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Viertes Kapitel

Auf dem Weg ins Inferno

Am Morgen nach einer Nacht, in der Soames schließlich seine Rechte behauptet und wie ein Mann gehandelt hatte, frühstückte er allein.

Er frühstückte bei Gaslicht, denn der Novembernebel hüllte die Stadt wie in eine ungeheuere Wolldecke, so daß die Bäume auf dem Platz vom Fenster des Speisezimmers aus kaum sichtbar waren.

Er aß ruhig, aber zeitweilig überkam ihn ein Gefühl, als vermöchte er nicht zu schlingen. Hatte er recht getan, seinem überwältigenden Verlangen der vergangenen Nacht nachzugeben und den so lange schon geduldeten Widerstand dieser Frau zu brechen, die nach dem Gesetz seine ihm feierlich zugesprochene Genossin war?

Ihn verfolgte die Erinnerung an ihr Gesicht, von dem er versucht hatte ihre Hände fortzuziehen, um sie zu besänftigen – an ihr furchtbares verhaltenes Schluchzen, wie er es ähnlich nie gehört, und das er immer noch zu hören meinte; und ihn verfolgte noch jetzt ein sonderbares, unerträgliches Gefühl der Reue und der Scham, das er gehabt, als er beim Licht der einen Kerze dagestanden, bevor er sich schweigend davongeschlichen hatte.

Und jetzt, nachdem er so gehandelt, war er über sich selbst erstaunt.

Zwei Tage vorher, bei Winifred Dartie, hatte Mrs. Mac Ander mit ihm zu Tisch gesessen und da mit einem Blick ihrer scharfen grünlichen Augen zu ihm gesagt: »Also Ihre Frau ist eine so gute Freundin von Mr. Bosinney?«

Da er nicht fragen mochte, was sie damit meinte, hatte er lange über ihre Worte nachgegrübelt.

Sie hatten eine wilde Eifersucht in ihm erweckt, die sich bei der eigentümlichen Perversion dieses Gefühls in noch wilderes Verlangen umgewandelt hatte.

Ohne den Antrieb von Mrs. Mac Anders Worten, ohne diesen Antrieb und den Zufall die Tür seiner Frau dies eine Mal unverschlossen zu finden, der ihm verstattet hatte sie im Schlaf zu überfallen, hätte er wohl nicht getan, was er getan hatte.

Der Schlaf hatte seine Bedenken zerstreut, doch der Morgen brachte sie wieder. Ein Gedanke tröstete ihn: Niemand würde es erfahren – nie würde sie darüber sprechen.

Und in der Tat, als die Maschine seiner täglichen Geschäfte, die so gebieterisch das Öl klaren praktischen Denkens beanspruchte, mit dem Lesen der Briefe wieder ins Rollen kam, begannen jene alpähnlichen Bedenken eine weniger übertriebene Bedeutung in seinem Herzen einzunehmen. Der Vorfall war wirklich nicht von so großer Tragweite; in Büchern machen Frauen viel Wesens davon, aber nach dem kühlen Urteil rechtlich denkender Männer, Männer von Welt, solcher Männer, aus deren Munde er im Ehescheidungsgericht so manches Lob gehört, hatte er sein bestes getan, um die Heiligkeit der Ehe aufrechtzuerhalten, seine Frau vor Pflichtvergessenheit zu bewahren und sie womöglich, wenn sie Bosinney noch sah, vor –. Nein, er bereute es nicht.

Jetzt, wo der erste Schritt zur Versöhnung getan war, würde das übrige sich verhältnismäßig – verhältnismäßig –

Er erhob sich und trat ans Fenster. Seine Nerven waren erschüttert. Der Klang verhaltenen Schluchzens tönte ihm aufs neue im Ohr. Er konnte ihn nicht los werden.

Er zog seinen Pelz an und ging in den Nebel hinaus; da er in die City mußte, nahm er die Untergrundbahn von der Sloane Street Station.

