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Viertes Kapitel.
Ein zerbrochener Wagen bringt unerwartete Gäste ins Haus.

Der Frühling war dieses Jahr frühzeitiger, als es sonst in diesen gebirgigen Gegenden zu geschehen pflegt, mit aller Macht und Pracht angebrochen. Noch einmal so schnell und munter rauschte der entfesselte Fluß von Berg zu Meer, in seinen hellschimmernden Wogen die roten Felsen, den knospenden Wald und den lichtblauen Himmel wiederspiegelnd; die Felder hatten sich mit saftigem Grün bedeckt, und die Lerchen jubelten in den warmen, von leuchtenden Sonnenstrahlen durchzitterten Lüften. Fast alle Bäume hatten sich schon in ihr hellgrünes sommerliches Gewand gehüllt, auf den Wiesen weit und breit prangte ein unabsehbarer Blumenteppich, und die Insekten schwirrten und summten lustig von Berg zu Tal, von Wald zu Busch, um die erste süße Nahrung aus den Kelchen der duftenden Blüten zu rauben.

Bodo war ein treuer Beobachter von jedem Vorgang in der erwachten Natur; jeden Fortschritt erspähte er von Morgen zu Morgen, jede Blume, möchte man sagen, begrüßte er, wenn sie aus dem duftigen Boden aufsproßte, und so genoß er mit vollen Zügen das reinste Glück des Menschen, die Natur im Großen und Kleinen zu belauschen, dem wunderbaren Übergang aus ihrem Schlummer zum Erwachen, zum Leben, zur ewig rätselhaften Tätigkeit beizuwohnen. Seine Herzenswonne dabei war aber um so größer und inniger, weil er dergleichen lange nicht genossen, und überhaupt seit der längst verschwundenen Jugendzeit seine Tage kaum in solcher Ruhe und Harmlosigkeit verbracht hatte. Seine ganze Seele jauchzte im Stillen darüber, und er empfand eine Art Wollust, wie nur der gute Mensch sie empfindet, wenn er alles um sich her gedeihen und wachsen sieht und mit dem sich alle Stunden verjüngenden All selbst wieder jung, heiter und glücklich wird.

Am Morgen des Tages nun, an welchem er sein Versprechen ausführen wollte, begab er sich zeitig in den Garten hinter dem Hause, wo der alte Gärtner schon längst auf den einzelnen Terrassen seine Tätigkeit entfaltet, die Blumenbeete gereinigt, die Wege geharkt und die Rasenflecke geschnitten und gewalzt hatte. Nach dem wohltuenden warmen Regen am verflossenen Abend prangte alles in neuester und frischester Blüte, und ein wonnevoller Duft strömte von den Wiesen herüber und zu dem wolkenlosen klaren Himmel auf.

Der alles und jedes betrachtende und genießende Spaziergänger schlug den Weg nach einem seiner Lieblingsplätze ein, der auf der obersten Terrasse lag und allerdings in seiner Art ein anziehender Aufenthaltsort war. Man nannte ihn den Lindensaal. Etwa ein halbes Hundert hochstämmiger uralter Lindenbäume, wunderbar schön gewachsen, seltsam regelmäßig mit nach oben laufenden Ästen verzweigt und schon jetzt ziemlich belaubt, schlossen einen viereckigen Platz von bedeutender Räumlichkeit ein, zu dem nur ein Eingang führte, dem ein kleinerer Ausgang auf der entgegengesetzten Seite entsprach. Nach der Gartenseite hin waren fensterartige Ausschnitte in den Zweigen angebracht, und von hier aus hatte man den Überblick über die unteren Terrassen fort, auf das grünschimmernde, weite, lachende Wesertal. Die alten Kronen der Linden aber wuchsen in der Höhe dicht zusammen, so daß, wenn sie erst ihre ganze Blätterfülle entfaltet, das Licht des Himmels sich vergebens bemühte, den Eintritt zu gewinnen, und selbst der brausende Wind, wenn er von außen dagegen fuhr, vermochte nur mit leisem Rauschen durch die lebenden Wände zu dringen. Tausende von zwitschernden Vögeln allerlei Art bevölkerten diesen natürlichen Dom, der in jeder Ecke, gleichsam zur Andacht in der unverfälschten Natur einladend, eine bequeme Bank bot und dem müden Spaziergänger balsamische Kühle und wohltuende Ruhe zufächelte.

Hier an diesem Orte hatte schon Bodos Vater gern und oft geweilt, und auch sein Sohn fühlte sich lebhaft dahin gezogen, so oft er die Heimat besuchte und ihre bescheidenen Genüsse in Anspruch nahm.

Bodo saß eine Weile auf einer der am tiefsten beschatteten Bänke, denn es war bereits am frühen Morgen sehr heiß, und man begehrte schon allmählich der erfrischenden Kühle, die hier aus erster Hand zu haben war. Er horchte auf den Sang der kleinen Bewohner des stillen Ortes, sog mit Wollust die von den Wiesen heraufsteigenden Wohlgerüche ein und gab sich unbewußt einer ihm sonst nicht eigentümlichen Träumerei hin, die an solchem bezaubernden Orte das empfindungsvolle Menschenherz so leicht besucht, wenn man das Ohr dem Summen und Weben der tausendstimmigen Natur leiht.

Aus dieser Träumerei aber wurde er durch den Verwalter aufgescheucht, der ihn hier aufsuchte, weil er schon, wie alle Gutsbewohner, den Lieblingsplatz seines jungen Herrn kannte. Als er ihn erblickte, lüftete er den Sommerhut und bot mit seiner frischen Stimme dem Herrn einen guten Morgen.

