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Siebentes Kapitel.
Das Archiv

Wie beruhigend es auch für Paul van der Bosch und seinen treuen Freund Fritz Ebeling sein mochte, daß der böse Dämon nicht mehr existirte, der eine so traurige Rolle in der Entwickelung der Familienverhältnisse des Ersteren gespielt hatte, so waren sie doch Beide von dem so plötzlich erfolgten Tode desselben tief ergriffen und so traten sie mit einem eigenthümlich dumpfen Gefühl in das Zimmer ein, welches der Amtmann von Ritzebüttel zu bewohnen pflegte, wenn er seine Amtsgeschäfte auf Neuwerk verrichtete. Anfangs waren sie noch so bewegt, daß sie wenig um sich her sahen; auch sprachen sie nicht, sondern saßen auf dem Sopha und hörten mit halben Ohren den Worten zu, die der Amtmann, der ihnen gegenüber Platz genommen, in Bezug auf den vorliegenden Fall an sie richtete. Mochte dieser, als Jurist, gestählter gegen dergleichen Vorfalle im menschlichen Leben sein, oder zwang er sich absichtlich, für den Augenblick eine ruhigere Gewächsstimmung an den Tag zu legen und so den jüngeren Leuten mit einem guten Beispiel voranzugehen, genug, er leitete das Gespräch sehr bald auf andere Bahnen und endlich gelang es ihm auch, den beiden Freunden wieder ein freundliches Gesicht und eine wärmere Theilnahme an der gegenwärtigen Stunde abzugewinnen. So tauchte ihr Geist denn allmälig aus der dumpfen Bedrücktheit auf, von der er gefesselt gewesen, ihre jugendliche Spannkraft erwachte wieder und sie fanden bald auch die Worte, um ihren Gefühlen den entsprechenden Ausdruck zu geben und auf die Unterhaltung ihres Wirthes einzugehen.

Da sahen sie denn auch, daß sie sich, in Anbetracht der abgeschiedenen Lage auf einer so einsamen Insel, in einem ziemlich behaglich eingerichteten Zimmer befanden, daß der höchste Beamte in diesem Erdwinkel es verstanden hatte, auch hier einen gewissen Comfort um sich her zu verbreiten und daß es sich auch an diesem Orte wohl ein paar Tage erträglich leben lasse, wenn das Wetter nicht gar zu arg wüthe und wenigstens zur Ebbezeit dem Besucher einige Stunden Bewegung in freier Luft gestatte.

Jetzt erst nahm Paul wahr, daß das Zimmer, in welchem er sich befand, gerade unter dem Kämmerchen liegen mußte, in dem er vor zwei Tagen Laurentius Selkirk gefunden, denn die Aussicht aus dem freilich hier viel größeren Fenster war dieselbe wie in jenem und der ›Jacob Hinnerich‹ lag gerade vor seinen Augen, an dessen Bord der Mann weilte, der alle Verhältnisse, in denen man sich gegenwärtig befand, durch seine Bekenntnisse hervorgerufen hatte.

Als die drei Männer in der besten Unterhaltung begriffen waren, erschienen zwei Leuchtthurmswärter und trugen die Betten und sonstigen Gegenstände in das nebenanliegende Cabinet, welches zur nächtlichen Ruhe für die beiden Fremden eingerichtet werden sollte. Eine Magd, in der Tracht der eingeborenen Insulaner, machte Alles vorläufig zurecht, und als sie damit fertig war, erhielt sie den Befehl, das Abendessen, gegen neun Uhr auf des Amtmanns Zimmer zu bringen.

Als sie gegangen war, mochte es acht Uhr sein, und nun saßen Paul und Fritz neugierig am Fenster und schauten mit neuer Spannung auf den Tumult hinaus, den die Elemente auf der See in Scene setzten. Eigentlich war nichts zu sehen als ein dunkler, von zerrissenen Wolken bedeckter Himmel, und auf dem Wasser Wogen über Wagen, die wie toll über einander stürzten, sich gegenseitig niederdrückten und auf ihren Spitzen Berge von Schaum wälzten, die allmälig bei stärker hereinbrechender Dämmerung ein eigenthümlich falbes Licht annahmen, welches dem wilden Ganzen ein schauriges Gepräge verlieh. Dabei brüllte der Sturm in entsetzlichen, tiefen und hellen Tönen und in den Kaminen des alten Thurmes ließ sich ein Stöhnen und Pfeifen vernehmen, als ob alle Klagegeister der Hölle losgelassen wären und in der Nähe desselben ihren Sammelplatz auserkoren hätten. Voll lebhafter Theilnahme aber hingen ihre Blicke an dem ›Jacob Hinnerich‹ da unten, der noch immer hoch und nieder geschleudert wurde, und aus Paul's Munde drangen endlich die Worte, die er unwillkürlich laut aussprach:

»O die Armen, die zwischen seinen stöhnenden Planken ihre Wohnung haben – was mögen sie ausstehen und wie mag ihnen so bänglich zu Muthe sein!«

Als der Amtmann diese Worte vernahm, lächelte er. »Angenehm ist ihnen nicht zu Muthe,« sagte er, »das ist gewiß, aber daß ihnen bange ist, glauben Sie ja nicht. Sie sind dergleichen gewohnt und dagegen gestählt. Die Pflicht läßt sie ausdauern an ihrem Platze und ihr Loos mit männlicher Ruhe ertragen, und sie wissen ja, daß so ein Sturm, namentlich in dieser Jahreszeit, nie allzu lange dauert. Im Winter freilich, da ist es schlimmer und dann sind sie wirklich übel daran – aber es ist einmal nicht zu ändern. – Doch sehen Sie, meine Herren, kommt es Ihnen nicht so vor, als ob der Sturm im Abnehmen begriffen wäre?«

In der That, das Heulen und Brüllen des Windes ließ schon von Zeit zu Zeit etwas nach, und als Fritz Ebeling diese Bemerkung seines Wirthes vernahm und sich mit eigenen Augen und Ohren von ihrer Wahrheit überzeugte, athmete er freier auf, denn, ohne es seinem Freunde zu gestehen, hatte er sich in den letzten Stunden äußerst bedrückt gefühlt, alle die Ereignisse und Naturerscheinungen, denen er plötzlich so nahe gerückt war, hatten ihn fast überwältigt, da dergleichen ihm in seinem Comptoir und im behaglichen Hause seiner guten Mutter nie, nicht einmal in Gedanken, begegnet war.

»Jetzt hißt man die Lichter an Bord des ›Jacob Hinnerich‹ auf,« fuhr Paul, immer noch nach der See hinausblickend, fort. »Sieh, Fritz, jetzt wird es hell auf dem Wasser, und auch unser Thurm trägt das Seinige dazu bei. Sieht das nicht herrlich aus, wie die weißen Wasserberge sich reiben und phantastisch erleuchten?«

Er hatte Recht. Die Laternen des Leuchtthurms und die des Feuerschiffs warfen bereits ihren magischen Lichtschein über die sie umtanzende Wasserwüste, und der Gedanke schon, daß des Menschen Hand hülfreich in die dunkle Gewalt der Elemente griff, brachte etwas ungemein Tröstliches für die Zuschauer mit, die von ihrer sicheren Stellung aus die um sie her vorgehenden Erscheinungen mit ziemlicher Ruhe hatten beobachten können.

Gegen neun Uhr wurde den drei Herren das Abendessen gebracht, und da sie auch einen guten Wein zur Stärkung erhielten, ließen sie es sich wohlschmecken, zumal sie Alle seit dem Frühstück keinen Bissen über ihre Lippen gebracht hatten. Nach dem Essen betraten sie noch einmal die Galerie des Thurmes, allein sie hielten sich nicht lange daselbst aus, der Wind war zu kalt und immer noch stark genug, um sie bald wieder in die wärmere Stube zu treiben. Nur die Leuchtfeuer von Cuxhafen und Helgoland betrachteten sie noch, die am fernen Horizont golden durch die finstere Nacht strahlten, dann nahmen sie Abschied von der luftigen Höhe und wünschten Allen, denen die wohlthätigen, rings um sie her leuchtenden Laternen in Angesicht kamen, eine gute Nacht, wie sie selbst einer solchen nach so mächtiger Aufregung entgegenzusehen hoffen durften.