Das verhaltene Schluchzen verfolgte ihn auch noch bis in seine Ecke des mit City-Leuten gefüllten Abteils erster Klasse, er entfaltete darum die Times mit lautem Rascheln, das alle andern leiseren Geräusche übertönt und begann, dahinter verbarrikadiert, gelassen die Nachrichten durchzusehen.

Er las, daß am vorigen Tage eine ungewöhnlich lange Reihe von Vergehen vor das Geschworenengericht gekommen war. Er las von drei Morden, fünf Totschlägen, sieben Brandstiftungen und elf – eine überraschend hohe Anzahl – Entführungen, daneben von allerlei weniger klaren Verbrechen, die nächstens vor Gericht untersucht werden sollten; er ging von einem Bericht zum andern über und hielt sich die Zeitung dabei dicht vor sein Gesicht.

Und doch blieb trotz des Lesens die Erinnerung an Irenens tränenüberströmtes Antlitz und ihr herzbrechendes Schluchzen wach in ihm.

Es war ein unruhiger Tag, an dem er außer seinen gewöhnlichen Geschäften noch einen Besuch bei seinen Maklern, Grin und Grinning zu erledigen hatte, um ihnen den Auftrag zu geben, seine Aktien der New Colliery Company, Ltd. zu verkaufen, deren Geschäfte anfingen zu stocken, wie er mehr argwöhnte als wußte (das Unternehmen ging später langsam zurück und wurde schließlich für ein Butterbrot an ein amerikanisches Syndikat verkauft). Zuletzt hatte er noch eine lange Konferenz im Bureau des Staatsanwalt Waterbuck, der Boulter, Fiske, der junge Advokat, und Waterbuck selbst beiwohnten.

Der Fall Forsyte contra Bosinney sollte am nächsten Tage vor dem Richter Mr. Bentham zur Entscheidung kommen.

Der Richter, Mr. Bentham, eher ein Mann von gesundem Menschenverstand als großen juristischen Kenntnissen, wurde als die geeignetste Persönlichkeit betrachtet, die Untersuchung zu leiten. Er war ein ›strenger‹ Richter.

Während Staatsanwalt Waterbuck Boulter und Fiske mit fast ungezogener Nachlässigkeit behandelte, war er gegen Soames von großer Aufmerksamkeit und liebenswürdiger Verbindlichkeit, denn er witterte instinktiv oder infolge glaubwürdiger Gerüchte den reichen Mann in ihm.

Mit bemerkenswerter Beharrlichkeit hielt er an der Ansicht fest, die er schon schriftlich ausgesprochen hatte, daß der Ausgang hauptsächlich von den Aussagen beim Verhör abhinge, und gab Soames in einigen treffenden Bemerkungen den Rat, nicht zu behutsam dabei vorzugehen. »Ein wenig derber, Mr. Forsyte,« sagte er, »ein wenig derber,« und nachdem er das gesagt, lachte er laut, preßte die Lippen fest zusammen und kratzte sich, ganz wie ein Landjunker, den Kopf an der Stelle, wo er seine Perücke fortgeschoben hatte, denn er liebte es, für einen solchen gehalten zu werden. In Fällen, wo es sich um Wortbruch handelte, galt er als Autorität.

Soames benutzte auf dem Heimweg wieder die Untergrundbahn.

Der Nebel war schlimmer denn je an der Sloane Street Station. Durch den stillen dichten Qualm tappten Männer herein und hinaus; Frauen, nur wenige waren zu sehen, drückten ihre Arbeitsbeutel an die Brust und die Schnupftücher an den Mund; und von ihren wachsamen Kutschern überragt, und einem vagen Schimmer des Laternenlichts umflossen, das von dem Dunst aufgesaugt zu werden schien, bevor es das Pflaster erreichte, tauchten in schwachen Umrissen sichtbar hin und wieder Droschken auf und setzten Menschen ab, die wie Kaninchen schnell in ihre Höhlen schlüpften.

