Ludwig Ganghofer
Das Schweigen im Walde
Ludwig Ganghofer

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Neuntes Kapitel

Als der Wald ein wenig lichter wurde, konnte Ettingen zwischen den Weihern ein großes Blockhaus sehen, eine Schilfhütte, und am Ausgang des schmalen Tales ein villenartiges Gebäude.

Das wäre die Fischzuchtanstalt, erklärte der Förster und meinte: »Weil wir schon grad da sind, dös müssen S' Ihnen anschauen, Duhrlaucht! Wie die jungen Fischerln gfüttert und aufzogen werden, dös is lieb zum Betrachten. Wenn S' Lust haben, lauf ich und schau, daß ich an Fischknecht find, der Ihnen rumführt.« Er wartete eine Antwort nicht ab und eilte schräg durch den Wald davon.

Ettingen blieb unter den letzten Bäumen stehen. Doch er schien kein Auge für das liebliche Bild des kleinen Tals zu haben. Und das hätte doch einen Blick verdient. Von stillem Fichtenwald begrenzt und von blumigen Grasborten umzogen, lagen drei Weiher mit glitzernden Spiegeln stufenförmig übereinander, so daß sich aus dem einen das Wasser mit blitzendem Gefäll in den anderen ergoß. Weiße Seerosen und grüne Blätter schwammen in sachter Bewegung im Wasser, und bald hier, bald dort sprang eine silberne Forelle auf.

Vom obersten Weiher zog sich gegen den Wald eine schräge Felswand hin, die in allen Farben schimmerte und gleich einem Sieb von hundert Löchern durchbrochen war, aus deren jedem ein weißes Brünnlein sprudelte. Dieses sonnige Waldidyll mit allem Gefunkel und Lichtgezitter des rauschenden Wassers gab ein Bild, das einen Künstler zur Nachgestaltung reizen konnte. Und Lolo Petri saß auch vor der Staffelei so ganz in ihre Arbeit vertieft, daß sie die Schritte nicht hörte, die sich ihr näherten.

Sie trug jenes ländliche Gewand, das sie damals an jenem ersten Abend getragen hatte, im Tillfußer Wald.

Ettingen war dich zu ihr herangetreten und sah ihr über die Schulter auf die kleine Leinwand, die einen Teil der Felsplatte mit den sprudelnden Quellen in fast vollendeter Arbeit zeigte; es war kein Bild, das hier entstehen sollte – nur ein Versuch, das Lichtgefunkel des über die rauhen Felsformen rinnenden Wassers festzuhalten. Und dieser Versuch war ihr gelungen. Wie diese Farben leuchteten! Wie sie zitterten und zu rinnen schienen! Ettingen staunte über die Kraft des Lichtes und über die Wahrheit in dieser verblüffenden Wiedergabe der Natur. Wie hatte dieses Mädchen ihm sagen dürfen, daß sie keine Künstlerin wäre? Hatte sie das aus übertriebener Bescheidenheit getan? Das sah ihr nicht ähnlich. Also legte sie einen überstrengen Maßstab an sich selbst, während sie von anderen Menschen so nachsichtig dachte? Oder kannte sie ihr eigenes Talent nicht? Sollte ihr Vater dafür kein Auge gehabt, ihr das nie mit einem Worte gesagt haben? Denn sie war doch seine Schülerin? Bei diesem Gedanken fiel ihm auf, daß ihre Art zu malen auch nicht die leiseste Ähnlichkeit mit der Art des Vaters hatte. Da war nichts Absonderliches und Befremdendes, keine erträumte Farbe, keine fabulierte Linie. Was die Leinwand zeigte, war nichts anderes als eine treue Wiederholung der Natur.

Plötzlich, als hätte sie seinen Atem gehört oder seine Nähe empfunden, blickte sie auf. Leichte Röte huschte ihr über die Wangen, und sie erhob sich.