Der Amtmann hatte sich unterdeß sein Bett auf dem Sopha zurecht machen lassen und die beiden Freunde nahmen das Cabinet allein in Besitz. Keiner von ihnen kleidete sich aus und sie hüllten sich nur oberflächlich in die ihnen zugewiesenen Decken ein. Zum Schlafen aber kamen Paul und Fritz in den ersten Stunden noch nicht. Ihr Kopf war zu voll von sich jagenden Gedanken und ihre Empfindungen zu lebhaft angeregt. Erst um Mitternacht fielen sie in einen unruhigen Schlummer, der gegen Morgen fester und gleichmäßiger wurde, und in ihm verharrten sie, bis der Amtmann sie um sieben Uhr weckte, nachdem er selber schon eine Stunde früher erwacht war und seine Toilette beendet hatte.

»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen,« sagte der freundliche Mann, »und nun stehen Sie auf und sehen Sie, wie die Welt anders aussieht als gestern. Eine einzige Nacht reicht oft hin, große Wandlungen um und in uns herbeizuführen, und hier sollen Sie einmal den Beweis davon erleben.«

Als die beiden Freunde vollständig erfrischt in das größere Zimmer traten und aus dem Fenster schauten, fanden sie die Aussage des Amtmanns bestätigt. Der Sturm hatte schon längst ausgewüthet und die See rollte nur noch in langen stillen Wogen einher, deren glatte Oberfläche sich leicht unter dem sprühenden Regen kräuselte, der aus dem trüben gleichmäßigen Gewölk niedergoß.

»Habe ich nicht Recht?« fuhr der Amtmann fort, als er die freudigen Blicke der jungen Männer sah. »Wir werden nun die längste Zeit hier ausgedauert haben. Die Fluth ist wie alle Tage gekommen und wir werden bald unsere Reise antreten können. Ich bin überzeugt, in höchstens einer Stunde wird unser Dampfer sichtbar werden und dann rudern wir hinüber und begeben uns nach Hause, wo wir heute noch Arbeit genug finden dürften.«

»Kann ich nicht einen Augenblick an Bord des Feuerschiffs gehen und meinen armen Laurentius Selkirk mit nach Betty's Ruh nehmen?« fragte Paul mit aufgeklärtem Gesicht.

»Gewiß können Sie das,« erwiderte der Amtmann. »Wir wollen zuerst dem Capitain Hardegge unsern Besuch abstatten und ihm einen guten Morgen wünschen. Er wird auch froh sein, daß die Nacht überstanden ist. Ich bin neugierig, was der Laurentius sagen wird, wenn Sie ihm unsere neuste Botschaft bringen, denn an Bord des ›Jacob Hinnerich‹ hat man noch keine Ahnung, was seit gestern hier vorgefallen ist.«

Sie nahmen nun rasch das erste Frühstück ein und begannen dann allmälig sich zum Abgange zu rüsten. Der Amtmann hatte nicht vergebens auf den Dampflootsenkutter gerechnet. Um halb neun Uhr schon wurde er sichtbar, wie er mit seinem langen Rauchstreifen hinter sich von Cuxhafen her den Weg nach dem Feuerschiff einschlug.

So nahmen die drei Herren denn Abschied von Neuwerk. Während der Amtmann noch mit dem Vogt auf der Thurmtreppe sprach, gingen Paul und Fritz nach dem kleinen Ewer hinab, der an dem Landungsplatze bereit lag, um sie nach dem Feuerschiff überzuführen.

»Auf Nimmerwiedersehen!« sagte Fritz Ebeling im Stillen zu sich, und vielleicht dachte sein Freund etwas Aehnliches, als er in das Boot stieg, in welches nun auch der Amtmann, vom Vogt bis an den Strand begleitet, sich begab, um sogleich vom Lande abstoßen zu lassen. Der Wind aus Westen war nur schwach, aber er half ihnen doch etwas bei der kurzen Fahrt, und als sie sich dem ›Jacob Hinnerich‹ näherten, zog auch er die stolze Admiralitätsflagge, die schon lange auf dem Neuwerker Thurm wehte, an seinem Großmast empor, um den regierenden Herrn von Ritzebüttel freundlich zu begrüßen und den so seltenen Besuch an seinem Bord gastlich willkommen zu heißen.

Capitain Hardegge stand mit erwartungsvoller Miene an der Brustwehr seines Schiffes und sah voller Spannung den Ewer mit den drei Herren und den beiden Polizeibeamten näher kommen, unter denen er den Amtmann und Paul schon lange erkannt hatte.

»Willkommen am ›Jacob Hinnerich‹!« tönte es wieder den Herankommenden entgegen.

»Ich danke!« erwiderte der Amtmann von unten herauf. »Ist Alles heil an Bord?«

»Ja, Herr Senator, Alles heil – aber es war eine hübsche Nacht!«

»Das glaube ich,« antwortete der Amtmann, als er an Bord stieg und von dem wackeren Capitain herzlich begrüßt wurde. »Wir haben auch etwas davon durchgemacht. Guten Morgen, Capitain Hardegge!«

Vom Amtmann wandte der Capitain sich an seinen jungen Freund Paul van der Bosch, und dieser stellte ihm alsbald Fritz Ebeling vor. »Sie sehen uns fragend an, was wir Ihnen bringen,« fuhr er dann fort, »nun, was denken Sie sich?«

»Sie bringen mir Nichts oder Alles, was Sie mir bringen können,« erwiderte der Capitain. »Seit gestern Nachmittag, wo ich unsere Flagge in Duhnen wehen sah, bin ich in Unruhe, aber fast kann ich mir denken, daß etwas Entscheidendes vorgefallen ist.«

»Ja, und mit einem Wort – es giebt keinen Uscan Hummer mehr auf der Welt!« erwiderte Paul mit ernster, fast feierlicher Miene.

»Wie,« rief der Capitain zurückprallend, »ist er hinüber?«

»Die Fluth hat ihn verschlungen,« versetzte der Amtmann, »als er uns im letzten Augenblick der Ebbe entwischen wollte.«

In wenigen Minuten war Alles erzählt und Capitain Hardegge wurde eben so still und ernst, wie es Paul wieder in diesem Augenblick war.

»Aber was macht Laurentius Selkirk?« fragte Letzterer. »Ist er munter und hat er den Sturm gut überstanden?«

»Ganz munter, Herr – aber er wird sich wundern!«

»Lassen Sie es uns schnell abmachen, wir haben nicht viel Zeit.«

»Gehen Sie nur zu ihm, ich bleibe auf Deck bei dem Herrn Amtmann.«

Paul stieg in die Cajüte hinab. Seine Erscheinung, auf die Laurentius schon vorbereitet war, erregte einen stürmischen Freudenausbruch bei dem alten Mann, der jedoch einer Art Erstarrung wich, als er mit wenigen Worten die Kunde von allen umgefallenen Ereignissen vernahm.

»Also er ist todt!« rief er endlich, wie aus einem tiefen Traume erwachend. »Todt! Und er ist vor Ihnen geflohen, als Sie ihn greifen wollten! Ha, das ist natürlich, ja!«

»Die Beweise, Laurentius, welche Sie für seine Schuld lieferten, waren nicht die einzigen,« fuhr Paul fort, »wir haben noch andere und eben so schwer wiegende erhalten. Hummer ist von einem meiner Freunde erkannt worden als der Mann, der bei einem Wechsler in ... große Summen in baares Geld umgesetzt hat, über die er nicht verfügen durfte, und so ist er als Betrüger und Dieb vollständig entlarvt. Alles Uebrige sollen Sie später erfahren – jetzt aber machen Sie sich reisefertig, wir haben nicht viel Zeit übrig; wir müssen bald nach Betty's Ruh um in den Nachlaß des Verstorbenen einen Blick zu werfen. Der Amtmann kommt auch mit. Sie gehen doch gern mit mir?«

»Wird noch ein Proceß stattfinden?« fragte Laurentius mit einem Rückfall in seine alte Aengstlichkeit.

