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Drittes Kapitel

Die Begegnung im Botanischen Garten

Der junge Jolyon, dessen Verhältnisse nicht die eines Forsyte waren, hatte oft Schwierigkeiten das Geld für Ausflüge aufs Land und Naturstudien aufzubringen, ohne die ein Aquarell-Maler keinen Pinselstrich machen kann.

Er war daher häufig genötigt mit seinem Farbenkasten in den Botanischen Garten zu gehen und verbrachte dort auf seinem Feldstuhle, im Schatten eines Affenbrotbaumes oder im Schutze einer Gummipflanze, viele Stunden mit Skizzieren.

Ein Kunstkritiker, der vor kurzem seine Sachen angesehen hatte, sprach sich folgendermaßen darüber aus:

»In einer Art sind Ihre Bilder sehr gut; einige davon verraten in Ton und Farbe wirklich ein Verständnis für die Natur. Aber sie sind so verschiedenartig, sehen Sie; das Publikum sieht sich so etwas gar nicht an. Hätten Sie zum Beispiel einen bekannten Gegenstand gewählt, etwa ›London bei Nacht‹ oder ›Der Kristallpalast im Frühling,‹ und richtige Serien gemalt, so wüßte das Publikum gleich was es gesehen hat. Ich kann das gar nicht nachdrücklich genug betonen. Alle Künstler, die sich einen großen Namen machen, wie Crum Stone oder Bleeder, erreichen dies dadurch, daß sie vermeiden etwas Unerwartetes zu bringen, daß sie spezialisieren und alle ihre Bilder nach derselben Schablone malen, so daß das Publikum sogleich weiß woran es ist. Und das hat seine Berechtigung, denn ist ein Mann Sammler, so will er nicht, daß die Leute erst an der Leinwand riechen müssen, um zu wissen, von wem die Bilder sind; er will, daß sie sofort sagen können: »Ein prachtvoller Forsyte!« Für Sie ist es besonders wichtig, sorgfältig ein Sujet zu wählen, das sie auf der Stelle erkennen, denn Ihrem Stil fehlt es an einer ausgeprägten Eigenart.«

Der junge Jolyon lehnte an dem kleinen Klavier, wo eine Schale mit getrockneten Rosenblättern, dem einzigen Erzeugnis des Gartens, auf einem Stück verblichenem Damast stand, und hörte mit mattem Lächeln zu.

Dann wandte er sich zu seiner Frau, die den Sprecher mit einem zornigen Ausdruck in dem schmalen Gesicht ansah, und sagte:

»Da hörst du's, mein Kind!«

»Es ist nicht wahr,« erwiderte sie mit ihrer Staccato-Stimme, die noch einen leisen fremden Tonfall hatte, »dein Stil hat Eigenart.«

Der Kritiker sah sie an, lächelte verbindlich und sagte nichts weiter. Wie jedermann kannte auch er ihre Geschichte.

Die Worte trugen gute Früchte bei dem jungen Jolyon; sie widersprachen zwar allem, woran er glaubte, allem was er theoretisch für gut in seiner Kunst hielt, allein ein seltsamer, starker Instinkt trieb ihn wider Willen Nutzen daraus zu ziehen.

Er ertappte sich eines Morgens plötzlich bei dem Gedanken eine Serie Aquarelle von London zu machen. Wie diese Idee entstanden war, wußte er nicht; und erst im folgenden Jahr, nachdem er sie vollendet und zu einem ganz guten Preis verkauft hatte, erinnerte er sich in einer Stunde beschaulichen Nachdenkens des Kunstkritikers und erkannte in seinem eigenen Tun einen neuen Beweis dafür, daß er ein Forsyte war.

Er beschloß mit dem Botanischen Garten anzufangen, wo er schon so viele Studien gemacht hatte, und wählte den kleinen künstlichen Teich, der jetzt mit einem herbstlichen Schauer von roten und gelben Blättern überstreut war, denn wenn die Gärtner sie auch gar zu gern fortgefegt hätten, glückte es ihnen doch nicht, sie mit ihren langen Besen zu erreichen. Sonst war der Garten kahl genug gefegt, da sie jeden Morgen den Blätterregen der Natur entfernten; sie kehrten das Laub in Haufen zusammen, aus denen von dem schwelenden Feuer süß und beizend ein Rauch aufstieg, der wie der Ruf des Kuckucks für den Frühling, der Duft der Linden für den Sommer, ein wahres Sinnbild des Verfalles ist. Die reinlichen Seelen der Gärtner litten das golden grüne und rote Muster auf dem Rasen nicht. Die Kieswege mußten sauber, in methodischer Ordnung bleiben, durften von dem realen Leben keine Kunde geben, noch von dem schönen langsamen Verfall, der Kronen niederreißt, die Erde mit entschwundener Pracht zu schmücken, aus der, wenn sich das Rad gedreht, der junge Frühling neu erwacht.