»Nun,« sagte Bodo, das Auge schnell zu dem ausdrucksvollen Gesicht des Mannes erhebend, »Sie bringen etwas Neues, und nach Ihrer behaglichen Miene zu schließen, ist es auch etwas Gutes.«

»Beides, Herr Legationsrat, ja, Neues und hoffentlich auch Gutes, wenigstens haben Sie ja schon lange genug auf diese Nachricht gewartet. Mit einem Wort, soeben hörte ich durch meinen Boten, den ich nach der Stadt geschickt, daß der Justizrat Möller vor einigen Tagen von seiner langen Reise zurückgekehrt ist. Der Bote ist in seinem Geschäftszimmer gewesen, und der Justizrat hat ihn gefragt, ob Sie schon auf dem Gute eingetroffen wären.«

Bodo sprang von seinem Sitze auf und schlug sogleich mit dem Verwalter den Weg nach dem Hause ein. »Ja, lieber Hinz,« sagte er, »diese Nachricht ist gut, und sie kommt zur rechten Zeit. Ich wollte heute nachmittag nach Allerdissen hinüber, und nun kann ich zwei Fliegen mit einem Schlage treffen. Lassen Sie also meinen Braunen um zwei Uhr satteln, ich werde vom Meier meinen Weg gleich nach der Stadt fortsetzen und Herrn Möller besuchen. Brav!«

Der Legationsrat schien durch diese Mitteilung sehr erfreut zu sein, wenigstens berichtete er sie, als er ins Haus zurückkam, Fräulein Treuhold mit heiterer Miene und bat sie, heute mittag nicht viel Umstände mit dem Essen zu machen, da er keine Zeit zum langen Tafeln habe.

»Das hat seine Richtigkeit,« erwiderte das Fräulein, »ich weiß überhaupt nicht, wie Sie es einrichten wollen, bis Abend wieder zurück zu sein. Wenn Sie um halb drei Uhr beim Meier sind und nur zwei Stunden verweilen – so viel Zeit werden Sie ihm doch schenken – haben Sie noch beinahe drei Meilen bis zur Stadt und drei gute Meilen wieder zurück. Wie lange wollen Sie denn da beim Herrn Justizrat bleiben, gesetzt, daß Sie ihn gleich treffen?«

»Liebe Treuhold, Sie sind eine praktische Frau, das hat auch seine Richtigkeit. Nun, Sie haben es jedenfalls zu verantworten, wenn ich mir das Umherstreifen und Ausbleiben angewöhne. So packen Sie denn in Gottes Namen einige Wäsche in meinen kleinen Mantelsack und lassen Sie ihn dem Braunen auflegen, er wird ja wohl uns beide tragen können?«

»Was, Sie wollen eine Nacht ausbleiben?« rief die Oberwirtschafterin ganz beklommen. »Wo werden Sie denn schlafen?«

»Im Gasthof, liebe Freundin, daran bin ich, dächte ich, hinreichend gewöhnt. Und unter uns gesagt, ich habe viel Wichtiges mit dem Justizrat zu sprechen, und wer weiß, ob ich überhaupt in zwei Tagen fertig werde.«

Letzteres mit lächelndem Munde sprechend, wollte er die verwunderte Dame verlassen, als sie ihn freundlich aufhielt und sagte: »Aber wo gehen Sie denn jetzt schon wieder hin? Wollen Sie nicht ein kleines Frühstück einnehmen?«

»Nein, nein, heute nicht, wir wollen lieber früh essen. Ich habe heute weder zum Speisen, noch zur Arbeit Lust, so verlockend ist die Natur draußen, und ich will einmal mein Waldhorn aus seinem Kasten befreien und versuchen, was ich noch darauf leisten kann. Das Echo muß sich vom Wasser aus an den Felsen dort prächtig ausnehmen, und es wird Zeit, daß ich Berg und Tal meine herrische Stimme hören lasse.«

Er nickte fast schelmisch zurück, was ein Beweis seiner guten Laune war, und stieg munter die Treppe hinan. Bald darauf kam er mit einem sehr kleinen, reich verzierten Waldhorn im Arme zurück, ging auf dem kürzesten Wege nach dem Fluß hinab, schloß einen Nachen los, legte Ruder hinein und ließ sich dann von der Strömung die Weser hinab nach den gegenüberliegenden Bergen treiben. Wenige Minuten erst hatte er das Haus verlassen, da hörte man schon wunderbar schöne und tiefe Töne vom Tale nach der Höhe herauf schallen und die Felsen drüben gaben den Klang in seltsam treuer Weise zurück, so daß, wer Ohren zu hören hatte, über die zauberisch klingenden Töne verwundert aufhorchte, wie sie in diesem stillen und abgelegenen Tale noch von niemandem waren vernommen worden.

*

Der einsame Musiker war etwa um neun Uhr aus dem Hause gegangen, und um elf stieg er schon wieder, überaus befriedigt von seiner neuen Unterhaltung, nach dem Garten herauf. Langsam erklomm er die steilen Parkwege und Treppen, warf, oben angekommen, noch einen Blick in den Lindensaal und wollte sich eben der Pforte zuwenden, als er aufmerksam horchend mitten auf seinem Wege stehen blieb. Es war ihm, als ob er über die Mauer herüber, die den Hof vom Parke neben dem Herrenhause trennte, fremde oder wenigstens laute Stimmen vernommen hätte, und bald darauf gewann er die Ueberzeugung, daß er sich nicht getäuscht habe.

»Was mag denn geschehen sein?« fragte er sich, indem seine Miene ihren gewöhnlichen Ernst annahm. »Man ruft sich ja so ängstlich zu?«

Rasch war er in das Haus eingetreten, durch den Korridor nach dem Hofe geeilt, aber auf diesem Wege hatte er niemand getroffen, der ihm nähere Auskunft hätte geben können. Als er jedoch vor die Hoftür trat, erblickte er einen fremden eleganten Wagen, Brake genannt, nach der neuesten Mode hochräderig und höchst geschmacklos gebaut, der mit gebrochener Deichsel soeben von einigen Knechten und Heuerlingen nach dem Schmied gefahren werden sollte, der in der Nähe wohnte. Die Pferde, die ihn zogen, waren nicht mehr sichtbar und wahrscheinlich schon in den Stall abgeführt.

In diesem Augenblick kam der Verwalter mit dunkelrotem Gesicht und mit hastigen Armbewegungen zu einem Knechte redend aus dem Pferdestalle, und da er seinen Herrn auf der Rampe stehen sah, ging er rasch auf ihn zu, schon von weitem Geberden machend, die etwas Ernstliches vermuten ließen.