»Nicht der geringste, es ist Alles abgemacht; uns bleibt nur noch übrig, das Geld zu suchen, welches Hummer entwendet hat.«

»Das wollen wir schon finden!« rief Laurentius tief aufathmend aus. »Also nach Betty's Ruh soll ich? Wirklich? O Du großer Gott, was ist das für ein Glück!« –

In zehn Minuten waren Alle wieder auf dem Deck des Schiffes versammelt, auch Laurentius Selkirk mit seiner Kiste befand sich unter den Männern.

»Sie werden bald abgelöst, nicht wahr?« fragte Paul den Capitain Hardegge.

»Ja, in einigen Tagen.«

»Dann haben Sie also freie Zeit und ich hoffe, Sie werden sich bald in Betty's Ruh einfinden, um auch meine Gastfreundschaft einmal in Anspruch zu nehmen. Ihr Schwiegervater und Friede werden hoffentlich bald dahin übersiedeln, ich lasse schon heute Zimmer für sie in Bereitschaft setzen, bis ich das alte Pächterhaus für sie ausgebaut und erneuert habe. Whistrup wird in den nächsten Tagen seinen Nachfolger erhalten und dann gehört er und seine Tochter uns – aus meines Onkels oder meiner Hand nur werden Sie sie erhalten und ich werde dem guten Mädchen für Alles, was ich ihm verdanke, meine Erkenntlichkeit zu erweisen suchen.«

Capitain Hardegge wurde tief gerührt bei diesen Worten. Er sprach kein Wort mehr, aber er drückte dem neuen Freunde herzlich und wiederholt die Hand.

»Auf Wiedersehen!« rief dieser und stieg in das Boot, in welchem sich schon Laurentius mit seiner Kiste befand. Zuletzt stiegen der Amtmann und die Polizeidiener hinab und mit wenigen Ruderschlägen befand man sich neben dem kleinen Dampfer, der laut zischend in der Nähe des Feuerschiffs hielt. Bald darauf waren Alle an Bord und nun dampfte er stolz unter seiner großen Admiralitätsflagge ab, nach Osten hin, um in kurzer Zeit in Cuxhafen an seinen Halteplatz zu gelangen, was ihm die augenblickliche Fluth heute leichter als sonst machte. Die Ersten, welche den anlegenden Dampfer empfingen, waren Whistrup und Friedrich.

»Glück auf, Whistrup!« rief der Amtmann dem bisherigen Leuchtthurmwärter entgegen. »Machen Sie sich fertig, nach Betty's Ruh zu ziehen. Herr van der Bosch wird Ihnen Wohnung im Schlosse geben, bis Ihr Haus eingerichtet ist. Ihren Nachfolger werde ich noch heute nach der Kugelbaake senden und Sie mögen ihn pflichtgemäß instruiren. Sie sind jetzt Pächter von Betty's Ruh und aus dem Staatsdienst entlassen. So viel mündlich, alles Uebrige später schriftlich.«

Whistrup wußte nicht was er sagen sollte. Er sah bald den Einen, bald den Andern an. »Wo haben Sie denn den Rentmeister?« fragte er endlich mit bebenden Lippen.

»Er schläft im Meere, Whistrup,« erwiderte Paul und berichtete mit kurzen Worten, was vorgefallen.«

Whistrup stand wie erstarrt. Auch Friedrich, der es mit angehört, konnte vor Staunen kein Wort sprechen.

»Ist Alles gesund zu Hause?« fragte ihn Paul.

»Ach Gott, Herr, da sieht es seltsam aus. Der Herr Professor kann gar nicht begreifen, wie es möglich ist, daß sein Rentmeister ein Spitzbube sein soll, aber Frau Dralling ist außer sich vor Freude, daß er endlich entdeckt ist.«

»Das glaube ich. Nun, es soll auch meinem Onkel bald klar werden. Sind die Pferde genügend ausgeruht?«

»Alles frisch und munter, Herr, es kann sogleich wieder losgehen.«

»Das soll es auch. Sie müssen noch heute, sobald wir zu Hause angekommen, nach Wollkendorf reiten und der Frau Baronin Meldung bringen. Ich werde lieber gleich hier einige Zeilen an sie schreiben, da Keiner von uns heute fort kann. Erzählen Sie ihr nur recht genau, was und wie es sich zugetragen und wie es jetzt rührig bei uns hergehen wird. Herr Ebeling oder ich selbst werden ihr Botschaft bringen, wenn Alles geordnet ist.«

Friedrich verbeugte sich ehrerbietig. »Ich werde Alles thun, was Sie befehlen und wie Sie es wünschen, Herr van der Bosch,« sagte er, »nur erlauben Sie mir, nach Wollkendorf heute den Fuchs zu reiten, damit er auch etwas von der Bewegung profitirt.«

Paul lächelte. »Wenn Sie weiter nichts wollen, das sei Ihnen gern gewährt. Von morgen an aber reite auch ich wieder und darin wollen wir alle Tage unsere Uebung fortsetzen.«

Jetzt trat der Amtmann, der so lange mit dem Hafenmeister und Whistrup gesprochen, zu Paul heran und verabschiedete sich einstweilen von ihm und seinem Freunde. »Ich will einmal nach Hause fahren und mich umkleiden,« sagte er, »und dann meine beiden Büttel in Betty's Ruh ablösen lassen. Die armen Teufel haben auch einen sauren Tag auf ihrer Wache gehabt, aber freilich nicht so schlimm wie ihre Gefährten dies bei uns waren. Spätestens um ein Uhr bin ich bei Ihnen und dann wollen wir den Nachlaß im Pachthause untersuchen, damit wir bald damit in's Reine kommen. Schreiberei werden wir überdieß noch genug davon haben, denn der Verstorbene hat, wie ich glaube, dürftige Verwandte hinterlassen und die werden Sie doch wohl nicht für die Sünden des Mannes büßen lassen wollen, nicht wahr?«

»Herr Senator! Was denken Sie von uns! Für die Verluste, die Hummer uns verursacht, soll kein Mensch büßen, am wenigsten seine unschuldigen Verwandten.«

Der Amtmann reichte ihm die Hand und drückte sie warm. »Ich verstehe Sie,« sagte er, »aber ich bin ein Jurist und Richter in dieser Sache; ich muß mich also nach Allem erkundigen und darum verzeihen Sie mir. – Leben Sie wohl, auf Wiedersehen!«

Der Amtmann stieg in seinen Wagen und fuhr ab. Paul aber begab sich, während Fritz Ebeling Whistrup das Erlebte bis in's Kleinste erzählte, in das Gasthaus des Herrn Dölle und ließ sich Papier und Tinte geben. Hier schrieb er rasch einige Zeilen an Betty, theilte ihr in einfachen Zügen die Ereignisse der beiden Tage mit und verwies sie im Uebrigen auf Friedrich, der ihr einstweilen umständlichen Bericht abstatten werde.

»Wenn ich Sie wiedersehe, meine liebe Freundin,« schloß er, »was wahrscheinlich morgen, – spätestens übermorgen geschehen wird, da ich jetzt in Betty's Ruh unentbehrlich bin, sollen Sie Alles aus meinem eigenen Munde hören, für heute begnügen Sie sich mit dieser Nachricht. So gern ich Sie bei uns sähe, so bitte ich Sie doch, nicht eher zu kommen, als bis das Nothwendigste geordnet ist, erst dann kann ich mich Ihrer Gegenwart wahrhaft freuen. Wollen Sie aber Fritz morgen früh bei sich haben, so senden Sie ihm einen Wagen; unsere Pferde sind etwas stark in Anspruch genommen und müssen noch viele Wege ablaufen, ehe wir am Ziele sind. Leben Sie wohl und empfehlen Sie mich Ihrer Mutter. Mündlich mehr von Ihrem treu ergebenen alten Freunde

Paul van der Bosch.«

Es war etwa zwölf Uhr Mittags, als Paul mit Fritz Ebeling und Friedrich in Betty's Ruh anlangte. O wie wohl wurde ihm zu Muthe, als er das schöne Schloß mit seinen grünen Baumgruppen, seinen Rasenflächen und Blumenbeeten so still und friedlich unter dem leise herabrieselnden Regen vor sich liegen sah! Wie fühlte er, durch den Contrast aufmerksam gemacht, nun erst recht tief und lebhaft die aufregenden Scenen und Erscheinungen, die er seit dem vorigen Tage an seinem Auge hatte vorüberziehen lassen!

