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Sechstes Kapitel.
Die Jagd auf den Wolf

Der Morgen war endlich angebrochen und Paul war einer der Ersten im Schlosse, der sein Bett verließ. Sobald er sich angekleidet, stieg er leise, um den noch schlafenden Onkel nicht zu wecken, die Wendeltreppe nach dem oberen Stockwerk empor und begab sich zu Fritz Ebeling, der noch süß ruhend in seinem schönen Bette lag, nun aber die Augen aufschlagen mußte, denn Paul hatte keine Ruhe mehr, allein zu sein, und sehnte sich nach einem Gefährten dem er seine Gedanken und Empfindungen mittheilen konnte, was ihm in der letzten Zeit nur in sehr mäßigem Grade gestattet gewesen war. Während Fritz sich nun ankleidete, stand er am Fenster, blickte über den großen Rasenfleck vor der Halle nach dem Park hinaus und prüfte die Wolken des Himmels, wie es der Seemann thut, der an dem neu heraufgestiegenen Tage eine gute Strecke auf dem schäumenden Meere zurückzulegen hofft.

Es hatte gegen Morgen stark geregnet, jetzt aber tropfte es nur noch leise von den Blättern der Bäume und der warme Boden, der so lange der wohlthätigen Feuchtigkeit entbehrt, dampfte mächtig, so daß ein dünner, nebelartiger Dunst in lebhaft wirbelnden Spiralen zwischen den Bäumen wogte. Am Himmel aber sah es fast noch trübseliger aus. Der Wind blies noch immer stoßweise aus Westen und führte wahre Wolkengebirge von dunkler Farbe und grotesken Gestaltungen heran, doch war die Luft dabei warm, fast schwül und offenbar konnte man auf anhaltenden Regen rechnen, sobald der Wind nur eine Stunde nachließ. Allein dieser Wind sollte an diesem Tage nicht nachlassen, im Gegentheil sich noch viel mehr verstärken, freilich aber auch den Regen fernhalten, der sich erst am nächsten Tage einstellte und so den Wunsch vieler Menschen erfüllte, die bereits lange danach gelechzt hatten. –

»Du wohnst prächtig hier,« sagte Fritz während des Ankleidens zu seinem Freunde, als dieser ihm seine Wetterbeobachtungen mitgetheilt, »und mein Vater hält es gewiß ein paar Wochen bei Dir aus, obgleich er auch Ausflüge nach der See machen will.«

»Dafür laß mich sorgen,« entgegnete Paul. »Er soll mit seinen Ausflügen zufrieden sein. Wir wollen auch einmal nach Helgoland, wohin Betty sich schon so lange gesehnt hat. Wenn unser heutiges Geschäft erst beendet ist, sind wir freie Herren und ich habe eine ganze Menge Pläne im Kopf, die wir ausführen müssen. Bist Du jetzt fertig? Gut, so wollen wir in den Saal gehen, unser Frühstück verzehren und hören, wie Friedrichs Wache abgelaufen ist.«

Es war eben sechs Uhr vorbei, als sie in den Saal traten. Gleich nach ihnen kam Frau Dralling, die sich heute beeilt hatte, da sie sich noch immer nicht zufrieden geben konnte, daß der Herr Baumeister gestern ohne Kaffee hatte fortfahren müssen. Als Paul sie eintreten sah, ging er freudig auf sie zu, ergriff ihre Hände und sagte:

»Frau Dralling! Mein Herz drängt mich dazu, Ihnen etwas Geheimes zu sagen. Ja, staunen Sie nur, aber schweigen müssen Sie doch noch, bis ich Ihnen zu reden erlaube. Sie haben in allen Dingen, die den Rentmeister betreffen, Recht gehabt – der Kerl ist ein ganz gemeiner Schurke, und hier haben Sie endlich meine ganze Meinung über ihn.«

Frau Dralling, die sonst so starke Frau, war über diese ihr so plötzlich zukommende und so wenig erwartete Nachricht dermaßen erschrocken, daß sie sich setzen mußte und erst gar nicht reden konnte. Sie schlug nur die Hände zusammen und hielt sie im Schooße gefaltet, während sie Paul mit einem unendlich frohlockenden Blicke ansah.

»Ja,« fuhr dieser fort, »Sie haben von Anfang an eine richtige Meinung von ihm gehabt und darum mache ich Ihnen die Freude, Ihnen zu sagen, was hier noch Niemand wissen darf. Der Rentmeister hat meinen Onkel, schon in sein betrügerisches Netz eingesponnen, als er ihn in ... besuchte, und später hat er ihn belogen und bestohlen auf eine schändliche Weise. Aber heute – heute, Frau Dralling, hat seine Stunde geschlagen, und wir ertappen ihn. Bleiben Sie den ganzen Tag in der Nähe meines Onkels, und erst wenn er durch irgend einen Vorgang von unserm Unternehmen Kenntniß erhalten sollte, bereiten Sie ihn in schonender Weise auf das vor, was ich Ihnen eben gesagt. Wir werden gegen elf Uhr zum Amtmann nach Ritzebüttel fahren, um ihn zur Verhaftung des Schurken aufzufordern; besorgen Sie uns also gegen zehn Uhr ein kräftiges Frühstück, da wir nicht wissen, wann wir von Ritzebüttel zurückkehren.«

»Ei Du mein Gott,« rief endlich die bebende Frau, die aber schon wieder aufgesprungen war und ihr Herz vor Muth klopfen fühlte, »wie haben Sie denn das herausgebracht?«

»Darüber ein andermal, jetzt schweigen Sie und besorgen Sie uns den Kaffee. Vor allen Dingen aber zeigen Sie dem Professor ein unbefangenes Gesicht, wenn er kommt und, wie gesagt, bleiben Sie ihm zur Seite, damit er im Nothfall von unserm Thun unterrichtet werden kann, was ich allein Ihrer Umsicht überlasse.«

»Ja, ja, ich will ja Alles thun!« rief Frau Dralling und nun zeigte sich wieder ein triumphirendes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie lief hinaus, um den Kaffee zu besorgen, der auch nicht lange auf sich warten ließ.

Unmittelbar nach Frau Dralling's Abgang trat Friedrich in den Saal. Er sah ganz munter und vergnügt aus und hatte sich schon wieder in trockene Kleider geworfen, da er vom Regen, der in der Nacht gefallen, völlig durchnäßt worden war.

»Guten Morgen, Herr van der Bosch,« sagte er freundlich. »Ich habe eigentlich nichts zu melden. Niemand hat sich in der Nacht dem Mausoleum genähert, weder ein Mensch noch ein Gespenst. Als gegen fünf Uhr Barker in den Garten kam, zog ich mich vorsichtig zurück und er hat mich nicht gesehen.«

»Das ist gut und ich danke Ihnen. Aber jetzt habe ich noch einen geheimen Auftrag für Sie und dann stärken Sie sich gehörig, wobei Frau Dralling Ihnen behülflich sein wird, denn um elf Uhr beginnen wir eine Jagd und fahren nach Ritzebüttel zum Amtmann. Es wäre mir jedoch lieb, wenn Sie diesmal ritten, da ich dann einen Platz mehr im Wagen behalte.«

»Das ist ganz nach meinem Geschmack, Herr van – der Bosch; ich werde um elf Uhr gerüstet sein und auch den Wagen bestellen.«

»Ja, aber lassen Sie ihn nicht schließen, wir müssen freie Umsicht behalten. Doch soll Louis das Verdeck für alle Fälle mitnehmen.«

»Gut, Herr, Alles soll geschehen, wie Sie befehlen. Was für einen geheimen Auftrag aber haben Sie mir zu geben?«

»Gehen Sie,« sagte Paul flüsternd, »langsam nach dem Pächterhaufe hinüber und suchen Sie zu ergründen, ob der Rentmeister zu Hause ist. Wenn Sie ihn gesehen haben, kommen Sie zurück und melden es mir.«

Friedrich nickte vergnügt, als ahne er, wem die bevorstehende Jagd gelte, und ging sogleich nach dem Park. In einer halben Stunde kam er wieder und berichtete, daß er den Rentmeister gesehen habe. Er sei eben zu Pferde gestiegen und nach den Feldern geritten, wie er alle Morgen zu thun pflege.