»Was gibts denn?« fragte die weithin tönende Stimme des Hausherrn – »Ist ein Unglück geschehen?«

Der Verwalter kam näher, zog den Hut und sagte mit sichtlich verstörter Miene: »Ach ja, leider, Herr Legationsrat, obgleich es noch schlimmer hätte werden können. Zwei Damen, die in dem albernen Fuhrwerk da ohne Kutscher spazieren gefahren, haben die jungen Pferde nicht halten können. Sie sind natürlich durchgegangen, die Deichsel ist zerbrochen, und die eine Dame ist töricht genug gewesen, von ihrem hohen Sitze herabzuspringen und hat sich dabei den Kopf etwas zerstoßen.«

»Zwei Damen?« fragte Bodo, bedauernd den Kopf schüttelnd, aber mit so großer Spannung, daß man eine düstere Blutwelle in seine Stirn steigen sah. »Wer sind sie denn – kennen Sie sie nicht?«

Herr Hinz trat näher an seinen Herrn heran und sagte leise: »Es ist die Frau Baronin von Grotenburg und die Baroneß, ihre Tochter. Man hat die junge Dame in ein Zimmer da oben getragen – sie war ohnmächtig – und die Mutter ist außer sich vor Schreck und Schmerz, daß das gerade hier geschehen, was, meiner Meinung nach, doch noch ein Glück ist. Fräulein Treuhold ist bei ihnen, und ich habe schon vor einer halben Stunde einen reitenden Boten zum Doktor Rüter nach der Stadt geschickt.«

Bodo sah und hörte nach dieser Mitteilung im ersten Augenblick nichts um sich her. In seinen Ohren machte sich ein dumpfes Sausen bemerklich, und sein vorher so rotes Gesicht nahm eine auffallend bleiche Färbung an. Er verließ den Verwalter und stieg langsam die Treppe hinauf, um in sein Zimmer zu gelangen, und da über den seltsamen Unfall ruhig nachzudenken. Es dauerte auch nicht lange, so hatte er sich gefaßt und ging wieder hinunter, um irgend eine der Mägde oder am liebsten Fräulein Treuhold zu sprechen.

Auf der Treppe begegnete ihm Rieke, die einen Eimer mit Eis hinauftrug und vor Eifer und Schreck fast die Besinnung verloren hatte. Als sie ihren Herrn plötzlich vor sich stehen sah, setzte sie den Eimer nieder, schlug die Hände zusammen und rief: »Gott, o Gott, gnädiger Herr, sind Sie denn da? Das ist ein wahres Glück! Wir wissen alle nicht, was wir tun sollen, und die Frau Baronin macht uns mit ihrem Geschrei ganz konfus. Sie hat schon zweimal nach Ihnen gefragt.«

»Will sie mich denn sprechen?«

»Ach ja, gewiß möchte sie das wohl, und vielleicht können Sie ihr einen Trost geben.«

»So geh hinauf,« sagte Bodo mit seinem ruhigsten Tone, »und sage ihr, daß ich gekommen bin. Ich werde unten in Fräulein Treuholds Zimmer zu finden sein.«

Aber er sollte hier etwas lange auf das Erscheinen der verzweifelten Frau Baronin warten, denn soeben kam Doktor Rüter im Galopp auf den Hof geritten, dem der Bote zufällig unterwegs begegnet war. Bodo ging ihm entgegen, berichtete, was er mußte, und der verständige Arzt, der in der ganzen Gegend das größte Vertrauen genoß, sprang hurtig die Treppe hinan, das Versprechen hinterlassend, Herrn von Sellhausen sogleich zu rufen, wenn seine Hilfe etwa nötig sein sollte.

Allein diese Hilfe schien nicht durchaus nötig zu sein, denn weder kam der Arzt selbst, noch sandte er einen Boten, um Bodo zu benachrichtigen, und dieser blieb eine lange halbe Stunde seinen eigenen Gedanken überlassen.

Benutzen wir diese Zeit, einen Blick auf die Baronin zu werfen, damit der Leser doch weiß, wen er sich unter dieser Dame vorzustellen hat.

Amalie von Grotenburg war die Schwestertochter der Frau Witwe Birkenfeld. Während diese, die älteste von zwei verwaisten und besitzlosen Schwestern, höchst bescheidenen und anspruchslosen Sinnes, in frühester Jugend den unbemittelten Kaufmann Birkenfeld aus Liebe heiratete, glaubte sich die jüngere Schwester für etwas Höheres geschaffen und reichte einem adligen Domänenpächter ihre Hand, dessen größter Reichtum, wie er sich selbst oft scherzweise ausgedrückt hatte, in einem großen Vorrat unleserlicher Familiendokumente und einem riesengroßen Stammbaum bestand. Als nun Amalie, die Tochter dieser beiden, die mehr in den verblichenen Dokumenten ihres Vaters, als in der nagelneu gebliebenen Bibel ihrer Mutter studierte, unter sehr mißlichen Verhältnissen heranwuchs, gewann sie allmählich dadurch an Ansehen, daß sie die Nichte des reich gewordenen und immer reicher werdenden Birkenfeld war, und man versprach sich in ihrem Besitz einst goldene Berge, die wenigstens noch in der Einbildung vieler Menschen existieren.

Diese Einbildung besaß auch im höchsten Grade der Baron von Grotenburg, obgleich er schon die Erfahrung von vierzig Sommern hatte, und Gott war ihm ebenso gnädig wie Fräulein Amalie, und er führte sie als Gemahlin in sein altes, verfallenes Schloß, welches ihm ihre künftigen Schätze einst neu erbauen helfen sollten. Bis jetzt war das freilich noch nicht geschehen, aber es wurde noch mit ebenso großer Sehnsucht, als mit nicht minderer Gewißheit von der Familie der Grotenburgs erwartet.

Herr Birkenfeld war zwar gestorben, ohne seiner vornehmen Nichte auch nur den kleinsten goldenen Hügel, nicht einmal eine goldene Stecknadel vermacht zu haben, indessen hatte seine Universalerbin, die jetzige Witwe Birkenfeld, gewiß den »stillen« Befehl erhalten, nach ihrem Tode – der ja nicht lange mehr auf sich warten lassen konnte – den Grotenburgs den größten Teil ihrer Habe zu hinterlassen, da ja sonst nur sogenannte »lachende« Erben vorhanden waren.

