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Erstes Kapitel.
Gut und Familie Sellhausen.

Wie man erzählt, soll im vorigen Jahrhundert ein großer und geistreicher Fürst, bei Gelegenheit einer Reise durch die westfälischen Lande, den Ausspruch getan haben: »Wenn es wahr ist, daß der liebe Gott einst seinen Geist auf die Menschenkinder wie einen heilbringenden Regen ausgeschüttet habe, damit sie ihn auf ihre menschliche Weise benutzen und anwenden, so muß dieser Erdenwinkel sehr aus der Richtung des herabfallenden Geschenkes gelegen haben, denn die Bewohner desselben haben in Wahrheit sehr wenig davon abgekriegt.«

Selbst wenn dieser souveräne Ausspruch wirklich getan worden ist, wie ja so viele ähnliche Aussprüche zufälligen Umständen und Verhältnissen, vielleicht auch einer fürstlichen Laune ihr Dasein verdanken, so birgt er gewiß eine große Ungerechtigkeit oder eine sehr mangelhafte Anschauung, denn unsers Erachtens ist jene oben angedeutete göttliche Gabe, wenn man sie nur zu finden und zu erkennen versteht, gewiß ziemlich gleichmäßig auf die deutsche Erde gefallen, und nur zufällige Umstände oder glückliche große Ereignisse haben sie hier oder dort mit größeren oder geringeren Erfolgen zutage treten lassen.

Abgesehen aber von diesem geistigen Regengusse, hat Gott oder die Natur dem bezeichneten Erdenwinkel nicht minder herrliche Schätze verliehen als tausend anderen Punkten unsers Planeten, und gerade das Ländchen, welches wir in folgender Erzählung vor Augen haben, ist so reich mit Schönheiten und einer Fülle göttlicher Gaben aller Art gesegnet, wie sie nicht alle aufzuweisen haben, in denen die deutsche Zunge klingt.

Wer sich hiervon mit eigenen Augen überzeugen will, braucht nur geringe Mühe und Kosten darauf zu verwenden, denn jenes von uns gemeinte Land, das Land der roten Erde, welches ohne Zweifel zu Westfalen im weiteren Sinne gehört, hat nicht nur, wie alle Welt weiß, einen klassischen Boden aufzuweisen, auf dessen Marken ein gewaltiges Stück Weltgeschichte sich abgerollt hat, sondern es ist auch dem Auge so erfreulich geschaffen, daß, wer sich erst einmal daselbst eingebürgert hat, nur schwer davon scheiden kann und in der Erinnerung immer wieder gern dahin zurückkehrt.

Wie lieblich und ahnungsvoll, wenn man sich seinen Gauen nähert, ragen schon aus der Ferne die blauen Umrisse seiner bewaldeten Bergkuppen uns entgegen! Durch wie herrliche Täler und gartenähnliche üppige Felder rollen seine hurtigen Ströme! Wie mannigfach und bunt wechselt dort Fels und Schlucht, Wiese und Wald, wie malerisch liegen seine Dörfer und Höfe an murmelnden Bächen und Quellen ausgestreut, und endlich, wie fruchtbar dehnen sich die grünen Ebenen zwischen den mächtigen Höhenzügen, die ein gesitteter, kräftiger Menschenschlag bewohnt, der mit seiner Hände Arbeit und seiner Mühe Schweiß den alten Boden pflegt und Handel und Wandel auf tausend Wegen ebenso rastlos wie erfinderisch nach allen Gegenden Europas, ja jenseit der Wogen des großen Weltmeeres trägt!

Eigentümlich, ja, das dürfen wir ihnen nicht absprechen, zeigen sich uns die Bewohner jenes Landes, wie ja jedes Volk wohl charakteristische Züge aus seiner Vergangenheit bis auf den heutigen Tag bewahrt: jene urbiederen Menschen, physisch eben so kräftig wie willensstark und in ihren Anschauungen sich selbst getreu, sind allerdings langsam im Denken und Handeln, sie überlegen zweimal, ehe ihre Hand oder ihr Fuß sich zum Fortschritt anschickt, aber was sie anfassen und treiben, treiben und fassen sie ordentlich an, sicher schreiten sie ihrem Ziele entgegen, und was sie erreichen wollen und können, das erreichen sie gewiß, ohne prunkende Worte in die Welt zu schleudern und ohne sich, wie gewisse Leute an anderen Orten, im eigenen Lobe zu berauschen und als erhabene Musterbilder auf die Bühne der Welt zu stellen.

Einzelne Gegenden jenes gesegneten Landstrichs sind sogar so malerisch, einladend und verlockend schön, daß man sich mit Recht wundern muß, sie von Reisenden so wenig besucht zu finden. Wer gegen überfüllte Gasthöfe, aufdringliche Kellner und unverschämte Rechnungen einen Widerwillen hegt, pilgere getrost nach dem Lande der roten Erde, dort wird er sich viel weniger über dergleichen zu beklagen haben, und das ist unserer Meinung nach ein großer Vorzug, denn es dünkt uns gewiß kein beneidenswerter Genuß zu sein, die lieblichen Bilder der stillen Natur mit einem ganzen Haufen schwatzhafter Reisender zu betrachten, von denen nur wenige zu wissen scheinen, welche Erquickung das vernünftige Reisen bietet, und von denen die meisten wie ein wilder Heuschreckenschwarm nur deshalb dahin und dorthin flattern, weil so viele andere es tun, weil es für plebejisch gilt, das ganze Jahr zu Hause zu bleiben, und weil es doch eine ganz hübsche Sache ist, den in der Residenz zusammengetrödelten Putz den bewundernden Augen fremder Lustwandler zu zeigen.