»Ich danke Ihnen. Jetzt ruhen und stärken Sie sich. Auf Wiedersehen bis elf Uhr, eher bedarf ich Ihrer nicht.«

Um sieben Uhr kam der Professor zum Vorschein und fand die jungen Männer am Kaffeetisch. Er begrüßte sie auf seine gewöhnliche herzliche Weise und setzte sich sogleich zu ihnen. »Na,« sagte er im Verlauf des Gesprächs, »wohin werden die Herren denn heute ihren Weg nehmen?«

»Nach Ritzebüttel, lieber Onkel. Wir müssen nachholen, was wir gestern versäumt.«

»Ach so, es ist wahr, Du hast es mir ja schon gestern gesagt. Viel Vergnügen auf der Partie bei dem schlechten Wetter. Es hat geregnet, wie ich sehe. Na, da wird der Rentmeister glücklich sein, der hatte gestern große Sorge.«

»Er hat sie auch mir mitgetheilt,« erwiderte Paul lächelnd, »ich habe ihn gesprochen.« –

Nach dem Kaffee ging der Professor an seine Arbeit; Paul und Fritz dagegen spielten eine Partie Billard, um sich die Zeit zu vertreiben. Nach neun Uhr aber begann Frau Dralling, die wie electrisirt und von einer seltsamen Beweglichkeit war, ihre Zurüstungen zum zweiten Frühstück zu treffen und bat sich die Kellerschlüssel aus, um auch Wein heraufzuholen.

»Was für eine Sorte soll ich heute bringen?« fragte sie heiter.

Paul besann sich und sagte: »Lassen Sie uns einmal selber hinabgehen, mein Freund hat unsern Keller noch nicht gesehen. Komm, Fritz, ich will Dir einmal etwas Angenehmes zeigen.«

Nach zehn Minuten kamen die beiden jungen Männer mit lachenden Gesichtern wieder aus dem Keller herauf, jeder eine Flasche in der Hand tragend, die sie auf den Frühstückstisch stellten.

»O, o,« sagte Fritz, »wenn nur mein Vater erst hier wäre! Was wird der für Augen machen! Hier ist ja für Alles gesorgt und das Fehlende werden wir hoffentlich heute ersetzen.«

Der Professor wunderte sich gar nicht, als er um zehn Uhr die Aufforderung erhielt, heute ein warmes Frühstück einzunehmen, da er ja wußte, daß die jungen Leute eine Reise vorhatten. Er aß und trank mit ihnen und war so lustig wie sie, ohne den Grund dieser seltsamen Lustigkeit zu kennen. Als er nun aber das letzte Glas mit dem Wunsch einer glücklichen Fahrt geleert, stand Paul auf und sah nach allen Uhren, deren er im Saale ansichtig werden konnte. Es ging gegen elf Uhr und nun begann er, sich mit Fritz zu der Reise zu rüsten. Beide zogen Regenröcke und feste Stiefel an und nahmen statt des Hutes festschließende Mützen, wie es sich für Jäger geziemt, die den bösen Einflüssen eines Unwetters trotzen müssen. Als sie fertig waren, kam Friedrich mit der Meldung, daß der Wagen vor der Thür stehe.

»Adieu, Onkel!« sagte Paul zu dem Professor, der schon wieder am Schreibtisch saß.«

Der alte Mann sprang auf und sah die beiden jungen Leute in ihrer Vermummung groß an.

»Na,« sagte er lachend, »Ihr seht ja aus, als ob Ihr eine Reise nach dem Nordpol unternehmen wolltet. Aber Ihr habt Recht, es wird Regen geben und der Wind bläst ein Bischen arg. Grüßt den Herrn Amtmann von mir und bleibt nicht zu lange aus, da ich ja heute nicht aus dem Hause kann.«

Paul und Fritz schüttelten ihm die Hände und verließen den Saal; Frau Dralling, deren Herz so ungestüm vor Freude schlug, daß sie nur wenige Worte für die Abfahrenden hatte, begleitete sie bis zur Halle. Paul legte, als er in den Wagen stieg, mit einer ausdrucksvollen Geberde den Finger auf die Lippen, nickte ihr freundlich zu und – fort ging es im scharfen Trabe nach Ritzebüttel hin, während Friedrich unmittelbar hinter dem Wagen herritt und seinen feurigen Rappen, der einige Tage Ruhe gehabt, gewaltig im Zügel halten mußte.

Als man im Freien außerhalb des Parkes war, machte der heftige Wind sich erst recht bemerklich. Wenn sein Stoß über die Felder und Waldstrecken fuhr, riß er die Zweige der Bäume auseinander und bog die wogenden Halme fast bis zur Erde nieder. Dabei ließ er ein Sausen hören, daß die Pferde unruhig wurden und im scharfen Laufe die Ohren spitzten.

»Das ist ein ächter Jagdtag!« sagte Fritz mit lächelnder Miene. »Gut, daß wir nichts mit der Kugel zu treffen haben, wir würden oft genug vorbeischießen.«

»O, der Wind thut uns nichts,« erwiderte Paul, sich fester in seine Decken hüllend, »aber den Regen möchte ich bitten, uns zu verschonen. Ha! Heute möchte ich die See sehen, die wird einen gewaltigen Tanz aufführen. Doch, unser Ziel liegt diesmal am Lande. Wenn der Amtmann nur schon zu Hause ist und sogleich auf meine Bitte eingeht und die Jagd mit uns beginnt!«

»Ich denke es gewiß, er soll ja ein eben so liebenswürdiger wie pflichttreuer und entschlossener Mann sein, wie Betty sagt. Uebrigens sind Deine Beweise so handgreiflich und es liegt so viel Gefahr im Verzuge, daß ich keinen Augenblick an seiner Bereitwilligkeit zweifle.«

»Ich auch nicht. – Haben Sie Decken für die Pferde mitgenommen, Louis?«

»Decken, Futter und Alles, wie es sich ziemt, Herr!« erwiderte der wettergraue Kutscher, sich lächelnd nach den beiden jungen Männern umblickend.

»Na, dann ist für Alles gesorgt und nun in Gottes Namen vorwärts!«

 

Es war noch nicht ganz zwölf Uhr, als die Grauschimmel schnaubend vor der Treppe des Schlosses zu Ritzebüttel hielten. Der Diener, den Paul gestern gesprochen, kam sogleich heraus und verkündete mit heiterem Gesicht, daß der Herr Amtmann schon vor einer halben Stunde angelangt sei und sich eben zum Frühstück an den Tisch gesetzt habe.

»Ist er allein?« fragte Paul.