Auf diesem Punkte, den wir wohl festzuhalten bitten, standen die Grotenburgschen Verhältnisse im gegenwärtigen Zeitpunkt.

Was die Person der »gnädigen« Frau Baronin anbelangt, so gehörte sie zu den Frauen, die man unter dem sogenannten »hohen Adel« leider nicht gar selten finden kann, wenn man Augen dafür hat. In der Jugend sehr mangelhaft unterrichtet, von Hause aus anmaßend und hochfahrend erzogen und im höheren Alter nach keinem Grade geistiger Bildung trachtend, hatte sie das Menschenleben für zu erbärmlich gehalten, um daraus gute Lehren zu schöpfen, denn ihr Haus und ihre Familie war fast das Einzige, was sie jemals gesehen und kennen gelernt hatte.

Zu den bisher angedeuteten negativen Eigenschaften kamen aber noch einige positive und nicht zu verachtende Tugenden. Sie wußte zum Beispiel die kostbarsten Kleider, Schmucksachen und Möbel sehr billig zu kaufen, das heißt, es war ihr ganz einerlei, wer dieselben dermaleinst bezahlen würde. Ferner verstand sie es aus dem Grunde, die Miene einer reichen Fürstin anzunehmen, obwohl sie nur die Frau eines Landedelmannes war, dem von seinem »Güterkomplex« fast kein einziger Baum mehr gehörte. Endlich aber hatte sie sich darauf eingeübt, eine Sprache zu reden, die nur die vornehmsten Leute verstanden, da es für solche Frau »von Stande« durchaus keine Aufgabe war, sich ihren dummen Bedienten durch das Wort verständlich zu machen. Daher »befahl« sie ihre Wünsche nur durch bedeutungsvolle Winke und Geberden, wobei das Rümpfen ihres hervorragendsten Gesichtsteiles eine ungemein große Rolle spielte, obwohl sie auch die sogenannte Augensprache der vornehmen Welt verstand, das heißt, mit halb zugekniffenen Augen und nur durch den Schleier ihrer Wimpern die dumme gemeine Welt zu betrachten, wodurch dieselbe ohne Zweifel viel weniger widerwärtig und »ordinär« erscheinen mag.

Doch auch von ihrer äußeren »halbgöttlichen« Erscheinung müssen wir eine kurze Beschreibung liefern. Man denke sich eine sehr magere, sehr lange und sehr steif einherschreitende Dame, die von Natur ein sehr gelbes, aber durch die »göttliche« Kunst sehr blühendes Gesicht hat. Ihre Augen, starr wie das Glas, durch welches sie allein Menschen und Gegenstände betrachtet, besitzen die eigentümliche Fähigkeit, »distinguierte Menschen« auf tausend Schritt, alle übrigen aber selbst in der nächsten Nähe nicht zu erkennen. Ihre Nase, obgleich sie etwas zu klein und dick geraten war, besaß dennoch einen sehr feinen aristokratischen Geruch, und ihre Zähne – doch wer wird von den Zähnen einer Dame sprechen, wenn sie eigentlich keine mehr hat, uneigentlich aber die schönsten »Perlen« von der Welt besitzt.

Fügen wir nun noch hinzu, daß die Frau Baronin von Grotenburg ein geschmeidiges, liebenswürdiges und glattes Wesen gegen ihresgleichen, aber ein sehr eisiges, starres gegen Leute anzunehmen verstand, die »unter ihrem Horizont« vegetierten, so haben wir eine Dame gezeichnet, wie wir sie gewiß nicht gern schildern, wie wir sie aber leider schildern müssen, wenn wir die Wahrheit sagen und der Mit- und Nachwelt den Spiegel vorhalten wollen, in dem sich das Konterfei des in allen Regionen wuchernden Zeitgeistes malt, mag es nun häßlich oder schön, anziehend oder abstoßend erscheinen. –

Diese Dame nun erwartete Bodo von Sellhausen, eine Dame, der er sich, wenn er vollkommen freier Herr seiner Entschließungen gewesen wäre, nie genähert haben würde, deren verhängnisvolle Bekanntschaft zu erneuern aber leider der letzte Wille seines Vaters ihm aufgebürdet hatte. Wie er sie jetzt empfangen und wie er sich ihr gegenüber im ersten Augenblick verhalten würde, darüber hatte er sich keinen Plan gemacht, das überließ er dem Moment selber, diesem so großen Helfershelfer in jeder kritischen Lage, und der Moment sollte ihm auch hier hülfreich sein und ihm alsbald die Richtung anweisen, die er allein unter den obwaltenden Umständen verfolgen konnte.

Die Stubenmagd Rieke war es, die von der Baronin abgeschickt ward, um ihm die Annäherung ihrer Person zu melden.

»Führe die Dame herein, ich erwarte sie,« erwiderte unser Freund, indem er von seinem Sitze aufstand und ein paar Schritte nach der Tür tat. Er wollte diese soeben öffnen, da rauschte wie eine Windsbraut, in ein weitbauschiges Morgenkleid von hellfarbigem Piké gehüllt, eine Dame herein, deren fünfundvierzigjähriges Gesicht in diesem Augenblick durch Erregung und Gott weiß welche Gefühle um zehn Jahre jünger aussah. Der Unfall, der sie vor kurzer Zeit betroffen, war noch an ihrer Toilette wie in ihrem ganzen Wesen wahrzunehmen. Ihre blonden Haare, in schweren Flechten um Stirn und Schläfe liegend, befanden sich in ungewöhnlicher, aber nichtsdestoweniger höchst zierlicher Unordnung, ihr feines um den Hals geschlungenes Battisttuch hing mit den reich gestickten Zipfeln schief nach einer Seite hin, und ihre dick beringten, sonst »alabasternen« Finger waren ganz rot von verzweiflungsvollem Händeringen. Dabei war ihre Stimme, als sie sie gleich erhob, scharf und näselnd, und ihre magere Brust keuchte unter der Wucht der »furchtbaren Leiden«, die sie auszustehen hatte.