Wenn man aber durch die grünen Schluchten des Teutoburger Waldes wandert und in die von mannshohen Halmen wogenden Felder hinabsteigt, welche meilenweit um die dichtbelaubten Höhenzüge desselben lagern, begegnet man nur selten einem Menschen, und die wenigsten von ihnen reden laut und eifrig miteinander, noch weniger lassen sie ihre Stimmen in Sang und Klang an den felsigen Berglehnen im Echo widerhallen. Am seltensten sieht man im tief dunklen Walde einen Arbeiter beschäftigt; in den Niederungen findet man sie schon häufiger ihre Äcker bestellen und mit schwerverständlichem Ausruf ihren starkknochigen Gaul antreiben. Alle, die dir begegnen, Leser, scheinen mehr zu sinnen und zu grübeln als zu denken, mehr zu ruhen als zu arbeiten, denn in der Arbeit sind die Bewohner jenes Landes wirklich so langsam, wie im Essen, obgleich sie in letzterem nicht gar Geringes zu leisten vermögen.

Unstreitig aber zählen die Länderstrecken mit zu den schönsten und malerischsten, welche die Weser durchströmt.

Nicht so gewaltig brausend, so reißend dahinströmend wie der mächtige Rheinstrom, aber immer breiter anschwellend, je länger sie durch das lachende Gefilde fließt, scheint sie allmählig und langsam ihre Kräfte zu sammeln, um, ihrem Ziele nahe, die hochbordigen Schiffe tragen zu können, die von Bremen aus ihren gefährlichen Weg durch alle Straßen der Weltmeere verfolgen. Lange bevor sie jedoch zu diesem wirklich bedeutenden Strome anwächst, spielt sie im vaterländischen Gebirge Versteckens, und anmutig in geschlängeltem Laufe dahineilend, rauscht sie bald an wunderlich gestalteten Felsen, bald an dunklen Wäldern vorüber, drängt sich hier durch ein engeres Tal, rollt dort langsamer zwischen saftigen Wiesen hin und biegt dann wieder mit geflügelter Hast um turmeshohe Klippen, auf diesem weiten Wege abwechselnd eine vermoderte Ruine, ein prachtvolles modernes Schloß, den bescheidenen Landsitz eines kleinen Barons oder endlich das bequeme Wohnhaus des reichen Landmannes begrüßend, denen allen sie sich dienstbar und willfährig erweist, indem sie dem einen mit ihrer majestätischen Kraft, dem andern mit ihrer befruchtenden Feuchtigkeit beim Betriebe ihrer Werkstätten und Wiesen hilft.

Einer dieser anmutigen Punkte nun ist es, dem wir in den folgenden Blättern unsere Aufmerksamkeit schenken wollen, und um denselben dem Leser genauer zu bezeichnen, dürfen wir sagen, daß er zu einem kleinen Fürstentum gehört, von dem, unzweifelhaft zu seinem Glück, in der politischen Welt nicht viel die Rede ist. Größtenteils ein gebirgiges Ländchen, umschließt es dennoch viel üppige Äcker, herrliche Waldungen, und zu seinen Bewohnern zählen sich reiche Landwirte, vor allem wohlhabende Bauern, zwischen deren uraltem Besitz hier und da ein Edelhof eingestreut ist, dessen Eigentümer zum Teil Gefallen daran finden, ihre Scholle fleißig zu bebauen und dem unaufhaltsamen Fortschritt des menschlichen Geistes Rechnung zu tragen, zum Teil aber auch das, was ihre tatkräftigen Vorfahren erwarben, so schnell wie möglich durch die Gurgel zu jagen, zumal es ihnen meist immer geglückt ist, ihrem schwindenden Besitz durch eine bedeutende Erbschaft aufzuhelfen oder den verblichenen Glanz ihres rostigen Familienwappens durch eine reiche Heirat wieder aufzufrischen.

Es ist das Gut Sellhausen, zu dem wir jetzt unsere Schritte richten. Wenn wir den Weg von Norden nach Süden einschlagen, um dahin zu gelangen, so fahren wir gemächlich auf einer breiten Chaussee, deren Ränder wohlgepflegte Obstbäume zieren, durch eine fruchtbare Ebene, die nur in weiter Ferne von blauen Bergzügen umkränzt wird. Langsam und gemütlich trotten die kräftigen Pferde mit ihrer leichten Last dahin, denn Eisenbahnen haben dies patriarchalische Ländchen noch nicht durchfurcht, was, wie bei uns, die einen nicht hoch genug preisen, die anderen nicht tief genug beklagen zu dürfen glauben. Indessen müssen wir, um nach dem Gute zu gelangen, von der Chaussee, die nach dem nächsten Städtchen führt, abweichen und einen gut erhaltenen Landweg nach Osten einschlagen. Zwischen grünenden Saatfeldern hindurch, die fast nichts als üppigen Weizen oder goldigblühenden Raps tragen und schon dem Gutsherrn auf Sellhausen gehören, erreichen wir einen zwischen Weiden fortlaufenden Knüppeldamm, an dessen Seite ein munteres Bächlein rieselt, und dann wieder südlich uns wendend, fahren wir auf ein weißgetünchtes steinernes Tor zu, welches die Einfahrt in den von einer Mauer umgürteten ungeheuren Hofraum vermittelt. Allmählich hebt sich derselbe von hier aus in die Höhe, ist rings von fast neuen massiven Scheunen und Ställen umgeben, zeigt in der Mitte einen von großen Rasenflächen umschlossenen Teich, den Schwäne und Enten bevölkern, und geht endlich in einen parkartigen, mit bunten Blumenbeeten besäeten Vorgarten über, der sich bis an den Fuß der breiten Rampe erstreckt, auf der sich, weniger stolz als gefällig, weniger prachtvoll als wohnlich, das stattliche Herrenhaus erhebt, dem einige Nachbarn nicht mit Unrecht den Namen »Schloß« beigelegt haben.