»Herr Fürst –«

Er grüßte und sah ihr in die Augen, noch ganz unter dem Eindruck, den er aus ihrem Hause mit fortgetragen hatte und der ihm von der Erzählung des Försters zurückgeblieben war. »Sehen Sie, Fräulein, damals am Sebensee, das war nicht umsonst gesagt: Auf Wiedersehn!«

Sie hatte nach der ersten leichten Verwirrung ihre ruhige Sicherheit wiedergefunden und reichte ihm die Hand. »Ja! Und heute weiß ich auch, wer Sie sind. Jetzt hab es noch an jenem Morgen erfahren, von einem Ihrer Jäger. Und dann war's mir leid, daß ich Ihren Namen überhörte. Hätte ich damals am Sebensee gewußt, wer Sie sind, dann hätt ich die gute Gelegenheit gleich benutzt und hätte eine Bitte ausgesprochen, mit der ich ohnehin zu Ihnen kommen mußte.«

»Zu mir? Mit einer Bitte? Die ist bewilligt, liebes Fräulein, bevor ich sie kenne.«

»Sie ist auch nicht unbescheiden. Es handelt sich um unser Häuschen draußen am See. Papa hätte, bevor er damals vor acht Jahren baute, den Grund gerne gekauft. Aber das ging nicht. Der Grund ist ärarischer Boden. Papa mußte zufrieden sein, daß er wenigstens die Erlaubnis bekam, zu bauen, auf Widerruf und unter der Bedingung, daß der Jagdpächter seine Erlaubnis gäbe.«

»Und diese Erlaubnis meines Vorgängers soll ich wiederholen?«

»Ja, ich bitte darum.«

Ettingen hielt noch immer ihre Hand in der seinen. »Schade, daß ich mein Plazet nicht mit irgendeiner besonderen Feierlichkeit erteilen kann! Solange ich Pächter der Jagd bin, und ich hoffe, das noch lange zu bleiben, sollen Sie ungestört bei Ihren Blumen wohnen.« Seine Stimme und seine Augen wurden ernst. »Und bei Ihren Erinnerungen!«

»Ich danken Ihnen.«

»Aber eine Bedingung muß ich stellen.«

Ihre Hand befreiend, blickte sie zu ihm auf.

»Die Bedingung, daß Sie gute Nachbarschaft mit mir halten wollen. Und daß es mir vergönnt ist, ab und zu ein Stündchen bei ihnen zu rasten und mich wohlzufühlen – bei Ihren Blumen?«

»Daß ich Ihnen das verwehren könnte«, sagte sie lächelnd, »das haben Sie doch nicht im Ernst gemeint?«

»Nein! Aber Sie stehen, Fräulein, und ich bitte sehr, daß Sie sich durch mich nicht in Ihrer Arbeit stören lassen. Darf ich Ihnen ein wenig zusehen?«

»Gern. Ich fürchte nur, Sie werden dabei nicht viel zu sehen haben.« Sie nahm die Palette und ließ sich vor der Staffelei auf den kleinen Feldstuhl nieder.

Als er sie eine Weile schweigend beobachtet hatte, wie sie aufmerksam die Felswand mit den Quellen betrachtete und dann die kleinen weißen Lichter in den Goldglanz des fließenden Wassers setzte, sagte er: »Wissen Sie auch Fräulein, daß Sie sich neulich vor mir verleugnet haben?«

»Ich? Verleugnet?«

»Doch! Denn Sie sind eine Künstlerin!«

Sie schien sich nicht gleich an jenes Wort zu erinnern. Dann schüttelte sie wieder den Kopf, ganz so entschieden wie damals. »Nein! Nur weil ich ein bißchen malen gelernt habe? Das macht mich noch lange nicht zur Künstlerin. Dazu fehlt mir alles, Talent, Gedanke und Phantasie. Ich eine Künstlerin? Nein! Und eine Handwerkerin will ich nicht sein. Ich zeichne und male nicht aus Beruf. Ich tu es nur, um besser sehen zu lernen, um mir das Schöne, das ich liebhabe, recht tief einzuprägen, damit es Dauer hat in mir. Mit dem Betrachten allein kommt man der Natur gegenüber nicht aus. Da sieht man nur, was jeder sieht, das Oberflächliche, das zuerst in die Augen springt. Die stille Seele eines solchen Bildes und den innersten Reiz übersieht man immer, auch wenn man seine Wirkung fühlt, und deshalb will auch das Bild, so schön, wie es war, nicht in unserem Erinnern haften. Man hat immer was Verschwommenes im Gedächtnis. Sie haben doch auch Verständnis für die Natur und Liebe zu ihr. Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, daß Sie sich an ein schönes Landschaftsbild schon wenige Stunden später nicht mehr genau erinnern konnten? Man sieht noch irgendeine große Linie, irgendeine auffällige Farbe. Aber das will in der Erinnerung nicht mehr wirken.«