»O mein Gott,« schrie sie fast, sobald sie Bodos ansichtig ward, »so also müssen wir uns wiedersehen, Herr von Sellhausen? Wer hätte das gedacht! Was wird mein armer Mann sagen – unser einziges Kind, unsre teure, liebe, edle Tochter, unsre heldenmütige Clotilde!« Und sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und fiel wie ohnmächtig auf Fräulein Treuholds Sofa nieder.

»Frau Baronin,« sagte Bodo und trat auf die halb gebrochene Dame zu – »fassen Sie sich. Einem Unglück muß man, wenn es einmal da ist, mit Ruhe begegnen, und ich hoffe, daß Ihre Besorgnis, wenn auch gerechtfertigt, doch größer ist, als die Lage der Sache erheischt. Was hat Doktor Rüter gesagt?«

»Was hat er gesagt, was hat er gesagt!« stöhnte die Dame. »O, was kann ein solcher Mensch überhaupt sagen, er, der nicht das Gefühl einer Mutter, o, einer sehr unglücklichen Mutter hat!«

Bodo blickte sie, als sie dies mehr mit Bitterkeit als mit Scherz sagte, unglaublich ruhig an, denn in ihm war mit einem Mal, er wußte nicht wie und wodurch, alle Besorgnis geschwunden, und sein vorher klopfendes Herz fing so gleichmäßig an zu schlagen, wie es an diesem schönen Morgen in der friedlichsten Stille der Natur getan.

»Bitte, Frau Baronin,« entgegnete er, »fassen Sie sich. Erzählen Sie lieber zuerst, wie der Unfall sich zugetragen und wer ihn verschuldet hat.«

Die Baronin richtete sich aus ihrer »hingegossenen« Lage auf, setzte sich vornehm auf dem Sofa zurecht, zupfte ihre Schleife gerade und sagte:

»Ja, ich muß mich besinnen, ach – meine Sinne sind ganz zerrüttet – aber wir fuhren durch die Felder, ohne Arges zu denken, und plauderten gemütlich über – ja, ich glaube – über Ihre Äcker. Clotilde führte die Zügel, was sie so gern tut. Da flogen plötzlich – Ihre Tauben vom Felde auf. Die Pferde erschraken – sie machen eine kurze Wendung nach dem Schlosse – sie gehen durch und – die Deichsel bricht – ach! eine ganz neue Deichsel. Clotilde, sonst so mutig, so wacker, so göttlich wacker, verliert die Zügel – und ich schreie aus Leibeskräften – aber sie scheint mich nicht zu hören – sie springt von dem hohen Wagen und fällt, ach! das arme Kind – mit ihrem reizenden Lockenkopf gegen die harte – ja, gegen die harte Mauer Ihres Torwegs. Durch mein Geschrei herbeigerufen, haben einige Leute sie halbtot in Ihr Schloß getragen und ich – ich unglückliche Mutter – bitte Sie jetzt um Verzeihung, daß ich Ihre – Ihre philosophische Ruhe auf diese Weise unterbrochen habe.«

Dies alles wurde mit einem theatralischen Pathos und einem karrikierten Geberdenspiel vorgetragen, als ob es sich weniger um ein Unglück, als einen klüglich angelegten tragischen Effekt handelte.

Die Wirkung davon blieb auch nicht aus. Anstatt aber den anfangs merklich teilnehmenden Legationsrat zu erwärmen, erkältete ihn der Vortrag, und er erwiderte mit mehr ernster als trauriger Miene: »Frau Baronin, Ihre letzte Bemerkung bekümmert mich fast. Es bedarf Ihrer Entschuldigung durchaus nicht, und es ist nur natürlich, daß Sie in diesem Hause Ihre Zuflucht gesucht haben. Ich bedaure aufrichtig Ihren Unfall, aber er wird hoffentlich keine üblen Folgen haben.«

Diese mit klarem Tone und ungemein ruhig gesprochenen Worte wurden fast ohne sein Zutun gegen das Ende hin kälter und kälter, allein er konnte sich diesmal nicht bezwingen, anders zu erscheinen, als er fühlte, so unangenehm berührte ihn die künstliche und offenbare Übertreibung des Schmerzes dieser Frau. Sein sicheres, festes Wesen imponierte der Baronin auch außerordentlich, und je länger sie sein edles Antlitz betrachtete und den Ausdruck seiner leuchtenden und geistreichen Augen studierte, umsomehr ließ sie den zur Gewohnheit gewordenen Hochmut sinken, um so natürlicher, also auch um so liebenswürdiger wurde sie, wenngleich die letztere Eigenschaft nur in sehr dürftigem Maße bei ihr zum Durchbruch kam.

Während Bodo noch sprach, und er sprach sehr langsam, verriet ihr ihr weiblicher Instinkt, daß dieser Mann kein gewöhnlicher Mensch, daß sein Beifall nicht so leicht und gleichsam auf den ersten Wurf zu erlangen sei, daß es vielmehr großer Mühe und eines klugen Vogelstellers bedürfen werde, diesen seltenen Vogel einzufangen. »Er ist ein Diplomat!« sagte sie sich, wie man sich oft mit Blitzesschnelle selbst ein Wort zuraunt. »Gut, so wollen wir es auch sein!« Und zur rechten Zeit, bisweilen wenigstens, diplomatisch zu verfahren, ist eine Fähigkeit, mit welcher viele Töchter Evas zur Welt gekommen sind.