Dieses Schloß selbst liegt auf der Fläche eines Felsenrückens, der früher ein befestigtes Kastell mit Mauern und Gräben trug, und blickt südlich in das weite Wesertal, nordwärts aber über die ganze Besitzung des Herrn von Sellhausen hin. Die südliche Front und was unter und jenseit derselben liegt, bleibt somit dem Ankommenden verborgen, und wir beabsichtigen auch den Leser erst später einen Einblick in dasselbe zu gewähren; die dem Fremden zugekehrte Nordseite dagegen zeigt Stockwerke über einem tiefen Erdgeschoß, jedes mit neun hohen Fenstern, von welchen aber gegenwärtig nur zwei, dicht neben der breiten Glastür, zu welcher mächtige Stufen von Sandstein führen, einen Einblick in das Innere gestatten, denn alle übrigen sind dicht durch weiße Vorhänge geschlossen, was uns beweist, daß die Zimmer zur Zeit nicht bewohnt und in ruhiger Erwartung dessen sind, der sie beleben und mit lange nicht gesehenen Gästen füllen soll.

Wie der Augenschein lehrt, ist dieser schöne und begehrenswerte Herrensitz erst vor wenigen Jahren neu erbaut, ebenso die ihn umringenden Hofgebäude; der Baumeister aber hat demselben keine künstlich altertümliche Gestalt und keine auffällig architektonische Zierde verliehen, dagegen das Innere höchst bequem eingerichtet, wie es Neigung und Wunsch des verständigen Bauherrn ihm zur Zeit an die Hand gab.

Auf diesen Bauherrn und seine Familie müssen wir jetzt einen schärferen Blick werfen.

Was zunächst das Geschlecht der Sellhausen betrifft, so war dasselbe noch nicht Jahrhunderte lang auf dem gleichnamigen Gute ansässig, überhaupt noch gar nicht alt, wenn man das Alter eines Geschlechts von dem Rechte desselben her datieren will, die drei kleinen magischen Buchstaben vor seinem Namen führen zu dürfen; im übrigen aber glauben wir, daß das Sellhausensche Geschlecht ebenso alt war wie das der ältesten ahnenstolzen Edelleute in seiner Nachbarschaft. Desgleichen waren den letzten Mitgliedern desselben eben so wenig die Verhältnisse wie die Verdienste ihrer Vorfahren bekannt, was umso weniger für uns von Bedeutung ist, da sie selbst keinen Wert auf dergleichen meist fabelhafte Traditionen legten. Wir begnügen uns vielmehr zu wissen, daß das Gut Sellhausen einst von einem reichen Handelsherrn angekauft und nach ihm benannt ward, daß es von dem Großvater des jetzigen Erbherrn zu einem Rittergute erhoben worden, und daß der Vater desselben die Baulichkeiten vor einigen Jahren erneuert hatte, nachdem er sich mit einer Baroneß von Grotenburg vermählt, die ihren Adel nicht für zu kostbar hielt, um ihre persönliche Stellung unter mehr oder minder verarmten Geschwistern nicht durch die Heirat mit einem reichen Manne, den dieselben durch ihre Verwandtschaft zu adeln beschlossen, etwas angenehmer und einflußreicher zu machen. So geschah es denn auch, daß der gute alte Sellhausen, der auf den »Hokuspokus des Adels«, wie er es nannte, anfangs sehr wenig gab, allmählich dahin gebracht wurde, sich in den Adelstand erheben zu lassen, ein Ereignis, welches die Grotenburgs und ihre Sippe überglücklich machte, da ein Abkömmling ihrer Familie ja nun das schon verloren geglaubte Privilegium der drei magischen Buchstaben wieder erobert hatte und noch dazu die lachende Aussicht gewonnen war, die aus dieser Verbindung hervorgehenden Sprößlinge einst in dem ganzen Besitz der Sellhausenschen Familie zu sehen, die man, wie dies sehr oft zu geschehen pflegt, für viel reicher hielt, als sie wirklich war.

Allein wie so viele überklug ausgedachte Berechnungen sich oft trügerisch erweisen, wenn das Geschick die Zählung der Summe in die Hand nimmt, so geschah es auch hier.

Als Herr Sellhausen seine Verbindung mit der Baroneß Grotenburg schloß, zählte er fünfunddreißig Jahre. Zwei Jahre später ward er durch den Einfluß und die Verwendung seiner Schwäger in den Adelstand erhoben. Kaum war dies frohe Ereignis ins Leben getreten, so starb seine Frau, ohne leider einem Erben das Dasein gegeben zu haben. Dieser unerwartete Todesfall erschütterte die Hoffnung der Grotenburgs gewaltig, indeß, da Herr von Sellhausen aus verschiedenen Gründen keine neue Ehe zu schließen versprach, auch keinen anderen Seitenverwandten besaß, so lag die Aussicht sehr nahe, daß sein Vermögen niemand als der Familie seiner »heißgeliebten« Gemahlin zufallen würde.