»Ja, er ist ganz allein gekommen, seine Familie wird erst Nachmittags erwartet.«

»So melden Sie mich und sagen Sie, daß ich in einer wichtigen und eiligen Angelegenheit ihn zu sprechen wünsche.«

Paul und Fritz waren in den Hausflur getreten und entledigten sich hier ihrer Regenröcke. Sie waren kaum damit zu Stande gekommen, als der Diener schon wieder erschien und sie bat, in das erste Zimmer zur linken Hand zu treten. Hier sahen sie den Amtmann am Tische sitzen; er stand aber sogleich auf und trat ihnen mit einem neugierig gespannten Gesicht entgegen, welches einen sehr freundlichen Ausdruck annahm, als er die beiden jungen Männer genauer betrachtete.

Paul stellte sich und seinen Freund vor und sagte dann: »Ich bedaure, daß ich Sie bei Ihrem Frühstück stören muß, allein wenn Sie meinen Vortrag gehört haben, werden Sie meine Eile gerechtfertigt finden. Indessen lassen Sie sich von Ihrem Genusse nicht durch uns abhalten, ich werde Ihnen dabei Etwas erzählen, was Ihrem Appetit vielleicht noch einige Würze hinzufügt, falls Sie so gütig sind, mir Ihr Ohr zu leihen.«

Der Amtmann, selbst ein so fein gebildeter Mann, hörte mit sichtbarem Wohlgefallen den schönen jungen Mann sprechen, betrachtete ihn noch einmal mit raschem Blick und erwiderte dann, auf zwei leere Sessel am Tische deutend: »Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren, und wenn Sie mir die Ehre geben, ein Glas Wein mit mir zu trinken, werde ich mein Frühstück beendigen, da ich so eben einen weiten Weg zurückgelegt habe.«

Der Diener, der bisher noch im Zimmer geblieben war, da er eine derartige Aeußerung seines Herrn erwartet haben mochte, brachte sogleich zwei Gläser, und der Amtmann goß sie voll Wein und reichte sie seinen Gästen mit freundlichem Kopfnicken hin. Paul und Fritz nahmen das so herzlich Dargebotene dankend an und ließen sich an dem Tisch nieder, der Amtmann aber nahm seine Gabel wieder zur Hand und sagte dann: »So, nun sitzen wir ganz ungenirt beisammen und jetzt wollen wir bald zum Ende kommen. Bitte, tragen Sie mir gefälligst die Ursache Ihres mir sehr angenehmen Besuches vor.«

Paul überbrachte zuerst die Grüße seines Onkels, und der Amtmann flocht einige Fragen nach dem Befinden desselben ein. Als auch das abgemacht, begann Paul seine Erzählung mit jener überzeugenden Ruhe und imponirenden Sprachgewandtheit, die ihm, wenn es nöthig war, im vollkommensten Maaße zu Gebote standen. Klar und einfach entwickelte er alle Ereignisse auf Betty's Ruh bis zu dem Gerichtsacte, der dem Amtmann eben so gut, wenn nicht noch besser als ihm selber, bekannt war, dann aber mischte er seine eigene Person in das Verhältniß, legte seine Ansichten über das Testament und den vorgefundenen Nachlaß dar, und von diesem Augenblick an wurde seine Mittheilung so interessant, daß der Amtmann bald die Gabel ruhen ließ und nur Augen und Ohren für den Sprechenden hatte. Als nun aber dieser mit einem Male das Wort ›Betrug‹ aussprach, die Entdeckung des blauen Büchelchens vortrug, es auf den Tisch legte und nun auch die Beweise Fritz Ebeling's beibrachte, die dieser zuletzt mit eigenen Worten vervollständigte, da konnte der Amtmann nicht länger sitzen bleiben. Er sprang lebhaft vom Stuhl auf und sein bisher blasses Gesicht nahm die wärmere Farbe hoher Erregung an, während seine geistreichen Augen vor Ueberraschung und Verwunderung zu blitzen begannen.

Aber noch sprach er kein Wort. Er griff nur mit zitternder Hand nach dem blauen Buche und blätterte darin, wobei er sehr bald die auf der ersten Seite stehenden Worte las und in denselben die ihm nicht fremd gebliebene Handschrift Quentin van der Bosch's wiedererkannte.

Da aber war der Moment gekommen, wo auch ihn die Ueberzeugung der Wahrheit der Aussage des jungen Mannes ergriff. Er erhob seinen schlanken Körper zu seiner höchsten Höhe, athmete tief auf und sprach mit flammenden Augen:

»Das ist ja eine erstaunlich seltsame Geschichte und ein unzweifelhafter, unerhörter Betrug! Ich glaube Ihnen Alles auf ein Haar. Und um ganz aufrichtig gegen Sie zu sein, muß ich Ihnen sagen, daß so mancher Verdacht gegen die Ehrlichkeit des bisherigen Rentmeisters auch bis zu meinen Ohren gedrungen ist, allein nach der so günstig für ihn ausgefallenen Untersuchung lag kein Grund vor, den schwierigen und unangenehmen Proceß noch einmal zu beginnen. Jetzt aber ist es etwas ganz Anderes, meine Herren. Jetzt kommen Sie und belegen Ihre Anklage sofort mit unwiderleglichen Beweisen – da liegt der Hauptzeuge vor uns, hier steht der lebende Zeuge – und so frage ich Sie, Herr van der Bosch – was verlangen Sie, daß ich thue?«

Paul lächelte auf seine alte ruhige Weise, denn er hatte bereits in der sprechenden Miene des Amtmanns gelesen, daß derselbe vollkommen mit ihm einverstanden sei, und so sagte er fest und klar:

»Herr Senator, ich verlange, daß der Betrüger augenblicklich verhaftet werde. Er kann sich jeden Augenblick der Untersuchung entziehen und den Raub in Sicherheit bringen, den er irgend wo heimlich geborgen hat.«

»Gut,« sagte der Amtmann mit energischer Stimme, »da sind Sie einer und derselben Meinung mit mir und das Recht soll einmal rasch seinen Lauf nehmen. Mit diesem Zug an meiner Glocke leite ich den neuen Proceß ein und Sie sollen sich also nicht über langsame Gerechtigkeit in unserm Lande zu beklagen haben.«

Er that einen Schritt nach dem Glockenzug und zog erst einmal leise und dann zweimal stark daran, worauf er den beiden Herren lächelnd zunickte und, sich die Hände reibend, sinnend im Zimmer auf und nieder schritt.

Auf den ersten Glockenzug trat sofort der Diener ein, welcher die Fremden empfangen hatte.

»Laß meinen Reisewagen sogleich mit frischen Pferden bespannen,« gebot der Amtmann, »und lege meine Pistolen, meine Decken und meinen schweren Stock hinein. In einer halben Stunde muß Alles besorgt sein.«

Der Diener ging sich verbeugend hinaus und an seiner Statt trat der Secretair des Amtmanns ein.

»Sind die Büttel noch da?« fragte dieser schnell.

»Nein, Herr Senator, sie sind vor einer halben Stunde zum Essen gegangen.«

»So senden Sie rasch nach ihnen. Ich brauche vier Mann – nehmen Sie die kräftigsten. Sie sollen vollständig bewaffnet und mit ihren Mänteln versehen augenblicklich zu einer Reise mit mir gerüstet sein. Ich erwarte sie. Wenn Sie das ausgerichtet, kommen Sie wieder.«

Der Secretair ging mit erschrockenem Gesicht hinaus; in einer so ernsten Stimmung hatte er seinen milden Chef selten vor Augen gehabt.