Und so war jedes Blatt, das fiel, von dem Moment gezeichnet, wo es zum Abschied herabflatterte und langsam wirbelnd von seinem Zweige niedersank.

Doch auf dem kleinen Teich schwammen die Blätter in Frieden und priesen, vom Sonnenlicht gestreift, den Himmel mit ihren Farben.

So fand der junge Jolyon sie.

Als er Mitte Oktober eines Morgens dahinkam, verstimmte es ihn eine Bank besetzt zu finden, die etwa zwanzig Schritt entfernt von seinem Platze stand, denn er hatte ein wahres Grauen davor, bei seiner Arbeit beobachtet zu werden.

Eine Dame in einer Sammetjacke saß dort und starrte vor sich hin. Doch zwischen ihnen stand ein blühender Lorbeerbusch, und hinter diesem suchte der junge Jolyon Schutz, um seine Staffelei aufzustellen.

Er machte seine Vorbereitungen in aller Muße, und wie jeder wahre Künstler es sollte, ließ er keine Gelegenheit unbenutzt, die Anstrengung der Arbeit einen Augenblick hinauszuschieben; er ertappte sich dabei, die fremde Dame heimlich zu betrachten.

Wie sein Vater hatte auch er einen Blick für Gesichter. Und dies war ein entzückendes Gesicht!

Er sah ein rundliches Kinn in eine crêmefarbene Rüsche eingebettet und ein zartes Gesicht mit großen dunkeln Augen und sanften Lippen. Ein schwarzer großer Rembrandt-Hut verdeckte ihr Haar; ihre Gestalt lehnte sich leicht gegen die Bank, die Kniee waren übereinandergeschlagen, und die Spitze eines Lackschuhes guckte unter dem Rock hervor. Die Erscheinung dieser Dame hatte etwas unsagbar Zartes, aber der junge Jolyon war hauptsächlich von dem Ausdruck ihres Gesichts gefesselt, der ihn an seine Frau erinnerte. Es war als sei sie mit Mächten in Berührung gekommen, denen sie nicht gewachsen war. Es verwirrte ihn, da es ein vages Gefühl von ritterlicher Bewunderung in ihm erweckte. Wer war sie? Und was tat sie dort, allein?

Zwei junge Leute jener eigentümlichen Art, schüchtern und keck zugleich, wie sie im Regent Park anzutreffen sind, kamen auf ihrem Weg zum Tennisplatz vorüber, und er bemerkte ärgerlich ihre verstohlenen Blicke des Wohlgefallens. Ein müßiger Gärtner blieb stehen und machte sich unnötigerweise mit einem Büschel Pampasgras zu schaffen; auch er tat dies nur als Vorwand sie anzustarren. Ein alter Herr, seinem Hute nach zu urteilen, ein Professor der Gartenbaukunst, ging dreimal vorüber, um sie mit merkwürdigem Ausdruck um den Mund heimlich und lange prüfend zu beobachten.

Alle diese Männer erweckten in dem jungen Jolyon eine vage Empfindung von Gereiztheit. Sie beachtete keinen von ihnen, doch er wußte genau, daß jeder Mann, der vorüberkam, sie so anschauen würde.

Sie hatte nicht das Gesicht einer Zauberin, die sich den Männern mit jedem Blicke feilbietet; es hatte nichts von der ›teuflischen‹ Schönheit, die von den ersten Forsytes im Lande so hoch geschätzt wird, noch war es von jenem nicht weniger bewunderten Typus, den man auf Schokoladenschachteln findet; es war nicht von der geistig leidenschaftlichen, noch der leidenschaftlich geistigen Art, die Wohnungseinrichtungen und moderner Dichtung eigen ist; und selbst dem Schauspieldichter verhieß es offenbar kein Material zur Darstellung der interessanten neurasthenischen Heldin, die im letzten Akte Selbstmord begeht.

In Form und Farbe, in seiner sanften, ansprechenden Passivität, seiner sensitiven Reinheit erinnerte das Gesicht dieser Frau ihn an Titians ›Himmlische Liebe‹, die in einer Reproduktion über dem Anrichtetisch seines Speisezimmers hing. Und in dieser sanften Passivität, in dem von ihr erweckten Gefühl, daß sie jedem Drange nachgeben mußte, schien ihre Anziehungskraft zu liegen.

Worauf oder auf wen mochte sie in dieser Stille warten, wo nur hier und dort ein Blatt von den Bäumen fiel und die Drosseln auf dem Rasen herumstolzierten, der im ersten Reif des Herbstes glitzerte?

