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Zehntes Kapitel

Diagnose eines Forsyte

Es liegt in der Natur eines Forsyte nicht zu wissen, daß er ein Forsyte ist; aber der junge Jolyon war sich wohl bewußt einer zu sein. Er war sich bis nach dem entscheidenden Schritt, der ihn zu einem Ausgestoßenen gemacht, nicht klar darüber geworden; doch seitdem hatte das Bewußtsein davon ihn nicht wieder verlassen. Er fühlte es bei seiner Vermählung, bei all seinem Tun und seiner zweiten Frau gegenüber, die wohlgemerkt keine Forsyte war.

Er wußte, daß wenn er nicht einen so offenen Blick für das gehabt was er brauchte und die Zähigkeit besessen hätte, daran festzuhalten, wenn er die Torheit zu verschwenden, wofür er einen so hohen Preis gezahlt, nicht erkannt hätte – mit anderen Worten, wenn er den »Sinn für Besitz« nicht gehabt hätte – er sie bei all den finanziellen Sorgen, der Nichtachtung und üblen Nachreden dieser fünfzehn Jahre nie hätte bei sich behalten können (vielleicht nie den Wunsch gehabt hätte, sie bei sich zu behalten); daß er sie nie dazu bewegt haben würde ihn nach dem Tode seiner ersten Frau zu heiraten; daß er dies alles nie hätte durchmachen und sich nie, zwar dürftig aber lächelnd, wieder hätte emporhelfen können.

Er gehörte zu jenen Menschen, die mit kreuzweise untergeschlagenen Beinen gleich chinesischen Miniaturgötzen im Gehäuse ihres eigenen Herzens sitzen, und ewig zweifelnd über sich selbst lächeln. Doch dieses beständige, so vertraute Lächeln widersprach nicht etwa seinen Handlungen, die wie sein Kinn und sein Temperament ein ganz sonderbares Gemisch von Sanftmut und Entschiedenheit waren.

Er war sich auch vollbewußt, in seiner Arbeit ein Forsyte zu sein, in diesem Malen von Aquarellen, worauf er zu seinem eigenen Erstaunen soviel Energie verwandte, denn ihm war, als könne er ein so unpraktisches Tun nicht völlig ernst nehmen, und es beunruhigte ihn immer seltsam, daß er nicht mehr damit verdienen konnte.

Und dies Bewußtsein, was es bedeutete ein Forsyte zu sein, veranlaßte ihn darum auch, den folgenden Brief des alten Jolyon mit einem gemischten Gefühl von Sympathie und Entrüstung zu begrüßen:

»Sheldrake House.
Broadstairs.
1. Juli.

Mein lieber Jo!

(Papas Handschrift hatte sich in diesen dreißig Jahren, seit er sich ihrer erinnerte, nur sehr wenig verändert.)

»Wir sind jetzt seit vierzehn Tagen hier und haben im Ganzen gutes Wetter gehabt. Die Luft ist stärkend, aber meine Leber ist nicht in Ordnung, und ich werde froh sein nach der Stadt zurück zu kommen. Von June kann ich nicht viel sagen; mit ihrer Gesundheit und Stimmung geht es nicht sonderlich, und ich weiß nicht, was daraus werden soll. Sie sagt nichts, aber man merkt, daß diese Verlobung sie fortwährend beschäftigt, die eine Verlobung ist und doch wieder keine oder – weiß der liebe Himmel was sie ist. Ich zweifle ernstlich, ob man sie unter den jetzigen Verhältnissen wieder nach London zurücklassen soll, aber sie ist so eigenwillig, daß es ihr jeden Augenblick einfallen könnte hinzufahren. Eigentlich müßte jemand mit Bosinney sprechen und zu erfahren suchen, was er vorhat. Ich selbst fürchte mich davor, denn ich würde ihm sicherlich auf die Finger klopfen, aber ich dachte, daß du, da du ihn vom Klub her kennst, ein Wörtchen mit ihm reden könntest und Dich überzeugen, was der Bursche treibt. Du darfst June natürlich in keiner Weise bloßstellen. Es würde mich freuen im Laufe einiger Tage von Dir zu hören, ob es Dir gelungen ist, eine Auskunft zu erhalten. Die Sachlage bekümmert mich sehr, und es quält mich in den Nächten. Mit Grüßen für Holly und Jolly