»Sie sehen, meine Herren,« wandte sich dieser wieder an Paul und Fritz, »ich beeile mich, wie ich kann. Aber nun trinken wir noch ein Glas Wein. Der Appetit ist mir vergangen. Ei, ei, Herr Hummer, wer hätte das von Ihnen gedacht!«

Gleich darauf hörte man rasch zwei Boten die Treppe hinunterspringen und sah sie auch flüchtig durch den Park nach dem Flecken laufen. Dann trat der Secretair wieder herein und meldete, daß die Befehle des Herrn Amtmanns vollstreckt seien.

»Mein lieber Dulk,« sagte dieser jetzt zu dem Secretair, »es handelt sich heute um eine sehr ernste und wichtige Angelegenheit. Verlassen Sie das Büreau nicht, bis Sie Meldung von mir haben. Ich kann nicht wissen, was vorfällt, und so seien Sie auf neue Befehle gefaßt, die ich Ihnen vielleicht senden muß. Einstweilen lassen Sie unser sicherstes Haftlocal in Ordnung bringen. Es handelt sich um einen schweren Verbrecher, den wir fassen wollen.«

»Auf Betty's Ruh?« fragte der Secretair, einen hastigen Blick auf Herrn van der Bosch weisend.

»Ja, auf Betty's Ruh, Sie können es immerhin wissen, – Doch jetzt bedarf ich Ihrer nicht mehr. Bis auf Wiedersehen!« –

Nach einer Viertelstunde schon, während die drei Herren über den vorliegenden Fall sprachen, über den der Amtmann sich noch immer nicht beruhigen konnte, sah man zwei handfeste Polizeibeamte im vollen Waffenschmuck durch den Park herbeieilen. Bald daran meldeten sie sich bei ihrem Vorgesetzten.

»Warten Sie draußen, bis die beiden Andern kommen, dann werde ich Ihnen sagen, um was es sich handelt.«

Zehn Minuten später kamen auch die beiden letzten Beamten und nun traten sie alle vier in's Zimmer und der Amtmann sagte ihnen Folgendes:

»Sie steigen sämmtlich in meinen Wagen und fahren hinter diesen Herren und mir her. Es handelt sich um die Person – ich theile Ihnen dies auf Ihren Amtseid insgeheim mit – des Rentmeisters Uscan Hummer aus Betty's Ruh, den Sie Alle kennen. Ich will ihn verhaften und nehme Ihre Hülfe dabei in Anspruch. Es giebt große Prämien, das verspreche ich, wenn Sie ihn ergreifen. Vorwärts, im Namen des Senats und des Gesetzes, und nun halten Sie Ihre Augen auf!«

Der Senator winkte mit der Hand und die vier Schergen stolperten mit ihren klappernden Säbeln hinaus, voller Eifer, einen bisher so angesehenen Mann auf Betty's Ruh in ihre Fäuste zu bekommen.

»Wenn es Ihnen gefällig ist,« wandte der Amtmann sich nun an Paul und Fritz, die dem ganzen Vorgange mit innerer Genugthuung zugeschaut, »so beginnen wir unsern Feldzug. Bitte, gehen Sie voran, ich folge gleich.«

Beide warteten am Wagenschlag, bis der Amtmann aus der Thür kam. Paul nöthigte ihn zuerst zum Einsteigen, dann setzte er sich neben ihn. Fritz stieg auf den Platz zu Louis. Friedrich saß schon im Sattel und schloß sich dem ersten Wagen an, hinter dem unmittelbar der des Amtmanns mit den vier Häschern folgte.

Als sie so durch einige Straßen des niedlichen Fleckens fuhren, erregte der ernste Zug großes Aufsehen unter den staunenden Bewohnern. Alle sahen ihm kopfschüttelnd und mit langen Gesichtern nach, da Niemand wußte, was das zu bedeuten habe und die beiden Fremden Keinem bekannt waren. Bald indessen hatte man das freie Feld erreicht und nun ging es im raschen Trabe auf Betty's Ruh los, welches man in ungefähr einer Stunde erreichen konnte, wenn die Pferde so fortliefen, wie sie begonnen hatten.

Es war halb zwei Uhr, als man das Schloß von Ritzebüttel verließ und um halb Drei traf man vor der Halle von Betty's Ruh ein. Hier befahl man den Kutschern zu warten und den Pferden Heu vorzuwerfen, da man ihrer Mitwirkung noch bedürfen konnte, wenn der Rentmeister nicht zu Hause war.

Der Amtmann dagegen ging mit Paul und Fritz dem Pachthause zu, von Friedrich und den vier Bütteln gefolgt, wobei man jedoch nur solche Wege einschlug, daß man vom Pachthause aus nicht gesehen werden konnte.

Als die Gesellschaft rasch und schweigend durch den Park schritt, kam ihnen etwa zweihundert Schritte vom Pachthause eine Magd entgegen.

»Ist der Rentmeister zu Hause?« fragte sie der Amtmann.

»Ja, Herr, er ist in der Stube, will aber eben fortreiten, der Schimmel steht schon gesattelt im Hofe.«

»Dann kommen Sie rasch, meine Herren, damit uns der Vogel nicht entwischt. – Und Sie,« wandte er sich zu Friedrich, »holen Sie lieber die Wagen hierher, damit wir sie gleich bei der Hand haben.«

Friedrich lief in vollem Laufe zurück, denn er wollte gern dabei sein, wenn man den Herrn Rentmeister ergriff. Daß dieser ein Verbrechen begangen, war ihm schon seit dem Morgen klar, wo er den Auftrag, ihn zu überwachen, erhalten. Jetzt aber war der Zeitpunct gekommen, wo man sich dem Pachthause nicht mehr ungesehen nähern konnte, und das war allerdings ein wichtiger Moment. Er sollte sich auf der Stelle als entscheidend erweisen. Denn als der Amtmann eben mit allen seinen Begleitern um eine bewaldete Ecke bog, öffnete sich ein Fenster des Pachthauses und Herr Uscan Hummer steckte seinen strohgelben Kopf heraus, wahrscheinlich um nach dem Wetter auszuschauen.

Da erfaßte sein rasches Auge die nahende Gesellschaft und augenblicklich schloß sich das Fenster und sogar der Vorhang rollte davor herab. Der erste Sprung des bestürzten Rentmeisters war nach der Thür gerichtet, die er verschloß, denn noch hatte er seine Kaltblütigkeit nicht verloren, obgleich sein böses Gewissen ihm sagte, was ihm bevorstand. Nur einen raschen Griff that er dann in einen Kasten seines offenen Schreibtisches – einige Schlüssel und eine Brieftasche versenkten sich in seinen Rock, dann, in ein hinteres Zimmer schlüpfend, sprang er aus dem Fenster und nach einigen Sätzen stand er neben seinem Schimmel. Nachdem er dem ihn haltenden Knecht die Zügel aus der Hand gerissen, saß er im Nu im Sattel und sprengte dann um das Gehöft herum in das freie Feld hinaus, was ihm eine offenstehende Pforte in der Parkmauer glücklicherweise gestattete. So entschwand er dem ihm verwundert nachschauenden Knecht aus den Augen, während dieser mit offenem Munde in die Richtung blickte, die der Flüchtling eingeschlagen hatte.

Unmittelbar darauf trat der Amtmann mit seinen Begleitern in das Haus, und da er die Thür des Zimmers, in welchem man den Rentmeister gesehen, verschlossen fand, ging er nach einer hinteren Thür, als eben der erschrockene Knecht in's Haus trat, der seinen Herrn hatte fortreiten sehen.