»Üble Folgen!« sagte sie laut, ihre beiden Hände halb verzweiflungsvoll gegen die Stirn pressend und dadurch den Blick ihrer Augen dem scharfen Beobachter entziehend, »wer kann das versichern! O, wenn Sie wüßten, welche Zärtlichkeit mein armer Mann – der noch nichts Schlimmes ahnt – und ich für dieses liebe ätherische Wesen empfinden, wie ihre Existenz all' unser Lebensglück ausmacht – o dann! Aber ach!«

»Ich glaube es wohl, ich kann es mir wenigstens lebhaft denken,« erwiderte Bodo ohne jeden Anflug von Ironie, »aber sagen Sie mir, was hat der Arzt gesagt? Das ist jetzt eine Hauptsache.«

»Ach, der Mann hat kein Gefühl, er weiß nicht, was ein Mutterherz wie das meine bei solchem Anlaß empfindet. Was hat er gesagt? Er kommt, er betrachtet – befühlt – betastet sie – o Gott, wie mir das durch's Herz ging – diese zarte Blume – und nachdem er ihr Augenlid emporgehoben, ihren Puls befragt und Gott weiß was getan – zuckt er die Achseln, so, gleichsam mitleidig – lächelt ganz impertinent und entrüstet mich mit dem Ausspruch: Es wird nichts zu bedeuten haben. Lassen Sie ihr – ihr! der Tölpel! – nur Ruhe, absolute Ruhe – das ist die Hauptsache, wenn ich auch das Eis – ich hatte es selbst verordnet – nicht tadeln mag. – Das war alles, was der kluge Mensch gesagt und getan hat.«

Bodo schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Er wird wohl im ersten Augenblick nichts anderes sagen und tun können. Aber mich tröstet sein Ausspruch, Frau Baronin. Sagen Sie mir jetzt, kann ich Ihnen vielleicht mit irgend etwas dienen?«

»Mein lieber Herr Vetter!« brachte die Baronin plötzlich mit sanfterer Stimme und mit einem naiven Lächeln hervor – »Sie sind zu gütig! O wie glücklich hat es sich getroffen, daß Sie gerade zu Hause waren, oder wenigstens gleich kamen. Aber nein, ich weiß nicht, was ich von Ihnen erbitten möchte. Vor der Hand ist alles geschehen, die Frauen bedienen sie gut – nur erlauben Sie, daß wir in Ihrem Hause bleiben dürfen, da Klotilde – die süße Klotilde auf keine Weise transportiert werden darf. Das hat der Doktor auch noch gesagt, ich erinnere mich jetzt.«

»Bleiben Sie, gnädige Frau, so lange es nötig ist, in diesem Hause, und so lange es Ihnen darin behagt.«

»Aber es wird Sie stören – Sie sind so sehr an Stille gewöhnt –«

»Nicht im geringsten wird es mich stören – ich will –«

»O nein, o nein, wollen Sie nichts! Jetzt nicht. Gönnen Sie nur meinem armen Kinde Ruhe – absolute Ruhe – das hat mir Rüter auf die Seele gebunden.«

»Was an mir liegt, Frau Baronin, so soll diese Ruhe auf keine Weise unterbrochen werden, und damit dies in absolutester Form geschehe, werde ich heute nachmittag selbst das Haus verlassen. Dann sind Sie gänzlich ungestört und ungeniert. Auch brauche ich wohl nicht hinzuzufügen, daß Ihnen hier alles, was Sie bedürfen, zu Gebote steht. Fräulein Treuhold wird dafür sorgen, und ich werde es ihr noch ganz besonders ans Herz legen, daß es geschieht.«

»Wie? Sie wollen uns verlassen in unserer Not?« rief die Baronin, fast aus der Rolle fallend, mit einer Art Staunen, das ganz außer ihrer Berechnung lag.

»In Ihrer Not nicht, meine gnädige Frau,« erwiderte der Legationsrat mit diplomatischem Lächeln, »aber um Ihrer Tochter »absolute« Ruhe zu gönnen. Überdies, ich wollte es schon vorher bemerken, muß ich unter allen Umständen heute mittag fortreiten, mich rufen Geschäfte ab – aber das ist in der Tat nicht die Hauptsache, Frau Baronin, hier handelt es sich ganz allein um Ruhe – absolute Ruhe – o, wer unterbricht uns da?«

Die letzten Worte wurden nach der Tür hin gesprochen, wo sich soeben ein lautes Klopfen hatte vernehmen lassen, und auf den Hereinruf öffnete sich die Tür rasch und das gerötete und mit Schweiß bedeckte Gesicht des guten Doktors Rüter wurde darin sichtbar.

»Kommen Sie näher, immer näher!« rief Bodo, sobald er seiner ansichtig wurde, vielleicht froh, daß das unerquickliche Zwiegespräch mit der Baronin durch ihn gestört wurde. »Nun – was bringen Sie uns?«

Der Arzt öffnete schon den Mund, um zu antworten, aber er mußte ihn unverrichteter Sache wieder schließen, denn die Baronin schnitt ihm das Wort ab und sagte in einem herben, vorwurfsvollen Tone:

»Wie, mein Herr, Sie verlassen die Baroneß, ehe ich wieder bei ihr bin? Das muß ich rügen. Ich habe Sie zu meinem Beistand hierher bescheiden lassen, aber nicht um meinen Wünschen entgegenzuhandeln.«

Der gutmütige Arzt, im ersten Augenblick über diese Anrede halb verdutzt, sah die gebieterisch Redende groß an, dann fing er an zu lächeln, und indem er sich kurz verbeugte, erwiderte er: »Meine gnädige Frau! Wenn Sie einen besseren Beistand erwarteten, als ich ihn leisten kann, so haben Sie sich an den unrechten Mann gewandt. Meine Meinung habe ich Ihnen schon oben gesagt. Alles Notwendige bei der jungen Dame ist geschehen und mehr kann ich beim besten Willen nicht tun.«

»Nein, Sie können es freilich nicht, das sehe ich. Aber Sie beurteilen den vorliegenden Fall nicht richtig – Sie nehmen ihn sehr leicht – aber freilich,« dabei zuckte sie verächtlich die Achseln und warf dem Legationsrat, als wäre er mit ihr im Einverständnis, einen selbstgefälligen Blick zu – »in Ihrer Praxis mag Ihnen dergleichen noch nicht vorgekommen sein und Ihre Erfahrung reicht für diesen schweren Fall nicht aus.«

Jetzt wurde der sonst so ruhige Arzt warm. »Gnädige Frau,« sagte er lebhaft, »auch Sie beurteilen mich falsch und gerade so, wie Sie es verstehen. Meine Erfahrungen, wissen Sie, vermehren sich jeden Tag, selbst diesen Augenblick habe ich eine sehr schätzenswerte gemacht. Nun gut, ich werde sie verwerten. Wenn ich jedoch, Ihrer Meinung nach, nicht ausreiche, den vorliegenden schweren Fall zu beurteilen, so wenden Sie sich gefälligst an einen andern Arzt, der mehr oder auf die Art Erfahrungen besitzt, wie Sie von ihm verlangen.«

»Das werde ich, Sie kommen meinen Absichten vollständig entgegen und ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen; Herr von Sellhausen – ich hoffe Sie bald wiederzusehen.« Und mit einer vornehmen Kopfschwenkung gegen den Arzt und einem süßen verbindlichen Lächeln gegen Bodo, rauschte sie aus dem Zimmer, während dieser sich höflich verbeugte und dann die Dame schweigend über den Korridor nach der Treppe begleitete.