Jetzt belebte sich das reizende Gesicht, und als der junge Jolyon sich fast mit der Eifersucht eines Liebenden umschaute, sah er Bosinney über den Grasplatz herankommen.

Neugierig beobachtete er die Begegnung, den Blick in ihren Augen, den langen Händedruck. Sie setzten sich dicht neben einander, trotz aller äußeren Zurückhaltung doch vereinigt. Er hörte das rasche Gemurmel ihrer Unterhaltung; aber was sie sagten, konnte er nicht verstehen.

Dies Fahrzeug hatte er einst selbst gesteuert! Er kannte die langen Stunden des Wartens und die magern Minuten einer halb öffentlichen Begegnung, kannte die Qualen der Ungewißheit, die den rechtlosen Liebhaber heimsuchen.

Ein Blick auf diese beiden Gesichter jedoch genügte, um zu sehen, daß dies keine jener vorübergehenden Liebeleien war, mit denen Männer und Frauen sich eine Zeitlang zerstreuen; keine jener plötzlichen rasenden Begierden, die bis zum Überdruß befriedigt werden und in sechs Wochen eingeschlafen sind. Dies war das Wahre! So hatte er selbst es erlebt! Hieraus konnte alles Mögliche entstehen!

Bosinney drang auf sie ein, und sie saß still und sanft, doch unerschütterlich in ihrer Ruhe und blickte über den Rasen hin.

War er der Mann sie zu entführen, dieses zarte passive Geschöpf, das selbst nie einen Schritt für sich wagen würde? Das sich ihm ganz hingegeben hatte, für ihn sterben, doch niemals mit ihm auf und davon gehen würde?

Dem jungen Jolyon war, als höre er sie sagen: »Aber Liebster, es wäre dein Verderben!« Er selbst kannte ja zur Genüge die nagende Furcht tief im Herzen jeder Frau, dem geliebten Manne ein Hemmschuh zu sein.

Er blickte nicht mehr zu ihnen hin; doch ihr leises rasches Sprechen drang zugleich mit dem abgebrochenen Sang irgend eines Vogels an sein Ohr, der bemüht schien sich der Frühlingstöne zu erinnern: Zu Lust – zu Leide? Was wohl – was?

Und allgemach verstummte ihr Gespräch; ein langes Schweigen folgte.

»Und Soames?« dachte der junge Jolyon. »Die Leute glauben, daß die sündige Untreue gegen den Gatten sie bedrückt! Doch wenig kennen sie die Frauen! Sie ißt nach langer Hungerqual – und rächt sich jetzt! Aber der Himmel erbarme sich – denn auch er wird Rache nehmen.«

Er vernahm ein Rascheln von Seide, und als er durch den Lorbeer spähte, sah er sie, verstohlen Hand in Hand, davongehen ...

Ende Juli war der alte Jolyon mit seiner Enkelin in die Berge gegangen, und auf dieser Reise (ihrer letzten dorthin) erlangte June fast in vollem Maße ihre Gesundheit und Frische wieder. In den mit britischen Forsytes gefüllten Hotels – der alte Jolyon konnte die ›deutsche Bande‹, wie er alle Fremden nannte, nicht vertragen – kam man ihr, der einzigen Enkelin dieses vornehm aussehenden und offenbar sehr reichen, alten Mr. Forsyte mit großem Respekt entgegen. Sie schloß sich andern nicht leicht an – es war nicht Junes Art sich leicht anzuschließen – aber es bildete sich doch manche Freundschaft, vor allem eine im Rhonetal mit einer jungen schwindsüchtigen Französin, die im Sterben lag.

In ihrem Kampfe gegen den Tod, dem sie die Freundin zu entreißen strebte, vergaß June beinahe ihren eigenen Kummer.

Der alte Jolyon sah die neue Freundschaft mit Befriedigung und Mißbilligung zugleich, denn dieser neue Beweis dafür, daß ihr Leben unter ihren ›armen Hungerleidern‹ hingehen sollte, quälte ihn. Würde sie denn niemals eine Freundschaft schließen, oder an Dingen Interesse finden, die von wirklichem Nutzen für sie waren?

»Einen Haufen fremder Leute auflesen« nannte er das. Allein oft brachte er dennoch Rosen und Weintrauben mit nach Haus und überreichte sie mit verbindlichem Augenzwinkern der ›Mam'zelle‹.

Trotz Junes Widerstand verschied Mademoiselle Vigor gegen Ende September in dem kleinen Hotel St. Luc, wohin man sie gebracht, und June nahm es sich so zu Herzen, daß der alte Jolyon sie nach Paris brachte. Hier, angesichts der ›Venus von Milo‹ und der ›Madeleine‹, wich die Niedergeschlagenheit bald von ihr, und als sie gegen Mitte Oktober nach London zurückkehrten, glaubte ihr Großvater sie durch die Kur geheilt zu haben.