»Suchen Sie den Rentmeister, Herr Amtmann?« fragte der Knecht stammelnd.

»Ja – wo ist er?«

»Eben fort auf dem Schimmel über alle Berge! – wie toll und verrückt!«

»Wo hinaus?«

»Nach Norden hin, Herr Amtmann!«

»Aha!« rief der Amtmann sogleich, »er will nach der See und gründlich entschlüpfen. Na ja, die wird heute nicht sehr liebenswürdig sein. Meine Herren, Sie sehen, wie die Sachen liegen – wir sind fünf Minuten zu spät gekommen.«

»Wir werden ihn aber doch verfolgen?« fragte Paul mit energischer Miene.

»Gewiß werden wir das. Steigen Sie immer ein, meine Herren, ich habe hier nur Einiges anzuordnen.«

Als Paul und Fritz das Haus wieder verlassen hatten und hastig in den angekommenen Wagen stiegen, befahl der Amtmann zwei Häschern, mit gezogenem Säbel im rings verschlossenen Hause zu bleiben, Niemanden aus- oder einzulassen und zu warten, bis sie weitere Befehle erhalten würden. »Hier haben Sie das Amtssiegel,« sagte er zu dem ältesten, »versiegeln Sie Alles, was zu versiegeln ist und bewahren Sie die Schlüssel auf. So, und nun Adieu, bis auf Wiedersehen!«

»Bekommen wir denn unsre Prämie, wenn wir hier bleiben?« fragte der verdutzte Büttel.

»Gewiß, Sie Alle bekommen gleiche Theile – das Haus ist eben so wichtig, wie der Mann!«

Als der Amtmann vor die Thür kam, fand er Paul mit Friedrich in eifrigem Gespräch, da Letzterer dem Flüchtigen allein nachsetzen wollte.

»Nein,« sagte der immer ruhiger werdende Amtmann entschieden, als er es hörte, »thun Sie das nicht. Ich finde überall Hülfe, wohin ich komme, und ein Mann allein wird mit Dem nicht fertig. Wir können Ihren Beistand wo anders vielleicht besser gebrauchen. Und nun, meine Herren, fahren wir durch den Park zurück nach Norden zu. Dort sind die Wege besser und wir kommen schneller fort als auf dem weichen Felde. Vorwärts, fahrt zu, Kinder! Er ist zwar entwischt, aber noch lange nicht geborgen; ich weiß hier noch besser Bescheid, als er, und habe überall hundert Augen und Hände, die für mich sehen und handeln. Vorwärts!« –

Bald lag der Park von Betty's Ruh wieder hinter den Verfolgern und diese konnten sich nun von der Aufregung erholen, in die sie die eben erlebte Enttäuschung versetzt hatte.

Als man jedoch, auf die Felder hinausgelangt, zwischen Gärten und Wiesen dahinfuhr, galt es von Neuem aufmerksam zu sein, um irgend wo einen flüchtigen Reiter zu entdecken. Allein dies war eine vergebliche Mühe. Abgesehen von dem bedeutenden Vorsprung, den der Rentmeister gewonnen, war der Boden nicht eben genug, um das Land vollständig und bis in weitere Ferne überschauen zu können; die vielen, auf allen Seiten sich erhebenden Deiche theilten die ganze Fläche in einzelne kleine Abschnitte und über alle, deren man zur Zeit ansichtig wurde, mußte der schnell reitende Flüchtling längst hinaus sein.

Vor einem Hause, in dessen Nähe ein Uebergang über den größten nach dem Dünendorfe Duhnen führenden Deich sich befand, ließ der Amtmann den Wagen einen Augenblick halten. Vor der Thür desselben war eine Frau beschäftigt, ihre über den Zaun gehängte Wäsche abzunehmen, damit der mit jedem Augenblick stärker wehende Wind sie ihr nicht entführe.

»Guten Tag, Frau Melcher,« begrüßte sie der überall bekannte Amtmann, »wie geht's Euch? Habt Ihr vielleicht vor einiger Zeit einen Reiter auf einem Schimmel über den Deich reiten sehen?«

»Ja, Herr Amtmann, den habe ich gesehen und er hatte es sehr eilig, denn er jagte wie toll heran.«

»So. Wie lange ist es etwa her?«

»Etwa eine gute halbe Stunde mag es sein.«

»Das wird er gewesen sein!« rief der Amtmann. – »Ihr kanntet den Mann nicht, wie?«

»O doch, Herr Amtmann. Mein Mann hat ihn schon früher öfters nach Duhnen reiten sehen und mir gesagt, daß es der Rentmeister aus Betty's Ruh sei.«

Der Amtmann nickte ihr freudig zu. »Grüßt Euern Mann von mir und gehabt Euch wohl! – Vorwärts, Kutscher!«

»Duhnen!« sagte der Amtmann mit zufriedenem Lächeln zu seinen Begleitern, »ich dachte es wohl. Er will nach der See. Vielleicht gar nach Neuwerk, weil er denkt, wir lassen uns verblüffen und bleiben zu Hause, ihn höflich erwartend, bis er wiederkommt. Haha! Wenn wir Ebbe haben, und das glaube ich, so ist er tollkühn genug und geht allein über das Watt, um sich in einem sicheren Schlupfwinkel der Insel zu verbergen und mit der nächsten Fluth auf irgend ein Schiff nach der Weser oder Helgoland zu gehen, wo er unserer Gerichtsbarkeit entzogen zu sein glaubt. Aber nein, mein Lieber, solche Verbrecher werden überall ausgeliefert und ich folge Dir bis tief in's Ausland hinein.«

Paul hatte über die Rede des Amtmanns einige Augenblicke nachgesonnen, dann sagte er: »Daß er nach Neuwerk gehen sollte, scheint mir doch nicht sehr wahrscheinlich, Herr Senator. Was wollte er denn da? Er ginge ja geradezu in eine Falle, denn bei der Ebbe kann er nicht nach dem Auslande als über das Watt und Duhnen zurück, und bei der Fluth hat er doch auch nicht gleich ein Schiff, das ihn aufnimmt.«

Der Amtmann lächelte heiter. »Sie urtheilen wie ein Landbewohner und wie ein unbescholtener, behaglich und friedlich lebender Mensch, Herr van der Bosch. Der Rentmeister aber ist ein Verbrecher, also wagehalsig, und kennt außerdem die Mittel, die ihm die nahe See zur Flucht bietet. Er weiß ja nicht, daß wir ihm auf den Fersen sind und schon seine Spur haben, und wenn er es fürchten muß, so hofft er, uns doch noch immer entschlüpfen zu können. Freilich, auf einen Nordwester, wie er jetzt im Anzuge ist, hat er dabei gewiß nicht gerechnet, der dürfte ihm allerdings die Flucht zu Wasser versperren, allein, wenn dies der Fall, dann versperrt er auch uns den Uebergang nach Neuwerk, und so ist er immer wenigstens auf eine Weile geborgen. Ueberdieß kann man nicht wissen, was er für Pläne auf Neuwerk und dessen Nachbarschaft baut, wenn er noch so viel Kopf übrig hat und sein böses Gewissen ihn nicht, wie so oft, blindlings in die Ferne treibt, nur um uns aus dem Auge zu kommen. Vielleicht hat er einen Helfershelfer auf der Insel, der ihn verbirgt, bis die Gelegenheit günstig ist, wieder nach Betty's Ruh zurückzukehren und sich seinen wohlgeborgenen Schatz zu holen, nicht wahr? Und allen Bewohnern von Neuwerk traue ich leider auch nicht ganz. Inselbewohner, an deren Strand häufig Schiffe scheitern, sind immer halbe Piraten, und Piraten verstehen sich auf ihren Vortheil. – Doch halt, da kommt ein Bauer aus Duhnen, den ich kenne.«