Dein treuer Vater
Jolyon Forsyte.«

Der junge Jolyon grübelte so lange und ernst über diesem Briefe, daß seine Frau ihn nach der Ursache seines Nachdenkens fragte, aber er erwiderte: »Es ist nichts.«

Es war sein fester Grundsatz, June niemals zu erwähnen. Sie hätte sich beunruhigt fühlen können, und er wußte nicht wie sie es aufnehmen würde. Er beeilte sich darum alle Spuren seiner Versunkenheit zu verwischen, war aber darin ebenso erfolgreich, wie sein Vater es gewesen wäre, denn er hatte des alten Jolyon ganze Durchsichtigkeit in Bezug auf Angelegenheiten häuslicher Finesse geerbt. Und die junge Mrs. Jolyon ging bei ihren Beschäftigungen im Hause mit festgeschlossenen Lippen umher und warf verstohlen unergründliche Blicke auf ihn.

Am Nachmittag begab er sich mit dem Brief in der Tasche, doch ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, in den Klub.

Jemand auf ›seine Absichten‹ hin zu prüfen, war ihm ganz besonders unangenehm, und seine eigene anomale Lage war nicht geeignet das Unangenehme zu vermindern. Es sah seiner Familie und all den Leuten die sie kannten und mit denen sie verkehrten so ähnlich ihre Rechte, wie sie es nannten, auf einen Mann geltend zu machen, ihn zu einem Entschluß zu zwingen; es sah ihnen so ähnlich ihre Geschäftsgrundsätze auf ihre Privatangelegenheiten zu übertragen!

Und wie die Phrase in dem Brief – »du darfst June natürlich in keiner Weise bloßstellen« – die ganze Sache preisgab.

Und doch war der Brief mit dem persönlichen Kummer, der Teilnahme für June, dem ›auf die Finger klopfen‹ so natürlich. Kein Wunder, daß sein Vater wissen wollte, was Bosinney beabsichtigte, kein Wunder daß er zornig war.

Es war schwer es abzuschlagen! Aber warum mußte die Sache gerade ihm übergeben werden? Sicherlich war das ganz unpassend; aber solange ein Forsyte erlangte, was er begehrte, war er nicht sonderlich wählerisch in Bezug auf die Mittel, vorausgesetzt, daß der äußere Schein gewahrt blieb.

Wie sollte er davon loskommen oder es abschlagen? Beides schien unmöglich.

Er traf um drei Uhr im Klub ein, und die erste Person, die er erblickte, war Bosinney selbst, der in einer Ecke saß und aus dem Fenster starrte.

Der junge Jolyon setzte sich nicht weit davon und begann unruhig über seine Lage nachzudenken. Er blickte heimlich zu Bosinney hinüber, der ahnungslos dort saß. Er kannte ihn nicht sehr gut und studierte ihn aufmerksam vielleicht zum ersten Mal. Ein Mann von ungewöhnlichem Aussehen, den meisten andern Klubmitgliedern unähnlich in Kleidung, Gesicht und Wesen – der junge Jolyon selbst hatte, so anders er auch von Gemüt und Sinnesart geworden, immer die diskrete Vornehmheit eines Forsyteschen Äußeren beibehalten. Ihm allein von allen Forsytes war Bosinneys Spitznamen unbekannt. Der Mann war ungewöhnlich, nicht exzentrisch, aber ungewöhnlich; er sah auch abgezehrt, hager, hohlwangig unter den breiten starken Backenknochen aus, doch ohne jeden Anschein von Kränklichkeit, denn er war stark gebaut und hatte lockiges Haar, das ein Zeugnis für die volle Lebenskraft einer guten Konstitution zu sein schien.

Etwas in seinem Gesicht und seiner Haltung rührte den jungen Jolyon. Er wußte was Leiden war, und dieser Mann sah aus, als litte er.

Er stand auf und berührte seinen Arm.

