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Achtes Kapitel.
Die freiherrliche Familie von Kranenberg.

Trotz der günstigen Vorhersage des Verwalters, der sich wie alle »wetterkundigen« Landleute bisweilen über die bevorstehende Witterung zu irren verstand, war das Wetter nicht gut und freundlich geworden, vielmehr trat der Legationsrat seinen Ritt nach dem anderthalb Meilen entfernten Gute Kranenberg am nächsten Vormittag unter sehr trübem Himmel an. Nichtsdestoweniger hatte er sich nicht abhalten lassen, den Weg zu Pferde zurückzulegen und nur den nochmaligen Bitten des alten Fräuleins insofern nachgegeben, daß er einen leichten Mantel mitnahm, um sich gegen den befürchteten Regen zu schützen. Allein der Regen war nicht der böse Feind, der den Legationsrat auf diesem Wege begleitete, vielmehr waren es seine eigenen trüben Gedanken, denn er wußte aus alter Erfahrung nur zu gut, daß der Besuch, den er an diesem wie an den beiden folgenden Tagen abstatten wollte, ihm nicht diejenige Befriedigung gewähren würde, die sein Vater gewünscht und vorausgesagt hatte.

Hätte er nun aber gewußt, daß er auf dem Gute Kranenberg erwartet werde und daß man seinetwegen schon am Morgen daselbst große Vorbereitungen getroffen habe, er wäre noch mißgestimmter gewesen und hätte vielleicht gar den beschlossenen Besuch um einen oder mehrere Tage hinausgerückt.

Seine Absicht, nach Kranenberg zu reiten, war nämlich durch Zufall daselbst verraten worden. Als der Verwalter am Abend vorher einen Knecht beauftragte, den Braunen am nächsten Morgen zu einem Ritt nach Kranenberg in guten Stand zu setzen, fügte es sich, daß der Schäfer des Barons bei seinem Bruder, dem alten Kutscher in Sellhausen zu Besuche war und den Befehl mit anhörte. Er hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als am späten Abend einer der Mägde in Kranenberg den bevorstehenden Besuch zu verraten, und so gelangte die Kunde in das Herrenhaus, wo sie sogleich eine Wirkung übte, die wir nachher noch näher besprechen werden.

Der Baron von Kranenberg war durch seine Frau, eine geborene Baroneß Haasencamp, mit den Grotenburgs verwandt, da Baron Haasencamp eine Schwester des letzteren zur Frau gehabt, aber durch den Tod verloren hatte und Witwer geblieben war. Auf diese Weise waren die drei genannten Herren verschwägert und in fernerer Reihe auch mit dem verstorbenen Herrn von Sellhausen verbunden, dessen erste Frau ja, wie wir wissen, ebenfalls eine Schwester des Barons Grotenburg gewesen war.

Eine zweite weitläufige Verwandtschaft aber fand zwischen den Baronen und der Witwe Birkenfeld statt. Baron Grotenburg, am nächsten mit ihr verwandt, hatte, wie wir wissen, eine Schwestertochter der Frau Birkenfeld geheiratet, und Baron Kranenberg war wiederum der Neffe des Domänenpächters, der die hochfahrende Schwester der Frau Birkenfeld zur Frau gehabt.

Was nun die persönlichen und sachlichen Verhältnisse auf Kranenberg betrifft, so waren dieselben für einen oberflächlichen Beobachter ganz unverfänglicher Art, ein scharfsichtigerer aber, dessen Auge tiefer drang, würde bald eine heillose Verwirrung daselbst wahrgenommen haben.

Der Herr Baron zunächst gehörte zu jener mit der fortschreitenden Bildung allmählich geringer werdenden Anzahl von Landedelleuten, die alles zu sein und die höchste Stufe im Leben erklommen zu haben glauben, wenn sie als Barone in die Welt gesetzt sind, die also nichts weiter zu lernen, zu wissen, zu werden brauchen und, was das allerschlimmste ist, auch nichts lernen, wissen und werden wollen. Diese Leute haben einen Begriff von sich, als bildeten sie den eigentlichen Mittelpunkt der Schöpfung, gleichsam ein kleines Weltall für sich, um das sich alle übrigen erschaffenen Dinge wie um eine Achse drehen und mithin in untergeordnetem Verhältnis zu ihnen stehen.

Doch genug hiervon, da die nähere Schilderung dieses Herrn uns genügend mit dem Kern seines kleinen Weltalls bekannt machen wird.

Er war früher ein sehr wohlhabender Mann gewesen und hatte das schöne Gut Kranenberg schuldenfrei von seinem Vater geerbt. Aber schon in wenigen Jahren hatten die Verhältnisse sich ungünstiger gestaltet, eine Hypothek nach der andern war aufgenommen worden, und gegenwärtig gehörte sein väterliches Erbe mehr seinen Gläubigern als ihm selbst.

Der Grund dieser Einbuße lag einmal in dem trägen, gleichgültigen und unmännlichen Charakter des Barons selbst. Er war nichts weniger als Landwirt, ihm behagten von seinem Gut nur die Einnahmen, während ihm die damit verbundenen Mühen einen wahren Ekel einflößten. Daher bekümmerte er sich auch gar nicht um das Gut, ließ es Früchte tragen, so viel es wollte, besserte weder das Land noch sein Haus und überließ alles und jedes seinem Verwalter, einem schlauen und untreuen Menschen, der es verstand, in demselben Maße reich zu werden, wie sein Herr allmählich ärmer ward. Dieser Verwalter verkaufte die Früchte des Feldes und das Holz nach Gutdünken, gab dem Baron davon, was ihm beliebte, und dieser begnügte sich mit dem trostvollen Gedanken, daß, wenn er einmal in Geldverlegenheit gerate, sein Verwalter ganz nahe bei ihm wohne und noch immer geneigt gewesen sei, ihm gegen hohe Zinsen Summen auf Summen vorzustrecken – ein Verfahren, welches leider die gnädige Frau im kleinen mit der Kammerjungfer nachahmte, die, nebenbei gesagt, die heimliche Verlobte und Spießgesellin des spitzbübischen Verwalters war.

Der Herr Baron ging sehr wenig auf seine ausgenutzten Felder, er saß viel lieber, wenn er nicht auf Besuch in der Nachbarschaft war, bei den Karten oder bewunderte abwechselnd seine Sammlung von hundert Meerschaumköpfen, aus denen er der Reihe nach rauchte und sich freute, wenn er in dem darüber geführten Register ausgebrannte Köpfe mehr anschreiben konnte. Wenn er keinen Menschen, nicht einmal den Verwalter hatte, um irgend ein Spiel machen zu können, legte er Patience, und das mit solcher Gemütsruhe am offenen Fenster, daß jeder seiner Untergebenen ihn dies schwere Werk vollbringen sehen konnte.

So ging denn auf dem Gute alles, wie es gehen wollte. Alles vorhandene Geld war planlos ausgegeben, ohne daß man sich mit Beantwortung der Frage quälte, woher der notwendige Ersatz kommen würde. Bisweilen trat daher eine große Geldklemme ein, wenn zum Beispiel der Verwalter mit dem gnädigen Herrn böse war, was dann und wann vorkam; aber man hatte es auch schon in der Praxis so weit gebracht, langsam in der Ebbe weiter zu vegetieren, wenn nur die Hoffnung vorhanden war, daß die Flut einmal wiederkommen würde. Diese Flut aber ward jedesmal künstlich heraufbeschworen, wenn irgend ein hervorragender Besuch auf dem Gute eintraf. Daher liebte man am wenigsten einen unerwarteten Überfall, eine längere oder kürzere Vorbereitung war unerläßlich, und im letzteren Falle konnte der Gast gewiß sein, nicht allein leidlich bewirtet, sondern auch mit einem gewissen plunderhaften Luxus umgeben zu werden, woran freilich nur solche Landedelleute Gefallen finden, die den wirklichen Komfort nie kennen gelernt haben.

Daß man einst aus den Ersparnissen der alten Witwe Birkenfeld die leeren Kassen der Familie füllen und eine wahre Springflut hereinsprudeln sehen würde, galt als eine Art Tradition in sämtlichen drei Baronenfamilien, die wir hier dem Leser vorzuführen beabsichtigen. Einmal freilich war diese himmlische Erwartung schon getäuscht worden, denn wie wir wissen, war der alte reiche Herr plötzlich gestorben und hatte kein Testament gemacht. Das zweite Mal sich zu täuschen, hielt man indes für eine positive Unmöglichkeit. Um sich aber mit um so größerer Beruhigung dem goldenen Traume hinzugeben, ließ man von Zeit zu Zeit eine Art Liebesfeldzug gegen die alte Witwe los. Man schrieb an sie und gratulierte ihr an ihrem Geburtstage und Neujahrstage, man sandte ihr Blumen im Sommer, wenn sie auf der Cluus war, man lud sie bisweilen nach Kranenberg und der Grotenburg ein, was sie indessen nie annahm, jedoch auch nie ermangelte, darauf sagen zu lassen: sie verkenne die ihr zugedachte Ehre nicht und nehme das so freundlich Dargebotene für genossen an.