»Ja, Fräulein, das ist wahr. Ich hielt das immer für einen Mangel an Gedächtnis. Aber Sie mögen recht haben: es war Mangel an richtiger Beobachtung.«

»Früher war das auch bei mir nicht anders. Aber wenn ich ein paar Stunden geduldig vor solche einem Bild saß, wenn ich jede kleinste Linie nachzuzeichnen, jeden Reiz des Lichtes und jeden Ton des Schattens nachzuahmen versuchte – gleichviel, ob mir das gelingt oder nicht –, dann hab ich das Große ich das Kleinste so genau gesehen, daß ich das Bild habe, in mir, fest und für immer. Und das Schöne so zu besitzen, das ist eine große Freude, die das bißchen Mühe wert ist. Zeichnen Sie nicht auch?«

»Ich? Nein!«

»Warum versuchen Sie es nicht einmal?«

Ettingen lachte. »Da möchte was Hübsches herauskommen!«

»Gewiß nichts Schlimmeres als bei meinem ersten Versuch.«

»Zu dem hat wohl Ihr Vater Sie veranlaßt?«

»Ja! Und das werde ich nie vergessen. Ich war damals noch ein Kind, sieben Jahre, und Papa hatte eine Ulmer Dogge gekauft, die er zu einem Bilde brauchte. Das Tier war so entsetzlich groß, daß ich Angst vor ihm hatte. Ein paar Tage überwand ich's. Aber als der Hund einmal auf mich zukam, fing ich zu schreien an: ›Papa, Papa, ich fürchte mich vor dem Hund!‹ Da lachte er, gab mir ein Blatt Papier und einen Rotstift und sagte: ›Versuche es, Lo, und zeichne den Hund, aber recht, recht genau mußt du ihn ansehen!‹«

»Und das haben Sie getan?«

»Ja!« Lächelnd blickte sie zu ihm auf. »Als das Kunstwerk fertig war, meinte Mama, das wäre ein Lehnstuhl. Aber Papa sagte ganz ernst: ›Nein, Mutter, das ist ein gute, braver Hund, der keinem Kinde was zuleide tut!‹ Und Papa hatte recht. Ich habe den Hund nicht mehr gefürchtet. Jetzt wußte ich, daß er schöne braune Augen hatte, und daß er die Lippe verziehen konnte, als ob er lachten möchte. Wir haben den Hund viele Jahre gehabt, auch hier in Leutasch noch, und als er im Alter so leidend wurde, daß man ihn aus Erbarmen erschießen mußte, das ist für uns alle ein trauriger Tag gewesen. Besonders für Papa.«

Ettingen nickte. »Ihr Vater muß ein großer Tierfreund gewesen sein und muß für das Seelenleben der Tiere ein seltenes Verständnis besessen haben.« Er sah den fragenden Blick ihrer Augen und fügte bei: »Daß ich diese Beobachtung machen konnte, das ist nur der bescheidenste Teil des Gewinnes, den der heutige Tag Ihnen brachte. Soll ich Ihnen sagen, woher ich komme? Wo ich zwei Stunden verbrachte, die ich nie vergessen werde? Im Haus Ihres Vaters!«

Sie atmete tief und sah mit schimmernden Augen über den Weiher hin. Und es zitterte ihr die Hand, mit der sie die Palette hielt.

»Sie schweigen? Und fragen nicht, welchen Eindruck ich von der Kunst Ihres Vaters empfing?«

»Nein!« erwiderte sie leis und beugte sich über die Leinwand, als wollte sie die Arbeit wieder beginnen.