Als er vor der Halle aus dem Wagen sprang, hörte er einen lauten Freudenschrei, der aus der kräftigen Kehle einer Frau kam. Frau Dralling stürzte ihm mit offenen Armen entgegen und beinahe hätte sie ihn umarmt und geküßt, so überglücklich war sie, über Das, was er ausgeführt, obgleich sie noch keine Ahnung von dem Endresultat hatte. Ja, ja, er hatte sie verstanden, dieser Herr Paul, er hatte sich ihren Rath zu Nutze gemacht, er war also ein ganzer Mann, wie sie eine ganze Frau war, und nun war ihr seliger Dralling durch ihre Mitwirkung wieder zu neuen Ehren gelangt und wer konnte es ihr also verdenken, daß ihr Frohlocken keine Gränzen kannte? Im Triumph führte sie nun den jungen Mann in den Saal, und so lange der Neffe dem Onkel erzählte, was Alles geschehen, so lange bewegte sie sich nicht von der Stelle, denn sie mußte jedes Wort aus seinem eigenen Munde vernehmen.

Aber der Professor, was machte der für ein Gesicht? Es kostete Paul Mühe, sich des Lachens zu erwehren, als er dem guten Alten heute zum ersten Mal gegenüber trat.

Denn derselbe war so verlegen, so geknickt, so kleinmüthig, daß er nicht wußte, was für eine Miene er zeigen und was er zuerst sprechen solle. Und so schwieg er denn und drückte den Neffen, nachdem dieser zu seinem noch größeren Staunen den Tod des Rentmeisters verkündet, nur stumm an sein Herz, bis er sich so weit gesammelt hatte, daß er wieder reden konnte, und da bat er zuerst, was er schon lange bei Frau Dralling gethan, um Verzeihung, daß er einen so furchtbaren Irrthum begangen und den Rentmeister Hummer – der jetzt schon vor Gott stehe, wie er eben gehört – für einen ehrlichen Menschen gehalten habe. Jetzt erst sei er überzeugt, daß es auch schlechte Menschen auf der Welt gebe, aber nun wolle er sich auch künftig in Acht nehmen und mit weiser Vorsicht in allen Dingen zu Werke gehen. Uebrigens lege er alle übrigen Geschäfte in Paul's Hände, er wolle sich um nichts mehr auf dem Gute bekümmern und nur seiner Wissenschaft leben, da er zur Einsicht gelangt, daß ein eingefleischter Bücherwurm, wie er einer sei, für das praktische Leben nicht tauge und der Welt und den Menschen nur nützen könne, wenn er seine Exempel zum Stimmen bringe, um alles Uebrige auf dem Erdenrund sich aber kein graues Haar wachsen lasse.

Paul zeigte bei allen diesen allmälig zum Vorschein kommenden Gedanken nur ein heiteres Gesicht. Er beruhigte den guten Onkel und erklärte sich gern bereit, alle ferneren, auf Betty's Ruh bezüglichen Geschäfte zu übernehmen, aber nur im Namen und Auftrage des Onkels.

»Ich gebe Dir diesen Auftrag, mich zu vertreten, hiermit ein für alle Mal,« schloß der Professor, »denn Du weißt, ich liebe die logische Kürze und bin kein Freund von Wiederholungen. Handle in Allem, wie Dir gutdünkt, und theile mir nur die Resultate mit. Das, was Du in wenigen Wochen hier geleistet und erreicht hast, hätte ich in zwanzig Jahren nicht zu Stande gebracht und so ist mir meine unzureichende Kraft augenscheinlich bewiesen. Weiter will ich Dir jetzt nichts sagen und nun laßt mich in Ruhe, denn ich bin so müde und matt, als hätte ich vierundzwanzig Stunden marschiren müssen und nichts dabei zu essen bekommen. – Haben Sie an ein gutes Frühstück gedacht, meine liebe Frau Dralling?« –

Man hatte eben das wohlverdiente Frühstück eingenommen, als der Amtmann von Ritzebüttel erschien, um dem Professor seine Aufwartung zu machen. Dieser nahm den Glückwunsch des wackeren Beamten wie ein Mann entgegen, der sich bewußt ist, denselben nicht selbst verdient zu haben, übertrug aber dann in Gegenwart des Amtmanns seinem Neffen noch einmal alle Geschäfte und hieß im Voraus Alles gut, was die beiden Herren beschließen und ausführen würden. So begaben sich denn der Amtmann, Paul und Fritz nach dem Pachthause, wo sie die beiden Polizeidiener ganz gemüthlich beim Essen fanden, wie die Haushälterin es ihnen denn an Nichts hatte fehlen lassen. So lange der Amtmann im Hause seinem Berufe oblag, wich Paul nicht von seiner Seite, eben so wenig wie Fritz Ebeling von seinem Freunde wich. Die Untersuchung des Nachlasses Uscan Hummer's nahm viel weniger Zeit in Anspruch, als man erwartet hatte. Es fanden sich in seinem kleinen Schreibtisch nur wenige Dinge von Werth vor, da der habgierige Mann schon lange seinen ganzen Besitz zu Gelde gemacht und sich, in Voraussicht seiner baldigen Entweichung, auch keine angenehmere Einrichtung besorgt hatte. Außer seinen nur höchst oberflächlich geführten Pachtbüchern konnte nichts Schriftliches entdeckt werden, also auch nichts, was irgend eine Andeutung auf die heimlich entwendeten Gelder enthielt. An Vermögen ergab sich außer den fünfzigtausend Mark, in englischen Banknoten vorhandenen Legatsgeldern, noch eine Summe von etwa achtzehntausend Mark, die als das Ersparniß des Verstorbenen betrachtet und von dem Amtmann mit in Beschlag genommen wurde. Das war das ganze Resultat der gerichtlichen Untersuchung, und einigermaßen enttäuscht stieg der Amtmann wieder in seinen Wagen, um nach Ritzebüttel zurückzukehren, alles Uebrige Paul van der Bosch überlassend, dem nun die Sorge oblag, das Versteck aufzusuchen, in welchem der Rentmeister seinen Raub so vorsichtig geborgen hatte.

Als der Amtmann sich entfernt hatte, ließ Paul die auf dem Pachthofe dienenden Leute kommen und erklärte ihnen, was vorgefallen. Alle hörten ihn mit Staunen, aber ohne eigentliche tiefe Empfindung an, denn Keiner war dem Rentmeister zugethan gewesen. Nachdem er ihnen gesagt, daß alle Geschäfte wie bisher ihren Gang gehen würden und daß sie fleißig in ihrer Arbeit fortfahren möchten, verhieß er ihnen die baldige Ankunft eines neuen Pächters und übergab dem verständigen ältesten Knecht die Aufsicht über die Felder und der Haushälterin die über das Haus und die Küche. Als vorläufig auch dies Geschäft beseitigt war, begab er sich endlich mit Fritz Ebeling nach Hause, herzlich ermüdet und von allen Erlebnissen des Tages angegriffen, aber ohne Ahnung, daß ihm noch heute ein bei Weitem wichtigeres bevorstand, welches ganz dazu angethan war, alle seine Kräfte noch einmal in Anspruch zu nehmen und sein Gemüth wie seinen Geist noch länger in Spannung zu versetzen.