Allein auch diese Hoffnung sollte nicht lange standhalten, ja, durch ein neues unerwartetes Ereignis auf ewig zerstört werden. Herr von Sellhausen nämlich, wahrscheinlich vom übergroßen Kummer über den Verlust seiner vornehmen »ersten Liebe« aus der Heimat getrieben, trat eine mehrjährige Reise ins Ausland an, und als er endlich von derselben zurückkehrte, brachte er eine junge und überaus schöne Gattin heim, mit der er schon, allen unbewußt, seit anderthalb Jahren verbunden war, und die ihm bereits einen Erben in Gestalt eines reizenden Knaben geschenkt hatte.

Die Grotenburgs waren wie aus den Wolken gefallen, klagten den ungetreuen Schwager eines gemeinen Verrats und einer unnoblen Gesinnung an und schworen ihm insgesamt ewige Feindschaft, umso mehr, da die Herkunft der neuen Schwägerin in ein gewisses Dunkel gehüllt blieb, welches selbst die genauesten Nachforschungen nicht aufzuhellen vermochten. Allein die ewige Feindschaft erwies sich, wie manche andere Ewigkeit, als sehr schnell vorübergehend, wozu ohne Zweifel der humane, versöhnliche und echt ritterliche Sinn der Grotenburgs das meiste beigetragen, wenn man nicht die Ausgleichung der gegenseitigen Verstimmung einem abermaligen unglücklichen Zufall zuschreiben will.

Herr von Sellhausen lebte nämlich mit seiner jungen Gattin ungemein still und zurückgezogen, ja er stellte dieselbe nicht einmal seinen Verwandten offiziell vor, und nur zufällig lernten sie sie kennen, als man sich bei einem Besuche in der Nachbarschaft auf neutralem Boden traf. Aber auch von jetzt an fand kein näherer Verkehr zwischen den Grotenburgs und Herrn von Sellhausen statt, letzterer zog sich vielmehr noch auffallender vom Umgange mit den adligen Nachbarn zurück und neigte sich immer mehr einem alten Bekannten in der Nähe zu, der einer der reichsten und gebildetsten Landwirte in der ganzen Umgegend war und als solcher Achtung und Anerkennung von allen Seiten genoß, mit Ausnahme natürlich der Grotenburgs und ihrer Sippschaft, die den Freund des Schwagers, den Meier zu Allerdissen, für einen »ordinären Bauer« erklärten.

Aber nur kurze Zeit sollte Herrn von Sellhausen das Glück, diese jugendliche und schöne Gattin zu besitzen, beschieden sein. Wenige Monate, nachdem sie an seiner Seite auf dem Gute eingezogen, starb sie am Nervenfieber.

Sei es nun, daß der arme Mann, zum zweiten Mal in so jungen Jahren Witwer, von Herzenskummer tief gebeugt wurde, oder herrschte ein anderer unbekannter Grund vor, genug, er zog sich nun fast ganz von seinen Nachbarn zurück und nur der Meier zu Allerdissen und ein anderer Freund, dessen wir noch später gedenken werden, blieben fortan sein einziger Umgang. Erst in späteren Jahren lebte er gewissermaßen wieder auf, knüpfte hier und da alte Verbindungen an, und als ihn einst sein Schwager Grotenburg besuchte und ihn darauf aufmerksam machte, daß ihre alte Freundschaft ja eigentlich nur einen ganz kleinen Riß erlitten, der künftig durch eine Verbindung ihrer heranwachsenden Kinder vollkommen ausgebessert werden könnte, entschloß sich der Witwer sogar, die Grotenburgs wiederzusehen und in neuen Verkehr mit ihrer lebenslustigen Familie zu treten.

Von jetzt an wird dieser Verkehr nach und nach ein sehr lebhafter, das Vertrauen der Männer zu einander wuchs von Jahr zu Jahr, und zuletzt trat sogar ein sehr herzliches Verhältnis zwischen beiden ein, dessen Folgen eben den Stoff zu unserer Erzählung liefern werden.

Jahre über Jahre waren so nach jener letzten Versöhnung vergangen, die zwischen den altgewordenen Herren getroffenen Vereinbarungen hatten sich allmählich mehr und mehr befestigt und wurden zuletzt von beiden Seiten für sehr ersprießlich und unumstößlich gehalten. Die Grotenburgs mit ihrem weiteren Familienkreise waren die häufigsten Gäste auf Sellhausen, und da der alte Herr höchst gastfrei, überdies ein, gerade nicht mit großen Geistesgaben gesegneter, aber wackerer, gutmütiger Ehrenmann war, der sein Wort für unverbrüchlich hielt und dabei alles, was er besaß, gern anderen mitteilte, so galt das schöne Sellhausen gewissermaßen für den Mittelpunkt der Geselligkeit jener Gegend, und namentlich die Grotenburgs fühlten sich daselbst wie zu Hause, zumal sie das reizende Gut ja auch später für das Eigentum ihres einzigen Kindes halten durften.

Dieses gemütliche Leben aus Sellhausen wurde indessen ganz unerwartet durch einen abermaligen Todesfall unterbrochen und dadurch eine neue Ära für die ganze dabei beteiligte Familie herbeigeführt. Der alte Herr von Sellhausen starb an den Folgen einer Erkältung, die er sich auf der Jagd in den Wäldern der Grotenburg zugezogen, und nun stand das große Haus, in dem noch kurz vorher so viel Lust und Freude gewaltet, schweigsam und leer, denn außer den alten Dienern desselben lebte niemand darin, da der einzige Sohn und Erbe des Verstorbenen als Legationssekretär bei der b...schen Gesandtschaft in Athen stand.

