzen Wald verschüttet? Das kann ich mir nicht vorstellen, daß Gott eigens den Wald hat wachsen lassen, nur damit er zugrunde geht. Und dann die Raubtiere zum Beispiel! Wo kommen denn die her? Und das Ungeziefer? Und die giftigen Pflanzen? Und alle die anderen bösen Dinge? Sag mir, Lo, wer hat denn das alles gemacht?«

»Gott! Wer sonst?«

»Aber Lo! Wie kann Gott dann lieb und gut sein?«

»Doch! Er ist es.«

»Das versteh ich nicht. Ich bitte dich, Lo, das mußt du mir erklären!«

»Sieh dir einmal die Sonne an! Ist Gott, der sie erschaffen hat, nicht groß und gut? Und die Berge dort? Wie schön sie sind! Und hier, sieh nur, die Blumen!«

»Freilich, ja, das alles ist gut und schön, das kann nur Gott erschaffen haben. Aber das Böse, Lo?«

»Das Böse? Ich kenne nichts Böses.«

»Aber Lo!« Mit großen, erschrockenen Augen sah Gustl die Schwester an.

»Sag mir, Bubi, was nennst du denn eigentlich böse?«

In seiner Verwunderung wußte der kleine Bursch nicht gleich eine Antwort zu finden. »Ich – weißt du, ich meine, was den Menschen nicht gefällt – und was ihnen schadet, das alles ist doch böse.«

»Meinst du?« Lo erhob sich und schüttelte die welken Blüten von ihrem Schoß in ein Körbchen, das auf dem Kiesweg stand. »Also, die Henne ist gut, weil sie Eier legt, sagt der Bauer. Und der Fuchs, sagt er, ist böse, weil er die Henne frißt. Und gut ist das Pulver, und gut ist die Bleikugel, mit der man den bösen Fuchs erschießen kann. Aber ist denn der Fuchs nicht auch ein Geschöpf, das leben will? Wird der Fuchs nicht sagen: › Ich bin gut, und bös und grausam ist der Jäger, der mich erschießt‹? Wer hat nun recht von den beiden?«

Gustl begann diesen Widerspruch von der heiteren Seite zu nehmen und lachte.

»Nein, Bubi, da sollst du nicht lachen. Ich mein es ernst. Wer von den beiden hat recht?«

»Freilich, wenn ich ein Fuchs wäre, würd ich auch sagen: ›Bös sind die Menschen, die mich erschießen.‹ Aber ich bin doch kein Fuchs. Ich bin ein Mensch.«

»Und deshalb willst du recht haben? Aber jetzt denk einmal: neulich bin ich unserem Nachbar begegnet. Der war vor Zorn ganz rot im Gesicht. Und weißt du, warum?«

»Weil der Fuchs ihm die Henne gestohlen hat?«

»Nein! Weil der böse Jäger den guten, nützlichen Fuchs erschoß, er auf dem Feld des Nachbars alle Maulwürfe und Engerlinge verspeiste.«

Gustl schwieg, und während er die Brauen furchte, blickte er sinnend zur Schwester auf, die zur Bank kam und sich an seine Seite setzte. Dann sagte er langsam. »Du, Lo! Ich glaube, jetzt versteh ich, wie du es meinst. Da hat doch eigentlich jeder recht. Und keiner. Und der Fuchs ist nicht gut und nicht bös. Er ist halt ein Fuchs. Und wie er ist, so muß man ihn nehmen – weil er einmal da ist.«

»Ja, Bubi! Siehst du, wenn du ruhig nachdenkst, dann kommst du schon selbst auf das Richtige. Wie mit dem Fuchs, so ist es mit allen anderen Dingen. Alles in der Welt ist so, wie es sein muß, wie es immer war und immer bleiben wird. Gut und bös? Das hat mit den Dingen der Welt nichts zu schaffen. Das sind nur Worte, die der Mensch in seinem Eigennutz erfunden hat. Und den Bau der großen unendlichen Welt, das ganze herrliche Wunderwerk der Schöpfung nur nach den kleinen Dingen zu beurteilen, die uns Nutzen oder Schaden bringen, ist das nicht töricht und unschön?«