Bosinney fuhr auf, verriet aber keine Spur von Verlegenheit als er sah, wer es war.

Der junge Jolyon setzte sich.

»Ich habe Sie lange nicht gesehen,« sagte er. »Wie weit sind Sie mit meines Vetters Haus?«

»Es wird in einer Woche etwa fertig sein.«

»Ich gratuliere!«

»Danke – ich weiß nicht, ob eine Gratulation hier angebracht ist.«

»Nicht?« fragte der junge Jolyon, »ich hätte gedacht, Sie wären froh, eine so lange Geschichte wie das war endlich los zu sein; aber Sie betrachten es wahrscheinlich wie ich, wenn ich mich von einem Bilde trenne – als eine Art Kind?«

Er blickte Bosinney freundlich an.

»Ja,« sagte dieser herzlicher, »man schafft es aus sich heraus, und dann ist alles vorbei. Ich wußte nicht, daß Sie malen.«

»Nur Aquarelle; ich kann nicht sagen, daß ich von meiner Arbeit etwas halte.«

»Sie halten nichts davon? Wie können Sie dann arbeiten? Arbeit hat keinen Zweck, wenn man nichts davon hält!«

»Sie haben recht!« sagte der junge Jolyon, »genau, was ich immer sage. Übrigens, haben Sie bemerkt, daß man stets, wenn man sagt ›Sie haben recht‹, auch hinzufügt ›genau, was ich immer sage‹! Aber wenn Sie mich fragen, warum ich es tue, erwidere ich, weil ich ein Forsyte bin.«

»Ein Forsyte! Ich hielt Sie nie dafür!«

»Ein Forsyte,« erwiderte der junge Jolyon, »ist kein seltenes Tier. Es gibt Hunderte unter den Mitgliedern dieses Klubs. Hunderte in den Straßen draußen; Sie begegnen ihnen, wo immer Sie gehen!«

»Und woran erkennen Sie sie?« sagte Bosinney.

»An ihrem Sinn für Besitz. Ein Forsyte schaut die Dinge vom praktischen Standpunkt an – man möchte sagen mit gesundem Menschenverstand – und ein praktischer Standpunkt gründet sich im Wesentlichen auf den Sinn für Besitz. Ein Forsyte, werden Sie bemerken, vermeidet es sich jemals bloßzustellen.«

»Sie scherzen?«

Des jungen Jolyon Augen blinzelten.

»O nein. Da ich selbst ein Forsyte bin, darf ich nicht mitreden. Aber ich bin eine Art Mischling von guter Herkunft; in Ihnen aber kann man sich nicht täuschen. Sie sind so verschieden von mir, wie ich von meinem Onkel James, der das vollkommene Muster eines Forsyte ist. Sein Sinn für Besitz ist extrem, während Sie praktisch genommen gar keinen dafür haben. Wäre ich nicht dazwischen, so könnte man Sie für eine ganz andere Gattung halten. Ich bin das fehlende Glied. Wir alle sind natürlich Sklaven des Besitzes, und ich gebe zu, daß es eine Frage des Standes ist, aber ein Mann, den ich einen ›Forsyte‹ nenne, ist es entschieden mehr als weniger. Er weiß was gut ist, weiß was sicher ist, und sein Festhalten am Besitz – ganz gleich ob es sich um Frauen, Häuser, Geld oder Ruf handelt – ist seine Zunftmarke.«

»Ah!« murmelte Bosinney. »Das Wort sollten Sie sich patentieren lassen.«

»Das täte ich gern,« sagte der junge Jolyon, »um Vorlesungen darüber zu halten: Eigenschaften und Sinnesart eines Forsyte. Dieses Tierchen, das sich durch den Spott von seinesgleichen beunruhigt fühlt, läßt das Lachen fremder Kreaturen (Sie oder ich) in seinen Bewegungen unberührt. Mit seiner ererbten Anlage zur Kurzsichtigkeit erkennt es nur Personen und Umgebung von seinesgleichen, unter denen es ein Dasein angemessener Ruhe verbringt.«