Dieser Sohn nun, der Held unserer Erzählung ist es, auf den wir jetzt unser Augenmerk richten müssen, und kehren wir zu diesem Zwecke flüchtigen Schritts bis zu seinen Jugendjahren zurück, in denen mancherlei vorhanden ist, was unser Interesse für die Zukunft erweckt.

Wie sich von selbst versteht, hätte der Vater, als ein der Landwirtschaft vorzugsweise ergebener Mann, es am liebsten gesehen, wenn sein einziger Sohn in seine Fußtapfen getreten und sich mit ganzer Leidenschaft dem Landleben ergeben hätte, allein dazu schien von frühester Jugend an kein Keim in dem stillen Knaben zu liegen. Sein erster Lehrer, der Pastor des nächstgelegenen Dorfes, entdeckte sehr bald, worauf die Neigungen des strebsamen Kindes deuteten. Sobald Bodo lesen konnte, gab es für ihn keinen größeren Genuß, als den Inhalt seiner Bücher auswendig zu lernen und nun darüber hinaus weitere Nahrung für seinen schnell wachsenden Geist zu suchen. Von einem Hauslehrer wollte der praktische Gutsherr nichts wissen, »das gelehrte Zeug« der jetzigen Zeiten war ihm, wenn auch kein Greuel, doch ein unnützer Ballast, der für das Leben eines Landmannes nichts Ersprießliches bietet, und so sollte sein Sohn nur die nötige wissenschaftliche Ausbildung erhalten, um mit frisch gebliebenen Kräften und Sinnen sogleich werktätig in die große Wirtschaft zu treten und dann erst in reiferen Jahren sich auf irgend einer Ackerbauschule weiter ausbilden.

Der kenntnisreiche Prediger jedoch, der die Neigungen und Fähigkeiten seines Zöglings besser erkundet zu haben glaubte, wußte den gutmütigen Vater so lange mit »gelehrten Gründen« zu bearbeiten, bis derselbe, des ewigen Kampfes müde, seinen Forderungen entsprach und ihm den Sohn in sein Haus gab, um ihn lernen zu lassen, was er lernen könne und wolle.

Diese väterliche Entscheidung fand den vollkommensten Beifall des lernbegierigen Knaben: Bodo verließ ohne Zagen das väterliche Gut und zog mit Vergnügen in das stillere Pfarrhaus, wo er mit einem Genossen seines Alters den so notwendigen wissenschaftlichen Unterricht empfing.

Durch diesen ersten Schritt vom väterlichen Hause fort, war Zweck und Ziel des ganzen Lebens unseres Helden entschieden, und mit beispielloser Schnelligkeit von Stufe zu Stufe eilend, schwang er sich mit einer Geistesenergie und Ausdauer zu höherem Wissen empor, die den Landgeistlichen in staunende Verwunderung setzte.

Als aber Bodo das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte, trat eine Krisis in seinem Leben ein, denn nun handelte es sich um eine ernstere Fortsetzung des so emsig Begonnenen. Der Vater wollte seinen Sohn auf die Schule der nächsten kleinen Stadt bringen, wahrscheinlich um ihn stets unter den Augen zu behalten, der Pfarrer aber setzte sich heftig dagegen, und es gelang ihm endlich, seinen Zögling nach einer größeren Anstalt zu schaffen, die einen bedeutsameren Einfluß auf die künftige Ausbildung desselben zu üben geeignet war. Es wurde Schulpforta gewählt, und Bodo ging dahin ab, nachdem sein Vater sich mit mürrischem Gesicht darein gefunden und mit stillen Seufzern auf seine nun begrabene Lieblingsidee zurückgeblickt hatte.

In Schulpforta machte Bodo in kurzer Zeit sehr bemerkenswerte Fortschritte, und namentlich waren es die alten und neuen Sprachen, in denen er sich vor allen auszeichnete. Dabei entwickelte sich eine Gewandtheit und Fähigkeit, ohne alle Mühe sich in die verschiedensten Lagen des Lebens zu finden und mit Menschen jederlei Bildung zu verkehren, die seine Lehrer in Erstaunen setzte – der sechszehnjährige Knabe war nicht allein ein reifer Primaner, wie er sein soll und muß, wenn man große Hoffnungen von seiner Zukunft hegen will, sondern er war auch im Umgangstone und im Formenwesen des geselligen Verkehrs so weit fortgeschritten, daß er allen Kameraden darin als Muster vorgestellt werden konnte.

Den entschiedensten Einfluß auf sein ferneres Geschick und seine weitere spezielle Ausbildung aber übte eine Bekanntschaft aus, die in Schulpforta begann und im Laufe der Jahre bis zur innigsten Freundschaft gedieh. Bodo lernte daselbst einen ausländischen Grafensohn kennen, der sich in der fremden Gelehrtenschule unheimlich und verlassen fühlte und nur durch den Umgang mit dem gemütlichen und scharfsinnigen Junker aus Westfalen sein Los erträglich fand. Die beiden Knaben waren von Tertia an unzertrennlich, und da der junge Graf in dem neuen Freunde in jeder Beziehung eine Stütze und Ermunterung fand, so war seine Neigung zu demselben eine bei weitem zärtlichere als die Bodos, der, von Jugend an selbständiger und charakterstärker als jener, den festesten Halt in sich selbst zu finden fähig war.

Als einst eine lange Ferienzeit eintrat, erhielt Bodo von Hause her die Erlaubnis, seinen Freund nach dessen Heimat zu begleiten, und so kam der junge Westfale nach M..., wo er in der Familie des alten Grafen und in weiteren Kreisen, deren Bekanntschaft er demselben verdankte, eine ganz neue und ihn wunderbar ergreifende Welt kennen lernte.