»Ja, Lo, da hast du wirklich recht!«

»Und sieh nur, Kind, es gibt doch so viel schöne Dinge auf der Welt, die uns lehren, die Schöpfung zu lieben und zu bewundern. An die müssen wir uns halten, wenn wir Freude am Leben haben wollen – nicht an die anderen, die uns böse, grausam und ungerecht erscheinen, und weil wir sie nicht verstehen, nur weil wir sie gerne anders hätten, so, wie es uns paßt. Denke nur, Kind: die Welt ist so groß, und wir Menschen sind so klein. Da kann sich doch nicht alles um uns allein drehen. Was uns schadet, was uns weh tut? Wer kann wissen, ob das nicht notwendig ist zum Wohl und Nutzen der ganzen Schöpfung? Wir müssen von dem, was wir als schön und gut erkennen, einen Schluß auf alles andere ziehen und sagen: In jedem Ding der Welt, ob es tot ist oder atmet, lebt der große, weise Wille des Schöpfers. Uns kleinen Menschen fehlt nur der Verstand, um diesen Willen zu begreifen. Wie alles ist in der Welt, so muß es sein. Und wie es auch immer sein mag, immer ist es gut im Sinne des Schöpfers.«

»Aber dann müßte man doch immer mit allem zufrieden sein? Und eigentlich hätte dann auch kein Mensch ein Recht, daß er sich beklagt?«

»Dieses Recht, Kind, hat jeder Schwache, der nicht die Kraft besitzt, seinen Schaden zu verschmerzen und das Unabänderliche zu tragen.«

»Wenn man aber die Kraft nicht hat? Kann man das lernen, Lo?«

»Ja! Man kann es. Und wer das lernte: stark sein im Schmerz; nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos ist; zufrieden sein mit dem Tag, wie er kommt; in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, so, wie sie nun einmal sind; für hundert bittere Stunden sich mit einer einzigen trösten, die schön ist; und aus Herz und Können immer sein Bestes geben, auch wenn es keinen Dank erfährt – wer das lernte, der ist ein Glücklicher! Frei und stolz! Sein Leben ist immer schön und reich. Und nichts kann ihm geschehen. Er kann nur sterben und lächeln dabei.«

In tiefer Bewegung legte sie den Arm um den Hals des Bruders. »Und weißt du, wer solch ein Glücklicher war?«

Heiße Röte flammte über das Gesicht des Knaben. »Ja, Lo, ich weiß es! – Unser Vater!«

Die Schwester nickte nur. Dann saßen sie schweigend und blickten zu den leis tönenden Wipfeln des Harfenbaumes auf. Doch jäh verwandelte sich dieses sanfte Klingen. Ein starker Windstoß kam über den Wald gebraust und schüttelte die Zirbe, daß die Glocken wirr durcheinander klirrten. Mit ernsten Augen sah Lo zum Himmel und zu den Bergen auf. »Sieh nur, der Wind hat gewechselt!« sagte sie zögernd. »Ich fürchte, wir bekommen heute noch böses Wetter.«

»Aber Lo!« Gustl versuchte zu lachen. »Du? Und fürchten?«

» Du bist bei mir!« sagte sie und strich dem Bruder das Haar aus der Stirn.

Da klang ein gellender Jauchzer aus dem Wald.

»Das ist der Loisli!« rief Gustl und ließ zur Antwort seine Stimme schrillen.

Der Hüterbub kam zum Gartenzaun gesprungen, so atemlos, daß er den Gruß kaum herausbrachte. Während er nach Luft schnappte, tauschte er schon mit Gustl einen wichtigen Blick und blinzelte zum See hinunter.