»Sie sprechen von ihnen,« sagte Bosinney, »als ob sie halb England wären.«

»Das sind sie,« wiederholte der junge Jolyon, »halb England, und die bessere Hälfte, die gesicherte Hälfte sogar, die drei-Prozent-Hälfte, die Hälfte, die mitrechnet. Es ist ihr Reichtum und ihre Sicherheit, die alles möglich machen; die Ihre Kunst, die Literatur, Wissenschaft, selbst Religion möglich machen. Ohne Forsytes, die an nichts von diesen Dingen glauben, sie aber nutzbar machen, wo würden wir alle sein? Mein Lieber, die Forsytes sind die Vermittler, die Geschäftsleute, die Pfeiler der Gesellschaft, die Ecksteine der Konvention, alles was bewundernswert ist!«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie ganz verstehe,« sagte Bosinney, »aber ich glaube in meinem Beruf gibt es eine Menge Forsytes, wie Sie sie nennen.«

»Gewiß,« erwiderte der junge Jolyon. »Die große Mehrzahl der Architekten, Maler oder Schriftsteller hat keine Grundsätze, wie irgend andere Forsytes auch. Kunst, Literatur, Religion können nur dank der wenigen Sonderlinge, die wirklich an solche Dinge glauben, und der vielen Forsytes, die einen kaufmännischen Nutzen daraus ziehen, weiter bestehen. Schlecht gerechnet sind drei Viertel unserer Akademiker, sieben Achtel unserer Romanschreiber und ein großer Teil der Presse Forsytes. Von der Wissenschaft kann ich nicht reden; aber sie sind großartig in der Religion vertreten; im Unterhaus vielleicht zahlreicher als sonstwo; die Aristokratie spricht für sich selbst. Aber ich lache nicht darüber. Es ist gefährlich gegen die Majorität – und was für eine Majorität – zu gehen!« Er blickte Bosinney fest an. »Es ist gefährlich, sich von irgend etwas hinreißen zu lassen – sei es ein Haus, ein Bild oder – eine Frau!«

Sie blickten einander an. Und als hätte er getan, was kein Forsyte tat – als hätte er sich bloßgestellt, zog der junge Jolyon sich wieder in seine Schale zurück. Bosinney brach das Schweigen.

»Warum nehmen Sie Ihre eigenen Verwandten als Typus?« fragte er.

»Meine Verwandten,« erwiderte der junge Jolyon, »sind nicht sehr extrem, und sie haben ihre eigenen geheimen Eigentümlichkeiten wie jede andere Familie, aber sie besitzen in bemerkenswertem Maße jene beiden Eigenschaften, die wahre Prüfsteine für einen Forsyte sind – die Kraft sich niemals einer Sache mit Leib und Seele hinzugeben und ›Sinn für Besitz‹.«

Bosinney lächelte: »Wie steht es zum Beispiel mit dem Dicken?«

»Meinen Sie Swithin?« fragte Jolyon. »Ah, Swithin hat noch sehr viel Ursprüngliches. Das Stadt- und Mittelstandleben hat ihn noch nicht ganz verdaut. All die Jahrhunderte von Landwirtschaft und roher Kraft sitzen fest in ihm und bleiben an ihm hängen, trotz all seiner Vornehmheit.«

Bosinney schien nachdenklich geworden. »Ja, Ihre Beschreibung trifft Ihren Vetter Soames aufs Haar,« sagte er plötzlich. » Er wird sich nie eine Kugel durch den Kopf jagen.«

Der junge Jolyon warf einen durchdringenden Blick auf ihn.

»Nein,« sagte er, »das wird er nicht. Darum muß mit ihm gerechnet werden. Hüten Sie sich vor ihren Tatzen! Es ist leicht zu lachen, aber mißverstehen Sie mich nicht. Man darf einen Forsyte nicht verachten, darf sie nicht geringschätzen!«

»Und doch haben Sie es selbst getan!«

Des jungen Jolyon Lächeln schwand, als er diesen Hieb entgegennahm.