Daß man die alte Dame nicht liebte, sondern nur beneidete und ihr ein baldiges seliges Ende wünschte, wußte niemand besser als sie selbst. Ja, der Hochmut der drei Barone ging so weit, daß man selbst ihr Geld gewissermaßen nur als gemeines Geld betrachtete, weil es durch die Arbeit und Plage eines gewöhnlichen Krämers erworben sei und welches aber erst seinen wirklichen Wert erhalten würde, wenn es aus den schmutzigen bürgerlichen Händen heraus in die der adligen Familien gelangte, denen es doch höchst wahrscheinlich allein vom lieben Gott beschieden war.

Aber noch eines andern Gebrechens, welches in dem unglückseligen Kranenbergschen Hause eine Rolle spielte, müssen wir gedenken, wenn wir in unserer Schilderung genau und pflichtgemäß verfahren wollen, und zwar war dies eigentlich das größte Unheil, an welchem die ganze Familie litt. Dem Baron war nämlich das traurige Los beschieden – eins der traurigsten, die wir kennen gelernt – mit einer sogenannten frommen Frau begnadigt zu sein. Theodelinde von Kranenberg, eine eifrige Anhängerin der allein selig machenden Kirche – nur die Grotenburgs bekannten sich von den drei Familien zum evangelischen Glauben – gehörte nämlich zu den Frauen, die ihrer Kirche, ihrem Gott, oder vielmehr ihrem Beichtvater zuliebe – ein Unterschied, wie er nicht größer gedacht werden kann, obgleich der eine sich hochtrabend den Diener des andern nennt und deshalb in nächster Blutsverwandtschaft mit ihm zu stehen glaubt – ihr Haus, ihre Familie und alle ihre Pflichten vernachlässigen, die sie mit den übrigen Menschen zu einem harmonischen Ganzen verbinden.

Durch diese übertriebene und anhaltende Frömmigkeit der Hausfrau wurden natürlich alle Verhältnisse im Hause und auf dem ganzen Hofe auf den Kopf gestellt, denn durch die Religion – die sanfteste Herrscherin, wenn sie die rechte, und grimmigste, wenn sie die falsche ist – beherrschte die gottselige Frau ihren Mann, ihre Kinder, ihre Diener und alle sonstigen Bewohner des Gutes, während sie selbst, wie das gewöhnlich ist, durch ihren Beichtvater beherrscht wurde, der also fast unumschränkt auf Kranenberg gebot und dessen unsichtbarem Willen sich alles fügen mußte, da es ja Gott selbst war, der durch seinen erleuchteten Mund sprach.

War der Baron nun schon seinem Verwalter gegenüber eine Null, dem Herrn Kaplan Kattengold, der natürlich im Schlosse selbst wohnte, war er es erst recht. Was Herr Kattengold wünschte, erfuhr die gnädige Frau und durch sie ward dieser Wunsch als Befehl dem Baron überbracht, der sich gehorsam unter den allmächtigen Willen beugte und froh genug war, wenn ihm am Sonntag in der Hauskapelle die Absolution für alle »gedachten« Sünden erteilt wurde, da sie zu sprechen oder gar auszuüben ihm im Hause kaum eine Gelegenheit gelassen wurde.

So standen die Dinge im allgemeinen in dem Hause, welchem Bodo an diesem Tage entgegenging. Natürlich lagen sie nicht alle offenbar an der Oberfläche, sie waren vielmehr mit dem Firniß der Vornehmheit übertüncht und mit dem Schimmer sogenannter Noblesse vergoldet, aber Bodo kannte den Krebs, der im Herzen der Familie fraß, und so verzeihen wir ihm gern, wenn er den Weg dahin mit Widerwillen antrat.

Je näher er nun dem aus weiter Ferne sichtbaren Schlosse kam, um so mehr hatte er Gelegenheit, die Vernachlässigung und den fast an Verwahrlosung grenzenden Zustand der Ländereien des sonst so herrlich gelegenen Gutes zu erkennen. Der im allgemeinen fruchtbare Boden trug nirgends, was er tragen sollte, die Frucht stand überall schlecht und dünn. Für Abzugskanäle war bei dem zum Teil hügeligen Boden fast gar nicht gesorgt und die Wege waren so schlecht unterhalten, daß ihre Benutzung bei nassem Wetter fast unmöglich schien. Am meisten jedoch schmerzte Bodo, den Freund einer schönen und baumreichen Natur, die Lichtung der einst so stattlichen Laubwaldungen. Fast keine der alten von früher her ihm bekannten Eichen und Buchen fand er mehr vor, sie waren sämtlich gefällt und zum größten Teil in dem bodenlosen Säckel des spitzbübischen Verwalters verschwunden, nirgends aber war eine neue Anpflanzung sichtbar, die für künftige Zeiten eine frohe Hoffnung hätte erregen können.

Um so mehr war unser Freund erstaunt, schon aus der Ferne das alte, im Innern ehemals so verfallene Schloß, in einem modernen äußern Gewande zu erblicken. Man hatte das zweistöckige große Gebäude, an das sich nach hinten hin zwei lange Flügel schlossen, auf der Vorderseite wenigstens mit einer sehr ins Auge fallenden grünen Farbe getüncht und an Stelle der früher halb erblindeten Fenster blitzende Spiegelscheiben eingesetzt, in der Art etwa, wie man dem Balg eines verstorbenen Tieres, der inwendig leer und hohl ist, glänzende künstliche Augen einsetzt und ihm dadurch das Ansehen eines lebenden Wesens verleiht.

Bodo war, wie gesagt, darüber erstaunt, denn er wußte aus alter Zeit her, daß man im Schlosse eigentlich nur zwei oder drei mit halb vermodertem Luxus ausgestattete Zimmer habe, daß alle übrigen aber nichts weniger als wohnlich und behaglich seien, vielmehr ihrem endlichen Verfall mit Riesenschritten entgegengingen.

So war es auch, wie er sich später überzeugte, noch jetzt; nur hatte man mit einer gewaltigen Kraftanstrengung dem alten Gemäuer einen neuen Mantel umgehängt, um dem Lieblingsprinzip aller Vornehmtuerei zu fröhnen: die unkundige Zuschauermasse zu blenden und sich selbst und anderen einen Schein vorzulügen, den nur oberflächlich sehende Augen für das wirkliche innere Wesen halten.

Als Bodo in den öden, schlechtgepflasterten Hof einritt, gewahrte er nichts, was seinen spähenden Blicken einen angenehmen Anhaltspunkt geboten hätte. Zunächst bellten ihm ein paar räudige, an verrostete Ketten gelegte Hunde entgegen, die kaum nötig schienen, die baufälligen und fast ärmlichen Scheunen und Ställe zu bewachen, welche den kahlen Hof in großem Umkreise umschlossen. Menschen, die irgendwie oder wo tätig waren, bemerkte er nirgends. Geräte aller Art aber, Wagen, Pflüge, Karren und Eggen standen in wüsten Haufen in allen Ecken und die harten Steine des melancholischen Gehöftes waren mit halbverfaultem Stroh und zufällig verstreutem Mist gepolstert. Die an der einen Seite des Hofes befindliche Dunggrube, weder durch Gebüsch noch Mauer dem Anblick entzogen, verbreitete einen pestilenzialischen Geruch ringsum und in ähnlicher Art war alles übrige beschaffen, worauf etwa noch des stillen Beobachters Auge fiel.

Ganz verwundert war er daher, als er sich dem Schlosse näherte, einen Bedienten im verschossenen Tressenrock und verbleichten manchesternen Kniehosen aus dem Innern hervorkommen zu sehen, um ihn zu begrüßen und ihm sein Pferd abzunehmen. Diese luxuriöse Erscheinung ließ auf einen bedeutsamen Vorgang im Schlosse schließen, und in der Tat irrte sich unser Freund nicht, da die Bedienten des Barons nur in ihren altmodigen Livreen einhergingen, wenn man einen bestimmten Besuch erwartete, sonst aber in Holzschuhen und Hemdsärmeln sich irgendwo die langweilige Zeit vertrieben.