»Aber Bub«, sagte Lo, »weswegen hast du denn wieder so rennen müssen?«

»Daß ich – gschwinder da bin – und länger bleiben kann!«

»So? Na also, dann bleib halt!« Sie nahm den Proviant, den er gebracht hatte, und stellte das Geschirr in den Schatten der Hütte.

Diesen Augenblick benützte der Bub, um Gustl zuzuflüstern: »Heut beißen s', d' Fisch! A Wetter kommt!«

Gustl rannte mit heißem Eifer hinter die Hütte und brachte die Angelrute.

»Ach so? Ihr wollt fischen?«

»Ja, Lo! Gelt, ich darf? Weißt du, der Loisli kann's so gut.«

Wieder fuhr ein Windstoß über den Wald, und wieder blickte das Mädchen in Unruhe zum Himmel auf. »Kind! Ich glaube fast, es wäre klüger, wenn wir heimgingen.«

»Schon heute, Lo?« dem Knaben schossen Tränen in die Augen.

»Ein schweres Wetter wird kommen.«

»Aber Lo! Es ist doch der ganze Himmel blau.«

»Jetzt, ja! In ein paar Stunden wird's anders aussehen.«

»Ja, Fräuln«, fiel Loisl höchst undiplomatisch ein, während er an der sonnigen Hüttenwand eine Fliege nach der anderen fing, um Köder für die Angel zu sammeln, »heut wird's grob auf d' Nacht.«

»Hörst du? Und denk nur, wie Muttl sich wieder sorgen wird.«

»Aber schau, Lo, sie weiß doch, ich bin bei dir. Da bin ich gut aufgehoben. Auf dich kann Muttl sich doch verlassen. Ich bitt dich, Lo!«

Es wurde ihr schwer, dieser Stimme und diesen nassen Augen zu widerstehen.

»Und schau, Lo, ein Gewitter ist doch wirklich nichts Böses. Das ist halt auch, wie es sein muß. Und wir haben doch fünf Stunden bis hinaus. Da könnten wir doch erst recht ins Wetter kommen.«

Sie lächelte. »Du kleiner Schlaukopf, du! Na, meinetwegen, geh fischen! Ich will ein paar Zeilen heimschreiben. Der Sebener Senn trägt heute ab, und dem geb ich sie mit. Dann hat Muttl den Brief vor Abend, und wenn es zu gießen anfängt, weiß sie, wir sind unter Dach.«

Ein stürmischer Kuß. Und mit lachender Freude tollten die beiden Jungen zum See hinunter.

Lolo setzte sich an den Tisch. Die Hände im Schoß und den Kopf an den Baum gelehnt, blickte sie in Gedanken zu den wehenden Zweigen auf. Sie schien das Schwanken und Neigen der vom Wind bewegten Äste nicht zu sehen, die tönende Stimmen der Wipfel nicht zu hören. Plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, strich sie mit der Hand über die Stirn und begann mit raschen, kräftigen Zügen zu schreiben.

Sie hatte den Brief noch nicht vollendet, als vom See herauf ein jubelnder Schrei tönte. »Lo! Lo! Wir haben eine riesige Forelle gefangen.« Und Gustl jauchzte, daß es weit hinaufhallte über die steilen Berge.

Als Lolo den Brief an die Mutter geschlossen hatte, ging sie zum See hinunter.

Gustl kam ihr entgegengesprungen, mit der Forelle in den erhobenen Händen. »Schau nur, Lo! Und drei andere haben gebissen. Aber die ist schön, gelt? Die ist schön?«

Gar so »riesig« war die Forelle nun freilich nicht, aber ein Pfund mochte sie immerhin wiegen.

»Ja, die ist schön. Ich nehme sie dann gleich mit hinauf. Die koch ich dir heut zu Mittag.«

»Aber Lo! Ich habe die Forelle doch für dich gefangen.«

Lächelnd sah sie dem Knaben in das vor Freude glühende Gesicht. »Wie gut du bist! Aber wir teilen, gelt?« Sie wandte sich an den Hüterbuben. »Loisli! Du wirst heim müssen. Jetzt warst du schon über eine Stunde da, und der Vater wird dich bei der Arbeit brauchen. Magst du mir noch einen Gefallen erweisen?«

Der Bub legte die Angelrute nieder.