»Nein?« Fast schien es, als hätte ihn dieses Wort verletzt. Doch er lächelte schon wieder. »Halten Sie mein Kunstverständnis für so zweifelhaft, daß es bei einem Urteil über die Bedeutung Ihres Vaters nicht in Frage kommt?«

Da blickte sie zu ihm auf, fast erschrocken. Dieser Blick gab ihr die Ruhe wieder, und es lag nur noch ein wenig Beklommenheit in ihrer Stimme, als sie sagte: »Daß Sie mich so sehr mißverstehen könnten, das glaub ich nicht. Wer die Natur liebt wie Sie, muß doch auch Verständnis und Liebe für die Kunst haben. Und daß ich ein hartes Wort über meinen Vater nicht hören würde, das wußte ich doch. Hätten Sie nicht Anteil an seinem Schicksal genommen, so hätten Sie unser Haus nicht besucht. Und würden Sie nicht anerkennend über seine Arbeit urteilen, so hätten Sie zu mir von diesem Besuche nicht gesprochen. Aber wie gut Sie auch von meinem Vater denken mögen, ich selbst denke doch wohl noch besser von ihm. Für Sie kann er immer nur der Künstler sein, von dem Sie das oder jenes halten. Für mich ist er auch der Vater, das Liebste, was ich auf der Welt besaß. Und hätten Sie über ihn – nicht einen Tadel, nur ein Befremden geäußert –, nicht über sein Denken und Fühlen, denn da müssen Sie ihn verstanden haben – vielleicht nur über seine Art zu sehen, über die Eigenart seines Schaffens –, ich hätte es doch wie einen Tafel empfunden, und mir, seinem Kinde, hätte das weh getan, gerade von Ihnen! Weil ich das fürchtete, deshalb schwieg ich.« Sie legte die Palette fort und erhob sich. »Aber ich sehe ein, daß ich unrecht hatte. Verzeihen Sie mir!«

Ettingen nahm ihre beiden Hände und sah ihr so herzlich in die Augen, daß sie vor diesem Blick in Verwirrung geriet. »Soll jetzt in Ihrem Herzen nicht ein leiser Zweifel zurückbleiben, dann muß ich sprechen!« Er hörte Stimmen, und als er aufblickte, sah er am Ufer des großen Weihers den Förster mit dem Fischer um die Waldecke biegen. »Schade! Da kommen Leute, die mich holen. Aber ich hoffe noch die Stunde zu finden, die mich ungestört mit Ihnen plaudern läßt. Ich habe Ihnen viel mehr zu sagen, als ich jetzt in ein paar Worte fassen kann. Und habe manche Frage zu stellen, die Sie mir beantworten müssen, über das Leben Ihres Vaters, über den Entwicklungsgang seines Schaffens, über die Zeit, in der diese Bilder entstanden. Ich denke nicht sonderlich gut von der Urteilsfähigkeit der Welt, die mit dem Tage lebt und schreit. Aber sie hat trotz allem Augen und hat doch auch ein Herz. Und wäre Ihr Vater vor seiner Flucht in die Berge als Künstler schon der gleiche gewesen, der er war, als er den Hermeskopf mit der Viper und den Jesusknaben mit den Faunkindern schuf – die Welt hätte ihn anerkennen müssen, mehr noch, ihn bewundern und lieben!« Fester umspannte er ihre zitternden Hände. »Ihr Vater war ein großer Künstler. Ich schränke dieses Wort durchaus nicht ein, wenn ich sage, daß in ihm der Mensch und Dichter vielleicht noch größer war als der Maler. Ich kann Ihnen gar nicht schildern, welch einen tiefen Eindruck ich heut aus Ihrem Hause mit forttrug. Es war ein Eindruck, der den Wunsch in mir weckte: hätt ich diesen seltenen Menschen doch gekannt, hätt ich doch mit ihm leben dürfen! Aber ich glaube doch, daß ich ihn kenne. Ich habe schon so viel von seinem Leben erfahren, durch Sie und durch andere. Seit heute weiß ich auch, wie er starb – wie nur ein großer und guter und starker Mensch zu sterben vermag, der seinem Leben keinen Vorwurf zu machen hat. Und ich habe in seinem Haus die Luft des reinen Glückes geatmet, das er sich und den Seinen erkämpfte, habe gesehen, was er schuf – und ich kenne sein Kind. Nun weiß ich, wer Ihr Vater war, und kann Ihnen nachfühlen, was Sie bei jedem Gedanken an ihn empfinden müssen. Sie sind ein glückliches Kind!« Er küßte ihre Hand, und rasch, als möchte er jede störende Begegnung von ihr fernhalten, ging er auf die beiden Männer zu, die schon über das Wehr des letzten Weihers kamen.