 

Als Paul und Fritz etwa um vier Uhr Nachmittags in den Saal des Schlosses zurückkehrten, um daselbst den Ausfall ihrer Untersuchung zu verkünden, fanden sie bei'm Professor Laurentius Selkirk vor, Beide in einem ernsten Gespräch begriffen, dem natürlich auch wieder Frau Dralling beiwohnte. Laurentius hatte dem alten Herrn in offenherzigster Weise, und noch viel ausführlicher als Paul, die Ereignisse in der Sterbenacht seines Bruders erzählt und demzufolge auch berichtet, wie er in den Besitz des ›blauen Büchelchens‹ gekommen war. Der Professor, der in dem Buche, welches ihm Paul bereits eingehändigt, nur oberflächlich geblättert hatte, war durch diese Erzählung in einen neuen Paroxysmus der Verwunderung gerathen und konnte sich trotz aller Trostsprüche seiner klugen Rathgeberin gar nicht zufrieden geben. Er lief im Saal auf und ab, focht mit den Händen in der Luft herum und rief Paul und Fritz zu, als sie bei ihm eintraten:

»O, o, es ist ganz unerhört! Könnt Ihr jungen Leute begreifen, wie ein vom Weibe geborener Mensch, ein Mann von Bildung und Verstand, ein so verruchter Bösewicht sein kann? Nein, ich begreife es nicht, denn das geht vollständig über meinen Horizont!«

Frau Dralling, als sie die jungen Herren erscheinen sah, besorgte rasch den Kaffee und während Jene sich ruhig auf ein Sopha setzten, um einmal in Gemüthlichkeit eine Cigarre zu rauchen, wandte der Professor sich wieder zu Laurentius, reichte ihm die Hand und sagte mit stillerem Wesen und besänftigter Miene, indem er sich in Gegenwart Fritz Ebeling's beherrschen zu müssen vermeinte:

»Nichts für ungut, Alter, daß ich so getobt und gebrüllt habe, aber Ihre Erzählung hat die in mir schlafende Leidenschaft geweckt und ich habe mich hinreißen lassen, meine Gefühle überlaut zu äußern. Das kommt bei mir selten vor und schickt sich eigentlich nicht für einen Mann in meinem Alter. Ich sage Ihnen Das, damit Sie keinen falschen Begriff von dem Bruder Ihres alten Herrn erhalten. – Was Sie nun selbst betrifft, mein lieber Laurentius, so ziehen Sie getrost, wie Sie wünschen, wieder in Ihre alte Stube neben Barker. Frau Dralling wird für alle Ihre Bedürfnisse sorgen. Da mögen Sie sich denn ruhen und Ihr Leben genießen, wie Sie wollen, ich lege Ihnen keinerlei Zwang auf und Dienste fordere ich von Ihnen nicht.«

»O nein, Herr, erwiderte Laurentius, sich von dem Stuhle erhebend, auf dem er nach dem Eintritt Paul's wieder Platz genommen, »ruhen will ich zwar, aber arbeiten muß ich doch auch, denn ohne Arbeit schmeckt selbst die Ruhe nicht süß. Nein, ich will mich auch jetzt noch hier nützlich machen, so gut ich kann. Wenn ich aber eine Bitte aussprechen darf, so erlauben Sie mir, die Blumen in jenem Zimmer, namentlich im Winter zu pflegen, wofür ich von jeher eine besondere Neigung gehabt habe, und im Sommer will ich mich an Freund Barker anschließen, da habe ich immer eine gute Kameradschaft und lebe meiner Liebhaberei. Er allein kann ja so nicht in dem großen Garten fertig werden und ihm thut wirklich ein Gehülfe noth. Wollen Sie mir diese Gunst gewähren, Herr Professor, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein.«

Der Professor sah nach Paul hinüber und dieser erhob sich und kam auf Laurentius zu. »Natürlich,« sagte er, »soll Ihnen Ihr Wunsch erfüllt werden, Laurentius. Sie können mit Barker gemeinschaftlich im Garten arbeiten, so viel oder so wenig Sie wollen, und damit Sie nicht zu große Mühe haben, werde ich noch auf einen jüngeren Gehülfen Bedacht nehmen, der Ihnen die schwerste Arbeit abnimmt und Ihnen helfend zur Seite steht. Mit der Zeit wird sich das Alles finden. – Geben Sie Laurentius auch eine Tasse Kaffee!« wandte er sich an Frau Dralling, die eben Fritz und ihm eine Tasse dargeboten hatte.

Der alte Diener warf einen dankbaren Blick auf den gütigen jungen Herrn und nahm die ihm vorgehaltene Tasse an. »Ja, es wird sich Alles finden,« wiederholte er.

»Da ich nun wieder in Betty's Ruh bin, fühle ich mich schon ganz glücklich und ich sehe ja, daß jedes Wort, welches Sie in Neuwerk und auf dem ›Jacob Hinnerich‹ zu mir gesprochen haben, eine Wahrheit war. Nur eine Bitte noch erlaube ich mir auszusprechen, junger Herr, und die müssen Sie mir noch heute gewähren.«

»Welche ist das?« fragte Paul aufhorchend.

»Lassen Sie mich den Sarg meines guten verstorbenen Herrn sehen. Ich habe ihm Manches zu sagen und ich bilde mir ein, daß ich es am besten kann, wenn ich vor seinem Grabe stehe. O, jetzt darf ich dreist vor sein Angesicht treten, ich habe ja meine Pflicht erfüllt und meinen Schwur gehalten – nicht wahr?«

Paul nickte bereitwillig. »Sie kommen meiner Absicht zuvor,« sagte er lächelnd, »auch ich wollte noch heute nach dem Gewölbe gehen und dasselbe einer genaueren Untersuchung unterwerfen. Du gehst doch mit, Fritz?«

»Gewiß, Paul, ich mache Alles mit, und möchte auch einmal das schöne Mausoleum aus der Nähe betrachten.«

Der Professor hatte schon in seinem Schlüsselkasten gekramt und den schönen Stahlschlüssel zum Gewölbe hervorgesucht. »Da ist er,« sagte er, ihn Paul hinreichend. »Gehet, ich aber bleibe hier und werde unterdeß einmal das blaue Buch durchstudiren und nachrechnen, um mein Geld wenigstens – auf – dem Papiere kennen zu lernen.« –

Fünf Minuten später waren Paul, Fritz und Laurentius auf dem Wege nach dem Mausoleum, wo sie trotz des feinen Regens, der immer noch sanft niederrieselte, Barker bei den Blumen antrafen. Laurentius blieb einen Augenblick bei dem alten Bekannten stehen und drückte ihm die Hand.

»Von morgen an helfe ich Dir,« flüsterte er dem Gärtner zu. »Der Herr hat mich zum Untergärtner ernannt und nun wollen wir Alles recht schön machen. O, und der junge Herr, Barker, das ist ein Mann! Der ist nicht allein gut, der weiß auch Alles am rechten Ende anzufassen.«

Barker lächelte, als wollte er sagen: »O ja, ich weiß es schon!« Dann nickte er dem alten Freunde zu und näherte sich dem Kahn, in den Paul und Fritz bereits gestiegen waren. »Soll ich mit hinüber, Herr?« fragte er.

»Nein, Barker, ich danke. Laßt Euch nicht stören, ich will einmal selbst meine Geschicklichkeit als Schlosser versuchen.«

In zwei Minuten waren sie vor der Thür des Mausoleums. Barker stand am jenseitigen Ufer und blickte neugierig hinüber, ob es dem jungen Herrn wohl gelingen würde, das Schloß zu öffnen. Es gelang ihm in der That sehr bald und rasch öffnete er nun beide Flügel, um die frische warme Luft in das Gewölbe einströmen zu lassen.

Laurentius hatte trotz des Regens sogleich seinen Hut abgenommen, als das Gewölbe geöffnet war und die beiden Särge seinen überfließenden Augen sichtbar wurden. Er faltete die Hände und sprach im Stillen ein kurzes Gebet, worin er vielleicht dem ruhig Schlafenden sagte, daß er seine Pflicht erfüllt und seinen Schwur gehalten habe.

»Nun,« redete Paul ihn an, als der Alte seinen Hut wieder ausgesetzt hatte und während er selbst mit Fritz schon in das Gewölbe getreten war, »wollt Ihr nicht näher kommen? Jetzt fürchtet Ihr doch nicht mehr, daß der Todte Eure nächtliche Ruhe stört?«

»Ach nein, Herr, die Furcht ist gestorben – mit ihm

Nach diesen Worten trat er näher an Paul und Fritz heran, welcher Letztere sich neugierig im Gewölbe umblickte und die beiden schönen Särge musterte, die so still und friedlich standen, wie neulich, als Betty und Paul zum ersten Mal auf den Stühlen davor gesessen hatten.