»Sie vergessen,« sagte er mit sonderbarem Stolz, »daß ich auch hartnäckig sein kann – ich bin selbst ein Forsyte. Wir alle verfügen über eine große Kraft. Wer sich in Gefahr begibt – na, Sie wissen, was ich meine.«

»Ich empfehle,« er sprach jetzt sehr leise, als wäre es eine Drohung, »nicht jedem, meinen – Weg – zu – gehen. Es kommt darauf an –«

Die Röte schoß Bosinney ins Gesicht, wich jedoch bald wieder und ließ es blaß-braun wie zuvor. Er stieß ein kurzes Lachen aus, das ein seltsam starres, grimmiges Lächeln auf seinen Lippen zurückließ; seine Augen höhnten den jungen Jolyon.

»Danke,« sagte er. »Es ist verteufelt freundlich von Ihnen. Aber Sie sind nicht der einzige, der hartnäckig sein kann.« Er erhob sich.

Den Kopf in die Hand gestützt, schaute der junge Jolyon ihm nach und seufzte.

In dem schläfrigen, fast leeren Raum waren das Knittern der Zeitungen und das Kratzen der Streichhölzer, die angezündet wurden, die einzigen Geräusche. Lange Zeit saß er regungslos da und durchlebte noch einmal jene Tage, wo auch er lange Stunden wartend dagesessen und auf die Uhr gesehen, um das Schwinden der Minuten zu beobachten – lange Stunden voll Qual und Ungewißheit, doch auch voll wilden süßen Wehs; und die öde wonnige Seelenpein jener Zeit erwachte mit der alten Heftigkeit in ihm. Der Anblick Bosinneys mit seinem hagern Gesicht und den ruhelosen Augen, die fortwährend auf die Uhr gerichtet waren, hatte ein mit seltsamem, unwiderstehlichem Neid vermischtes Mitleid in ihm erweckt.

Er kannte die Zeichen so gut. Wohin würde es ihn führen – welchem Schicksal entgegen? Welcher Art war die Frau, die ihn mit dieser magnetischen Kraft an sich zog, der gegenüber keine Rücksicht auf Ehre, keine Prinzipien, kein Vorteil ihn zurückzuhalten vermochte, der nur durch die Flucht zu entgehen war.

Flucht! Aber warum sollte Bosinney fliehen? Ein Mann floh, wenn er in Gefahr war Haus und Herd zu zerstören, wenn Kinder da waren, wenn er fühlte, daß er Ideale zertrat, daß er etwas zerbrach. Aber hier, so hatte er gehört, lag alles zerbrochen vor ihm da.

Er selbst war nicht geflohen, noch würde er fliehen, wenn alles noch einmal geschähe. Und doch war er weiter gegangen als Bosinney, hatte sein eigenes unglückliches Heim zerstört, nicht das eines andern. Und der alte Spruch: »Eines Mannes Schicksal liegt in seinem eigenen Herzen« kam ihm in Erinnerung.

In seinem eigenen Herzen! Um einen Pudding zu erproben, muß man ihn essen – Bosinney hatte seinen Pudding noch zu essen.

Seine Gedanken wandten sich der Frau zu, die er nicht kannte, deren Geschichte er in ihren Umrissen aber gehört hatte.

Eine unglückliche Ehe! Keine schlechte Behandlung – nur jenes undefinierbare Unbehagen, jene furchtbare Geringschätzung, die alle Süßigkeit unter dem Himmel tötet. Und so fort von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr, bis der Tod es endet!

Aber der junge Jolyon, dessen Bitterkeit durch die Zeit gemildert war, sah diese Frage auch von Soames' Seite an. Wo sollte ein Mann wie sein Vetter, mit allen Vorurteilen und Ansichten seiner Klasse vollgepfropft, die Einsicht oder Erleuchtung hernehmen sein Leben zu zerstören? Es war eine Frage der Phantasie, es galt sich in die Zukunft hineinzuversetzen, sich über das unangenehme Geklatsche, das Spötteln und Geschwätz hinwegzusetzen, das solcher Scheidung folgte, über die furchtbaren Qualen, die der Verzicht auf ihren Anblick verursachte und über die strenge Mißbilligung der Ehrenmänner hinweg. Aber wenige Männer, besonders wenige von Soames' Klasse hatten dafür Phantasie genug. So viele Sterbliche in dieser Welt, und nicht Phantasie genug Platz zu machen! Und du lieber Himmel, welch ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis; so mancher, vielleicht Soames selbst, hatte ritterliche Anschauungen in solchen Dingen, fand aber, wenn der Schuh ihn selbst drückte, einen besonderen Faktor, der ihn zu einer Ausnahme machte.