Und diese schattenhaften Gestalten, deren jede in eine eigene kleine Nebelwolke gehüllt war, beachteten einander nicht. In dem großen Gehege blieb jedes Kaninchen für sich allein, besonders jene in kostbareren Pelzen, die sich an Nebeltagen fürchteten ihre Wagen zu benutzen und mit der Untergrundbahn fuhren.

Eine Gestalt, jedoch, wartete nicht weit von Soames am Eingang der Station.

Irgend ein ›Bukanier‹ oder Verliebter, den jeder Forsyte für einen armen Teufel hielt und dachte: ›Man sieht ihm an, daß er es schwer hat!‹ Ihre guten Herzen schlugen ein wenig schneller beim Anblick des armen, wartenden, eifrigen Liebhabers im Nebel; allein sie eilten weiter, denn sie hatten ja nicht Zeit noch Geld für Leiden übrig, die nicht ihre eigenen waren.

Nur ein Schutzmann, der von Zeit zu Zeit langsam auf und ab ging, hatte Interesse für den Wartenden, dessen von der Kälte gerötetes Gesicht, ganz schmal und hager, der breite Rand des weichen Hutes halb verdeckte, während seine Hand mitunter verstohlen darüber strich, wie um die Unruhe zu verscheuchen oder einen Entschluß zu befestigen, der ihn hier wartend hielt. Doch der wartende Liebhaber (wenn es ein solcher war) schien das Aufpassen von Schutzleuten gewöhnt, oder er war von seiner Unruhe zu sehr in Anspruch genommen, denn er wich nicht von der Stelle. Ein dickfelliger Geselle, an langes Warten gewöhnt, an Unruhe und Kälte und Nebel, wenn die Geliebte nur endlich kam! Verliebter Narr! Nebel dauern bis zum Frühling, auch Schnee und Regen kommen dazu, und nirgends ein Behagen; nagende Furcht nur, ob du sie hinausführst, ob du sie bittest im Haus zu bleiben!

»Geschieht ihm recht, er hätte sich besser einrichten sollen!«

So würde jeder achtbare Forsyte denken. Doch hätte der biedere Mann dem Liebenden, der da draußen in Kälte und Nebel wartete, ins Herz sehen können, so würde er wohl wieder sagen: ›Ein armer Teufel! er hat es schwer!‹

Soames stieg in seine Droschke, die mit herabgelassenen Fenstern langsam durch die Straßen kroch. Um fünf Uhr kam er zu Hause an.

Seine Frau war nicht da. Sie war vor einer Viertelstunde ausgegangen. So spät abends, in dem fürchterlichen Nebel! Was bedeutete das?

Bis ins Innerste verstört saß er bei offener Tür am Kamin im Speisezimmer und versuchte die Abendzeitung zu lesen. Bücher nützten nichts – nur die täglichen Blätter boten ein Betäubungsmittel für eine Qual wie die seine. Die gewohnten Ereignisse, von denen die Zeitung berichtete, gewährten ihm einigen Trost. ›Selbstmord einer Schauspielerin‹ – ›Ernstes Leiden eines Staatsmannes‹ – ›Ehescheidung eines Offiziers der Armee‹ – ›Feuer in einer Kohlengrube‹ – er las alles. Ein wenig half es ihm – denn es war von dem größten aller Doktoren, dem eigenen Geschmack verschrieben.

Es war beinahe sieben Uhr, als er sie zurückkommen hörte.

Der Vorfall der letzten Nacht hatte unter dem Druck der Angst über ihren sonderbaren Ausgang in dem Nebel, längst seine Bedeutung verloren. Aber jetzt, wo Irene zu Haus war, kam die Erinnerung an ihr herzbrechendes Schluchzen wieder, und der Gedanke ihr gegenüberzutreten beunruhigte ihn.

Sie war schon auf der Treppe; der graue Pelzmantel reichte bis zu den Knieen, und sein hoher Kragen verbarg fast ihr Gesicht vor dem sie einen dichten Schleier trug.

Weder wandte sie sich um ihn anzusehen, noch sagte sie etwas. Ein Geist oder ein Fremder hätte nicht lautloser vorübergehen können.