»So trag mir diesen Brief zum Sebener Senn hinunter. Er soll ihn mit hinausnehmen nach Leutasch, für meine Mutter.«

Zwei Stunden später wurde im Schatten des Harfenbaumes Tafel gehalten. Nach der blauen Forelle gab's noch einen Pfannkuchen, von welchem Gustl meinte, daß er den Pfauenzungen des Lukullus unbedingt vorzuziehen wäre. Und in den Gläsern funkelte » vinum sacrum Sebenianum«, heiliger Sebenwein, wie Gustl das klare Quellwasser getauft hatte. Fast aber wäre die ganze schöne Bescherung dieses Mahls auf der Erde gelegen, denn ein Windstoß blähte das Tischtuch wie ein Segel auf. Das war für Gustl eine lustige Würze des Schmauses, und lachend trocknete er den vinum sacrum von seiner Lederhose, auf die das umgeschleuderte Glas gefallen war.

Als er der Schwester bei Abdecken des Tisches half, rollte ein dumpfer Hall über die Berge hin.

»War das Donner, Lo?«

»Nein.«

Hoch droben in einem der Felsenkare, in stundenweiter Ferne, war ein Schuß gefallen.

Schweigend spähte Lo zu dem Felsgewirr hinauf, dessen Konturen in weißlichem Dunst verschwammen. Während zarte Röte ihre Wangen färbte, sprach es wie Sorge aus ihrem Blick. Wenn Jäger dort oben waren, dann durften sie sich eilen mit der Heimkehr!

»Wenn nicht Donner, was war es dann?«

Lo überhörte die Frage des Bruders, und nach einer Weile sagte sie: »Das Wetter kommt. Hinter der Sonnenspitze ziehen schon die ersten Wolken herauf. Eine Stunde, und der ganze Himmel wird grau sein!«

Wohl schob sich die stahlblaue Wolkenmasse mit ihren zerrissenen Rändern nur langsam über die Berge. Aber von allen Wänden begann es aufzudampfen, überall in den Lüften wuchsen die Nebel aus dem Blau und flossen mit dem heranziehenden Gewölk zu einer dichten, grauen Decken zusammen, die alle Höhen verhüllte. Dennoch schien es, als wollte die Spannung der Atmosphäre sich friedlich wieder lösen. Windstille trat ein, das Ziehen und Drängen der Wolken wurde ruhiger, und gegen fünf Uhr nachmittags begann ein leichter, gleichmäßiger Regen zu fallen.

Auf der Schwelle der Hüttentür saßen die Geschwister im Schutze des vorspringenden Daches. Gustl, der jeden Wechsel im Wolkenbild des Himmels gespannt verfolgte, plauderte mit erregter Unermüdlichkeit. Die Schwester hörte nur halb. In Sorge blickte sie immer wieder zu den umschleierten Bergen auf und über den See hinüber zu den Latschenfeldern, zwischen deren Büschen man die im Nebel verschwindenden Serpentinen eines Steiges kaum noch gewahren konnte. Das beklommene Wesen der Schwester fiel dem Knaben auf, und er fragte: »Lo? Was hast du denn?«

»Ich weiß nicht. Aber dieses Wetter heute –«

»Der Regen läßt ja schon nach. Wirst sehen, wir werden heute noch den schönsten Abend bekommen.«

»Meinst du?« Ein seltsames Lächeln.