»Veit!« rief er den rasch heranschreitenden Mann an, »habt Ihr einen Reiter auf einem Schimmel gesehen?«

»Ja, Herr Amtmann, da nach Duhnen hinaus ist er geritten und er hatte es sehr eilig, sein armes Pferd blutete schon an den Weichen.«

»Sehen Sie, meine Herren,« rief der Amtmann frohlockend. »Ich habe Recht. Er hält seinen Cours fest, aber wir auch. Kutscher, fahren Sie vor des Strandvogt's Haus – kennen Sie es?«

»Ja, Herr Amtmann, da vorne dicht am Strande liegt es.«

»Gut, fahren Sie zu. Der Strandvogt schafft Rath, der hat die Augen immer in der Luft und seine Hände für Land und Wasser bereit.«

Man war dem offenen Strande nun schon viel näher gekommen und hatte das Dünendorf dicht vor sich. Hier blies der Wind mit gewaltiger Macht, wie man es schon lange vermuthet hatte. Als man von dem letzten Deiche in weiter Ferne zum ersten Male des Wassers ansichtig wurde, sah es ganz schwarz aus und haushohe Wogen thürmten sich unter dem nächtlich finsteren Himmel auf. Der Wind war wirklich nach Nordwesten herumgegangen und blies mit aller Kraft in die Elbmündung hinein. Endlich hatte man die ersten Häuser des Dorfes erreicht. Der Amtmann stand aufrecht im Wagen, um schnell das Watt in's Auge zu fassen.

»Ja,« sagte er, sich setzend und tief Athem holend, »wir haben Ebbe und ich wette, daß er hinübergegangen ist. Der Kerl ist tollkühn genug dazu – vielleicht auch hat er schon oft den Weg über das Watt gemacht, und dann ist seine Aufgabe freilich leichter zu lösen. Bei alledem aber spielt er ein gewagtes Spiel, er kann sich wirklich in eine Falle begeben halten, wenn es uns gelingt, noch vor Ablauf der Ebbezeit ihm über das Watt nachzugehen. Ha, ja, es ist noch nicht ganz halb vier Uhr und erst nach Sechs beginnt, glaube ich, die Fluth. Unter diesen Umständen, meine Herren, können Sie gleich einmal unser berühmtes und berüchtigtes Watt zu sehen bekommen. Und auf Neuwerk, wo wir natürlich bleiben müssen, haben Sie dann die Fluth bei einem strammen Nordwester. Das ist ein erhabener Anblick und an sich schon etwas werth. Unsere Fahrt wird also ergötzlich, und wir müssen Herrn Hummer für diese Unterhaltung eigentlich dankbar sein.

Und dabei haben wir wirklich die Aussicht, ihn zu greifen, meine Herren. Ah, da sind wir ja beim Strandvogt. Halt!«

Der Wagen hielt und die Herren sprangen rasch hinaus, um die triefenden Pferde sogleich in den warmen Stall bringen zu lassen. Der wachsame Strandvogt, ein alter würdiger Mann, kam ihnen schon aus dem Hause entgegengelaufen und grüßte den Amtmann mit ehrerbietigen Hutschwenkungen, wobei sein graues Haar wild im Winde flatterte.

»Setzen Sie auf, setzen Sie auf, lieber Vogt,« sagte der Amtmann, dem alten Bekannten herzlich die Hand drückend und dann in das Haus eilend, welches hinter einem kleinen Vorgarten lag. »Wir haben es eilig heute,« fuhr er im Zimmer zu reden fort, »und nun antworten Sie schnell. Haben Sie vielleicht einen Reiter auf einem Schimmel über das Watt gehen sehen?«

»Ich nicht, Herr Senator, aber meine Alte hat ihn gesehen, und er muß jetzt schon drüben sein, wenn er die richtige Troe Troe, plattdeutsch für Traue, d. h. der Strich in welchem man den Boden- und Wattzuständen ›trauen‹ darf, wie Kohl uns so schön erzählt. kennt. Er soll scharf geritten sein. Wollen Sie was von ihm?«

»Ja, wir verfolgen ihn und müssen ihn haben. Er ist ein großer Verbrecher, Vogt, und Sie müssen uns helfen. Was meinen Sie, kommen wir noch vor der Fluth hinüber?«

»Sie selber?« rief der Strandvogt mit krausem Gesicht und kratzte sich verlegen hinter den Ohren. »Bei dem Wind und Wetter?«

Er sah hastig nach der Uhr. »Ja,« rief er dann, »um hinüberzukommen, haben Sie noch Zeit genug, aber zurück können Sie nicht mehr. Es giebt heute eine hübsche Springfluth von da drüben her und ihr Eintritt läßt sich bei einem solchen Nordwester nicht nach Minuten berechnen.«

»Das wollen wir auch nicht. Wir bleiben im Thurm, bis das Wetter besser wird. Geschwind, Mann, Ihren leichten Wagen und vier Pferde davor – so rasch es geht!«

Der Strandvogt sprang diensteifrig aus der Stube, um den ihm von seinem höchsten Chef gegebenen Auftrag möglichst schnell ausführen zu lassen. Paul und Fritz, voller Spannung dem Kommenden entgegensehend, flüsterten leise mit einander, der Amtmann aber stand am Fenster und schien sich Einiges zu überlegen. Plötzlich setzte er sich an den Tisch, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb einige Zeilen mit Bleistift darauf. Als er fertig war, stand er auf und sagte zu Paul:

»Sehen Sie, wie gut es ist, daß wir Ihren berittenen Diener bei uns haben? Er soll uns einen – großen Dienst leisten. Lassen Sie ihn doch gefälligst hereinkommen.«

Paul ging sogleich hinaus und bald hatte er Friedrich gefunden und in's Zimmer beschieden.

»Mein junger Freund,« sagte der Amtmann zu ihm, »wir gehen über das Watt nach Neuwerk, um den Flüchtling zu haschen. Sie können nicht mit, da wir, außer dem Kutscher, schon fünf Personen auf dem Wagen sind. Drüben finde ich Hände genug zum Beistande. Aber Sie können uns doch helfen – wollen Sie?«

Friedrich, der gern seine Hand mit an den Rentmeister gelegt hätte, sah etwas betreten aus, aber er faßte sich mit einem Blick auf den ihm zunickenden Herrn schnell und versetzte: »Ich werde Alles thun, was in diesem Falle nothwendig ist.«

»Gut. So lassen Sie Ihren Rappen verschnaufen und fressen und dann traben Sie nach Cuxhafen zum Hafenmeister. Ihm geben Sie dies Blatt. Berichten Sie ihm auch, was vorgefallen, denn auf dem Zettel steht nichts davon. Das Uebrige wird sich finden. Wenn Sie in Cuxhafen fertig sind, reiten Sie ruhig nach Ritzebüttel und sagen meinem Secretair, er solle nicht in Sorge sein und meiner Familie mittheilen, daß ich die Nacht auf Neuwerk bleibe. Dasselbe können Sie dann dem Herrn Professor auf Betty's Ruh in Bezug auf diese Herren bestellen, damit er sich nicht ängstigt, wenn sie ausbleiben und nun habe ich den letzten Auftrag. Wenn Sie zu Hause Ihre Meldung gemacht, gehen Sie nach dem Pachthause und sagen Sie meinen Beamten, sie sollen auch die Nacht daselbst bleiben, wir kämen wahrscheinlich erst morgen gegen Mittag zurück, wenn der Sturm bis dahin nachgelassen hat, was ich für ziemlich gewiß halte.«