Das Mädchen kam um den Tisch zu decken und sagte ihm, daß die gnädige Frau nicht herunterkommen werde; sie wolle in ihrem Zimmer speisen.

Zum ersten Mal kleidete Soames sich nicht um; wohl noch niemals in seinem Leben hatte er sich mit unsauberen Manschetten zu Tisch gesetzt, er bemerkte es nicht einmal und saß lange nachdenklich über seinem Wein. Dann ließ er sich ein Feuer in seinem Bilderzimmer anzünden und ging hinauf.

Er drehte das Gas auf und seufzte tief dabei auf, als fände er unter diesen Schätzen, die er ringsum in dem kleinen Zimmer aufgestapelt sah, endlich seinen Seelenfrieden wieder. Er ging zuerst auf seinen größten Schatz, einen unzweifelhaften Turner zu und stellte ihn, dem Lichte zugekehrt, auf eine Staffelei. Turners standen jetzt hoch im Preise, aber er hatte sich nicht entschließen können, sich davon zu trennen. Das blasse, glattrasierte Gesicht über den Stehkragen vorgeschoben, stand er lange Zeit vor dem Bilde und betrachtete es, als addiere er die Summe. Es kam ein nachdenklicher Ausdruck in seine Augen; vielleicht fand er, daß sie zu gering sei. Er nahm es von der Staffelei herunter und stellte es an die Wand zurück, doch als er durch das Zimmer schritt, machte er Halt, denn er meinte ein Schluchzen zu hören.

Es war nichts – nichts weiter als das, was ihn den ganzen Morgen gequält hatte. Bald darauf stellte er das hohe Schutzgitter vor das lodernde Feuer und stahl sich hinunter.

Frisch für morgen! sagte er sich. Es währte lange, ehe er einschlief ...

Um Aufschluß über die Vorgänge jenes in einen Nebelabgrund versunkenen Nachmittags zu erhalten, muß man sich nun an George Forsyte wenden.

Dieser witzigste und am meisten sportsmännische der Forsytes hatte den Tag mit dem Lesen eines Romans in dem väterlichen Hause zugebracht. Seit der letzten Krise in seinen finanziellen Angelegenheiten hatte Roger ihm das Ehrenwort abgenommen und ihn gezwungen ›zu Haus‹ zu wohnen.

Gegen fünf Uhr ging er aus und nahm den Zug nach der South Kensington Station (denn heute benutzte jedermann die Untergrundbahn). Er hatte die Absicht zu Mittag zu essen und den Abend mit Billardspielen im ›Red Pottle‹ zu verbringen – einem in seiner Art einzigen Wirtshaus, das weder Hotel, Klub, noch ein wirklich gutes Restaurant war.

An der Charing Croß Station stieg er aus, denn heute zog er diese der gewohnten am St. James's Park vor, um sein Ziel auf besser beleuchtetem Wege zu erreichen.

Auf dem Bahnsteig fiel ihm ein Mann auf – denn neben einer gesetzten vornehmen Erscheinung besaß George einen scharfen Blick und schaute überall nach Stoff für seine Spottlust aus – ein Mann, der aus einem Abteil erster Klasse sprang und mehr wankend als gehend den Ausgang zu erreichen suchte.

»Ei, ei, mein Freund!« sagte George zu sich selbst; »sieh da, es ist ja ›der Bukanier‹!« und seine große Gestalt folgte der Spur. Nichts bereitete ihm größeres Vergnügen als ein Betrunkner.

Bosinney, der einen breitkrempigen Hut trug, blieb vor ihm stehen, drehte sich kurz um und stürzte zu dem Wagen zurück, den er eben verlassen hatte. Es war zu spät. Ein Schaffner hielt ihn am Rock zurück; der Zug war bereits in Bewegung.

Georges geübter Blick entdeckte das Gesicht einer Dame in grauem Pelzmantel am Coupéfenster. Es war Mrs. Soames – George fand die Sache interessant!