Sobald sie sich jedoch in Stanhope Gate wieder eingerichtet hatten, bemerkte er zu seinem Schrecken einen Rückfall in ihr altes grüblerisch versunkenes Wesen. Das Kinn in die Hand gestützt, saß sie oft da wie ein kleiner nordischer Geist und starrte düster und unverwandt vor sich hin, während alles um sie her in dem großen, mit Möbeln von Baple und Pullbred angefüllten Zimmer, dessen Wände bis zum Fries hinauf mit Brokat bekleidet waren, in dem eben erst angelegten elektrischen Licht erstrahlte. Und in den ungeheuren vergoldeten Spiegeln sah man das Meißner Porzellan, Gruppen junger Männer in engen Kniehosen zu Füßen vollbusiger Damen mit ihrem Lieblingslämmchen auf dem Schoß sich wiederspiegeln, die der alte Jolyon als Junggeselle gekauft hatte und in dieser Zeit entarteten Geschmacks so hoch schätzte. Er hatte einen offenen Sinn für alles und war von allen Forsytes am meisten fortgeschritten mit der Zeit, aber er konnte nicht vergessen, daß er diese Gruppen bei Jobson gekauft und einen Haufen Geld dafür bezahlt hatte. Oft sagte er enttäuscht mit einer gewissen Verachtung zu June:

»Du machst dir nichts daraus! Es ist kein Spielkram, wie du und deine Freundinnen ihn lieben, aber sie kosteten mich siebzig Pfund!« Er war nicht der Mann einen Zweifel an seinem Geschmack zu dulden, wenn er aus zuverlässigen Gründen wußte, daß er gut war.

Das erste was June nach ihrer Rückkehr tat, war daß sie Timothy besuchte. Sie redete sich selbst vor, daß es ihre Pflicht sei hinzugehen und ihn mit einem Bericht über ihre Reisen aufzuheitern; allein in Wahrheit ging sie nur, weil sie sonst niemand wußte, bei dem sie durch zufällige Fragen oder bei der Unterhaltung von ungefähr etwas über Bosinney erfahren konnte.

Sie ward aufs herzlichste empfangen und die Tanten erkundigten sich nach dem lieben Großvater, der seit dem Mai nicht mehr bei ihnen gewesen war. Onkel Timothy ginge es nicht gut, erzählten sie, er habe großen Ärger mit dem Schlotfeger gehabt; der dumme Kerl hatte den Ruß durch den Schornstein gerade in sein Schlafzimmer hinuntergefegt! Der Onkel wäre ganz außer sich geraten!

In der Furcht und doch leidenschaftlich hoffend von Bosinney zu hören, blieb June lange bei ihnen.

Aber wie in unerklärlicher Zurückhaltung gelähmt, ließ Mrs. Small kein Wort fallen, und fragte auch June nicht nach ihm. In ihrer Verzweiflung erkundigte sie sich schließlich, ob Soames und Irene in der Stadt wären – sie habe noch niemand besucht.

Tante Hester erwiderte darauf, daß sie in der Stadt seien und gar nicht verreist gewesen wären. Es sollten Schwierigkeiten wegen des Hauses eingetreten sein. June hatte wohl davon gehört! Sie sollte lieber Tante Juley danach fragen!

June wandte sich zu Mrs. Small, die aufrecht mit gefalteten Händen, das ganze Gesicht ein Schmollen, in ihrem Sessel saß. Zur Antwort auf des Mädchens Blick verharrte sie in seltsamem Schweigen, und als sie sprach, geschah es um June zu fragen, ob sie in den Hotels da oben, wo die Nächte doch so kalt sein mußten, Nachtsocken getragen habe.

June verneinte, diese muffigen Dinger waren ihr verhaßt; sie erhob sich um zu gehen.

Mrs. Smalls unverkennbar absichtliches Schweigen war ihr verdächtiger als alles was sie hätte sagen können.

In weniger als einer halben Stunde hatte sie aus Mrs. Baynes in Lowndes Square herausgelockt, daß Soames Bosinney wegen der Ausstattung des Hauses verklagt habe.

Anstatt sie aufzuregen, war diese Nachricht von sonderbar beruhigender Wirkung, als sähe sie in diesem Streit eine neue Hoffnung für sich selbst. Sie erfuhr, daß der Prozeß in einem Monat etwa erwartet wurde und daß Bosinney wenig oder gar keine Aussicht auf Erfolg habe.