Unbeweglich, die großen schönen Augen feucht umschleiert, stand Lolo Petri am Ufer und blickte über das Wasser zum Wehr hinüber. Sie sah nur den einen, der von ihr gegangen war, sah nicht, daß der Förster ihr zuwinkte mit dem Hut, und hörte den Gruß nicht, den er laut, um das Wasser zu übertönen, zu ihr herüberschrie. So stand sie, bis die drei Männer im Tor eines Blockhauses verschwanden. Dann atmete sie auf, und wie in einem Sturm von Empfinden preßte sie die Hand, die er geküßt hatte, an ihre Lippen – als möchte sie ihm danken für seine Worte und wüßte keinen anderen Dank als diesen. Dann kam es über sie wie treibende Ungeduld. Sie klappte den Feldstuhl zusammen, brachte den Malkasten in Ordnung und schabte hastig mit einem Messer das ganze fertige, noch nasse Bildchen von der Leinwand fort, daß auf dem Tuche nur noch ein trüber Schimmer der entfernten Farben zurückblieb. Während sie die zerlegte Staffelei mit dem Sessel zusammenschnallte, blickte sie nach dem Stand der Sonne. »In einer Stunde müssen sie kommen!«

Das Malgerät an einem Riemen tragend, eilte sie zwischen Wald und Wasser das kleine Tal hinunter und folgte einem Fußpfad, bis sie die von Leutasch nach Seefeld führende Landstraße erreichte. Einen Fuhrmann, der ihr mit leerem Wagen entgegenkam, bat sie, ihr Malgerät mit ins Dorf zu nehmen – und sie brauchte den Mann nicht viel zu bitten, man sah es ihm an, daß es ihm Freude machte, ihr eine Gefälligkeit erweisen zu können.

In sachter Steigung klomm die Straße durch den Wald hinauf, und Lolo folgte ihr mit so erregter Hast, daß ihr die Wangen zu brennen begannen. Als sie die Höhe erreichte, öffnete sich vor ihr eine Waldwiese. An einem Quellbach, der sich an die Straße heranschlängelte, waren die Ufer reich mit Blumen bewachsen. Lolo begann zu pflücken, und während sie am Saum der Wiese hinging, sammelte sie zu ihrem Strauß noch immer neue Blumen. Sie erreichte wieder den Wald und ließ sich im Schatten der Bäume nieder, um die Blüten zu ordnen. Nur ihre Hände waren bei dieser Arbeit, nicht die Gedanken. Bald spielte ein träumendes Lächeln um ihren Mund, bald wieder blickte sie ernst in den blauen Schatten des Waldes. Nun ließ sie den Strauß, den sie gebunden hatte, in den Schoß fallen. »Vater! Vater!« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Schluchzen aus. Das war kein Weinen in Schmerz – es war ein Weinen in heißer Freude.

Jetzt fuhr sie lauschend auf, sprang zurück auf die Straße und jauchzte. Aus dem Tal, in das sich der Wald hinuntersenkte, antwortete eine Knabenstimme, hoch und schrill wie der Ton einer Weidenpfeife.

»Ja! Ja! Sie sind es!« stammelte Lo und begann zu laufen. Eine kleine, mit einem Pferd bespannte Kutsche kam. Der Knecht ging neben dem Wagen her, um dem Rößlein die Last über den Berg hinauf zu erleichtern. In der Kutsche saßen eine Frau und ein Knabe, der mit beiden Armen winkte.