Als er zurückkehrte, fand er den wieder ruhig gewordenen Arzt mit untergeschlagenen Armen mitten im Zimmer stehen. Beide Männer blickten sich eine Weile an, ohne ein Wort zu sprechen, dann fing der Legationsrat auf eine bedeutsame Art zu lächeln an, während der Arzt ungeniert ein lautes Lachen vernehmen ließ.

»Der Tausend!« rief letzterer, seine Stirn mit einem seidenen Tuche trocknend. »Man sollte sich eigentlich ärgern und doch ist es mir zum Lachen. Nun, wenn alle Patienten so beschaffen wären, wie die da oben, und mich alle Mütter wegen ihrer Töchter plagen wollten, wie diese, dann möchte ich lieber der kleinste Heuerling auf Ihrem Gute, als Arzt sein, Herr von Sellhausen. Aber ich kenne diese Herrschaften schon – es sind eben die Grotenburgs! Alles, was sie betrifft, ist wichtig und bedeutungsvoll, der Hauch wird ein Sturm und die Mücke ein Elefant. Herr Gott, was muß ein Mann in meinen Verhältnissen alles erleben und was muß er sich um das liebe Brot gefallen lassen?«

Der gute Doktor ließ sich bei diesen Worten, die ihm aus tiefster Seele hervordrangen, auf einen Stuhl am Fenster nieder und starrte, in seine Gedanken verloren, unmutig auf den Hof hinaus.

»Beruhigen Sie sich,« erwiderte Bodo fast sanft, »es war vielleicht nicht so böse gemeint und Sie haben doch noch andere, einsichtsvollere und dankbarere Patienten. Sagen Sie mir lieber, wie steht es mit der Kranken und was werden wir wirklich zu befürchten haben?«

»Zu befürchten, Herr von Sellhausen? Mit einem Wort – gar nichts!«

»Wie? Ist denn die Verletzung so unerheblich?«

»Verletzung? Ich weiß ja von keiner. Die Deichsel mag allerdings gebrochen und aus dem Wagen mag die junge Dame gesprungen sein – und das ist gewiß nicht ihr tollster Sprung im Leben gewesen – aber mit dem Kopf gegen Ihre Mauer gefallen, wie die Baronin behauptet, das ist sie gewiß nicht. Auch nicht die geringste Spur einer Beschädigung ist am ganzen Körper zu finden, und wenn die Ohnmacht keine »gemachte« war, so war sie allein die Folge des Schrecks, den sie überstanden. Aber daran sterben so junge, kräftige Menschen nicht, selbst wenn sie die feinen Nerven einer Baroneß von Grotenburg haben.«

Bodo atmete tief aus, gleichsam beruhigt, und doch schien ihn noch ein anderes Gefühl dabei zu bedrücken. Er ging eine Weile im Zimmer langsam hin und her, dann näherte er sich dem Arzt, der sich schon zum Fortgehen rüstete, und sagte: »Ich werde also meine Geschäftsreise ruhig antreten können, wie?«

»So ruhig, als ob die Deichsel des Wagens nicht gebrochen und der kühne Sprung nicht geschehen wäre, Herr von Sellhausen – ich bürge dafür.«

»Sie werden aber doch morgen wiederkommen und nach Ihrer Patientin sehen?«

»Wenn Sie es wünschen, ja, sonst kehrte ich lieber heute als morgen der Baronin den Rücken. Aber dergleichen ist schon oft vorgefallen und immer wieder führt mich das Schicksal mit ihr zusammen, bis einer von der Familie mal wirklich den Hals brechen wird, so oder so. – Jetzt aber will ich mich empfehlen, Herr von Sellhausen. Leben Sie wohl. Reisen Sie glücklich und besorgen Sie nichts. Noch einmal, ich bürge dafür.«

Bodo geleitete den gemütlichen Arzt vor die Tür, wo sein Pferd schon von einem Knechte gehalten wurde. Leicht schwang sich der rüstige Mann auf und trabte mit wahrer Herzenswonne von dannen, nachdem er noch einen bezeichnenden Blick nach den oberen Fenstern emporgeworfen und dabei einen Seufzer ausgestoßen hatte. Bodo sah ihm nach, bis er hinter dem Hoftore verschwunden war, dann kehrte er in das Haus zurück, suchte sein Zimmer auf, legte zusammen, was er auf die kurze Reise mitnehmen wollte, und ging wieder ins Speisezimmer hinab, da es bereits ein Uhr geworden war.

Hier brauchte er nicht lange auf Gesellschaft zu warten. Er fand den Tisch gedeckt, die Kuverts aufgelegt, nur Fräulein Treuhold, der Verwalter und die Speisen fehlten. Da ging die Tür auf und erstere trat mit hochrotem Gesicht und abgespannter Miene herein. Man sah ihr an, daß sie nicht nur eine große Gemütsbewegung erlitten, sondern auch rüstig, bis zur Erschöpfung, hier und da Hand angelegt habe. Bodo betrachtete sie eine Weile schweigsam, denn die alte Dame verhielt sich merkwürdig still und erhob nicht einmal das Gesicht zu ihrem jungen Herrn, den sie gleichwohl bei ihrem Eintritt mit einer tieferen Verbeugung als gewöhnlich begrüßt hatte.