Als Friedrich seine Hülfe zugesagt und sich auch von seinem Herrn verabschiedet hatte, der ihm Grüße an den Professor auftrug, wandte der Amtmann sich zu Paul und Fritz und sagte mit lächelndem Gesicht:

»Man muß an Alles denken und jeden Vortheil wahrnehmen, den man erreichen kann. Ich habe uns den Staatsdampfer heizen lassen und ihm in der Nähe vom ›Jacob Hinnerich‹ zu kreuzen befohlen, wenn der Sturm es zuläßt, daß wir uns auf ihm einschiffen. Wo nicht, so soll er uns morgen früh am Feuerschiff erwarten. Dann kommen wir leichter und schneller nach Cuxhafen als zu Lande über das Watt und brauchen unsere Pferde nicht so lange hier warten zu lassen Sie also Ihrem Kutscher Befehl, Sie morgen Mittag in Cuxhafen abzuholen.«

Paul hörte diese Anordnungen mit Ruhe und Wohlgefallen an und begab sich dann zu Louis, um ihm seine Instructionen zu geben. Als er eben in's Zimmer zurückgekehrt war, kam auch der Strandvogt schon wieder und meldete, daß Alles gleich in Bereitschaft sein werde. »Soll ich die Flagge aufziehen, Herr Senator,« fragte er schließlich, »damit der Vogt auf Neuwerk erfährt, daß etwas Ernstliches vorgeht?«

»Jetzt noch nicht,« erwiderte der Amtmann nach kurzem Besinnen, »sie könnte auch dem Flüchtling sichtbar werden und er würde dann gleich Unrath wittern. Aber wenn wir nahe an der Insel sind – gebrauchen Sie dazu Ihr Glas – dann lassen Sie sie in Gottes Namen flattern, dann schadet es nichts mehr. Wenn wir erst drüben sind, kann der Verbrecher nicht mehr entfliehen, vom Lande schneidet ihn die Fluth und von der See der Nordwester ab. Haha, so ist es recht!«

»Da ist der Wagen schon!« rief der Strandvogt, an's Fenster springend. »O, nun beeilen Sie sich, meine Herren, Sie haben wahrhaftig nicht mehr viel Zeit übrig, die Fluth kommt heute im Sturmschritt.«

»Vorwärts, meine Herren!« rief der Amtmann, flugs seinen Regenrock anziehend und die Mütze fest auf den Kopf bindend.

Alle liefen hastig durch den kleinen Garten, vor dessen Pforte ein leichter, mit drei mit Seegras ausgestopften und hinter einander gelegten Säcken stand. Vier kräftige Pferde waren davorgespannt und zwei sachkundige Führer saßen schon auf dem ersten Sack.

Voran hielt ein alter Lootse im Sturmkittel zu Pferde, der zur größeren Sicherung des immer bedenklichen Unternehmens den richtigen Fahrweg andeuten sollte. Der Amtmann, Paul und Fritz drückten sich auf dem zweiten Sack zusammen, wo sie sich fest in ihre Decken hüllten. Auf dem dritten fanden die beiden Häscher ihren Platz.

Der alte Strandvogt sprang behende und doch etwas sorgenvoll von einer Seite des Wagens zur andern, prüfte Stränge und Zügel der Pferde und gab den Kutschern seine besten Rathschläge. Die wettergrauen Leute, für das Wasser wie für das Land geschult, lächelten ihm zuversichtlich zu und der Eine von ihnen schwang muthig die lange Peitsche, der Andere dagegen hielt mit beiden Fäusten die Zügel gefaßt. Noch ein Augenblick, noch ein Abschiedsgruß von allen Seiten und im Galopp ging es vorwärts, dem nahen Strande zu, den man bald erreichte, worauf der Wagen auf das graue, wasserdurchfurchte, trügerische Watt hinausflog, während um die Köpfe der Fahrenden der tobende Wind brauste und in der Ferne die Wasserwogen brüllten, die heute mit voller Lust ihr dämonisches Spiel trieben, als könnten sie die Zeit nicht erwarten, über das trocken vor ihnen liegende Land in toller Wuth hineinzustürzen.

Kaum aber hatten die kühnen Verfolger ihren bedenklichen Weg angetreten, denen der Strandvogt mit stierem Auge eine Weile nachblickte, so ergriff den wackeren Mann ein heiliger Amtseifer und, gegen die Vorschrift des Amtmannes, eilte er schon jetzt nach dem Flaggenhause und wenige Minuten später flatterte die stolze rathe Hamburger Admiralitätsflagge, mit dem weißen Stadtwappen in der Mitte, in den wildbewegten Lüften, dem Vogt auf Neuwerk, dem Capitain Hardegge auf dem Feuerschiff, aber leider auch dem Flüchtling damit das Zeichen gebend, daß der Amtmann von Ritzebüttel in Duhnen sei, daß etwas Wichtiges vorgehe und daß man sich rüsten solle, um für Alles, was sich ereignen könne, bei der Hand zu sein. Die Fahrenden, die ihre Augen nur auf das vor ihnen liegende Neuwerk und das sie umgebende Watt gerichtet hielten, sahen die rothe Flagge freilich nicht, aber alle übrigen Augen, die sie sehen und nicht sehen sollten, sahen sie bald und vielleicht war gerade das vorzeitige Wehen derselben daran schuld, daß Etwas geschah, was Niemand erwartet hatte und was dem ganzen Unternehmen, so weise es bedacht – und so kühn es ausgeführt ward, eine völlig andere Gestaltung gab als es in der Absicht des Amtmannes und seiner Begleiter gelegen hatte.

Ein seltsames Gefühl suchte die beiden Freunde heim, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf das merkwürdige Stück Land hinabrollten, welches bald wieder den Grund der grollenden See bilden sollte. Es war nicht Furcht oder Besorgniß, was sie ergriff, denn ein erfahrener Mann, der Amtmann, und mit ihm noch viel erfahrenere Landeskinder waren bei ihnen, die sich gewiß nicht auf das trügerische Watt begeben hätten, wenn eine zu große Gefahr damit verbunden gewesen wäre, nein, es war das eigenthümliche Gefühl des Staunens, der Erwartung und der Neugierde zugleich, welches sie erfaßte und nicht eher wieder von ihnen wich, als bis sie den festen Grund und Boden der Insel Neuwerk erreicht hatten. Daß das ungünstige trübe Wetter und der immer näher rückende Sturm das Ihrige dazu beitrugen, dieses Gefühl zu einem noch eindringlicheren zu machen, war sehr natürlich, denn die uns umgebende Außenwelt und ihre Erscheinungen pflegen ja stets einen mächtigen Einfluß auf das menschliche Gemüth auszuüben und unseren Gedanken und Empfindungen die Richtung anzuweisen, in welcher beide Potenzen unseres inneren Wesens ihren Tummelplatz finden.