Der Herr Graf, Minister und Diplomat vom reinsten Wasser, sah sehr bald ein, daß sein Sohn, der zu derselben Laufbahn bestimmt war, in Bodo eine bedeutsame Akquisition gemacht habe, und daß er einen solchen Gefährten auf den Irrwegen des Lebens zehnfach benutzen und verwenden könne; aus diesem Grunde begünstigte er in seinem egoistischen Sinne auf jede Weise die Freundschaft der Knaben, die schon so groß war, daß sie kaum noch eines neuen Stachels bedurfte.

Seit diesem ersten Besuche ward es zur Regel, daß Bodo seinem Pylades nach M... folgte, und nur einmal begleitete dieser ihn nach Sellhausen, wo indessen beide weder einen rechten Anklang bei dem Gutsherrn, noch eine wohltuende Befriedigung für ihren geweckteren Geist im allgemeinen fanden.

Überhaupt wollte es einigen aufmerksameren Beobachtern scheinen, als ob zwischen Herrn von Sellhausen und seinem Sohne kein so erfreuliches Verhältnis stattfände, wie es die Natur der Dinge hätte mit sich bringen sollen; sie liebten sich zwar auf ihre Weise, aber doch lag bisweilen ein etwas kühler Hauch auf ihren gegenseitigen Ergießungen, eine Erscheinung, die man sich dadurch erklärte, daß der Sohn dem Vater zu früh entrissen worden und demselben schon in heranwachsender Jugend an Wissen und Können bedeutend überlegen war. Indessen trat niemals zwischen beiden eine wahrnehmbare und wirkliche Entfremdung ein, im Gegenteil blieb der Sohn dem Vater stets dankbar und warm ergeben, und dieser gab vor wie nach willig die Mittel her, die begonnenen Studien seines Erben, wenn nicht mit Glanz, doch mit dem gehörigen Anstand fortsetzen zu können.

So bezogen denn die zu Jünglingen herangereiften Freunde die Universität schon mit dem siebzehnten Jahre, um Diplomatie und die dazu gehörigen Wissenschaften zu studieren, hatten ihr Studium mit dem zwanzigsten beendet und sollten nun, nachdem sie ihre Prüfung abgelegt und der b...sche Minister sich brieflich an Herrn von Sellhausen gewandt und seine Beistimmung erhalten, die diplomatische Laufbahn verfolgen, von welcher der Graf dem westfälischen Gutsherrn die großartigsten Erfolge verhieß.

Diese Erfolge sollten denn auch für den vornehmen und durch allerlei Hülfsmittel unterstützten Grafensohn nicht ausbleiben, während Bodo mit seinen bescheidenen Ansprüchen alle errungenen Resultate nur sich selbst, seinem Eifer, seiner Intelligenz verdankte und nebenbei seinem Freunde mit allen Kräften hülfreich zur Seite stand.

Graf Lerchenstein sammelte überall, wohin er kam, und was er tat oder unterließ, die Ehren ein, die ihm Bodo erarbeitet hatte, und nur den größten Bemühungen des ersteren gelang es, seinen ihm so unentbehrlichen Freund einigermaßen mit auf der Höhe der Woge zu erhalten, auf der er bei immer günstigem Winde schnell und sicher einhertrieb.

Die jungen Diplomaten wurden zuerst als Hülfsarbeiter nach Wien gesandt. Nach einem Jahre schickte man sie als Attachees nach Berlin. Wiederum nach einem Jahre wanderten sie nach Paris, blieben daselbst zwei Jahre und vertauschten nun das heitere Frankreich mit dem ernsten England, nachdem der Graf schon in Paris zum Legationssekretär ernannt war, welche Ehre Bodo erst in London nach unendlicher Mühe zuteil werden sollte.

In London endlich trennte die beiden Freunde das Glückslos. Während der Graf als Legationssekretär nach Konstantinopel ging, ward Bodo als erster Sekretär nach Athen geschickt, und hier, an der ewig fließenden Quelle des klassischen Altertums sitzend, nährte er seinen rastlos strebenden Geist an dem Schönsten und Erhabensten, was die Welt im Laufe von Jahrhunderten an unvergänglicher Kunst hervorgebracht.

Allein auch die köstliche geistige Nahrung führt endlich den Zustand vollkommener Sättigung herbei, der menschliche Geist kann nicht immer in die Wolken dringen, er muß einmal wieder zur Erde zurückkehren, muß ruhen und rasten, wie der leibliche Magen nicht immer Speisen in sich aufnehmen kann, sondern auch einmal das Dargebotene verdauen muß. Kommt zu der geistigen Überfüllung nun noch irgend ein moralisches Weh, vielleicht in Gestalt einer Kränkung oder Zurücksetzung von außen hinzu oder ein Bedürfnis des leergebliebenen Herzens von Innen her, so erfolgt im Menschenleben und Streben ein momentaner Stillstand, ein Sehnen nach Ruhe, ein Weh der Seele, das sich vergebens durch Sättigung des Ehrgeizes, noch durch eine Fülle physischen Genusses beschwichtigen läßt. Der bisher nach vorwärts drängende Geist macht plötzlich Halt, die Reize der Gegenwart hüllen sich in Nebel und Schleier ein, die Erinnerung an die Vergangenheit taucht aus ihrem Schlummer auf, und die Zukunft endlich zeigt sich in einem nie gesehenen Lichte, dessen Glanz so verlockend und unwiderstehlich wirkt, daß eine Stockung im ferneren Begehren und Wünschen eintritt und sogar ein Rückschritt oder wenigstens eine Art Umkehr vom eingeschlagenen Wege zur Notwendigkeit wird.