Während der Knabe sein Geplauder wieder begann, wurde der Regen immer dünner. Aber es war etwas Schwüles und Unheimliches in dieser trüben Stille der Natur. Das Gewölk hing regungslos in der Luft und färbte sich immer dunkler. Zu einer Stunde, in der es bei klarem Himmel noch heller Tag hätte sein müssen, begann es schon zu dämmern. Und da hörte man fernen Donner. Der Sturm fiel ein und jagte mit brausenden Stößen den Nebel in dichten Schwaden über das Seetal herunter, so daß die kleine Hütte wie von wirbelnden Schleiern umhangen war. Immer näher tönte das Rollen des Donners, dieses Grollen und Dröhnen setzte nicht mehr aus; das Echo eines Schlages rollte so lange, bis mit Geschmetter ein neuer Schlag wieder einfiel.

Als der Sturm gekommen, hatte Lo in der Hütte die Lampe entzündet und an den zwei kleinen Fenstern die Läden geschlossen. Bei Einbruch der Dunkelheit öffnete sie plötzlich den Laden des Fensters wieder, das gegen die Berge blickte.

»Lo? Warum tust du das?«

»Damit die Lampe hinausleuchtet.«

»Meinst du, es könnten noch Menschen draußen sein? Jetzt?«

»Ja, ich fürchte.«

Schweigend begann sie den Tisch zum Tee zu decken und schürte im Herd ein kleines Feuer an.

Gustl, der unter die Tür getreten war, fuhr plötzlich erschrocken zurück. Der erste Blitz war in das finstere Seetal hinuntergefahren. Man hatte keinen Strahl gesehen, aber der Nebel, den der Sturm an der Hütte vorüberjagte, war wie in lohendes Feuer verwandelt, und dazu rasselte ein Donnerschlag, als wäre von den Bergen eine Felswand niedergebrochen.

Lo trat unter die Tür und faßte wortlos die Hand des Bruders.

Wieder flammte ein Blitz, und schwer begann der Regen zu fallen. Plätschernd ging von allen Kanten des Daches die Traufe nieder, und mit dem Rauschen des Regens mischte sich das Brausen des wachsenden Sturmes. Da erwachte auch in Gustl eine Sorge. Er hatte an die Mutter gedacht und fragte: »Lo? Meinst du, daß es draußen bei uns in Leutasch auch so schlimm ist?«

»Nein.«

Der Sturmwind peitschte die Wasserfäden der Traufe bis auf die Schwelle der Hüttentür.

»Komm, Lo, wir müssen die Tür schließen. Dein Kleid wird naß.«

Sie schwieg und blieb auf der Schwelle stehen.

»Aber Lo, was hast du denn nur? Ach, du, wie deine Hand zittert! Lo?«

Ohne zu antworten, drückte sie den Knaben an sich. Plötzlich fuhr sie lauschend auf, sprang in den Regen hinaus und stammelte: »Sie kommen!«

Nun konnte auch Gustl das Klirren eines Bergstockes und eine vom Sturm verwehte Stimme hören.

Lo hatte einen klingenden Laut in die Nacht hinausgeschrien, und als zwei Stimmen Antwort gaben, rief sie: »Herr Fürst? Sind Sie es?«

»Ja, Fräulein!« Man hörte ein Lachen, das im Lärm des Regens unterging. »Ihre Hütte kommt uns gut in den Weg.«

Lo sprang in den Schutz des Daches zurück, schüttelte die Regentröpfen aus dem Haar und lächelte, als wäre alle Sorge der letzten Stunde von ihr abgefallen.

Man hörte die Schritte der beiden Männer, die den Zaun umgingen, und die Stimme des Jägers: » Da bin ich, Duhrlaucht, da! Zehn Schritt gradaus! Jetzt wieder links! Soooo, jetzt haben wir's gleich.«

Gustl erkannte die Stimme. »Lo! Das ist ja der Pepperl! Wer ist denn der andere?«

»Fürst Ettingen!« sagte sie und nahm den Knaben um den Hals.

»Der so lieb und gut vom Vater gesprochen hat?«

»Ja!«

»Gott sei Dank, daß der jetzt unterstehen kann bei uns!«

Ein Blitz durchleuchtete grell den Nebel, als die beiden Männer in den Garten traten. Die Helle blendete die Augen, und in der schwarzen Finsternis, die ihr folgte, verlor Ettingen den Weg und strauchelte die Rabatte eines Beetes. Aber da hatte schon eine Hand die seine gefaßt und zog ihn unter das vorspringende Dach.