Aber dann mißtraute er auch seinem Urteil. Er hatte selbst die Erfahrung gemacht, hatte die Bitterkeit einer unglücklichen Ehe bis auf die Neige ausgekostet, wie konnte er da den weiten leidenschaftslosen Blick jener haben, die niemals auch nur den Schall des Schlachtgetümmels vernommen? Sein Urteil kam zu sehr aus erster Hand – wie das Urteil eines Soldaten über militärische Angelegenheiten, der lange im aktiven Dienst gestanden, gegenüber dem der Zivilisten, die nicht den Nachteil gehabt, die Dinge zu nah zu sehen. Die meisten Leute würden eine Ehe wie die Soames' und Irenens für ganz glücklich halten. Er besaß Geld, sie war schön; es war eben ein Kompromiß. Es war kein Grund vorhanden, weshalb sie nicht so weiter trotten sollten, selbst wenn sie einander haßten. Was schadete es, wenn jeder seinen eignen Weg ging, solange der Anstand beobachtet, – solange die Heiligkeit des Ehebundes, des gemeinsamen Heims gewahrt blieb. Beleidige nicht die Gefühle der Gesellschaft! beleidige nicht die Gefühle der Kirche! nach diesem Satz wurde die Hälfte aller Ehen der oberen Klassen geführt. Das Vermeiden einer Beleidigung von Kirche und Gesellschaft ist das Opfer jeder Privatempfindung wert. Die Vorteile eines festen Heims sind sichtbar, fühlbar, sind wie Teile des Besitzes; es liegt keine Gefahr in dem status quo. Ein Heim aufzulösen ist im besten Falle ein Experiment, und selbstsüchtig obendrein.

So war es um die Rechtfertigung bestellt, und der junge Jolyon seufzte.

»Der Kern von allem,« dachte er, »ist Besitz, aber es gibt sicher viele Leute, die die Sache nicht so betrachten. Für sie ist er ›die Heiligkeit des Ehebundes‹; aber die Heiligkeit des Ehebundes ist abhängig von der Heiligkeit der Familie, und die Heiligkeit der Familie ist abhängig von der Heiligkeit des Besitzes. Und doch stelle ich mir alle diese Leute als Nachfolger des Einen vor, der nichts besaß. Es ist sonderbar!«

Und wieder seufzte der junge Jolyon.

»Werde ich auf meinem Heimweg jeden armen Teufel, den ich treffe, bitten, mein Mittagessen mit mir zu teilen, das dann zu knapp für mich oder jedenfalls für meine Frau wäre, die ich zu meinem Glück und Wohlbehagen brauche? Es mag schließlich sein, daß Soames wohl daran tut auf seinem Recht zu bestehen und durch sein Tun den geheiligten Grundsatz des Besitzes aufrechtzuerhalten, der uns allen zugute kommt, ausgenommen denjenigen, die – unter dem Prozeß leiden.«

Er erhob sich von seinem Sessel, bahnte sich einen Weg durch das Gewirr von Sitzen, nahm seinen Hut und trat im Gedränge der Wagen in den heißen, dunstigen, von Staubgeruch erfüllten Straßen, langsam seinen Heimweg an.

Ehe er jedoch die Wistaria Avenue erreichte, nahm er den Brief des alten Jolyon aus der Tasche, zerriß ihn sorgfältig in winzige Stückchen und streute sie in den Staub der Straße.

Er öffnete selbst mit seinem Schlüssel und rief den Namen seiner Frau. Aber sie war mit Jolly und Holly ausgegangen, und das Haus war leer; nur im Garten lag Balthasar, der Hund, im Schatten und schnappte nach Fliegen.

Und der junge Jolyon setzte sich ebenfalls dort unter den Birnbaum, der keine Früchte trug.


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