Bodo schloß also sehr richtig, daß man entweder schon einen andern Gast beherberge oder daß man auf irgend eine Weise von seiner Ankunft unterrichtet sei. Den trotz seiner Livree äußerst struppigen Diener mochte er nicht danach fragen, und so schritt er, unbekümmert um das ihm bevorstehende Schicksal, die Treppe zu dem Schlosse hinauf, in deren zahllosen Fugen eine Fülle wuchernden Unkrauts seine sommerliche Wohnung aufgeschlagen hatte.

In den Flur eintretend, traf der Gast einen zweiten ähnlich geschmückten Bedienten, der seine Frage, ob der Herr Baron zu Hause sei, mit einer tiefen altfränkischen Verbeugung beantwortete, des fremden Herrn Kleider auf dessen Wunsch mit einer Bürste, die einer Pferdekardätsche ähnlich sah, etwas reinigte und ihn dann mit einer graziösen Armbewegung in ein Zimmer zur Linken einführte, obwohl Bodo wußte, daß Baron von Kranenberg, dem er sogleich seine Karte schickte, das zur Rechten gelegene bewohnte.

In diesem überaus kühlen und kahlen Zimmer hatte der Gast Muße genug, seinen Gedanken nachzuhängen, falls er irgend eine Neigung dazu spürte, denn man ließ ihn ungebührlich lange allein, aber Bodo war mit sich über das Vorgehende ins reine gekommen und schritt nur langsam auf und ab, mit namenloser Geduld den Augenblick erwartend, wo ihm die Ehre zuteil werden würde, irgend ein Glied der freiherrlichen Familie zu begrüßen.

Nur einiges fiel ihm in dem vornehmen Hause auf. Die weiten Räume desselben hauchten, wie er auch nachher im obern Stockwerk bemerkte, einen seltsamen dumpfigen Geruch aus, als wären sie lange nicht bewohnt, erwärmt und gelüftet gewesen. Desgleichen herrschte eine monotone unheimliche Stille darin, etwa wie in einem Kranken- und Siechenhause, in dem man die Ruhe der Leidenden auf keine Weise unterbrechen will. Nur zuweilen schien es dem Aufhorchenden, als tönten aus einem entfernten Raume im oberen Stockwerke Akkorde einer verstimmten Hausorgel herunter und als erschallte dazwischen ein klagender Gesang von zwei Menschenkehlen, der indessen so unharmonisch vibrierte, daß man wenig dadurch erfreut, noch viel weniger aber erbaut werden konnte.

Was hatte nun die lange Verzögerung des Empfanges, die man dem Legationsrat zuteil werden ließ, für einen Grund? War noch immer niemand im Hause von seiner Ankunft unterrichtet oder war man so eifrig mit wichtigerem Tun beschäftigt, daß man einem so seltnen Gast so nachlässig begegnete?

O nein, das alles war nicht der Fall. Der Baron wußte ja, daß Herr von Sellhausen an diesem Tage ihm seinen Besuch schenken würde, und er hatte deshalb auch schon längst die nötigen Vorkehrungen in den zu seinem Empfange bestimmten Gemächern treffen lassen. Allein Herr von Sellhausen war unter den Umständen, unter welchen er jetzt auf Kranenberg erschien, kein angenehmer Gast und man mußte ihn überdies auf irgend eine »vornehme Weise« empfinden lassen, daß er durch die lange Vernachlässigung ihrer einzelnen Mitglieder die ganze Familie beleidigt habe. Überdies war man ihm, wie der Leser schon weiß, im allgemeinen nicht zu günstig gesinnt; er war ja der Erbe eines für unverschämt reich gehaltenen Mannes, und da man keine direkte Möglichkeit vor Augen sah, etwas von seinem Besitze zu erbeuten, so hatte man durchaus keinen Grund, ihn besonders zu lieben. Außerdem war er ein Adliger von zu neuem Datum, um ihm die vollwiegenden Ehren eines wirklichen Familiengliedes zukommen zu lassen; er hatte keine mystischen Ahnen, keine geheimnisvolle Vergangenheit, und was er durch seine persönliche Bildung und amtliche Stellung in der Gegenwart für sich errungen, trug mehr dazu bei, seinen Wert in den Augen seiner Verwandten zu verringern, als zu erhöhen.

Schon seit zehn Uhr morgens saß der Herr Baron, mit seinem Patiencespiel beschäftigt, welches er heute sehr unaufmerksam betrieb, auf der Lauer am Fenster, den Gast um so sehnlicher erwartend, da man ihm eine kleine Demütigung zuwenden zu können hoffte. So mußte er ihn zuerst erspähen, sobald er in den Hof einführe. Allein der Herr Baron sollte etwas lange warten und spielen, und als er den jungen Mann endlich kurz vor Tische ganz unerwartet auf seinem bescheidenen Braunen in den Hof einreiten sah, erschrak er so mächtig, daß ihm die Karten aus der Hand fielen, indem er sich schnell bückte, um nicht von den scharfen Augen des Ankommenden bemerkt zu werden.

Nach einiger Zeit, während der Gast in das Wartezimmer geführt ward, trat der zweite Bediente, in der einen Hand die Kardätsche, in der andern eine Karte haltend, bei dem gnädigen Herrn ein und überreichte letztere mit einem fragenden Aufblick, was nun geschehen solle.

»Hebe die Karte auf, Satan!« lautete des Herrn Befehl. »So. Lege sie auf den Tisch da. Gut. Jetzt hole mir ein Glas Wasser, aber tritt leise auf, Elefant!« – Und als das Wasser gebracht, sagte der Baron, der schon wieder ganz ungeniert vor seinem Spieltische saß und die Patience weiter legte: »Jetzt troll' dich und erst genau nach zehn Minuten gehst du hinüber und bittest den Herrn Legationsrat, hier bei mir einzutreten. Marsch!«

Nach den genau abgezählten zehn Minuten geschah, was der Herr Baron befohlen. Bodo ward in sein Wohnzimmer eingeführt und ging langsam und mit ruhigem Anstande auf ihn zu. Da er den Baron aber mit ihm zugekehrten Rücken gemächlich am Tische sitzen und Patience legen sah, hielt er mitten im Gange an und sah sich mit der größten Ruhe in dem seltsamen Zimmer um, ohne auch nur den geringsten Laut hören zu lassen, der seine Anwesenheit oder gar seine Ungeduld verraten hätte.

Das Zimmer war groß, hoch und die Wände desselben mit einer Tapete überzogen, deren Farbe unmöglich noch zu erkennen war, so sehr hatte der beständige Tabaksrauch, der ihr auch einen durchdringenden widerlichen Geruch mitgeteilt, dieselbe verändert. Im Zimmer befanden sich nur sehr wenig schäbige Möbel: ein nüchterner kahler Schreibtisch, ein mit Leder überzogenes altes Sofa, sechs Stühle, ein blinder Spiegel, ein kleiner Tisch mit drei Tabakskasten und – zwei aufgeschlagene Spieltische, die Tag und Nacht in Tätigkeit zu sein schienen, denn sie waren abgenutzt, fast aller Politur beraubt und wackelten auf altersschwachen Füßen. An den Wänden ringsum aber hingen, anstatt der Bilder, hundert Stück Pfeifen mit Meerschaumköpfen von allerlei Formen und Größen, kurze und lange, in einladende Gruppen geordnet, hier ein Herz, dort eine Lyra und wieder wo anders einen Triangel bildend, was für den Besitzer dieser Schätze höchst interessant sein mußte, namentlich da die meisten Köpfe mit echtem Silber beschlagen und ungemein blank geputzt waren. Alle diese Pfeifen waren gestopft mit Varinas, Maracaibo und Cubatabak, und daran, daß mitten im Herzen ein Nagel frei war, konnte der scharfe Beobachter erraten, daß am heutigen Tage die Reihe des Dienstes das Herz getroffen und schon bis zur Mitte in Anspruch genommen hatte.

Der Herr Baron also saß am Tische auf einem Stuhl, seinem Gaste den Rücken zukehrend, und dampfte wie verzweifelt aus einem ungeheuren Meerschaumkopfe, der indeß nur eine sehr kleine Bohrung hatte und also dem stürmischen Angriff des Rauchers nicht lange widerstehen konnte. Er beugte sich eben auf eine Karte nieder und dabei mußte ihm das Blut wohl in den Kopf gestiegen sein, denn als er denselben erhob, war er sehr rot, was dem fahlen ausdruckslosen Gesicht mit den blaßblonden Haarbüscheln an beiden Seiten des sonst haarlosen Schädels ein merkwürdiges Ansehen verlieh.