Mit klingender Stimme rief Lo den Namen des Bruders. Und da ließ sich der kleine Bursch nicht länger im Wagen halten, sprang auf die Straße, noch ehe der Knecht das Pferd zum Stehen brachte, warf das Hütl in die Kutsche zurück und begann den Berg hinaufzurennen, daß ihm die Mutter in Sorge nachrief: »Gustl! Gustl! Nur langsam! Ich bitte dich! Sie wartet ja, bis du kommst!«Der Junge hörte nicht, rannte und rannte, und schon auf hundert Schritt vor der Schwester breitete er die Arme aus und jubelte: »Lo! Lo! Meine liebe, gute, gute Lo!« Mit so wilder Freude flog er an ihre Brust, daß sie wankte unter dem Ansturm dieses schmächtigen Knabenkörpers. Wortlos hielt sie ihn umschlungen. Als sie sich aufrichtete, hing er mit erloschenem Atem an ihrem Hals, hielt die Wange an ihre Brust gedrückt und brachte nur mühsam die Worte heraus: »Ach, Lo, ich kann dir's gar nicht sagen, wie ich mich freue! Weil ich dich wiederhabe! Lo! Dich! Weißt du, es ist so nett vom lieben Gott, daß er die Ferien erschaffen hat!«

Lächelnd kühlte sie ihm mit ihrem Tuch die Wangen und hielt ihn umschlungen, bis er ruhiger wurde. Dann gab sie ihm die Blumen.

»Lo? Für mich?«

»Für dich und für die Mutter.«

»Ich danke, danke dir, Lo!«

Da nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände und sah ihm lang in die Augen. Wie zwei klare Sterne blickten die leuchtenden Knabenaugen zu ihr empor. Sie atmete auf und sagte leis: »Ja! Du bist es! Du kommst wieder heim, wie du gegangen bist!« Lächelnd schob sie ihn ein wenig von sich und betrachtete sein hager aufgeschossenes Figürchen in dem sauber gehaltenen schwarzen Anzug und in den engen Höschen, die ihm zu kurz geworden. »Und wie du gewachsen bist!«

»Ja!« sagte er stolz und reckte sich. »Jetzt reich ich dir schon fast an die Schulter.«

Die Kutsche kam, und jubelnd schwenkte der Junge seine Blumen. »Muttl! Sieh doch! Sieh! Die hat uns Lo gebracht!«

Das Mädchen eilte dem Wagen entgegen und faßte die Hand der Mutter.

Frau Petri hatte schon graue Haare, die glatt gescheitelt unter dem schwarzen, altmodischen Kapotthut hervorsahen. In weißem Oval, wie aus Wachs gebildet, hob sich aus den schwarzen Bändern das schmale Faltengesicht, das von Kummer und Schmerzen erzählte, die nur zur Ruhe kamen, doch nicht überwunden sind. Aber so welk und müde dieses Gesicht auch war, es zeigte noch Spuren einstiger Schönheit und glich mit seinen feinen, vornehmen Zügen dem Antlitz der Tochter. Nur andere Augen hatte die Mutter, von mattem Blau – Augen, die nicht anders blicken konnten als in Sorge. Und sie hatte ihrer Tochter kaum ins Gesicht gesehen, als sie schon beklommen fragte: »Kind? Was ist dir? Du bist anders als sonst! Ich bitte dich, sag mir, ist etwas geschehen? Was hast du?«

»Mutter!« Lo umklammerte die Hand der alten Frau, während sie neben der Kutsche herging; sie war so erregt, daß sie nicht zu sprechen vermochte.

»Aber Hans!« schmollte Frau Petri mit dem Kutscher. »So halten Sie doch den Wagen an. Lo kann doch nicht immer so nebenherlaufen!«

Der Knecht hielt das Pferd an und suchte auf der kahlen Straße nach einem Stein, den er unter das Rad legen könnte.