So oder ähnlich erging es Bodo von Sellhausen. Fast dreißig Jahre alt, war er ein vollendeter Mann in jeder Beziehung – wir sagen absichtlich: Mann, nicht Kavalier, ein Wort oder eine Bezeichnung, die für unsern Gaumen wenigstens stets einen kleinen Beigeschmack von etwas hat, was uns nicht vollkommen behagt. Bodo, obgleich er auch Kavalier zu sein verstand, wollte gleichfalls lieber ein echter Mann sein und dafür gelten, er zog die Eigenschaften eines solchen denen jenes bei weitem vor, und damit, glauben wir, haben wir sein Wesen und seinen Charakter genauer bezeichnet, als mit vielen anderen Worten möglich gewesen wäre.

Aber er war nicht ohne Mühen und Kämpfe, nicht ohne bittere Erfahrungen ein solcher Mann geworden; es hatte ihm etwas gekostet, auf den Standpunkt zu gelangen, von wo herab er ein treffendes Urteil über das Treiben der Menschen und diese selbst fällen konnte. Viele Täuschungen hatte er erleben, viele Hoffnungen zu Grabe tragen müssen, und nachdem er die Menschen im großen und ganzen geliebt, war er am Ende zu der traurigen Einsicht gelangt, daß nicht wenige derselben seine volle Verachtung verdienten.

Und was hatte er, alles in allem betrachtet, mit seinen dreißig Lebensjahren erreicht, was wirklich des Rühmens derselben wert gewesen wäre? Wofür hatte er alle seine Kräfte und Fähigkeiten bis zum Äußersten angespannt? Hatte ein einziger Mensch ihm auch nur mit einem dankbaren Gefühle die Hand geboten, dafür, daß er mit Kopf und Herz für ihn unzählige Male in die Schranken getreten war? War seine Stellung überhaupt so beneidenswert, daß er ihrethalben und der Ehre wegen, die sie ihm eintrug, dreißig Jahre hatte müssen verschwinden sehen, ohne auch nur einen Tag in dieser langen Zeit zu verleben, an dem er sich ganz glücklich fühlte?

Glück – ja, Glück, dieses immer und überall leidenschaftlich erjagte Menschenziel – auch ihm war es noch nirgends entgegengetreten, auch ihm war es immer ausgewichen, gleichsam unter den Händen entschwunden, und doch – doch fühlte er in tiefster Seele ein brennendes Sehnen und Verlangen nach etwas, dem er keinen Namen zu geben wußte, und welches dennoch das Glück sein mußte, wenigstens war es ein unbewußtes geheimes Trachten nach Zufriedenheit und Behaglichkeit des innersten Wesens, ein Ziel, daß voll köstlicher Labe sein muß, wenn man dreißig Jahre auf sturmbewegter Lebenswoge umhergeschleudert ist und vergebens danach gerungen hat.

Und nach dieser inneren Zufriedenheit und Behaglichkeit erwachte plötzlich ein fast unbezähmbarer Drang in ihm. Seine Geschäfte und Amtspflichten, immer dieselben und stets mit den Leidenschaften der Menschen im Kampfe, ekelten ihn an, er sehnte sich nach Ruhe und ungestörtem Nachdenken, denn das mußte er sich wiederholt gestehen: die im Herzen getragenen Wünsche und Hoffnungen hatte er nicht erfüllt gesehen, so reich und prunkvoll an äußerem Flitter auch sein ganzes bisheriges Leben gewesen war.

Als er erst so weit in seiner stillen Selbstschau gekommen war, trat noch ein neues gärendes Element hinzu, das allmählich zu einem ihn beherrschenden Triebe anwuchs, dessen unbezwinglicher Gewalt er endlich nicht mehr widerstehen konnte. Es erwachte plötzlich, wie aus tiefem Schlummer aufgescheucht, eine Art Heimweh nach den schönen blauen Bergen und den grünen Tälern seiner Heimat in ihm. Alles, was er daheim besitzen und genießen konnte, schien ihm den Kampf um das Leben selbst auszuschließen und nur Frieden und Freude ihm entgegenzubringen. Der heimatliche Herd, das friedliche väterliche Dach, der alte Vater selbst – was für Wonnen und Reize umschlossen diese Erinnerungen, diese Erwartungen, und wie auf Windesflügeln stürmte seine Phantasie nach den Stätten hinüber, wo er seine erste Jugend verlebt, die ihm doch eigentlich in Wirklichkeit nur so wenig Genüsse geboten. Alle seitdem erlebten Täuschungen und Widerwärtigkeiten wurden, wie durch einen Blitzstrahl erleuchtet, vor seine klar gewordenen Augen gerufen, er sah ein. dass das ganze Menschenleben, sei es so glänzend und ehrenvoll wie es will, wenig oder nichts wert sei, wenn das Innere nicht befriedigt ist und – so in eine ganz neue Bahn geschleudert, faßte er den Entschluss: die Ruhe und den Frieden allein zu suchen, die ihm bisher gemangelt hatten.

Bodo von Sellhausen aber war ein Mann, der wichtige Entschlüsse nicht nur rasch zu fassen, sondern auch ebenso rasch auszuführen den Willen und die Kraft besaß. Er schrieb daher sogleich nach M... an seinen Vorgesetzten und bat in bescheidenster Weise um seine Entlassung aus dem Staatsdienst. Zugleich gab er seinem Vater von diesem Schritt Kunde und teilte ihm dabei seinen Wunsch mit, unverweilt in die Heimat zurückzukehren und bei und mit ihm ein neues Leben zu beginnen.