Bodo stand ruhig, den Hut in der Hand haltend, hinter dem so emsig beschäftigten Baron, geduldig wartend, bis der Herr so gnädig sein würde, sich umzudrehen, was endlich aus unbezwinglicher Neugierde geschah, da er sich nicht erklären konnte, was der diplomatische Herr so lange hinter seinem Rücken im tiefsten Schweigen anfange. Als er ihn nun zu Gesicht bekam und das gemütliche Lächeln des geschulten Diplomaten sah, stand er mit vornehmer Grandezza auf, ging auf ihn zu, verbeugte sich mehr zeremoniös als freundlich und sagte mit einer hahnartig krähenden Stimme: »Ah, sieh da, da sind Sie ja schon, Herr Vetter; Sie haben einen leisen Tritt, das muß ich sagen. Ich glaubte, Sie ließen sich noch abbürsten, da Sie im Frack zu – zu Pferde gekommen sind.«

»Ja,« erwiderte der Legationsrat lächelnd und sich augenblicklich in die seltsame Lage findend, »Sie haben zweimal in einem Atem recht, Herr Baron, ich bin schon da, und bin wirklich nur zu Pferde gekommen. Aber da Sie vergessen, mir einen guten Morgen zu sagen, so erlaube ich mir, Ihnen denselben zu bieten und mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

»Ei – ich danke bestens. Bitte, setzen Sie sich. Spielen Sie vielleicht Sechsundsechszig? Dann können wir sogleich eine Partie beginnen, Zeit haben wir noch. Aber es kann auch Whist à deux sein – der Tisch ist, wie Sie sehen, immer in Ordnung und die Karten auch.«

Bodo von Sellhausen war in seinem Leben oft in seltsamen Lagen gewesen, aber diese Begrüßung nach so langer Abwesenheit und nach seines Vaters Tode war ihm doch fast zu sonderbar. Im Besitz großer geistiger Gewandtheit aber und vollkommen fähig, auch die unhöflichste Begrüßung, wenn es sein mußte, mit Gleichgültigkeit hinzunehmen, fand er sich auch jetzt augenblicklich in die neue Lage und, ohne noch andere persönliche Fragen seines lieben Vetters zu erwarten, ging er auf dessen Gedankengang ein und sagte mit ernstem Gesicht: »Ich danke, ich spiele nie Karten.«

»Nie? Ei, das ist viel gesagt – auch abends nicht?«

»Das Wort nie begreift bei mir Morgen, Mittag, Abend und Nacht ein, Herr Baron.«

»Ei, ei, ja, ja, ich verstehe! Aber dann rauchen Sie doch? Ha, ich bin gerade bei dem Herzen – darin hängen alle meine Lieblinge! Wählen Sie nach Belieben – obgleich der da an der Reihe ist – aber ich habe keine besonderen Pfeifen für – für Gäste von Stande.«

Dabei war er auf irgend eine an der Spitze schon sehr mitgenommene Pfeife losgegangen, hatte sie vom Nagel abgehoben und reichte sie, mit dem gläsernen Auge ermutigend blinzelnd, seinem Gaste hin.

Dieser stand unbeweglich, noch immer mit dem Hut in der Hand, mitten im Zimmer, wehrte die dargebotene Pfeife leise mit der Hand ab und sagte: »Auch dafür danke ich. Solche Pfeifen rauche ich nie

Der Ausdruck, womit diesmal das Wort » nie« gesprochen wurde, mußte irgend einen empfindlichen Nerv des Barons getroffen haben. Er zuckte etwas zusammen, hing die Herzenspfeife rasch an ihren Nagel und wurde vom Augenblick an sichtlich höflicher gegen seinen Gast, der nun aber erst recht seinen vollen Ernst und seine unerschütterliche Ruhe bewahrte.

»Bitte, mein lieber Vetter,« sagte der Baron, »legen Sie doch ab – bei mir tut man das immer von selbst – und setzen Sie sich. Ah, ich freue mich sehr, Sie endlich auf Kranenberg zu sehen, obgleich Sie weder spielen noch rauchen, was eigentlich meine Hauptbeschäftigungen sind, da ich nichts anderes zu tun habe.«

»Sie glücklicher, oder vielmehr Sie unglücklicher Mensch!«

»Wie meinen Sie das? Ah, ich verstehe. Sie belieben zu scherzen – ja, ja, das ist so eine alte Gewohnheit von Ihnen, ich erinnere mich. – Hm, hm! Natürlich bleiben Sie zum Essen hier, um meine liebe – Theodolinde zu sehen und meine Kinderchen – prächtige kleine Kranenberge – ich glaube, in einer halben Stunde wird man zur Tafel läuten.«

Bodo stand schon wieder von dem eben erst eingenommenen Stuhl auf. »Dann entschuldigen Sie,« sagte er; »unter diesen Umständen dürfte es wohl Zeit sein, daß ich der Frau Baronin meine Aufwartungen mache. Ich muß sie doch vor Tische gesprochen haben.«

»Jawohl, jawohl, mein lieber Vetter, aber – sehen Sie, ich glaube, meine gute Theodolinde hat jetzt ihre Betstunde mit dem Kaplan – aber warten Sie, warten Sie – ich werde gleich meinen Johann hinaufsenden und anfragen lassen.«

Nach einem kräftigen Glockenzug trat der »Satan« Johann ein und erhielt zuerst den Auftrag, hübsch leise, nicht wie ein Elefant aufzutreten, und dann – Herrn Legationsrat von Sellhausen bei der Frau Baronin anzumelden, falls sie zu sprechen sei.

Bodo betrachtete sich unterdes die Pfeifen, und der Baron, die Studie mit Wonne bemerkend, nahm sogleich die Gelegenheit wahr, ihm einige der hervorragendsten Geschichten dieser Pfeifen zu erzählen, deren jede ihre besondere hatte.

Was hierbei der Baron sprach oder eigentlich faselte, beschäftigte Bodo nicht mehr; er dachte an etwas ganz anderes, sein Gesicht zeigte jedoch den vollendeten Ausdruck des aufmerksamsten Zuhörers, was den Baron zum Teil mit dem »ungezogenen Diplomaten«, wie er ihn so oft genannt, wieder aussöhnte.

Bald darauf kam Johann, wie eine Elfe auftretend, wieder und meldete mit näselnder Stimme, daß die Frau Baronin den Herrn Legationsrat zu empfangen bereit sei.

Bodo verabschiedete sich mit leichtem Herzen von dem geistreichen Hausherrn und folgte dem ihn führenden Satan-Johann in das obere Stockwerk. Ein leeres, ödes Haus, welches von Menschen bewohnt wird, die selbst innerlich leer und verödet sind, bringt immer einen doppelt traurigen Eindruck auf den Beschauer hervor, und Bodo, der so ziemlich gegen jederlei Ungemach gewappnet war, fühlte dennoch einen kühlen Schauer durch seine Glieder rieseln, als er die ausgetretenen, jeden Fußtritt wiederhallenden Treppen hinanstieg und niemanden begegnete, nichts sah, was das unheimliche Gepräge hätte verwischen können, das hier fast sichtbar auf jedem einzelnen Gegenstande lag.

Oben in dem sogenannten Damenflügel sah es nicht einladender und freundlicher als unten im Herrenflügel aus. Bodo ward in ein kleines Gemach geführt, welches mit einem ausgefaserten Wachstuchteppich belegt war und in Anbetracht seiner dürftigen Ausstattung mit einigen, vorzüglich von Damen benutzten Gegenständen, den stolzen Namen »Boudoir« führte. Der Diener bat den Gast, irgendwo Platz zu nehmen, die Frau Baronin sei im Zimmer nebenan und werde bald erscheinen.

Bodo, keine Lust fühlend, sich einem der zerbrechlichen und wackligen Korbstühle anzuvertrauen, näherte sich dem Fenster und sah auf diese Weise durch die halb offen stehende Tür in das Nebenzimmer, welches wahrscheinlich absichtlich geöffnet oder offen gelassen war, um den »ketzerischen« Fremden mit dem im Hause herrschenden frommen Sinn alsobald bekannt zu machen. Schon von dem Augenblick seines Eintritts an hatte er aus dem Nebenzimmer eine Art feierlichen Gemurmels tönen hören, und bei dem ersten halben Blick in dasselbe hinein, war ihm der fromme Vorgang und die Bedeutung desselben enthüllt. Mitten im Zimmer nämlich, dem eigentlichen Wohngemach der Frau vom Hause, stand ein breiter schwarzpolierter Betstuhl und zwar gerade vor einer Art Altar, der an der Wand zwischen den Fenstern angebracht war, die anstatt des daselbst üblichen Spiegels ein mächtiges Kreuz von Ebenholz zeigte, an welchem ein matt vergoldeter Christus hing.