»Ihre Hand, Fräulein, führt gut. Ich danke Ihnen. Schlimm wär's ja nicht geworden, ich wäre nur in Blumen gefallen.«

»Aber in nasse«, meinte sie heiter, »und ich glaube, Sie könnten schon zufrieden sein mit dem Wasser, das von Ihnen herunterläuft?«

»Das ist nur der Mantel!« Lachend befühlte Ettingen unter dem triefenden Loden seine Kleider. »Wirklich, unter dem Mantel bin ich leidlich trocken. Aber lange hätt es nicht mehr dauern dürfen. Dann wär's durchgegangen.«

»Ja, heut hätt's uns schiech derwischen können!« sagte Pepperl, während er sich schüttelte, daß die Tropfen wie Sprühregen um ihn herflogen. Er war weit übler weggekommen als Ettingen, denn er trug um die Schulter nur ein dünnes Radmäntelchen, mit dem er mehr die Büchse seines Jagdherrn als sich selber vor dem gießenden Regen geschützt hatte. »Teufi, Teufi, Teufi! Dös is aber schon 's reine Glück heut –« Ein krachender Donnerschlag erstickte, was Pepperl noch weiter sagte. Er stellte die Büchse an die Hüttenwand, half seinen Herrn aus dem klatschenden Loden wickeln und hängte die beiden Mäntel an das Efeuspalier, damit von dem Zeug die ärgste Nässe abtropfen konnte.

Ein rauschender Windstoß fegte unter das Dach herein und machte in der Hütte die Lampe flackern.

»So kommen Sie doch, ich bitte!« mahnte Lo, während sie die Tür geöffnet hielt. »Im Mantel muß Ihnen warm geworden sein. Kommen Sie! Und eine Tasse Tee darf ich Ihnen doch anbieten?«

»Ja, Fräulein! Und wenn Sie noch was dazu haben, nehm ich es auch. Ich habe heut eine leise Ahnung von dem, was man einen Wolfshunger nennt.« Er reichte ihr die Hand, mit frohen, glänzenden Augen, und trat in die Stube.

Groß war sie nicht, diese Stube im Sebenhäuschen. Aber gemütlich! In der einen Ecke stand das mit einer weißen Decke verhangene Bett, in der anderen ein alter Schlafdiwan, der schon zum Nachtlager für Gustl gerichtet war; darüber ein kleiner Wandschrank; und in der dritten Ecke der gemauerte Herd. Außer einer niederen Truhe und einem Rahmen für das Geschirr bestand die ganze übrige Einrichtung aus zwei Holzstühlen und einem Tisch, der in der Mitte des Stübchens, unter der brennenden Hängelampe, schon zum Tee gedeckt war. Neben dem singenden Teekessel schmückte eine Borkenvase mit Edelrosen den weißen Tisch. Überall an den hübsch getäfelten Wänden waren große Waldschwämme und Rindentrichter mit Blumen- und Gräsersträußen angebracht, und die Ecken waren geziert mit Latschenzweigen, deren kräftiger Harzduft den ganzen Raum erfüllte.

Ettingens Augen blieben an dem Knaben haften, der sich bescheiden in die Ecke neben dem Herd zurückgezogen hatte. »Das ist Ihr Brüderchen, Fräulein? Das Studenterl, das vorige Woche in Ihrem Haus erwartet wurde?«

»Ja, Herr Fürst.«

»Na, schönen guten Abend, kleiner Mann! Und da du der Herr im Hause bist, bedank ich mich für die gastliche Aufnahme unter deinem Dach.«

Der Junge trat stramm auf den Fürsten zu, reichte ihm die Hand und machte ein tiefes Kompliment.