»Und was er dann beginnen wird, weiß ich nicht,« sagte Mrs. Baynes; »es ist furchtbar für ihn – er hat ja kein Geld – es geht ihm sehr schlecht. Und wir können ihm auch nicht helfen. Die Geldverleiher leihen ja nichts, wenn man keine Bürgschaft leisten kann, und er hat niemand – niemand, der es könnte.«

Sie hatte an Fülle zugenommen in der letzten Zeit und war in voller Tätigkeit für ihre Herbst-Veranstaltungen, ihr Schreibtisch war buchstäblich übersäet mit Wohltätigkeits-Programmen. Mit ihren runden, papageiengrauen Augen blickte sie June bedeutungsvoll an.

Des plötzlichen Errötens in dem gespannten jungen Gesicht des Mädchens – June mußte wohl eine große Hoffnung vor sich aufsteigen sehen – und der plötzlichen Lieblichkeit ihres Lächelns erinnerte sich Lady Baynes noch oft in späteren Jahren (Baynes ward geadelt als er das öffentliche Kunstmuseum gebaut, das so vielen Beamten Beschäftigung gegeben und der arbeitenden Klasse, für die es bestimmt war, so wenig Vergnügen bereitet hat).

Und die Erinnerung an jene lebhafte Veränderung, die rührend war wie das Aufblühen einer Blume oder die erste Sonne nach langer Winterzeit, wie auch die Erinnerung an alles was hernach noch kam, drängte sich Lady Baynes ganz unberechenbar oft zu ungelegenster Zeit auf, wenn sie mit den wichtigsten Dingen beschäftigt war.

Es war der Nachmittag des selben Tages, an dem der junge Jolyon Zeuge der Begegnung im Botanischen Garten gewesen, und an eben diesem Tage suchte der alte Jolyon seine Anwälte Forsyte, Bustard und Forsyte auf. Soames war nicht da, er war ausgegangen; Bustard saß bis über die Ohren in Akten vergraben in jenem unzugänglichen Raume, wo man ihn wohlweislich untergebracht hatte, um ihn soviel Arbeit verrichten zu lassen wie möglich; aber James befand sich in dem vorderen Bureau, kaute an seinen Nägeln und sah bekümmert die Akten Forsyte contra Bosinney durch.

Die Furcht dieses tüchtigen Anwalts vor ›dem heiklen Punkt‹ war eigentlich eine Art Genuß, geeignet ein angenehmes Gefühl darüber hervorzurufen, daß man soviel Wesens davon machte; denn sein gesunder, praktischer Verstand sagte ihm, daß er selbst ihm, wenn er Richter wäre, nicht sonderliche Beachtung geschenkt hätte. Allein er fürchtete, daß Bosinney Bankrott machen würde und Soames schließlich doch für das Geld werde aufkommen müssen, und für die Kosten obendrein. Und hinter dieser greifbaren Furcht lauerte im Hintergrund verworren, unklar, schimpflich, wie ein böser Traum, jene ungreifbare Sorge, von der dieser Prozeß nur ein äußerlich sichtbares Zeichen war.

Er hob den Kopf, als der alte Jolyon eintrat, und brummte: »Wie geht's dir, Jolyon? Habe dich eine Ewigkeit nicht gesehen. Du bist in der Schweiz gewesen, wie ich hörte. Dieser junge Bosinney hat sich eine schöne Geschichte eingebrockt. Ich habe es kommen sehen!« Er reichte ihm die Akten und blickte den älteren Bruder erregt und finster an.

Der alte Jolyon las sie schweigend durch, und während er sie las, sah James zu Boden und kaute an seinen Nägeln.

Endlich warf der alte Jolyon sie hin, und sie fielen dumpf auf einen Haufen anderer Papiere.

»Ich weiß nicht, was Soames vorhat,« sagte er, »soviel Wesens von ein paar hundert Pfund zu machen. Ich dachte, er wäre ein reicher Mann.«

James lange Oberlippe zuckte ärgerlich; er konnte es nicht vertragen, seinen Sohn in diesem Punkte angegriffen zu sehen.

»Es ist nicht des Geldes wegen –« begann er, stockte jedoch, als er seines Bruders festem, scharfen, kritischen Blick begegnete.

Ein Schweigen entstand.

»Ich komme wegen meines Testaments,« sagte der alte Jolyon schließlich, an seinem Schnurrbart zupfend.

James' Neugierde war sogleich erwacht. Es gab wohl nichts im Leben, das ihn so anregte wie ein Testament; war es doch die endgültige Verfügung über das Vermögen, die entscheidende Feststellung des Besitzes, die letzte Abschätzung des Wertes eines Menschen. Er klingelte.