»Was hast du, Kind? Aber so sprich doch!«

»Mutter! Denke nur, wer heute bis uns war! In unserem Hause! Er, Mutter! Er!«

»Er? Wie soll ich denn wissen, wer das ist?«

»Aber Mutter! Ich habe dir doch heute früh erzählt von ihm. Daß ich ihn draußen am Sebensee kennenlernte. Und daß ich so viel vom Vater mit ihm gesprochen habe.«

»Der Fürst?« fragte Frau Petri betroffen.

»Heute kam er zu uns, um Vaters Bild zu sehen.«

»Und du warst bei ihm?«

»Nein! Aber ich traf ihn. Bei den Weihern. Ach, Mutter! Wärst du doch bei mir gewesen! Hättest du nur gehört, wie er vom Vater gesprochen hat! Das wäre für dich eine Freude gewesen. Eine Freude! Weißt du, was er sagte? Ein großer Künstler, den die Welt hätte bewundern und lieben müssen! Und vielleicht war der Mensch und Dichter in ihm noch größer als der Maler! Das sagte er. Wort für Wort. Wir, Mutter, wir wissen es ja! Aber daß es nun auch die anderen erkennen und sagen! Ach, Mutter, dieses Wort war ein Geschenk für mich, so schön, ich kann es dir gar nicht sagen!«

Frau Petri schwieg, und während sie zitternd die Hand ihres Kindes umklammert hielt, fielen ihre glitzernden Zähren auf das Hutband.

Da sagte der Kutscher: »Liebe Frau, jetzt muß ich aber weiterfahren, 's Rößl kann den Wagen auf der steilen Straßen nimmer derhalten!«

Frau Petri seufzte. »Ach, Lo! Warum kommt das so spät? Zu spät für ihn!« Sie trocknete die Augen und sagte begütigend zum Kutscher: »Ja, Hans, fahren Sie nur weiter! Aber du, Lo?«

»Fahre nur voraus, Mutter! Ich gehe mit Gustl.«

»Wo ist er denn?«

»Dort, im Wald. Einem Schmetterling läuft er nach oder einem Eichhörnchen.«

»Ach, wie sich der Bub wieder erhitzen wird!« Frau Petri reichte dem Mädchen den Hut des Jungen und ein seidenes Tuch. »Er soll den Hut gleich aufsetzen, wenn er auf die Straße kommt. Hier zieht es. Und bind ihm das Tuch um! Tust du es aber auch wirklich?«

Lolo lächelte. »Ja, Mutter!«

Als der Wagen davonfuhr, kam Gustl aus dem Wald gerannt, rief der Mutter einen jauchzenden Gruß nach und warf sich wieder mit stürmischer Zärtlichkeit in die Arme der Schwester. Sie drückte ihm das Hütl aufs Haar und band ihm das Tuch lose um den Rockkragen, daß es den Hals nicht berührte. Dann wanderten sie Arm in Arm neben der Straße hin, und während Gustl mit sprudelndem Eifer die lange Geschichte seiner kurzen Reise erzählte, schmiegte er sich eng an die Schwester an, als gäbe es für ihn keine süßere Freude, als so mit ihr zu wandern, ihre Hand zu streicheln und mit leuchtenden Augen immer wieder zu ihr aufzublicken. Doch plötzlich, mitten in seiner plaudernden Freude, verstummte er.

Sie beugte sich zu ihm nieder, sah ihm ins Gesicht und sagte leis: »Ich weiß, an was du denkst!«

»Ach, Lo!« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Die ersten Sommerferien – ohne Vater!« In Schluchzen ausbrechend, umklammerte er die Schwester.

Während auch ihr die Tränen über die Wangen rollten, hielt sie den Knaben an sich gepreßt. Dann wanderten sie langsam und schweigend durch den Wald. Sie kamen zur Höhe, und aus dem Tal herauf grüßte das Dorf mit seinen Wiesen und Gärten.

»Lo! Unser Haus! Ich sehe unser Haus!« Mit einem gellenden Jubelschrei, aus dem noch die Tränen zitterten, schwang der Junge sein Hütl.