»Nun,« sagte Bodo endlich, einigermaßen verwundert, »Sie sprechen kein Wort und haben nicht einmal einen Blick für mich?«

Fräulein Treuhold, die sich bis dahin am Tische irgend etwas zu schaffen gemacht, erhob ihren Kopf und sah den Fragenden mit einem ungewissen, fast wehmütig erscheinenden Blick an. »Sie müssen mir verzeihen, Herr Legationsrat,« erwiderte sie so freundlich wie sonst, »daß ich so still und gedankenlos bin, aber mein Kopf ist etwas konfus und meine alten Beine zittern mir fast vor Ermüdung.«

»O, das tut mir leid. Aber so setzen Sie sich doch und ruhen Sie sich. So. Ich setze mich auch. Und nun wollen wir vernünftig miteinander sprechen. – Wir haben ein großes Unglück heute in unserm Hause erlebt, wie?«

Die alte Dame schnellte beinahe aus ihrem stillen Verhalten auf und erhob mit verwunderungsvollem Blick ihr blitzendes Auge. »Ein Unglück?« fragte sie. »Daß ich nicht wüßte! Aber freilich – wie man es nehmen will.«

»Sprechen Sie deutlich, Liebe, ich verstehe Sie am Ende gar nicht mehr. Das Leben der jungen Dame ist also nicht bedroht?«

Jetzt lächelte das Fräulein auf seine alte Weise. »Nein, Herr Legationsrat,« sagte sie rasch, »das befürchte ich gar nicht.«

»O, Sie trauen dem Ausspruch des Arztes und beurteilen die Kranke nicht mit den Gefühlen einer Mutter?«

»Keins von beiden, gnädiger Herr, und das ist auch gar nicht nötig, wenn man sich auf seine eigenen Augen und sein eigenes Urteil verlassen kann.«

»Wie meinen Sie das?«

Fräulein Treuhold schwieg wieder und Bodo mußte sie noch einmal bitten zu sprechen und ihre wahre Meinung ohne Hehl zu äußern. »Herr Legationsrat,« sagte sie plötzlich mit energischem Ausdruck, als würden alle Schleusen ihres innersten Gefühls auf einmal aufgezogen, »ich muß mich recht über Sie wundern. Sie verzeihen. Aber Sie sind ein Diplomat und durchschauen diese ganze Komödie nicht einmal? Ei, ich habe Ihre Kunst nicht studiert, aber ein klein wenig verstehe ich sie doch. Fräulein Klotilde liegt allerdings oben in einem unsrer besten Zimmer, auf weichstem Lager und hat einen Eisumschlag über dem Kopf; aber schaden wird ihr der gewagte Sprung nichts, dafür stehe ich Ihnen.«

»Auch Sie stehen dafür?«

»Ja, denn ich habe mich überzeugt, daß sie bei vollkommen guter Besinnung ist und weiß, was sie tut und läßt. Eben so gut wie sie und ihre Mutter wußte, warum sie so nahe an unser Gut heranfuhren.«

»Warum denn?«

»O, mein lieber Herr Legationsrat, bedenken Sie doch! Wir sind am Ende des Maimonats und der August – der herrliche August ist vor der Tür. Bedenken Sie ferner, daß manche Menschen von der Natur mit größerer Ungeduld als Klugheit begabt sind, die sie nicht ruhen und den Verlauf der Dinge gemächlich abwarten läßt.«

»Fräulein Treuhold, was sagen Sie? Wie könnten jene Damen die Kenntnis haben, die Sie ihnen da unterlegen?«

»Ich sage, was ich denke, wenn ich auch nicht weiß, wie die Baronin zu jener Kenntnis gekommen ist. Sie brauchen mir aber nicht zu glauben, was ich sage. Doch halt, ich habe vergessen, daß ich mit einem Diplomaten zu tun habe, der alles besser weiß, als ich es ihm sagen kann, und der sich mitunter stellt, als durchschaue er den einfachsten Zusammenhang einer Sache nicht. Auch habe ich meinen früheren Entschluß gebrochen, Ihnen nichts über die Grotenburgs zu sagen, bis Sie sie gesehen haben.«

»Nein, nein, Sie haben ihn nicht gebrochen – ich habe sie ja gesehen – die Mutter wenigstens.«

»Nun, dann haben Sie das eigentliche Schwungrad aller Vorkommnisse in der ganzen Familie kennen gelernt.«

Hier wurde ihr Gespräch unterbrochen. Rieke brachte die Suppe, der Verwalter kam auch herbei und man speiste rasch, nur noch wenige Worte über den bedeutsamen Vorfall des Tages austauschend.

Der Verwalter entfernte sich wie gewöhnlich zuerst, nachdem ihn Bodo ersucht hatte, sein Pferd vorführen zu lassen. Darauf reichte er der alten Dame die Hand und sagte mit seinem gewöhnlichen ernsten Tone:

»Ich beklage zwar den heutigen Vorfall, der unsre stille Ruhe unterbrochen hat, aber von meiner Reise hält er mich nicht zurück, ja er treibt mich sogar schneller fort. Ich gehe also. Wie lange ich wegbleiben werde, weiß ich nicht, sicher aber so lange, bis Sie mir unter der Adresse des Justizrats Möller schreiben, daß das Haus von seinen jetzigen Gästen leer ist. Ich darf diese Damen hier nicht stören und es stimmt unter den Ihnen bekannten Umständen nicht mit meinem Gefühl überein, mit Fräulein Klotilde auf diese Weise auch nur wenige Stunden unter einem Dache zu sein. Sie kennen die Welt. So lange die Damen aber hier sind, wenden Sie alle Sorgfalt an, deren sie bedürfen. Leben Sie wohl und Gott erhalte Sie!«

Er drückte ihr warm die Hand, nahm Hut und Reitpeitsche und stieg auf seinen Braunen, der schon den bewußten kleinen Mantelsack trug. Hastiger als sonst ritt er von der Rampe ab und keinen einzigen Blick wendete er wie früher nach dem Hause zurück. Fräulein Treuhold aber blickte ihm mit hellleuchtendem Antlitz nach; ob aus wachsender Neigung zu ihm oder aus Freude, daß er gerade jetzt das Haus verlasse und außer dem Bereich der fremden Damen sei, wissen wir nicht. Vielleicht war von beidem etwas der Fall.


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