»Bringen Sie Mr. Jolyons Testament,« sagte er zu einem dienstbeflissenen dunkelhaarigen Schreiber.

»Willst du etwas daran ändern?« Und der Gedanke: »Ob ich wohl ebenso reich bin wie er?« schoß ihm durch den Kopf.

Der alte Jolyon steckte das Testament in seine Brusttasche, und James schlug enttäuscht die langen Beine übereinander.

»Du hast kürzlich einige gute Geschäfte gemacht, wie ich hörte,« sagte er.

»Ich weiß nicht, woher du deine Informationen hast,« erwiderte der alte Jolyon scharf. »Wann beginnt dieser Prozeß? Nächsten Monat? Ich weiß nicht, was ihr vorhabt. Ihr müßt eure Angelegenheiten ja selbst ordnen; aber wenn ihr meinen Rat befolgtet, würdet ihr die Sache unter euch abmachen. Adieu!« Mit einem kalten Händedruck ging er fort.

James starre graublaue Augen bohrten sich wie in ein geheimes Schreckbild ein, und er begann wieder an seinen Nägeln zu kauen.

Der alte Jolyon nahm sein Testament mit in das Bureau der New Colliery Company und setzte sich in den leeren Sitzungssaal, um es durchzulesen. Er gab Hemmings, der, als er seinen Vorsitzenden dort sah, mit dem ersten Bericht des neuen Oberinspektors hereinkam, eine so schroffe Antwort, daß der Sekretär sich mit gekränkter Würde zurückzog und als er hernach den Schreiber rufen ließ, diesen so anfuhr, daß der arme junge Mensch nicht wußte wie ihm geschah.

Ein so junger Grünschnabel wie er habe nicht ins Bureau zu kommen und zu glauben, er sei der Allmächtige hier, das solle er sich nur merken. Er – Hemmings – sei hier schon länger Bureauchef gewesen, als ein Junge wie er Jahre zähle, und wenn er glaube müßig dasitzen zu können, sobald er mit seiner Arbeit fertig sei, so kenne er ihn (Hemmings) noch lange nicht, und so fort.

Jenseits des grünen Friesvorhangs an der Tür saß der alte Jolyon mit seinem dicken, elastischen, goldenen Zwicker auf der Nase an dem langen, mit Leder ausgeschlagenen Mahagonisitzungstisch und verfolgte mit seinem goldenen Bleistift die einzelnen Klauseln seines Testaments.

Die Sache war ganz einfach, denn es fehlten alle jene dummen kleinen Legate und Stiftungen für wohltätige Zwecke, die das Vermögen zerstückeln und die majestätische Wirkung des kleinen Nachrufes beeinträchtigen, den die Morgenzeitungen allen Forsytes widmen, die bei ihrem Tode hunderttausend Pfund hinterlassen.

Eine ganz einfache Sache. Nur ein Legat von zwanzigtausend Pfund für seinen Sohn, und »was meinen Nachlaß betrifft, sei es an Grundbesitz oder beweglichem Eigentum oder solchen Gütern, die beides zugleich sind, so ist der jährliche Reinertrag und die Gewinnanteilscheine oder daraus sich ergebenden Zinsen an meine besagte Enkelin June Forsyte oder ihre Rechtsnachfolger bei ihren Lebzeiten zu alleiniger Verfügung und Nutznießung auszubezahlen und ohne etc. ... und bei oder nach ihrem Tode oder Dahinscheiden sind die besagten obengenannten Ländereien, Erbgüter, Baulichkeiten, anvertraute Gelder, Betriebskapitalien, Obligationen und Anlagepapiere oder Objekte, die solche Werte repräsentieren, an solche Person oder Personen, seien es eine oder mehrere, zu zedieren, abzutreten, zu übertragen oder zu übermachen für eben dieselben Zwecke, Nutznießung oder Verwendung und in allen Punkten, in derselben Weise und Form, als besagte June Forsyte ungeachtet Verheiratung durch letzten Willen und Testament oder letztwillige Verfügung und von ihr regelrecht unterzeichnet und bekanntgemacht, anordnen, bestimmen, festsetzen und verfügen sollte. Und in Ermangelung etc. ... Immer vorausgesetzt, daß ...« und so fort auf sieben Bogen in kurzer und einfacher Fassung.

Das Testament hatte James in seiner erfolgreichsten Zeit ausgearbeitet und jede Möglichkeit dabei vorgesehen.

Der alte Jolyon verbrachte lange Zeit mit dem Lesen des Testaments; endlich nahm er einen halben Bogen Papier von dem Ständer und machte eine längere Bleistiftnotiz, steckte das Testament darauf in seine Brusttasche, ließ eine Droschke holen und fuhr in das Bureau von Paramor und Herring in Lincoln Inn Fields. Jack Herring war tot, aber sein Neffe gehörte der Firma noch an, und der alte Jolyon beriet sich eine halbe Stunde lang im Geheimen mit ihm.