Lolo legte den Arm um seine Schulter und sagte flüsternd: »Gelt, so schön wie daheim ist's nirgends in der Welt!«

»Daheim! Ach, Lo, wo sollt es denn schöner sein?«

»Aber eins mußt du mir versprechen! Wenn wir heimkommen, wollen wir klug und stark sein. Und lieb und gut mit der Mutter. Wir dürfen ihr nicht weh tun mit unserm Schmerz. Sie soll nichts anderes sehen als deine Freude, daß du wieder daheim bist und wieder bei ihr!«

»Ja, Lo! Ich verstehe, was du meinst! Und das versprech ich dir: lieber beiß ich mir die Zunge ab, eh ich weine, wenn Muttl es sehen kann!«

Sie nickte ihm zu. »Und eins sag mir noch! Wenn der Vater dich jetzt erwarten könnte? Dürfte er Freude an dir haben?«

Ruhig hielt er den Blick der Schwester aus. »Ja, Lo, ich glaube schon! Mein Zeugnis hab ich ganz zuoberst im Kofferchen liegen, und gleich wenn wir heimkommen, zeig ich es dir! In allen Fächern hab ich Eins mit Auszeichnung bekommen. Nur in Betragen – ich bitte dich, sei nicht bös, aber im Betragen hab ich Zwei auf Drei. Neulich hat mir der Religionslehrer in die Liste geschrieben: ›Der Knabe August hat sich während der Stunde umgesehen.‹ Weißt du, ich passe in der Schule immer so viel auf, aber ich kann nicht stillsitzen, ich will's immer, aber ich kann nicht!«

Lächelnd streichelte ihm die Schwester das Haar. »Deshalb brauchst du dir keinen Kummer zu machen. Das wirst du schon noch lernen! Und umsehen muß man sich in der Welt ein bißchen.« Sie nahm seinen Arm und nun schritten sie rasch ins Tal hinunter. »Und weil du so gute Zeugnisse heimbrachtest, sollst du auch schöne Ferien haben. Muttl und ich, wir werden zusammen helfen, um dir recht viel Freude zu machen! Aber weißt du, Bubi, ganz darfst du in den Ferien das Lernen nicht aussetzen. Ich habe schon den Stundenplan eingeteilt. In der Früh wird Muttl eine Stunde mit dir lernen, und nachmittags oder am Abend, da setzen wir beide uns ein paar Stündchen zusammen. Willst du?«

»Ja, Lo, ja! Aber gelt, jetzt gleich, da hab ich doch ein paar Tage ganz frei? Weißt du, ein bißl ausrennen möcht ich mich schon.«

»Aber natürlich! Bist du zufrieden mit vierzehn Tagen?«

»Vierzehn –« Das Wort ging unter in einem seligen Jauchzer. »Und darf ich auch wieder fischen? Schon morgen?«

»Wenn du willst, noch haut am Abend. Der Fischer hat die neue Angelgerte für dich schon fertig.«

»Ach, Lo, das wird herrlich, herrlich!«

»Vier Tage bleiben wir jetzt zu Hause bei Muttl, und dann darfst du drei Tage mit mir – rate, wohin?«

»Lo? Zum Sebensee?«

»Erraten! Ja!«

Die erste Regung des Knaben war stürmischer Jubel. Dann wurde er still, und die Wange an den Arm der Schwester schmiegend, flüsterte er: »Ach, Lo! Da draußen sein, und an den Vater denken, wenn ich seinem Blumen sehe und seinen Baum singen höre – ich kann's nicht erwarten, gar nicht erwarten! Wie schön das sein wird!« Und hastig, als müßt er für solche Freude danken, sagte er: »Lo! Da nehm ich meine Bücher mit. Da draußen, weißt du, da muß und lernen.«

Zärtlich drückte ihn die Schwester an sich, und wieder gingen sie schweigend am blumigen Saum der Straße hin. Als sie zu den ersten Häusern kamen, wurde ihr Gang immer rascher. Wenige Schritte noch, und sie hatten ihr Haus erreicht.

Das Gold des Nachmittages lag über dem Schieferdach, die weißen Tauben flogen, die Stare zwitscherten, und die sonnige Luft war erfüllt vom Wohlgeruch der Blumen.


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