Und nun folgte er Bosinney noch dichter als vorher – die Treppe hinauf, an der Billettkontrolle vorbei, bis auf die Straße. Auf dem Wege jedoch hatten seine Gefühle eine Umwandlung erfahren; er war nicht mehr neugierig und belustigt, sondern bedauerte den armen Kerl, dem er wie ein Schatten folgte. Bosinney war nicht betrunken, schien aber unter dem Druck einer heftigen Erregung zu stehen. Er sprach mit sich selbst, doch alles was George auffangen konnte, waren die Worte »O Gott!« Offenbar wußte er auch nicht was er tat oder wohin er ging; er starrte, zögerte, gebärdete sich wie ein Verrückter. Und anstatt wie ein lustiger Geselle nur seinem Vergnügen nachzugehen, fühlte George jetzt die Verpflichtung dem armen Burschen beizustehen.

Er war ja ›ganz von Sinnen‹, ›ganz von Sinnen‹! George hätte gar zu gern gewußt, was in aller Welt Mrs. Soames gesagt, was in aller Welt sie ihm im Eisenbahnwagen erzählt hatte. Sie schien selbst übel daran zu sein! Es tat ihm leid zu denken, daß sie so ganz allein mit ihrem Kummer weiter gefahren war.

Wie ein Schatten, stumm, behutsam, folgte seine hohe stattliche Gestalt Bosinney dicht auf den Fersen in den Nebel hinein! Dies hier ging über einen Spaß hinaus! Trotz einiger Erregung, denn neben dem Mitleid waren Jagdinstinkte in ihm erwacht, hielt er sich bewundernswert.

Bosinney ging direkt in den Durchgang hinein – eine tiefe undurchdringliche Finsternis, in der man nicht sechs Fuß weit vor sich sehen konnte, wo ringsum Stimmen oder Flüstern jedes Gefühl für die Richtung täuschten. Und unvermutet bewegten sich Gestalten langsam auf sie zu; und dann und wann zeigte sich ein Licht, wie eine ferne Insel in einem unendlichen dunklen Meer.

Und in diesen gefährlich nächtigen Schlund hinein ging Bosinney mit raschen Schritten, und rasch hinter ihm folgte George. Falls der Mann die Absicht hatte seinen ›Nickel‹ von einem Omnibus überfahren zu lassen, wollte er es hindern, wenn es ging! Über die Straße und wieder zurück eilte die gehetzte Kreatur, nicht tastend in diesem Dunkel wie andere Leute, sondern vorwärts getrieben, als schwänge der treue George eine Knute hinter ihm; und diese Jagd hinter einem Unsteten begann den seltsamsten Reiz auf George auszuüben.

Doch jetzt nahm die Sache eine Wendung, die ihm immer frisch im Gedächtnis bleiben sollte. Durch den Nebel zum Stehenbleiben gezwungen, vernahm er Worte, die ein plötzliches Licht auf die Vorgänge warfen. Was Mrs. Soames in der Bahn zu Bosinney gesagt, war nicht mehr dunkel. George entnahm aus dem abgebrochenen Gemurmel, daß Soames seine Rechte einer widerwilligen und ihm abgeneigten Frau gegenüber durch die größte – die äußerste Besitznahme geltend gemacht hatte.

Seine Phantasie schweifte in das Gebiet dieser Situation und es nahm ihn ganz gefangen. Er ahnte etwas von der Qual, der sexuellen Erregung und dem Entsetzen in Bosinneys Herz. Und er dachte: »Ja, es ist ein bißchen arg! Kein Wunder, daß der arme Kerl halb toll ist!«