Er hatte die Droschke warten lassen und gab dem Kutscher, als er herauskam, die Adresse – Wistaria Avenue Nr. 3 an.

Ihn überkam eine eigentümlich stille Befriedigung, als habe er über James und dessen Sohn, ›den reichen Mann‹, einen Sieg errungen. Sie sollten die Nase fortan nicht mehr in seine Angelegenheiten stecken; er hatte ihre Vollmacht in seinem Testament soeben aufgehoben; er wollte ihnen alle seine Geschäfte aus den Händen nehmen und sie dem jungen Herring übergeben, und auch die Geschäfte seiner Gesellschaften sollten ihnen entzogen werden. Wenn dieser junge Soames wirklich der reiche Mann war, würde er an tausend Pfund im Jahr wohl nicht entbehren. Der alte Jolyon lächelte grimmig unter seinem langen weißen Schnurrbart; was er jetzt tat war eine Art Vergeltung, gerecht und wohlverdient, das fühlte er.

Langsam und sicher wie ein geheimer innerer Prozeß, der die Zerstörung eines alten Baumes herbeiführt, hatte das Gift der Kränkungen, die sein Glück, sein Wille und sein Stolz erfahren, das schöne Gebäude seiner Philosophie zerfressen. Das Leben hatte ihn nach einer Seite hin getrieben, bis er wie die Familie, deren Oberhaupt er war, das Gleichgewicht verlor.

Auf dem Wege zum Hause seines Sohnes im Norden, sah er die neue, eben eingeleitete Verfügung über sein Vermögen fast im Lichte einer Strafe für die Familie und die Gesellschaft an, als deren Repräsentanten er James und dessen Sohn betrachtete. Er hatte Jo wieder in seine Rechte eingesetzt, und das befriedigte seinen geheimen Durst nach Rache gegen Zeit und Kummer, gegen den Widerstand und jene ins Unberechenbare wachsende Mißbilligung, mit der die Welt seinem einzigen Sohne fünfzehn Jahre lang begegnet war. Es zeigte sich ihm als der einzige Weg nochmals die Übermacht seines Willens zu beweisen und James und Soames und die Familie und alle jene verborgenen Massen von Forsytes – ein großer Strom, der sich am Damme seines Starrsinns brach – zur Anerkennung seiner Herrschaft zu zwingen. Es war süß daran zu denken, daß er dem Jungen nun doch ein weit größeres Vermögen hinterlassen konnte als James' Sohn ›der reiche Mann‹ besaß. Und es war süß Jo zu geben, denn er liebte seinen Sohn.

Weder Jo noch seine Frau waren zu Haus (der junge Jolyon war noch nicht aus dem Botanischen Garten zurück gekommen), aber das kleine Dienstmädchen sagte ihm, daß sie den Herrn jeden Augenblick erwarte.

»Er kommt immer zum Tee nach Haus, um mit den Kindern zu spielen.«

Der alte Jolyon war bereit zu warten und setzte sich geduldig in das verschossene, schäbige Wohnzimmer, wo die Sessel und Sofas jetzt, nachdem die Kattunüberzüge vom Sommer her entfernt waren, ihre fadenscheinige Unzulänglichkeit offenbarten. Es verlangte ihn danach die Kinder rufen zu lassen, sie neben sich zu haben, ihre schmiegsamen Körper an seinem Knie zu fühlen und Jollys »Holla, Großväterchen!« zu hören, sein Hereinstürzen zu sehen und Hollys weiches Händchen verstohlen seine Wange streicheln zu lassen. Doch er tat es nicht. Was ihn hergeführt, hatte etwas Feierliches, und bis es vorüber war, wollte er an Spiel nicht denken. Es machte ihm Spaß sich vorzustellen, wie durch einen Federstrich von ihm der äußere Glanz, der allem in diesem kleinen Hause sichtlich fehlte, wieder herzustellen war; wie er diese Räume, oder andere in einem größeren Hause, mit den prächtigsten Kunstprodukten von Baple und Pullbred ausstatten würde; wie er den kleinen Jolly nach Harrow und Oxford schicken konnte (zu Eton und Cambridge hatte er kein Vertrauen mehr, seit sein Sohn dort gewesen war) und Klein Holly den besten Musikunterricht zu verschaffen, denn das Kind hatte eine erstaunliche Begabung.