»Aber, mein Gott,« rief da mit einem Mal Laurentius, – »was ist denn das? Jetzt sehe ich es erst! Ist es doch, als ob mir plötzlich ein Schleier von den Augen fiele. Nein, nein, ich irre mich nicht, obgleich es schon lange her ist, daß ich zum letzten Mal in diesem Gewölbe war –«

»Was seht Ihr denn?« fragte Paul, sein glänzendes Auge voller Neugierde auf die verwunderte Miene des alten Mannes richtend.

»Ei, Herr, das ist ja höchst seltsam. Die Särge stehen ja ganz anders, als sie früher gestanden haben und der selige Herr es angeordnet hat. Sie standen früher an jener Wand links und die beiden Stühle dort an der Wand rechts ihnen gegenüber – so – ja, so ist es gewesen.« Und er beschrieb mit beiden Händen die Stellung, welche die Särge und Stühle früher eingenommen hatten.

Paul schaute erstaunt bald Fritz, bald Laurentius an. »Wer hätte denn das gethan?« fragte er.

»Ja, ich weiß es nicht, Herr, aber so, wie sie jetzt stehen, ist es gewiß nicht recht – man kann ja nicht einmal an das Archiv kommen.«

»Archiv?« fragte Paul verwundert. »Was ist denn das? Was versteht Ihr darunter?«

»Das Archiv?« wiederholte Laurentius. »Ei – das ist eine eiserne Truhe, Herr, mitten im Boden des Gewölbes, jetzt von dem Sarge des seligen Herrn bedeckt, und dieser nannte sie so, weil er darin die Urkunde niedergelegt hatte, die sich auf die junge Dame bezog, welche in jenem Sarge schläft. In dieser Urkunde ist die Geschichte ihres Lebens und ihres Todes enthalten, wie er selbst sie ausgearbeitet Er hat sie bei Eröffnung des Gewölbes persönlich hineingelegt und seine eigene Lebensgeschichte hat der Rentmeister nach seinem Tode noch vor der Beisetzung einschließen müssen. Das war ja eine Hauptbedingung, die er dem Rentmeister auf das Herz gelegt, und ich war oft genug dabei, wenn er sie ihm wiederholte. Der Rentmeister hat es auch gethan, so viel ich weiß und darum, ja, darum ging er gleich nach dem Tode des seligen Herrn hieher – als er sich den Rock desselben anzog – ich habe es Ihnen ja erzählt, junger Herr.«

Paul's Miene nahm einen wunderbaren Glanz an und sein Auge blitzte. Ein neuer Gedanke war in seinem Gehirn aufgestiegen und dieser Gedanke lautete: »Wie! wenn der Mann, der in allen Dingen sicher zu gehen liebte, mit jener Urkunde auch andere Papiere von Werth in diese Truhe gelegt hätte? In diesem Fall konnte ihm Niemand, wenn diese Papiere zufällig gefunden wurden, auf den Kopf zusagen, daß er sie hierher gelegt, denn Quentin van der Bosch konnte ja selbst den Einfall gehabt haben, sie diesem sicheren Orte anzuvertrauen. Und da dem Rentmeister der Zugang zu dem Gewölbe vielleicht mittelst eines vorhandenen Doppelschlüssels jederzeit gestattet war, so konnte er ja auch den Schatz heben, wann es ihm beliebte – und daß er es gethan haben würde, wenn ihm die Zeit dazu gekommen schien – wer wollte das jetzt noch bezweifeln? Ich nicht!«

»Wo war also das Archiv?« fragte er laut den die Särge noch immer verwundert anstarrenden Laurentius.

»Gerade in der Mitte des Gewölbes, Herr, wie ich Ihnen sage, unter der goldenen Rose da oben – und jetzt steht das Fußende des Sarges des seligen Herrn darauf.«

»Das ist ja merkwürdig!« fuhr Paul hoch aufathmend fort. »Aber wer konnte denn die schweren Särge von der Stelle bewegen, wenn es so ist, wie Ihr sagt? Dazu gehört mehr als die Kraft eines einzelnen Menschen.«

»O nicht doch, junger Herr, das will ich Ihnen gleich beweisen. Ein einziger starker Mensch reicht hin, die Särge auf dem glatten Marmorboden zu bewegen, denn sie stehen ja auf kleinen metallenen Rollen, die man nicht sehen kann, weil die Wände des Sarges beinahe bis auf den Erdboden reichen. Aber warten Sie – erst wollen wir die Stühle an den Ort tragen, wo sie früher gestanden haben, dann kommen wir leichter dazu.«

Paul, Fritz und Laurentius faßten rasch einen der schweren Stühle an, um ihn zu tragen, aber auch das war nicht nöthig, denn die Stühle standen ebenfalls auf Rollen und ließen sich leicht an die Wand zur rechten Hand rücken, wo sie, wie Laurentius behauptete, auch früher gestanden. Als nun beide ihren alten Platz einnahmen, trat Laurentius an das Fußende des bezeichneten Sarges und suchte es fortzuschieben. Paul half ihm dabei und der Alte hatte Recht, auch der Sarg ließ sich ohne große Mühe bei Seite rollen, was die drei Männer mit der größten Vorsicht vollbrachten.

»So,« sagte Laurentius, »noch ein wenig, Herr. – Da, nun wird die schwarze Platte unter der Rose frei – sehen Sie hier – unter dieser Platte liegt das Archiv – und hier ist die Klappe, die das Schlüsselloch verbirgt.«

Er hatte sich dabei auf die Kniee niedergelassen und eine horizontal bewegliche schwarze Klappe von einem Schlüsselloch weggeschoben. Wie wir schon gesagt, war der Boden des Gewölbes, wie der Vorplatz im Freien, mit abwechselnden schwarzen und weißen Marmortafeln ausgelegt, die eine jede etwa einen Fuß im Geviert maßen. Als Paul aber die Tafel in der Mitte genauer untersuchte, fand er, daß dieselbe nicht aus Marmor, sondern aus schwarzem Ebenholz bestand und auf der einen Seite drei schwarze Scharniere hatte, was man aus der Ferne nicht wahrnehmen konnte. Und so bemerkte er auch jetzt deutlich das Schlüsselloch an der anderen Seite dieser sehr künstlich eingelegten Holztafel.

Alle drei Männer knieten jetzt auf dem Boden und untersuchten die Platte genau. Dabei sahen sie sich mit verwunderten Augen an, im Stillen frohlockend, denn das bisher nur dämmernde Licht der Wahrheit flackerte in ihrem Innern schon heller auf und nun war fast kein Zweifel mehr, daß in der unter der Holztafel vorhandenen Truhe, dem sogenannten Archiv, mehr verborgen sei, als blos die Urkunde, für welche der Verstorbene dasselbe allein bestimmt hatte.

»Aber wo ist der Schlüssel dazu?« fragte Fritz in fast athemloser Spannung.

»Wer weiß es?« erwiderte Paul. »Wenn der Dieb ihn bei sich gehabt hat und kein Doppelschlüssel vorhanden ist, wie kaum zu vermuthen, dann werden wir ihn nie wieder zu sehen bekommen. Indessen werde ich alle Schlüssel von meinem Onkel holen und da wird sich bald zeigen, ob ein dazu passender noch in seinem Besitz ist.«

Er erhob sich und fuhr über das Wasser, um voll ernster und doch freudiger Gedanken rasch nach dem Schlosse zu gehen. Im ersten Vorzimmer trat ihm Frau Dralling entgegen.

»Geben Sie mir einen kleinen Deckelkorb, aber schnell,« sagte er zu ihr und ging dann nach dem Saal weiter.

Unmittelbar hinter ihm trat sie mit dem Korbe in der Hand beim Professor ein. »Ich muß Dich um alle Deine Schlüssel bitten,« redete der Neffe den im blauen Büchel lesenden und dabei rechnenden Onkel an. »Uns fehlt einer und es ist möglich, daß er in Deinem Kasten liegt.«

»Zu welchem Schloß?« fragte der Professor, den mit Zahlen gefüllten Kopf von seinem Papier halb aufhebend.