Er stellte sein Wild auf einer Bank unter einem der Löwen auf dem Trafalgar-Square, einem Sphinx-Ungeheuer, das sich wie sie in diesen Abgrund von Finsternis verirrt. Starr und stumm saß Bosinney da, und George, dessen Geduld einen Anflug von seltsamer Brüderlichkeit angenommen hatte, stellte sich hinter ihm auf. Es fehlte ihm nicht an Zartgefühl – an Sinn für Form – und das gestattete ihm nicht sich in diese Tragödie hineinzudrängen, daher wartete er ruhig wie der Löwe oben und zog den Pelzkragen, der die fleischige Röte seiner Wangen und alles bis auf die Augen mit ihrem mitleidig spöttischen Blick verbarg, bis über die Ohren empor. Und auf dem Wege von ihren Geschäften in ihre Klubs kamen unaufhörlich Leute vorüber, deren in Nebelcocons eingehüllte Gestalten wie Gespenster erschienen und wie Gespenster wieder verschwanden. Und selbst hier in seinem Mitgefühl brach Georges übermütige Laune in einem plötzlichen Verlangen durch, diese Gespenster am Ärmel zu zupfen und zu sagen:

»He, ihr Narren! Oft bekommt ihr solch ein Schauspiel nicht zu sehen! Hier sitzt ein armer Teufel, dem seine Dame eben eine hübsche kleine Geschichte von ihrem Mann erzählt hat; weiter, weiter mit euch! Er ist ja ganz von Sinnen, das seht ihr doch!«

Im Geiste sah er sie nach dem gequälten Liebenden gaffen und grinste bei dem Gedanken an ein achtbares, vielleicht kürzlich verheiratetes Gespenst, das infolge der Beschaffenheit seiner eigenen Gefühle imstande war zu wittern, was in Bosinney vorging; er meinte zu sehen, wie es seinen Mund weiter und weiter aufsperrte und der Nebel immer tiefer und tiefer eindrang. Denn George hatte jene ganze Verachtung für die Mittelklasse – vor allem die verheiratete Mittelklasse – die den übermütigen, sportsmännischen Geistern seiner Kreise eigen ist.

Allein er begann sich zu langweilen. Auf Warten hatte er nicht gerechnet.

»Schließlich,« dachte er, »wird der arme Kerl darüber hinwegkommen; dergleichen ist in diesem Städtchen nicht zum ersten Mal passiert!« Aber sein Wild begann aufs neue Worte des Hasses und des Zorns zu murmeln. Und einem plötzlichen Impuls gehorchend, berührte George ihn an der Schulter.

Bosinney wandte sich um.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Im Licht der Gaslaternen, im Licht der ihm so wohlbekannten Alltagswelt hätte George das alles ganz gut aufgenommen; aber in diesem Nebel, wo alles düster und unwirklich war, wo nichts jenen tatsächlichen Wert besaß, der sich den Forsytes mit allem Irdischen verbindet, war er das Opfer sonderbarer Anwandlungen, und als er versuchte den starren Blick dieses Wahnsinnigen zu erwidern, dachte er:

»Wenn ich einen Schutzmann sehe, übergebe ich ihn ihm; er darf nicht auf freiem Fuße bleiben.«

Allein ohne eine Antwort abzuwarten schritt Bosinney weiter, in den Nebel hinein, und George folgte ihm, vielleicht in etwas größerem Abstand, doch mehr denn je entschlossen ihn im Auge zu behalten.

»Lange kann es so nicht mehr gehen,« dachte er. »Ein Wunder Gottes, daß er nicht längst überfahren ist.« Jetzt dachte er nicht mehr an Polizei, das heilige Feuer des Waidmanns war wieder in ihm entfacht.

In noch dichterer Dunkelheit raste Bosinney weiter; aber sein Verfolger bemerkte mehr Methode in seinem Wahnsinn – er nahm seinen Weg offenbar nach dem Westen.

»Er sucht wirklich Soames auf!« dachte George. Die Idee gefiel ihm. Es wäre ein lustiges Ende für solche Jagd. Er hatte seinen Vetter nie leiden können.

Die Deichsel einer vorüberfahrenden Droschke streifte seine Schulter und zwang ihn zur Seite zu springen. Er hatte nicht die Absicht sich für den Bukanier oder irgend jemand töten zu lassen. Doch mit ererbter Hartnäckigkeit verfolgte er die Fährte trotz des Dunstes, der bis auf die Gestalt des gehetzten Mannes und des verschwommenen Monds der nächsten Laterne alles verwischte.