Als diese Bilder immer zahlreicher vor ihm aufstiegen und sein Herz vor Bewegung schwoll, erhob er sich und trat ans Fenster, das auf das kleine ummauerte Stückchen Garten ging, wo der Birnbaum, vor der Zeit entlaubt, mit dürren Zweigen im langsam sich verdichtenden Nebel des Herbstnachmittags stand. Balthasar, der Hund, mit seinem buschigen Schwanz dicht über dem zottigen, scheckigen Rücken, lief am andern Ende hin und her, beschnupperte die Pflanzen und stützte sich mit einem Bein mitunter an die Mauer.

Der alte Jolyon stand sinnend da.

Was gab es noch für Freuden außer der zu geben? Wie schön ist es zu geben, wenn du jemand finden kannst, der dankbar annimmt, was du gibst – jemand von deinem eigenen Fleisch und Blut! Andern zu geben, die nicht zu dir gehören, die keine Ansprüche an dich haben, gewährt nicht solche Befriedigung! Ein Geben wie dieses aber war ein Verrat an seinen eigensten Überzeugungen und Handlungen, ein Verrat an seinen Unternehmungen, seiner Arbeit und seiner Mäßigkeit, an der großen, stolzen Tatsache, daß er gleich Tausenden von Forsytes vor ihm, Tausenden in der Gegenwart und Tausenden in der Zukunft, sich immer alles selbst erworben und selbst zu erhalten gewußt hatte.

Und während er da stand und auf das rußige Laub der Lorbeerbäume, den mit schwarzen Flecken bedeckten Rasenplatz und das Gebaren des Hundes Balthasar hinunterblickte, mischte der Gedanke an das Leid der fünfzehn Jahre, in denen er um seine rechtmäßige Freude betrogen worden war, seine Galle in die Süßigkeit des nahenden Augenblicks.

Endlich kam der junge Jolyon, befriedigt von seiner Arbeit und erfrischt von den langen Stunden im Freien, nach Haus. Als er von der Anwesenheit seines Vaters hörte, erkundigte er sich hastig, ob seine Frau zu Haus sei und seufzte bei dem Bescheid, daß sie nicht da war, erleichtert auf. Und nachdem er seine Malsachen sorgfältig in einem Kleiderschrank untergebracht hatte, ging er hinein.

Mit charakteristischer Entschiedenheit steuerte der alte Jolyon sogleich aus sein Ziel los. »Ich habe meine Bestimmungen geändert, Jo,« sagte er. »Du kannst in Zukunft etwas flotter leben – ich setze dir von jetzt ab tausend Pfund im Jahre aus. June erhält fünfzigtausend bei meinem Tode, und du das übrige. Dein Hund da macht den Garten ganz zu schanden. Ich hielte an deiner Stelle keinen Hund!«

Balthasar, der Hund, saß mitten auf dem Rasenplatz und untersuchte seinen Schwanz.

Der junge Jolyon sah auf das Tier hin, konnte es aber kaum erkennen, denn seine Augen waren feucht.

»Es werden wohl an hunderttausend Pfund sein, mein Junge,« sagte der alte Jolyon, »es ist besser, du weißt es, bei meinem Alter habe ich nicht mehr lange zu leben. Ich möchte nicht wieder davon reden. Was macht deine Frau? – grüße sie von mir.«

Der junge Jolyon legte die Hand auf die Schulter seines Vaters, und da keiner etwas sagte, war die Sache abgetan.

Nachdem er seinen Vater an eine Droschke begleitet hatte, kam Jo ins Wohnzimmer zurück, stellte sich an den Platz, wo der alte Jolyon gestanden hatte und blickte auf das Gärtchen hinunter. Er versuchte sich vorzustellen, welche Bedeutung alles dies für ihn hatte, und als echtem Forsyte eröffneten sich ihm weite Ausblicke auf Besitz; jene kümmerlichen Jahre, die er durchlebt, hatten seine natürlichen Instinkte nicht geschwächt. In praktischster Weise dachte er an Reisen, an die Garderobe seiner Frau, die Erziehung der Kinder, an ein Pony für Jolly und tausend andere Dinge; aber mitten in all diesen Gedanken auch an Bosinney mit seiner Dame, und an den abgebrochenen Gesang der Drossel. Zu Lust – zu Leide? Was wohl? Was?

Die Vergangenheit – die harte, leidvolle, leidenschaftliche, wundervolle Vergangenheit, die durch kein Geld zu erkaufen, in ihrer brennenden Süßigkeit durch nichts zu ersetzen war – stieg jetzt wieder vor ihm auf.

Als seine Frau hereintrat, ging er gerade auf sie zu und schloß sie in die Arme. Und lange stand er so ohne zu sprechen, mit geschlossenen Augen, und preßte sie an sich, während sie mit verwundertem, unsicherm Blick in den Augen liebevoll zu ihm emporsah.


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