»Wie heißt du denn?«

»Gustl.«

»Augustus? Oh! Das ist ein Name, der verpflichtet. Wer Augustus divinus war, das weißt du doch sicher schon?«

»Natürlich! Wir sind zwar heuer in der römischen Geschichte erst bis zur Verschwörung des Catilina gekommen. Aber wer die Kaiser waren, das weiß man doch!«

Mit wachsendem Wohlgefallen betrachtete Ettingen den Jungen. »Das ist eine Antwort, aus der ich errate, daß du ein fleißiger Student bis. Hab ich recht?«

»Ja, das darf ich bestätigen«, sagte Lo, deren Blick mit zärtlichem Stolz auf dem Bruder ruhte, »er hat ein Zeugnis heimgebracht, das sich sehen lassen darf.«

Die Genugtuung, mit welcher Gustl dieses Lob zu hören schien, vertrug sich nicht mit seiner Gewissenhaftigkeit. Seine Wangen färbten sich, während er sagte: »Aber Lo! Die Betragensnote hätte doch wirklich besser sein können.«

Ettingen lachte. »Warum? Ist die nicht so gut ausgefallen wie die Note für römische Geschichte? Na, da tröste dich mit mir, kleiner Mann! Mein Betragen war auch nicht immer das beste. Junges Blut muß das Recht haben, daß es flinker läuft als Professorenwürde.« Ettingen zog den Knaben in den Schein der Lampe. »Es ist überraschend, Fräulein, wie sich in diesem schmalen Gesichtl schon die kräftigeren Züge Ihres Vaters erkennen lassen: die Form der Stirne, hier die Linie von der Wange gegen das Kinn, der Schnitt der Augen und der Nase. Nur in der sanften Zeichnung des Mundes – da gleicht er Ihnen! Und schlägt wohl der Mutter nach?« Er strich mit der Hand über Gustls Haar. »Ja, kleiner Mann, du gleichst deinem Vater. Da mußt du ihm auch in allem übrigen ähnlich werden. Aus dir muß sich im Leben was Tüchtiges auswachsen. Du trägst einen Namen, dem du Ehre machen mußt. Es ist der Name deines Vaters!«

Gustls Augen blitzten.

Dann war's eine Weile still in der kleinen Stube. Draußen trommelte der Regen, und unaufhörlich rollte der Donner. Weil der Sturm die Traufe gegen das Fenster peitschte, schloß Gustl auf einen Wink der Schwester die Läden. Sie selbst bestellte den Tisch mit einer Freude, die aus ihrem ganzen Wesen sprach.

Ettingen hatte sich behaglich auf einen Holzstuhl niedergelassen. »Wenn Sie wüßten, Fräulein, wie wohl mir ist! Ich habe den Wunsch, hier immer so zu sitzen und nicht mehr aufzustehen. Das macht nicht der trockene Unterstand, den ich nach unbehaglichem Marsch in der Finsternis und unter gießendem Regen hier gefunden habe. Das macht Ihre Nähe. Die zufriedene Lebensfreude, die ruhige Heiterkeit, die in Ihnen wohnt, geht auch auf andere über. Das fühlt man, wie man Licht und Wärme fühlt.«

In Verwirrung suchte Lo nach Worten. Da kam Pepperl über die Schwelle gestolpert. »Teufi, Teufi, Teufi!«, lachte er und riegelte hurtig hinter sich die Tür zu, »jetzt bin ich froh, daß ich ins Trückene komm. Ich hab 's Büchsl gschwind noch aber bißl sauber gmacht und hab die Mändel ausgwunden.« Er streckte die Arme und guckte an sich hinunter. »Oben tut's es. Aber 's Untergstell! Saxen noch amal, meine Kurzlederne, die schaut gut aus! Aber no: die is ans Wasser gwöhnt.« Er dachte an die gründliche Taufe, die seine »Kurzlederne« in der Sennhütte empfangen hatte. »Gelten S', Duhrlaucht, heut haben wir's nobel troffen!« Lachend stellte er sich an den Herd und ließ sich von der Wärme anstrahlen. »Jetzt kann ich's ehrlich sagen: wie wir da droben im Nebel umanand krabbelt sind, und wie d' Nacht und so a Wetter eingfallen is, da hat mir graust!«

»Haben Sie denn das Wetter nicht kommen sehen?« fragte Gustl.