»Zu einem, welches Du selbst noch nicht kennst und welches wir eben erst entdeckt haben.«

»Ah – gut, Ihr seid Tausendkünstler. Da ist der ganze Kasten, nimm!«

Paul nahm das Körbchen aus Frau Dralling's Hand und leerte den Kasten des Onkels darin aus. Dann ging er wieder fort, ohne ein Wort weiter zu sprechen. Der eifrige Professor kehrte nach der kurzen Unterbrechung, die ihn nicht im Geringsten gestört, sogleich zu seiner Arbeit zurück. Sein Gleichmuth, wenn er mit Rechnen beschäftigt, war beinahe unerschütterlich. Nach kurzer Abwesenheit trat Paul wieder in das Gewölbe und schüttete alle Schlüssel aus seinem Korb auf den Boden. Zuerst sonderte man die zu großen, dann die offenbar zu kleinen aus und die übrigen versuchte man der Reihe nach. Keiner aber paßte.

»Das ist übel,« sagte Paul, als alle Schlüssel probirt waren, »und wir werden das Schloß mit Gewalt aufbrechen müssen. Auch dazu bin ich entschlossen.«

»Was muß es denn eigentlich für ein Schlüssel sein, der passen könnte?« fragte Fritz und beugte seinen blonden Kopf tief zu dem Boden nieder.«

»Ein mittelgroßer, sogenannter deutscher Stiftschlüssel mit einem kleinen Bart,« entgegnete Paul.

»Aha, jetzt endlich sehe ich es,« rief Fritz, »ich hätte früher können so klug sein – solche Schlüssel habe ich bei mir.« Er griff in die Tasche, zog ein kleines Schlüsselbund heraus und suchte daran nach einem Schlüsselchen, das er bald gefunden hatte.

Dann probirte er vorsichtig, ob er in das Schloß ginge und endlich rief er mit kurzem Athem: »Ja, er sitzt darin!«

»Er schließt!« rief Paul freudig. »Dreh' ihn herum – geht es nicht?«

»Schwer – aber es geht doch. Ha, da haben wir es!« Er zog kräftig an dem Schlüssel und siehe da, die schwarze Holztafel hob sich, die verhängnißvolle Truhe war geöffnet und man sah – eine Hand voll Stroh, welches über der ganzen Oeffnung unmittelbar unter dem Deckel ausgebreitet lag.

»Das ist früher auch nicht so gewesen,« sagte nun Laurentius, der eben so laut und schwer athmete wie die beiden Anderen. »Stroh war nie darin. Eine zinnerne Kapsel stand auf dem armstiefen Grunde der Truhe und in dieser war die Urkunde enthalten.«

Paul nahm, ohne ein Wort zu sprechen, das Stroh vorsichtig fort und warf es bei Seite, dann aber wurde ein dreifacher, in einen verschmelzender Ausruf freudigen Staunens laut. Unmittelbar unter dem Stroh bis an den Rand der Oeffnung hinauf lagen fest zusammengebundene Papierpackete. Fritz warf nur einen Blick darauf und rief:

»Es sind englische Banknoten! Der Tausend, das sind hübsche Packete! »Hast Du keinen größeren Korb als den da?«

Jetzt wurde Laurentius abgeschickt, um einen größeren Deckelkorb zu holen, aber ihm befohlen, noch Niemanden zu sagen, was man gefunden habe. Als er wiederkam, waren die beiden Freunde schon längst bis auf den Grund der Truhe gelangt, wo sie ganz in der Tiefe die Kapsel mit den beiden Urkunden gefunden hatten. Aber was hatten sie sonst noch aus dem geheimnißvollen Schooße der Erde befördert? – O, es war im ersten Augenblick noch gar nicht zu übersehen. Zuerst waren es wenigstens ein Dutzend fest zusammengeschnürter Packete, wie es das erste gewesen, aus englischen Banknoten, aber auch aus preußischen Cassenanweisungen bestehend, die Uscan Hummer wahrscheinlich für umgewechselte Staatsund Eisenbahnpapiere erhalten und dann hier niedergelegt hatte, um sie später im Auslande zu verwerthen. Nach diesen Packeten kamen einige Rollen Gold, die Fritz mit einem Blick als Tausendthalerrollen bezeichnete. Endlich aber folgte eine große Menge Staatsund Eisenbahnpapiere, die wiederum, um Raum zu ersparen, fest zusammengebunden waren. Fritz konnte seine Neugierde nicht bezähmen, er öffnete eins der letzten Packete und schlug die oberste Lage auseinander.

»Das geht,« sagte er fast athemlos und einen raschen Blick darüber laufen lassend; »es sind preußische Staatspapiere, zu tausend Thalern das Stück. Ah, und auch die Coupons vom abgelaufenen Jahre, sitzen noch daran. Er hat also keine Zeit gefunden, sie abzuschneiden. Der arme Mann! Nun, er wußte wohl, daß er nichts damit verlor, sie sind noch lange gültig. Und sieh da – da steht wieder unten in der Ecke der Kehrseite der Name: van der Bosch. Nun, Paul, was sagst Du jetzt? Bist Du befriedigt? Da haben wir Alles, was wir suchen!«

Paul, anfangs sehr aufgeregt, war jetzt still und viel ruhiger geworden. Er dachte im ersten Augenblick nicht an den Gewinnst des vielen Geldes, sondern an die Art und Weise, wie es hierhergebracht und eingeschachtelt war.

»Ja,« sagte er endlich, »es ist mir erklärlich. Diese Papiere, nicht so fest zusammengepreßt wie jetzt, bilden einen großen Haufen, und wenn sie Jemand alle in der Tasche mit fortnehmen sollte, ohne sich gerade wie eine Tonne auszustopfen, so könnte er sie nicht mit einem Male vom Schlosse nach dem Gewölbe transportiren. Darum ist er so oft gegangen. Meinst Du nicht auch?«

»O, die Masse muß früher, ehe die Actien in Banknoten umgesetzt waren, noch viel größer gewesen sein als jetzt, mein Lieber,« erwiderte Fritz. »Ich stimme Dir also bei in Deiner Vermuthung. Doch jetzt komm – hier ist es wirklich kalt und wir werden ja wohl mit unserer Arbeit fertig sein.«

»Nein, noch nicht,« erwiderte Paul nachdenklich. »Laß uns die Todten erst wieder in ihre alte Ruhe bringen, das sind wir ihnen schuldig und sie mögen uns verzeihen, daß wir den Frieden um sie her aus eine kurze Zeit entweiht haben. Allein mein Onkel Quentin selbst würde sich freuen, wenn er sehen könnte, was in seiner Nähe vorgefallen und daß nun endlich sein Wille erfüllt und der rechte Erbe in den Besitz des Seinigen gekommen ist. – Laurentius, legen Sie alle Schlüssel wieder in den kleinen Korb und nehmen Sie ihn mit. So.«

Er schloß vorsichtig die Truhe wieder, nachdem man das Stroh in das Wasser geworfen. Dann packte man alle Papiere in den großen Deckelkorb, und da sie in diesen noch nicht hineingingen, steckten Paul und Fritz die übrigen in ihre Taschen. In wenigen Minuten waren dann die beiden Särge in ihre alte Stellung gebracht, und als nun jede Spur der vorgenommenen Handlung aus dem geweihten Orte entfernt war, verließen die drei Männer das Gewölbe und schlugen, nachdem sie die Thür wieder geschlossen und das jenseitige Ufer erreicht hatten, mit ihrem kostbaren Funde den Weg nach dem Schlosse ein.

Als sie alle Drei, mit Schweiß bedeckt und von Aufregung bleich, in den Saal traten, fanden sie den Professor noch bei seiner Arbeit, während Frau Dralling den alten Kakadu mit Zucker zu beruhigen suchte, der ihren Herrn den ganzen Nachmittag durch sein Geschrei gestört hatte.

»Onkel!« rief Paul mit schmetternder Stimme, wie man sie hier noch nie vernommen, »lege Dein Buch bei Seite. Nachher wollen wir es mit dem Baaren vergleichen. Hier hast Du Deine Schlüssel wieder und da ist Deine ganze Erbschaft, die wir endlich an's Tageslicht gefördert haben.«

Der Professor lächelte mit komisch verzogenem Gesicht, denn er glaubte, man scherze mit ihm. Als aber Fritz und Frau Dralling die schöne Sammetdecke von dem großen Tisch abzuheben begannen, dann auch Paul und Fritz ihre Taschen leerten und den leicht erkennbaren Inhalt derselben auf dem Tisch aufhäuften, da ging ihm das sonnenklare Licht der Wahrheit jener Worte auf, er schlug die Hände vor Verwunderung und Schreck zusammen und starrte bald den einen, bald den andern der glücklichen Schatzgräber an.