Aus diesem Betstuhl knieten dicht nebeneinander Frau Baronin von Kranenberg und ihr Beichtvater, der Hauskaplan Kattengold, und beide sagten ihre Gebete mit einer weinerlichen und ächzenden Stimme her, daß es wie das Gewinsel eines im Todeskampf Liegenden klang und vollständig dazu angetan war, das Erbarmen jedermanns, wieviel mehr nicht das des erbarmungsvollen Gottes wachzurufen.

Bodo von Sellhausen hatte früher schon öfter die Ehre gehabt, Frau von Kranenberg zu sehen, niemals aber war er so glücklich gewesen, sie in dieser feierlichen Lage zu erblicken, wo ihre ganze Seele, in Andacht ausgegossen, fast sichtbar auf ihren Zügen und in ihrem ganzen Äußern lag.

Es war eine lange, schmale, fast asketisch abgemagerte Gestalt, die er hier in einem weißen Gewande von nonnenartigem Schnitt vor sich sah. Dem weiten und in zahlreichen Falten um die Hüften sich ringelnden Kleide, welches bis hoch an den Hals mit lilafarbigen Schleifen zugenestelt war, entsprach der eigentümliche Kopfputz, der aus einem von hinten her kapuzenartig über die Stirn geschlagenen weißen sehr stark gesteiften Tuche von Mull bestand, eine Tracht, die der Inhaberin den Anstrich klösterlicher Ehrbarkeit und Zucht verliehen hätte, wenn dahinter nicht zugleich eine stark in die Augen fallende Koketterie verborgen gewesen wäre.

Allein, warum war wohl die Frau Baronin von Kranenberg noch immer etwas kokett? Das mag sie uns selber beantworten, wie alle Frauen, die bis in ihr vorgerücktes Alter eine gewisse Neigung zu dieser allgemeinsten weiblichen Untugend bewahren, ohne durch irgend eine äußere Zier dazu veranlaßt zu sein.

Das Gesicht der vor uns knienden Dame war gelblich bleich, an den äußeren Augenwinkeln schon merklich gerunzelt und zwischen schmalen blassen Lippen von unendlicher Ausdehnung beim Lächeln und Sprechen eine Reihe zweifelhaft gefärbter Zähne zeigend, die dem Zaghaften unter Umständen eine gewisse Besorgnis hätten einflößen können. Über die schmale Stirn, die unter dem herabhängenden Zipfel der nonnenartigen Kopfbekleidung fast verschwand, war ein düsterer Glorienschein religiöser Schwärmerei ausgegossen, was aber nicht verhinderte, daß in den braunen, fast wie Kohlen glimmenden Augen etwas sinnlich Suchendes oder Begehrendes lag, was um so widerlicher erschien, wenn man bedenkt, daß die Frau Baronin in einem Alter stand, welches nur noch gedacht, aber nicht mehr ausgesprochen werden kann, sowie daß sie Mutter von fünf Kindern war, von denen das älteste Mädchen dreizehn Jahre zählte.

Der Kaplan neben ihr, den trotz des warmen Tages frieren mochte, da er so nahe wie möglich an die heißblütige Dame herangekrochen war – wahrscheinlich um ihre Andacht um so inniger mit der seinigen zu verschmelzen – erschien fast noch ein Jüngling dem Alter nach, aber schon halb ein Heiliger, wenn man seine andachtsvolle verhimmelnde Miene betrachtete und fast Mitleid empfand, daß seine Augenmuskeln diese krampfhaften Drehungen des Augapfels erzwingen mußten. Das Antlitz dieses jungen, gänzlich bartlosen und hellblonden Mannes, dessen Tonsur so klein war, daß man sie kaum ohne Vergrößerungsglas erkennen konnte, wäre ganz hübsch gewesen, wenn es nicht übermäßig abgemagert, von inneren unerfüllbaren Wünschen verzehrt und durch die frömmelnde Miene nicht zu gewaltsam kasteiet erschienen wäre. Indessen lag in den hin- und herrollenden Augen ein unerträglicher priesterhafter Stolz, um so unerträglicher, weil er schon in einem so jungen Herzen wurzelte, und um die etwas stark aufgeworfenen sinnlichen Lippen spielte ein Zug, der jeden Laien für einen Priester des Teufels zu halten schien, wie der junge Mann selber der Priester des dreieinigen Gottes war. Gekleidet war er in die gewöhnliche schwarze Soutane der katholischen Weltgeistlichen, die bis auf die schnallenbesetzten Schuhe den ganzen Körper verbarg und deren endlos lange Schöße im Gehen majestätisch im Winde wehten und selbst den irdischen Staub zu seinen Füßen andächtig aufwirbeln machten.

Das herzbrechende Gebet, an welchem im Stillen teilzunehmen dem Legationsrat so gütig die Gelegenheit geboten wurde, dauerte etwas lange, und dieser konnte ungestört seine Beobachtungen über das seltsame Paar anstellen, zumal er das blärrende Gemurmel der halb gesungenen, halb gesprochenen Worte nicht verstand. Endlich aber erhob sich zuerst der Geistliche von den Knieen, verrichtete stehend mit tiefgebeugtem Kopfe und vor der Brust gefaltenen Händen sein Privatgebet und gab dann der Baronin einen sanften Wink mit den Augen, der zu besagen schien, daß sie für heute genügend fromm gewesen sei. Alsbald stand auch die Dame von ihrem Kniekissen auf und beide verbeugten sich ehrerbietig vor einander. Als diese Zeremonie beendet, ergriff der Kaplan die langfingerige Hand der gnädigen Frau und küßte sie inbrünstig. Sie drückte darauf die seine wiederholt und mit einem langen gegenseitigen Seelenblick in die von Frömmigkeit strahlenden Augen trennten sie sich. Der Kaplan verließ durch eine jenseitige Tapetentür das Zimmer, und die Baronin, aus tiefstem Herzensgrunde aufseufzend, drehte sich langsam nach dem Boudoir herum, in dem sie ohne Zweifel schon lange den dahin beschiedenen Besuch wahrgenommen hatte.

Indessen gab sie sich das Ansehen, als ob sie durch seine Gegenwart, die sie plötzlich zu bemerken schien, wie aus einem verzückten Traume erwache. Sie trat erschrocken zurück und nahm die Verbeugung Bodos fast ohne die geringste Bewegung entgegen.

»Verzeihen Sie, Frau Baronin,« sagte er, »daß man mich hier wie eine Schildwache auf diesen Posten gestellt hat – ich durfte meinen einmal eingenommenen Platz nicht verlassen, wenn ich Sie nicht stören wollte.«

»Bitte,« erwiderte die Baronin, sich leicht verneigend und ein großes weißes, hinten herabgesunkenes Tuch über die keuschen Schultern ziehend, um selbst die äußeren Umrisse ihres Körpers vor den profanen Blicken des Weltkindes zu verhüllen, »bitte, Herr von Sellhausen, Sie haben mich nicht gestört, im Gegenteil, ich habe mich in Ihrer eigenen Seele an dem Ihnen zuteil gewordenen Anblick erlabt, denn es ist immer und überall ein wohltätiges Gefühl, Menschen mit ganzem Herzen vor ihrem Schöpfer ihre Andacht verrichten zu sehen. Doch bitte, treten Sie näher – setzen Sie sich – und erlauben Sie mir, daß ich eine bequeme Stellung einnehme, da ich etwas leidend bin und mich vor der Tafel noch stärken muß.«

Bodo folgte langsam in das Betzimmer nach, ein großes, düsteres und nur mit schwarzen Möbeln und dunklen Vorhängen verziertes Gemach, und setzte sich auf einen Stuhl zu Ende des Sofas nieder, auf dem die Baronin rasch und gewandt in liegender Stellung ihren Platz eingenommen hatte. In dieser Stellung legte sie auch die Falten ihres Kleides zurecht, nahm dann einen kleinen Handspiegel aus irgend einer Tasche hervor und rückte an ihrem Kopfputz, und als sie damit fertig und wahrscheinlich mit der Ordnung ihrer Toilette zufrieden war, überflog sie mit unruhig hastigem Blick das ausdrucksvolle Gesicht des schönen Mannes, der, mit unbeweglicher Miene allen ihren Bewegungen folgend, zuletzt mit fast gleichgültiger Resignation ihren allmählich brennender werdenden Blicken begegnete.