»No, da wär ich a sauberer Jager! Aber wissen S'«, wandte Pepperl sich an Lo, welche die kochenden Eier überwachte, »gegen Mittag, wie's wetterig worden is, waren wir droben auf der Schneid, wo's von die Sebenberg nuntergeht ins Prantlkar. Gleich hab ich gsagt: Duhrlaucht, jetzt müssen wir heim! Durchs Prantlkar wären wir leicht zur Schutzhütten nunterkommen bis auf'n Abend. Aber der Herr Fürst hat positiv übern Sebensee heim wollen. No ja, und wie der Nebel eingfallen is, sind wir dagstanden wie der Schuster, wann er an Kittel machen soll.«

Ettingen lachte.

»Ja, gelten S', jetzt können S' lachen? Aber da droben hat's schiech ausgschaut! Ich sag Ihnen, Fräuln, aufgschnauft hab ich, wie ich dös gottsliebe Lichtl von Ihrem Hüttl gsehen hab!«

»Siehst du, Lo!« fuhr Gustl in Erregung auf. »Siehst du, es hat geholfen! Ja, Pepperl, Lo hatte die Läden schon geschlossen und hat sie wieder aufgemacht, damit das Licht hinausleuchtet.«

»Fräulein?« fragte Ettingen. »Sie haben vermutet, daß wir kommen?«

»Ich hatte Ihren Schuß gehört.«

»Da müssen wir Ihnen doppelt dankbar sein!« Er nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen. »Wie geborgen müssen sich die Ihrigen fühlen, da Ihre Sorge schon so warm für fremde Menschen redet!«

Sie erwiderte lächelnd: »Fremde Menschen? Menschen, die man in Gefahr weiß, stehen uns immer nah. Und Sie, Herr Fürst? Nach allem, was Sie mir von meinem Vater sagten? Sie sind kein Fremder für mich und die Meinen.« Aufatmend löste sie ihre Hand und ging zum Herd. »Haben Sie Erfolg auf der Jagd gehabt?«

Pepperl kicherte. »So, Duhrlaucht, jetzt können S' Ihnen sauber schenieren vor'm Fräuln! Auf fufzig Schritt is ihm der Gamsbock dagstanden. Und nobel hat er ihn gfehlt! So a Schütz, wie der Herr Fürst! An was S' da denkt haben, Duhrlaucht, dös weiß der heilige Peterl droben. Und der net gwiß!«

»Ja, Pepperl«, versicherte Ettingen mit herzlichem Lachen, »An Ihren Gemsbock hab ich nicht gedacht. Das stimmt!«

Der Tee duftete aus der Kanne, Lo brachte die in eine Serviette gehüllten Eier zum gedeckten Tisch, und das Mahl konnte beginnen. Da ergab sich eine Schwierigkeit: vier Tischgäste und nur zwei Sessel! Pepperl zog für sich die Truhe zum Tisch, und auf ihr saß er so tief, daß er gerade noch mit dem Kinn über die Tischplatte reichte. Lolo wollte den Platz auf ihrem Sessel mit dem Bruder teilen, aber Gustl holte sich zwei Holzscheite vom Herd, stellte das eine senkrecht, legte das andere quer darüber, und so hatte er den »schönsten Schaukelstuhl«, mit dem er freilich bei jeder leisen Bewegung umzukippen drohte. Die glückliche Lösung der Platznot leitete den Schmaus mit Heiterkeit ein, und während draußen der Regen prasselte, der Donner krachte und der Sturmwind rüttelnd um die Holzwände fuhr, wurde im Schutze des kleinen Daches mit Lachen geplaudert und gespeist.


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