Letzterer Brief ward lange nicht beantwortet, was Bodo sich kaum erklären konnte, auf ersteren aber erfolgte eine sehr schmeichelhafte Erwiderung nebst dein Gesuch, mit einer Verbesserung des Gehalts auch ferner im Amte zu bleiben.

Zu dieser Erwiderung mochte den Minister der auswärtigen Angelegenheiten in M... jedenfalls das Staatsinteresse bewogen haben. Mit dem Verlangen des talentvollen und fleißigen Beamten, aus dem Staatsdienste zu scheiden, stieg sein Wert in den Augen seines Chefs, und die seltenen Eigenschaften, die er bisher entwickelt, traten, wie das immer zu geschehen pflegt, bei dem drohenden Verlust seiner Arbeitskraft nun erst in das rechte Licht.

Allein Bodo war nicht so wankelmütig geartet, daß er durch Schmeicheleien von oben her zur Fortsetzung eines Dienstes bewogen worden wäre, den er im Stillen von innen heraus bereits ausgegeben. Er lehnte also dankbar den Wunsch des Ministers ab und wiederholte nur noch dringender sein Gesuch um baldigste Entlassung aus seinem Verhältnis.

Jetzt erfolgte eine zweite, noch viel schmeichelhaftere Antwort. Man beförderte ihn zum Legationsrat und trug ihm einen sehr ehrenvollen Posten in Petersburg an, ja man ließ von weitem die Aussicht durchblicken, ihn in wenigen Jahren zum selbständigen Gesandten an irgend einem von ihm bevorzugten Orte befördert zu sehen.

Der neue Legationsrat fühlte sich in seinem bescheidenen Sinne von so viel Güte betroffen und vergaß darüber zum Teil die Zurücksetzungen, die ihm als Ausländer früher zuteil geworden. Einen Augenblick sogar schwankte sein Entschluß vor den glänzenden Aussichten befriedigten Ehrgeizes – aber nur einen Augenblick, dann trat das liebliche Bild seiner blauen Heimatberge, die Stille des väterlichen Hauses und der alternde Vater selbst wieder lebhaft vor seine Seele und – sein Entschluß stand unwiderruflich fest, auf dem einmal ausgesprochenen Vorsatze zu beharren.

An dem Tage, wo er die dahin lautende Antwort nach M... sandte, kam ein Brief aus der Heimat an. Er zeigte zwar die Handschrift des alten Vaters, aber dieselbe war auffällig entstellt. Die steifen Finger, welche die Feder geführt, hatten offenbar gezittert, und auch die in dem Schreiben ausgesprochenen Gedanken liefen nicht so klar wie sonst nach einander ab.

Der alte Herr billigte die Absicht seines Sohnes vollkommen, ja er freute sich darüber. Er bat ihn, zu eilen, um die Heimat zu erreichen, da er selbst krank sei und ihn bald zu sehen wünsche, um ihm wichtige Dinge – diese Worte waren dreimal unterstrichen – mitzuteilen.

Bodo konnte die Zeit kaum erwarten, bis sein Abschied eintraf. Um keinen Tag länger in der Fremde aufgehalten zu werden, wenn derselbe kam, verabschiedete er sich bei allen Bekannten im voraus, packte seine Koffer und sandte seine mit kleinen Sammlungen antiker Schätze gefüllten Kisten nach Hause.

Endlich an einem der ersten Dezembertage erhielt er zwei Schreiben zu gleicher Zeit. Das erste, aus M..., enthielt seine Entlassung aus dem königlichen Staatsdienst und in huldvoller Anerkennung seiner Verdienste – einen hohen Orden, deren er schon eine ziemliche Anzahl besaß. Das zweite – ach! warum muß es solche Schreiben auf der Welt geben! – war von einer fremden Hand geschrieben und enthielt die Nachricht, daß Herr Valentin von Sellhausen nach kurzem Krankenlager gestorben sei, ohne seinen dringendsten Wunsch, noch einmal seinen Sohn zu umarmen, erfüllt zu sehen. Beigefügt war die wohltuende Bemerkung, daß man auf dem verwaisten Gute den jungen Herrn und Erben sehnlichst erwarte, und daß man alles im alten Geleise belassen werde, bis er selbst erscheine und seine Bestimmungen treffe.

Diese von der Oberwirtschafterin in Sellhausen, einer alten Dame und Vertrauensperson des Verstorbenen, verfaßten Zeilen ergriffen unsern Freund auf das tiefste. Einen Vater zu verlieren, selbst wenn man mit ihm so selten in nähere Berührung getreten, wie hier, ist für ein gefühlvolles Kinderherz immer ein harter Schlag, und Bodo empfand denselben in seiner ganzen Schwere. Alle Lichtseiten des Dahingeschiedenen traten, von der Sonne der Erinnerung hell beleuchtet, vor sein geistiges Auge, und er faßte die festesten Entschlüsse, das Andenken desselben dadurch zu ehren, daß er sich als ein seines Vaters würdiger Sohn nach allen Richtungen bewähre – Entschlüsse, die freilich mehr dem Charakter des Lebenden zur Ehre gereichten, als sie Freude auf das Haupt des Entschlafenen auszugießen imstande waren, da er keine Kenntnis mehr von ihnen nehmen sollte. –

Zwei Tage nach Empfang dieses Schreibens verließ Bodo Athen, um in gerader Linie nach Deutschland und in sein leergewordenes Vaterhaus zurückzukehren.


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