»Also Sie sind jetzt zu Hause, Herr von Sellhausen?« begann sie mit leiser Stimme zu reden. »Ach ja, ich erinnere mich, daß das Gerücht davon schon etwas lange verbreitet ist. Doch davon rede ich nicht; ich bin nachsichtig und weiß die Fehler meiner Nächsten zu entschuldigen, da ich ja selbst bisweilen welche begehe. Doch ach, da fällt mir ein – und das ist ja die Hauptsache – daß Sie vor einigen Tagen eine furchtbare Szene auf Sellhausen erlebt haben. Davon lassen Sie uns sprechen – es interessiert mich sehr.«

»Welche Szene meinen Sie, Frau Baronin?« fragte Bodo mit natürlich erstaunter Miene. »Eine furchtbare? Davon weiß ich durchaus nichts.«

»Ei, mein Gott, Herr von Sellhausen, ich meine das Unglück, welches meine teure Freundin, die Baronin Grotenburg und ihre Tochter, die reizende Klotilde betroffen hat. Ach Gott, wenn ich davon nur eine Ahnung gehabt, ich wäre sogleich gekommen und hätte das arme Kind gepflegt, da ich mir denken kann, daß der Schmerz der Mutter ihrer Hilfsleistung gewiß Abbruch getan hat. Aber ach, ich habe so viele Geschäfte hier im Hause zu verrichten, alle Tage; ich komme so selten hinaus, und so musste ich mich darauf beschränken, für das liebe Kind zu beten. Das habe ich denn auch mit inbrünstigem Herzen und Tag und Nacht getan.«

»Die Frucht davon ist auch nicht ausgeblieben,« erwiderte Bodo mit ernster Miene, ohne dabei den geringsten Spott zu verraten, »denn dem Übel ist bald abgeholfen, die Kranke ist überaus rasch genesen.«

»Aber mein Gott,« versetzte die Baronin, lebhaft die Hände ringend und den Legationsrat mit ihren brennenden Augen fast durchbohrend, »Sie nehmen den Unfall doch nicht so leicht? Ihnen geht er ja doch näher, wie jedem andern –«

»Warum sollte er mir näher als jedem andern gehen?« fragte Bodo mit eisiger Ruhe, obgleich sein Herz allmählich heftig zu hämmern begann.

»Aber ich begreife nicht – Sie fragen? Bedenken Sie doch Ihr Verhältnis mit – mit –«

»Welches Verhältnis meinen Sie denn, Frau Baronin? Ich weiß ja von gar keinem, und ich gestehe Ihnen offen, es erregt mein Staunen, Sie so sprechen zu hören.«

Die Baronin senkte die Augen vor sich nieder, faltete die Hände und tat, als ob sie betete; in Wirklichkeit aber machte sie sich Vorwürfe, zu vorschnell gewesen zu sein und das Geheimnis, welches man ihr im engsten Familienrate unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit anvertraut hatte, gerade am unpassendsten Orte verraten zu haben.

»Lassen Sie uns davon abbrechen,« sagte sie, rasch entschlossen, aber das Auge des sie vorwurfsvoll Anschauenden schlau vermeidend, »man versteht sich oft im ersten Augenblick nicht so gut wie später. Sagen Sie mir lieber, wie hat es Ihnen in der Grotenburg gefallen?«

»Ich bin noch gar nicht dagewesen,« erwiderte Bodo mit ruhigem Gleichmut.

»Wie? Sie sind noch nicht auf der Grotenburg gewesen?«

»Wie ich Ihnen sage, nein! Übermorgen erst werde ich meinen ersten Besuch daselbst machen, wie heute bei Ihnen.«

»Erst übermorgen?« rief die Baronin mit verwunderungsvoll zum Himmel aufgeschlagenen Augen. »Warum denn nicht morgen, da man Sie doch gewiß jeden Tag mit Sehnsucht erwarten wird?«

»Weil ich stets und in allen meinen Handlungen nach einem bestimmten Plane verfahre, Frau Baronin. Auf morgen habe ich dem Baron Haasencamp auf dem Kolkhof meinen Besuch zugedacht.«

Die Baronin, durch die Offenbarung dieser planmäßigen Handlungsweise bis ins Mark ihres feinen Nervensystems erschüttert, klagte dem Himmel ihr Leid und machte dabei die Augen zu, als wollte sie von der schlechten Welt nichts mehr sehen.

In diesem Augenblick erscholl ein furchtbares Geläut im Innern des Hauses, so laut, daß Türen und Fenster in Beben und Klirren gerieten. Bodo erschrak fast darüber, sprang von seinem Platz auf und eilte ans Fenster, weil er zuerst dachte, es sei auf dem Hofe Feuer ausgebrochen. Da aber alles ruhig blieb, kehrte er zu seinem Stuhl zurück, wobei er ein eisiges Lächeln über die starren Züge der Baronin gleiten zu sehen glaubte.

»Beruhigen Sie sich,« sagte sie mit matter Stimme, als hätte sie die Unterhaltung mit ihm gänzlich erschöpft, »es ist die Eßglocke, die Sie hören und – je angenehmer der Besuch, um so lauter wird sie in Kranenberg in Bewegung gesetzt. Schließen Sie daraus, was Sie uns wert sind. Es ist dies ein alter Gebrauch, der sich von den Ur – urgroßvätern unserer Familie herschreibt. Bitte, verlassen Sie mich jetzt, ich werde Ihnen alsbald folgen.«

»Darf ich nicht die Ehre haben, Sie in das Speisezimmer zu führen?« fragte Bodo mit einer Gelassenheit, als ob ihm an dieser Ehre nicht über die Maßen viel gelegen wäre.

Die Baronin schüttelte den Kopf, wie ihn nur eine mit der Jungfrau Maria verwandte Heilige geschüttelt haben könnte, und lächelte auf eine ganz besondere, fast verklärte Art, als verzeihe sie großmütig dem mit ihrem frommen Wandel Unbekannten diese Frage. »Nein, Herr von Sellhausen,« sagte sie mit halb flüsternder Stimme, »verzeihen Sie, ich habe meinen Begleiter, heute wie alle Tage. An seinen Arm bin ich gewöhnt, und er besitzt die rechte Stärke, um meinen schwachen Fuß nicht straucheln zu lassen.«

Bodo, also abschläglich beschieden, verbeugte sich achtungsvoll und verließ das Zimmer. Auf dem Korridor erwartete ihn schon Johann und führte ihn nach dem in demselben Stockwerk gelegenen Speisesaal.

Dieser war ein nicht allzu großes, mehr langes als breites Gemach, das außer einem Speisetische und einem altertümlichen Büffet völlig leer stand. Beide aber waren mit silbernen Schalen und Körben, Aufsätzen, Vasen mit Blumen, Tellern, Schüsseln, Gläsern und einigen Dutzend silberner Messer, Gabeln und Löffeln überladen, so daß man hätte denken können, es sollten fünfzig Personen mit wenigstens zwanzig verschiedenen Gängen bedient werden. Alle diese Gegenstände jedoch bildeten bei weitem noch nicht das ganze vorhandene Schaugepränge.

Rings an den Wänden des grautapezierten Speisesaales nämlich waren Wandschränke angebracht, deren Türen sämtlich offen standen, so dass der Einblick in ihr Inneres unmöglich zu umgehen war. In einigen von ihnen sah man altes bemaltes Porzellan, tausendfach gekittet, in den anderen vergilbte Pokale, Kelche aller Art, geschliffen, vergoldet und von allen möglichen Farben und Gestalten. Aber auch sie beherbergten manchen Lahmen und Kranken, und die halbtoten lagen, unheilbar zwar, aber immer noch mit Ehren ihre Stelle behauptend, an irgend einen lebenskräftigeren Nachbar oder die stützende Wand gelehnt.

Nachdem Bodo diese zur Schau gestellten unschätzbaren Reichtümer der Reihe nach bewundert, wozu man ihm absichtlich reichlich Zeit gelassen, trat der Baron und gleich nach ihm eine Bonne mit drei blassen hohläugigen Mädchen, und ein langaufgeschossener schwindsüchtiger Hofmeister mit zwei stillen Knaben ein, die sämtlich, ihrem verhungerten Aussehen nach zu schließen, einen sehr großen Appetit mitzubringen schienen.

Bodo wollte den Baron anreden und die Kinder begrüßen, als er von ersterem einen bedeutsamen Wink erhielt, der so viel sagen wollte, als: »Um Gottes willen, schweigen Sie! Vor dem Gebet darf hier kein Laut hörbar werden, und so weit sind wir noch lange nicht.«

Darauf stellte er sich hinter einen Stuhl und wies seinem Gast einen andern in seiner Nachbarschaft an, worauf sich auch die Bonne, der Hofmeister und die fünf Kinder mit gefalteten Händen und schon im stillen kauenden Zähnen hinter ihren Stühlen um den Tisch gruppierten.

Bodo und dem Baron gegenüber waren zwei Stühle leer geblieben, und auf die Eigentümer derselben schien man zu warten, ohne daß auch nur ein Geflüster laut geworden wäre, da die Augen der beiden Erzieher die jeden Moment losbrechen wollenden Kinder in den geziemenden Schranken hielten.