»Jetzt laßt uns vernünftig und in aller Ruhe verfahren!« rief der hier an seinem Platze stehende Fritz. »Frau Dralling, schließen Sie die Thür, damit wir nicht gestört werden. So. Aber zittern und beben Sie nicht so, Frau, es ist ja kein Unglück, was Ihrer Herrschaft widerfährt. Ich werde jetzt die Papiere der Reihe nach ordnen und Du schreibst jede von mir genannte Summe auf, Paul. Nimm gleich einen ganzen Bogen und Tinte, dann rechnet es sich nachher leichter. Oder haben Sie vielleicht Lust dazu, Herr Professor?«

»Ich, meine jungen Herren?« rief der Professor mit glühendem Gesicht und jetzt noch beklommener athmend, als Frau Dralling, die sich die Augen schon lange mit ihrer Schürze wischen mußte. »Ach, lassen Sie mich aus dem Spiel, ich würde mich jeden Augenblick verschreiben, denn ich glaube, ich könnte jetzt nicht einmal drei Zahlen richtig hinter einander setzen!« Und er ging, immer wieder die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, ruhelos im Saale auf und nieder und rief ein Mal über das andere: »O, diese jungen Leute, diese jungen Leute! Was machen die Alles möglich! Sie können hexen und zaubern – und ich – ich bin weiter nichts als ein hölzerner Popanz! O ja, o ja, ich sehe es – sie sind aus einer neuen Welt, und ich – ich kann mich begraben lassen mit meiner ganzen Mathematik und Algebra! Haha! Und die Logik – wo ist meine Logik? Fort in alle Winde – und straf' mich Gott, wenn ich jetzt den Magister Matheseos beweisen sollte, ich bliebe stecken wie ein fauler Quartaner. Und sie – sie sitzen da und rechnen, und ich – ich laufe hin und her und winsele. O, ich bin doch nur ein sehr dummer Gelehrter – quod erat demonstrandum

Von Zeit zu Zeit kam er aber doch wieder an den Tisch heran und sah sich die verschiedenen Scheine und Papiere an, die Fritz als Sachkundiger in einzelnen Stößen aufthürmte, nachdem jede vollständig abgezählte Summe durch irgend einen aufgelegten schweren Gegenstand als abgeschlossen bezeichnet war.

Fritz verfuhr dabei sehr regelrecht. So suchte er zuerst die Papiere aus, die er selbst in der Tasche getragen, dann kamen die Paul's an die Reihe und zuletzt erst die aus dem Korbe. Die Banknoten häufte er auf eine besondere Stelle und die Cassenanweisungen ebenfalls, wobei er jedesmal, wenn er tausend Pfund Sterling oder Thaler zusammen hatte, Paul die Summe dictirte, der sie sogleich in aller Ruhe auf seinen Bogen niederschrieb.

Als man mit dieser Zählung zu Stande gekommen war, was eine lange Zeit in Anspruch nahm, so daß Frau Dralling wegen der bei dem finsteren Himmel früh eintretenden Dämmerung schon längst Kerzen über Kerzen angezündet hatte, kamen die Staatsund Eisenbahnpapiere an die Reihe, und das nahm noch viel mehr Zeit fort, denn von ihnen schnitt Fritz mit einer großen Scheere sogleich die fälligen Coupons ab, die er in einen besonderen, von Frau Dralling dargereichten Kasten warf, wobei er wiederholt äußerte, daß Baring und Sohn sich nun freuen würden, denn jetzt sei ja der alte verlorene Kunde wieder auferstanden.

Endlich aber, als es draußen schon ganz dunkel, war man doch fertig geworden, und jetzt wurde der Professor gerufen, mit der Bitte, die Endsumme des blauen Buches zu nennen, da Fritz Ebeling bereits mit kundigem Auge die leicht addirbare Summe des vorhandenen baaren Geldes berechnet hatte.

Der Professor kam schüchtern mit seinem Buche heran und nannte sie mit zitternder Stimme. Als Fritz sie nennen hörte, überlegte er einen Augenblick, dann lächelte er. »Wissen Sie vielleicht aus dem Kopf, Herr Professor,« fragte er, »wieviel baares Geld Sie an Legaten und Steuern haben zahlen müssen?«

»Ich weiß jetzt nichts aus dem Kopf, mein junger Freund,« lautete die kläglich gesprochene Antwort, »denn es brummt mir wie eine alte Orgel darin, ich kann sie Ihnen aber ganz genau nennen, wenn Sie sie wissen wollen.« Und er ging schwankenden Schrittes nach seinem eisernen Schranke und holte die Rechnungsbücher herbei, die geordnet darin lagen. Dann schlug er eins davon auf und nannte die Summe, welche er im Ganzen ausgezahlt.

Fritz zog sie sogleich von der Schlußsumme des blauen Büchelchens ab und verglich die des jetzt vorhandenen baaren Geldes damit. Endlich war er fertig und lächelte wieder. »Es stimmt so ziemlich,« sagte er, »bis auf einige tausend Thaler, die beim Umwechseln verloren gegangen sein können. Ihr ehemaliger Rentmeister ist also doch in einer Beziehung ein ehrlicher Mann gewesen. Er hat nichts aus dem Hause getragen und Alles wohlweislich im Archiv gelassen.«

»In welchem Archiv denn?« fragte der Professor mit verdutztem Gesicht. Und jetzt erfuhr er endlich, wie und wo die jungen Leute den Schatz gefunden hatten.

Als nun aber auch Das abgethan war, wurden alle Papiere vorsichtig und wie sie Fritz selbst geordnet, in den Geldschrank gebracht, und erst als dieser geschlossen und der Schlüssel dazu vom Professor Paul eingehändigt und alle dabei betheiligten Personen wieder im Saal versammelt waren, fielen sich Paul und Fritz in die Arme und wünschten sich gegenseitig Glück zu dem ungeheuren Funde, den sie Beide gemacht und der nun Casimir sowohl wie Paul van der Bosch zu einem der reichsten Privatmänner in ihrem Lande gemacht hatte.

Der gute Professor aber konnte sich noch lange nicht in sein Glück finden. Er war, nachdem die jungen Leute ihm ihren Glückwunsch abgestattet, wie ohnmächtig auf einen Stuhl gesunken und da saß er lange Zeit unbeweglich und ohne eine Sylbe zu sprechen. Frau Dralling dagegen konnte sich vor Freude und Uebermuth kaum lassen. Sie sprang und tanzte mit dem alten Laurentius um das Billard herum und fragte ihn ein Mal über das andere:

»Laurenz! Mann, wollen Sie mich heirathen? Sehen Sie mich an, bin ich nicht noch eine hübsche Frau! Wahrhaftig ich bin so glücklich, so selig, das heißt so verrückt, daß ich noch heute einen dummen Streich machen könnte. Doch nein,« fuhr sie nach einer Weile mit thränenden Augen fort, »ich will keinen dummen Streich machen – ich will lieber an meinen seligen Dralling denken und ihm danken, daß er aus mir eine so – kluge Frau gemacht hat, denn klug bin ich, Laurenz, das will ich beschwören, und wenn Sie es nicht glauben – so lassen Sie es hübsch bleiben.«

Der alte Mann stand ganz verdutzt vor ihr und wußte gar nicht, was er von diesen tollen Reden denken sollte; aber er ließ geduldig Alles mit sich geschehen. Er tanzte, wenn man ihn dazu nöthigte, er lachte, wenn Frau Dralling lachte, und er vergaß auch ein paar Thränen mit ihr, denn immer fiel ihm wieder das Glück ein, welches sein guter seliger Herr im Himmel empfinden müsse, wenn er nun sähe, daß sein großes Vermögen endlich doch in die rechten Hände gekommen und daß kein Bösewicht mehr auf der Welt sei, der es ihnen rauben und vorenthalten könne.


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