Plötzlich, mit dem Instinkt eines Stadtbummlers wußte George, daß er in Piccadilly war. Hier konnte er blind seinen Weg finden; und von dem Druck geographischer Ungewißheit befreit, begann er wieder an Bosinneys Not zu denken.

In der langen Reihe seiner Erfahrungen als Lebemann, neben manch dunkler zweifelhafter Liebschaft, tauchte plötzlich eine Jugenderinnerung in ihm auf. Eine Erinnerung, immer noch lebhaft, die den Duft von Heu, den Glanz des Mondenscheins, einen Sommerzauber, in den Dunst und die Schwärze des Londoner Nebels brachte – die Erinnerung an eine Nacht, da er im dunkelsten Schatten eines Rasenplatzes von den Lippen einer Frau vernommen, daß sie ihm nicht allein gehörte. Und für einen Augenblick ging George nicht durch Piccadilly, sondern lag, die Hölle im Herzen, das Gesicht auf süßduftendem, tauigem Gras, wieder im langen Schatten der Pappeln, die den Mond verdeckten.

Es verlangte ihn den Arm um Bosinneys Schulter zu legen und zu sagen: »Komm alter Junge. Die Zeit heilt alles wieder. Wir wollen es uns wegtrinken!«

Aber eine Stimme herrschte ihn an, und er fuhr zurück. Eine Droschke rollte aus der Finsternis heran und verschwand wieder in Finsternis. Und plötzlich merkte George, daß er Bosinney verloren hatte. Er rannte vorwärts und zurück, und in erstickender Angst, der dunkeln Angst, die unter den Fittichen des Nebels wohnt, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Er blieb ganz still stehen und horchte mit aller Kraft.

»Und dann,« wie er Dartie an demselben Abend beim Billardspiel im Red Pottle anvertraute, »verlor ich ihn.«

Dartie zwirbelte behaglich an seinem Schnurrbart. Ihm war eben ein geschickter Stoß gelungen. »Und wer ist sie?« fragte er.

George warf langsam einen Blick auf das bleiche fette Gesicht des ›Mannes von Welt‹, und ein leises grimmiges Lächeln lauerte in den Linien seiner Wangen und um die Augen mit den schweren Lidern.

»Nein, nein, mein sauberer Freund,« dachte er. »Dir werde ich das nicht sagen.« Denn wenn er auch ziemlich viel mit Dartie verkehrte, blieb er doch ein ›Lump‹ für ihn!

»O, irgend ein kleines Dämchen!« sagte er und rieb sein Queue mit Kreide ein.

»Ein Dämchen!« rief Dartie – er gebrauchte einen bildlicheren Ausdruck. »Ich glaubte sicher, es sei unseres Freundes Soa –«

»Glaubten Sie?« sagte George kurz. »Dann, zum Teufel, haben Sie sich gründlich geirrt!«

Er verfehlte einen Stoß. Sorgfältig vermied er nochmals auf den Gegenstand zurückzukommen, und gegen elf Uhr zog er den Vorhang zur Seite und starrte auf die Straße hinaus. Die trübe Dunkelheit des Nebels wurde von den Laternen des ›Red Pottle‹ nur schwach unterbrochen, und kein lebendes Wesen, noch ein Gegenstand war zu erkennen.

»Mir kommt der arme Kerl nicht aus dem Sinn,« sagte er. »Vielleicht wandert er immer noch in diesem Nebel umher. Wenn er nicht schon eine Leiche ist,« fügte er mit seltsamer Niedergeschlagenheit hinzu.

»Leiche!« sagte Dartie, in dem die Erinnerung an seine Niederlage in Richmond wieder aufflammte. »Mit dem ist alles in Ordnung! Zehn gegen eins, daß er ganz wohlauf ist!«

George wandte sich mit wahrhaft furchtbarem Blick und einer förmlich düstern Wildheit in dem großen Gesicht nach ihm um.

»Schweigen Sie!« rief er. »Sagte ich Ihnen nicht, daß er ganz von Sinnen ist!«


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