Nach langer erwartungsvoller Pause ging endlich die Tür auf. Das heißt, der »Satan« Johann und einer seiner Leidensgefährten rissen mit sanfter Gewalt auf einen einzigen Ruck die beiden Flügel derselben auf, und in dem offenen Raume wurde die in ihrem klösterlichen Gewande erscheinende Baronin sichtbar, von ihrem treuen und mit der »rechten Stärke« begabten Führer geleitet, der ihren schwachen Fuß nicht straucheln ließ.

Die Augen niedergeschlagen haltend, das gelbliche Gesicht in die mildesten Falten gelegt, trat die Dame vom Hause hinter ihren Stuhl, neben sie der Kaplan, der nur einen Blick nach hinten warf, ob auch die Tür wieder geschlossen und die Diener Zeugen der sogleich beginnenden frommen Handlung wären.

Als er sich davon überzeugt, trat er an den Tisch, beugte seine Knie, was die ganze Familie mit einziger Ausnahme Bodos ihm nachtat, und nun sprach oder murmelte er ein kurzes Gebet mit so weinerlichem und zerknirschtem Tone, daß der Gast fast kein Wort davon verstand.

Kaum aber waren die letzten Töne dieses Gebetes in den Höhen des Speisezimmers verhallt, so rückte ein jeder, mit Ausnahme der Baronin und ihres Beichtvaters, denen die Diener ihre Stühle erst zurück und dann vorschoben, seinen Stuhl, und der Baron rief im Gegensatz zu dem vorherigen Flüsterton des Betenden mit einer wahren Donnerstimme:

»Nehmen Sie Platz! Gesegnete Mahlzeit! Trinken Sie Weißen oder Roten?«

Es entstand eine Pause, die Bodo beinahe mit lautem Gelächter ausgefüllt hätte, so spaßhaft kam ihm der ganze Vor- und schnelle Übergang vor. Aber die vorwurfsvolle Miene der Baronin, womit sie ihren Mann ansah, zügelte ihn, worauf sie sogleich in einem Tone sagte, der einem Schulknaben gegenüber sehr passend gewesen wäre: »Willst du nicht deine Pflicht als Wirt erfüllen und die beiden Herren einander vorstellen?«

»Ah,« rief der Baron halb in Verzweiflung, »verzeihen Sie, meine Herren. Herr Legationsrat von Sellhausen, unser teurer Vetter, und Herr Kattengold, unser Kaplan! Bitte, aber nehmen Sie Platz! Johann, zum Teufel, wo bleibt die Suppe?«

Dieser unglückselige Ausruf rief zwei neue Auftritte hervor. Die Kinder brachen in ein jauchzendes Gelächter aus, welches Bonne und Hofmeister vergebens zu stillen versuchten, und der Kaplan und die Baronin warfen dem Hausherrn einen Blick zu, der so viel besagte als: »Na! Du bist ein verlorener Mann! Du kannst nächsten Sonntag nicht absolviert werden! In solcher Gesellschaft, an solchem Tage, in solcher feierlichen Minute vom Teufel zu sprechen – o!«

Der Baron schien auch selbst zu fühlen, was er verbrochen. Er sank zerknirscht auf seinen Stuhl und stopfte sich den Mund so voll mit Brot, daß sein hageres Gesicht wie geschwollen aussah.

Unterdessen aber war die Suppe hereingebracht und wurde herumgereicht. Zuerst erhielt die Baronin, dann der Kaplan, dann erst der Gast seinen Anteil. Bodo, sonst so ernst und gefaßt, konnte diesmal auf keine Weise ein stilles Lächeln unterdrücken, was zufällig der Kaplan bemerkte und sich herausnahm, es mit sehr verständlichem Naserümpfen zu tadeln.

In solchen Dingen aber verstand der Legationsrat keinen Spaß, und er wollte dem jungen Priester sofort eine Lehre geben, daß er mit Männern von wirklicher Bildung sich ein solches präceptorartiges Mienenspiel nicht erlauben dürfe. Er legte daher seinen Löffel nieder, hielt den noch immer warnend auf ihn gerichteten Blick des Kaplans fest und sah ihn dann so durchdringend und mit einem so fühlbaren Nachdruck an, daß der fromme Herr rasch die Augen niederschlug und sie auch so bald nicht wieder erhob.

Das tiefste Schweigen herrschte nun wieder bei Tisch, während die Suppe genossen wurde, und auch eine lange Zeit nachher noch. Derselbe Bann, unter welchem die ganze Gesellschaft mit ergebungsvoller Duldung lag, beherrschte auch Bodo, jedoch nur mit seinem eigenen Willen, denn er sah nicht ein, warum er hier allein sprechen sollte, wenn kein anderer sich der Mühe der Unterhaltung unterzog. Um so aufmerksamer aber beobachtete er die Vorgänge bei Tische, und ihn dauerten die Kinder am meisten, denen man fast kein Wort vergönnte. Sobald ein Knabe irgend etwas sagen wollte, flüsterte der blasse Hofmeister sein peremtorisches »Pst!«, und sobald ein Mädchen nur die Miene machte, den Mund aufzutun, hauchte die schon gesättigt erscheinende Bonne – denn sie aß fast gar nichts – ihr leises »Still!«, welches wie ein matter Seufzer durch das gleich einer leeren Kirche stille Gemach zitterte.

Am seltsamsten aber erschien ihm das stumme Geberdenspiel des Kaplans mit sämtlichen Familienmitgliedern, namentlich mit den Kindern. Er dressierte sie förmlich auf verhimmelnde, süße und fromme Blicke, schlug dann und wann rasch ein Kreuz gegen irgend jemand hin, was ihm derselbe dann sogleich wie zum Gegengruße nachmachte, und so hielt er alle in Aufmerksamkeit und Aufregung, nur den Baron nicht, der, um seinen mahnenden Blicken zu entgehen, das Gesicht meist vor sich niedergebeugt hielt, immerzu Brotschnitte aß und dann und wann hastig das Gesicht seines Gastes prüfte, wenn letzteres geschehen konnte, ohne daß es von dem ihn beobachtenden frommen Paare bemerkt wurde. Die lange Gesprächspause, die Bodo auf keine Weise unterbrechen wollte, da er die Worte nicht finden konnte, die für diesen Kreis die allein passenden waren, fing an, etwas drückend zu werden, als die Baronin dieselbe Bemerkung zu machen schien, und plötzlich mit einer krampfhaften Anstrengung zu ihrem Mann sagte:

»Mein lieber Ambrosius, Herr von Sellhausen wird morgen nach dem Kolkhof und übermorgen nach der Grotenburg fahren

»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich reiten, wie heute,« versetzte Bodo, da er zu bemerken glaubte, daß die Dame auf das Wort fahren einen besonderen Nachdruck gelegt hatte.

»Sie waren wohl gestern auch schon auf der Grotenburg?« ließ sich nun der Baron vernehmen, um doch irgend etwas zu sagen.

»Nein. Übermorgen werde ich zum ersten Mal das Glück haben, den Herrn Baron zu begrüßen,« erwiderte Bodo.

Der Baron starrte seinen Gast an, als ob er in einer unverständlichen Sprache zu ihm gesprochen habe.

»Ja, ja,« rief die Baronin in einer Art konvulsivischer Nervenaufregung, »denke dir doch, Ambrosius, Herr von Sellhausen ist noch gar nicht auf der Grotenburg gewesen!«

Diesem Ausruf, als hätte ihm eine elektrische Wirkung innegewohnt, folgte eine wunderbare Szene. Alle, die am Tische versammelt waren, mit einziger Ausnahme der Kinder, blickten sich geheimnisvoll, fast ängstlich an, und sogar die blasse Bonne und der hektische Hofmeister gaben die unzweideutigsten Zeichen der höchsten Verwunderung zu erkennen, ein Beweis, daß das zwischen Bodo von Sellhausen und der Familie Grotenburg obwaltende Verhältnis auf eine unverantwortliche und höchst indiskrete Weise aller Welt preisgegeben sei.

Bodo, der gerade etwas aß, ließ sich nicht im geringsten stören, und nachdem er nur eine Weile das offenbare Kreuzfeuer der verschiedenen Blicke beobachtet, sah er still vor sich hin, da ihm die Fortsetzung des begonnenen Gesprächs sicherlich nicht angenehm sein konnte.

Es entstand daher abermals eine Pause, die endlich der geistreiche Kaplan dadurch unterbrach, daß er irgend etwas Unbedeutendes von einer seiner Reisen erwähnte.

Bodo war eben mit dem Essen fertig und legte die Gabel nieder, wobei sein Blick auf die Baronin fiel, die ihr Auge voll Interesse auf den soeben Redenden gerichtet hielt. »Herr Kattengold ist sehr weit gereist!« sagte sie dann mit Bedeutung zu ihrem Gaste.

»Ich glaube es wohl,« lautete die Antwort, »wo ist der Herr denn schon gewesen?«

»In Dresden, München und namentlich in den Rheinprovinzen,« erwiderte die Baronin, die sich freuen mochte, ihre glorreiche Stütze auf irgend eine Weise glänzen zu lassen.

»Nun, dann ist unser Herr Vetter doch noch etwas weiter gewesen!« konnte sich der Baron nicht enthalten, laut über den Tisch zu rufen.

Kaum war das Wort von seinen Lippen entflohen, so fühlte er auch schon, daß er zu weit gegangen, und senkte den Kopf demütig nieder, denn die Baronin hatte einen flammenden Blick auf ihn geworfen und verwunderungsvoll das Madonnenhaupt geschüttelt.

Die nun abermals entstehende Pause versuchte Bodo mit Verzehrung der ihm eben dargereichten Speisen zu füllen, indem er fand, daß alles, was man auf den Tisch brachte, leidlich zubereitete war; nur »der Weiße«, von dem er nur genippt, war so sauer, daß er mit Vergnügen das Glas unangerührt vor sich stehen ließ, was ihm um so leichter wurde, da niemand weder zum Essen noch zum Trinken nötigte. Das auf den Tischen und in den Wandschränken ausgestellte Porzellan aber, die bunten Gläser, das Silberzeug, wurden nicht angerührt, und außer den drei Gerichten, die auf die Tafel kamen, war alles übrige nur zur Schau, zur Bewunderung der invaliden Schätze und des Reichtums eines »so kostbaren Familieninventars« in das Licht des Tages gerückt.

Plötzlich räusperte sich die Baronin, gerade als man zum Dessert gekommen war, welches aus selbstgebackenem Honigkuchen und überjährigen Nüssen bestand.

»Mein lieber Herr von Sellhausen,« sagte sie mit einer viel sanfteren Stimme als vorher, »verzeihen Sie mir noch eine Frage, die mir schon seit dem Augenblick auf dem Herzen liegt, wo ich Sie in mein Zimmer treten sah. Ich höre, Sie sind weit in der Welt herumgekommen und mit Heiden und Christen aller Länder in Verkehr getreten. Ach – Sie glauben nicht,« fügte sie mit einem schmelzenden Aufblick zur Decke des Zimmers hinzu, – »wie nahe die nun kommende Frage mich persönlich berührt: haben Sie auch über den reichlichen weltlichen Mammon, den Sie überall in sich aufgenommen, nicht ganz das Heil Ihrer unsterblichen Seele vergessen?«

Der Kaplan nickte auf diese wie aus den Wolken gefallene Frage etwas ungestüm Beifall und warf dann einen herausfordernden Blick auf den Legationsrat, da dieser eine Minute schwieg, bevor er seine Antwort vernehmen ließ.

Kaum aber hatte der Kaplan diesen Blick abgeschleudert, so hatte ihn auch schon das Falkenauge Bodos erfasst und, sich höflich vor der Baronin neigend, als wolle er noch einen Augenblick um Entschuldigung bitten, sagte er zum Kaplan mit einer so ruhigen, aber auch so ehern festen Stimme, daß seine Worte gerade dadurch den schneidendsten Eindruck hervorbrachten: »Haben Sie, Herr Kaplan, der Frage der Frau Baronin noch ein erläuterndes Beiwort hinzuzufügen, da Sie mich so bedeutungsvoll ansehen?«

Der Kaplan, tief getroffen von dem Stachel dieses unverbesserlichen Weltkindes, senkte demütig den Kopf und sagte salbungsvoll: »Ich erwarte nur Ihre Antwort auf die Frage der gnädigen Frau Baronin.«

»Frau Baronin,« sagte nun Bodo lächelnd zu dieser, indem er sich abermals verbeugte, »ich werde Ihnen diese Frage beantworten, wenn wir einmal allein und ungestört sein sollten, denn schon mein erster Religionslehrer, der wackere Pfarrer in Breitingen, hat mir in der frühesten Jugend die Lehre gegeben, niemals in größerer und mir fremder Gesellschaft über Religionssachen, am wenigsten über solche zu sprechen, die das Gewissen des einen oder andern der Anwesenden berühren könnten. Sie also, Herr Kaplan, werden etwas lange auf diese Antwort warten müssen.«

Die Baronin errötete, so sehr ihr gelbliches, blutloses Gesicht es vermochte, und um dem unerquicklichen Gespräche sogleich ein Ende zu machen, rückte sie ihren Stuhl, den der schon lange darauf harrende Johann ergriff und fortzog, und stand auf. Alle Anwesenden, gewiß herzensfroh, sich einmal willkürlich bewegen zu können, folgten dem Beispiel der Wirtin auf der Stelle, und nun beugten der Kaplan und seine Glaubensgenossen wieder das Knie, und das Dankgebet ward wie vorher unverständlich gemurmelt, worauf sämtliche Hausmitglieder ein kräftiges »Amen!« hören ließen.

»Wo trinken wir heute den Kaffee?« fragte der Baron mit triumphierender Stimme, sobald das Amen die frommen Lippen verlassen hatte.

Aber niemand antwortete ihm, was ihn durchaus nicht zu verletzen schien. Der Hofmeister und die Bonne verbeugten sich vor den Anwesenden und führten dann ihre kleine bleiche Herde in ihre Zimmer zurück, die Baronin gab dem Kaplan den Arm, und Bodo schloß sich dem Baron an, der geduldig und zufrieden dem vorangehenden Paare folgte.

Dasselbe schlug den Weg nach dem trüben Betzimmer der Baronin ein, wo man den Kaffee in einer großen silbernen Maschine schon aufgetragen fand. Hier nahm man irgendwo Platz, die Baronin servierte selbst mit stillen Höflichkeitsgeberden den Kaffee, im ganzen aber blieb es jetzt ebenso still, wie es vorher beim Essen gewesen war. Vergebens bemühte sich der Baron, irgend ein allgemeines Gespräch in Gang zu bringen, allein da alle mehr oder weniger über dies oder jenes verstimmt waren, blieb seine Bemühung umsonst.

»Wie wäre es,« fragte er da plötzlich, als wolle er sich mit einem Gewaltstreich aus der unangenehmen Lage befreien, »wenn wir gleich alle, wie wir hier sind, nach der Grotenburg führen? Was meinen Sie dazu, lieber Vetter, der Tag ist noch lang, und wir dürften eine ebenso große Freude daselbst bereiten, wie wir selbst eine recht hübsche Zerstreuung haben werden?«

»Ich für meine Person muß für diese Zerstreuung danken,« erwiderte Bodo, »so sehr sie auch Ihrem Geschmack entsprechen mag. Indessen habe ich schon fast zu lange gezögert, meine Rückkehr anzutreten, denn mich rufen Geschäfte nach Hause, die ich nicht umgehen kann.«

Bei diesen Worten heiterte sich zum ersten Mal das Gesicht des Kaplans auf. Er gab der Baronin einen Wink, den diese wie immer verstand, und so sagte sie, dem Legationsrat die zweite Tasse Kaffee darreichend: »Das kann ich nur loben, Herr von Sellhausen. Geschäfte gehen immer dem Vergnügen vor. Auch bei uns geht die Arbeit – vor allem das Gebet – über jedes Vergnügen, selbst über das, welches Sie uns heute bereitet haben: einen lieben Verwandten bei uns zu sehen!«

Der Baron war brummend an ein Fenster getreten, und Bodo trank ruhig seinen Kaffee aus. Wenige Minuten später aber verabschiedete er sich auf eine so ungezwungene Art, als wären nur die süßesten Worte und die unschuldigsten Blicke zwischen der Gesellschaft gewechselt worden. Der Baron begleitete ihn bis auf den Hof, wo Johann schon auf den früher ihm bekannt gemachten Wunsch des Gastes den Braunen gesattelt bereit hielt, und fünf Minuten später sah man von den oberen Fenstern aus mit einer Befriedigung ohne gleichen diesen Mann abreiten, dem man monatelang mit dem brennendsten Verlangen entgegengesehen hatte, nicht etwa, weil er den von ihm gehegten Erwartungen nicht entsprochen, sondern weil man instinktmäßig, einer wie alle, fühlte, daß man keineswegs einen günstigen Eindruck auf ihn gemacht und daß er der Mann nicht sei, dem es in einem Hause gefallen könne, wo Bigotterie, geschminkte Armut, toter Prunk und kalte Herzen ihren Thron aufgeschlagen hatten und der böseste Teufel der Welt regierte, trotzdem man den Namen Gottes jeden Augenblick im Munde führte.

Ende des ersten Teils.


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