Trotz des raschen Laufes der Pferde war die Bewegung des ungefügigen Wagens eine ungemein sanfte und fast behagliche, denn der Boden war nachgiebig weich, die Räder und die Hufen der Pferde schnitten tief in den feuchten Sand ein und in jede neugezogene Furche trat sogleich das blanke Wasser, das überhaupt wie ein unsichtbarer Schleier das ganze Watt zu überziehen oder wie ein leise schlummernder Dämon unter der Oberfläche des Sandes verborgen zu lauern schien.

Der Weg, welchen der voranreitende Lootse einschlug, war aber durchaus kein gerader oder in einer einfachen Linie fortlaufender, ein Umstand, der den etwas über zwei Stunden langen Weg ungeachtet der Flüchtigkeit der Pferde doch nur in fünf Viertelstunden zurücklegen ließ. Wie in Schneckenwindungen wandte er sich hin und her, bald eine tiefere Wasserrinne, Priele genannt, umgehend, bald eine sumpfige Stelle vermeidend, wogegen selbst die vorsichtig auftretenden Pferde, eine instinctartige Scheu zu haben schienen. Uebrigens war es dem Lootsen und den Kutschern ziemlich leicht gemacht, den richtigen Weg zu finden, denn an den Seiten desselben hatten erfahrene Hände starke Baumzweige in den Sand gesteckt, und so lange das Wasser diese nicht überfluthete, konnte der Weg kaum verfehlt werden, wenn man nicht zufällig oder absichtlich von denselben abwich, und in dieser Hinsicht mußte man allerdings aufmerksam zu Werke gehen. Jedenfalls hätten die das Watt Durchfahrenden einen größeren Genuß gehabt, wenn das Wetter heiterer, die Luft stiller gewesen und ihr Gemüth nicht so sehr von ihrem ernsten Vorhaben in Anspruch genommen worden wäre, so aber maßen sie nur mit den Augen die noch vor ihnen liegende Strecke ab, und doch verrechneten sie sich oft dabei, denn wenn sie glaubten, nun endlich werde man in gerader Richtung auf das so nahe liegende und hoch emporragende Eiland losfahren, so lenkte der wacker galoppirende Lootse wieder seitwärts, beschrieb einen großen Bogen und kam erst allmälig wieder in die vorher verlassene Bahn zurück.

Etwa fünf Minuten vor Ankunft am Lande drehte der die Peitsche führende Bauer sich herum und sagte zum Amtmann:

»Es wird Zeit, daß wir hinkommen, Herr, lange dauert der Frieden hier nicht mehr. Die Fluth ist schon im allmäligen Anmarsch und kommt um zwanzig Minuten zu früh. Sehen Sie doch, wie die kleinen Lämmerchen da hinten springen, und der Weg wird auch schon nasser, als ob das Wasser im Boden nicht die Zeit erwarten könnte, sich mit den Wellen da draußen zu vereinigen.«

Der Amtmann nickte ihm beifällig zu, aber zum Sprechen hatte er keine Lust, eben so wenig wie seine Begleiter, die stumm neben ihm saßen und die Augen jetzt nicht mehr auf ihre nächste Umgebung, sondern auf das Eiland und den alten Thurm richteten, der immer höher vor ihnen aufstieg und in dessen ödem Gemäuer, von Wasserbergen umrauscht, sie, wie es schien, eine ganze Nacht verbringen sollten, was in der That keine angenehme Aussicht war.

Endlich, nach vollen fünf Viertelstunden hatte man das traurige Watt hinter sich und die Pferde, als ob sie froh wären, wieder festen Boden unter ihren Füßen zu fühlen, sprengten in vollem Jagen den steil ansteigenden Weg nach der Insel hinauf, so daß ihre Hufen und die rollenden Räder auf dem harten Pflaster laut rasselten und ringsum den Bewohnern des Eilandes verkündeten, daß so eben kühne Gäste vom festen Lande herübergekommen wären.

Der Wagen hielt vor dem uns schon bekannten Thurm und die drei Herren sprangen mit den beiden Häschern eilig von ihren Sitzen herab. Der Amtmann hatte schon von ferne mehrere Männer auf der Galerie des Thurmes stehen sehen, die mit ihren großen Ferngläsern nach Duhnen hinüberschauten, und er dachte sich gleich, daß es der Vogt und einige Lootsen seien, die des Strandvogts rothe Flagge drüben bemerkt hätten und nun nach dem Ereigniß ausschauten, welches dieselbe verkünden sollte, womit sie allerdings die so schnell durch das Watt Fahrenden in Verbindung brachten, unter denen sie den Amtmann indessen noch nicht erkannt hatten. Als dieser eben den Boden berührte, trat ein Mann aus der Thurmthür auf die oberste Treppenstufe heraus. Es war einer der Laternenwärter, den der Senator gut kannte.

»Müller!« rief Dieser ihm laut zu – »kennt Ihr den Rentmeister von Betty's Ruh?«

»Ja, Herr Senator, den kenne ich und er ist vor anderthalb Stunden zu Pferde hier angekommen.«

»Also wirklich! – Wo ist er?«

Der Laternenwärter erhob den rechten Arm und zeigte damit nach dem Thurm hinauf. »Ich glaube, hier oben ist er, aber bestimmt weiß ich es nicht.«

Der Amtmann hatte genug gehört oder glaubte es wenigstens. Er befahl seinen beiden Häschern, vor der hölzernen Treppe Stand zu halten und den Rentmeister zu ergreifen, sobald er sichtbar werden würde. Er sprach es mit ziemlich lauter Stimme und fügte noch einige Worte hinzu, die den Laternenwärter belehrten, wie er und seine Gefährten sich augenblicklich zu verhalten hätten.

Als er damit fertig war, wandte er sich zu Paul und dessen Freunde um und sagte: »Kommen Sie, meine Herren, nun wollen wir den klugen Mann selbst aufsuchen. Hinaus kann er nicht, er hat sich also versteckt. Kommen Sie – aber wo bleibt denn der Vogt?«

Die drei Herren gingen in den Thurm. Kaum aber war die Thür hinter ihnen laut krachend in's Schloß gefallen, so ereignete sich etwas Unerwartetes und von Niemanden aus der ganzen Insel für möglich Gehaltenes. Hinter dem Thurm hervor, wo er zu Pferde gehalten und mithin jedes Wort des Amtmanns gehört hatte, bewegte sich ein Reiter auf einem kaum trocken gewordenen Schimmel hervor und, an den beiden vor der Treppe wachehaltenden und verblüfften Häschern vorbei sprengte er zum Steinthor hinaus, denselben Weg über das Watt rückwärts einschlagend, den der so eben gekommene Wagen genommen und der an den zurückgelassenen Spuren im Anfang sehr leicht zu erkennen war. Augenblicklich ließ sich ein lautes Rufen und Schreien von Seiten der Personen vernehmen, die diese so schlau erdachte und glücklich ausgeführte Flucht bemerkt hatten; nur der Amtmann und seine Begleiter hörten nichts davon, bis ihnen der Vogt von der Galerie her auf der Treppe entgegengestürzt kam, der nun erst zu begreifen anfing warum der Rentmeister so eilig nach Neuwerk gekommen, was die Admiralitätsflagge verkündet und weshalb zuletzt noch der Amtmann von Ritzebüttel mit zwei bewaffneten Bütteln auf der Insel erschienen sei.

»Suchen Sie vielleicht den Rentmeister Hummer?« schrie der Vogt ihm mit aufgeregter Miene entgegen.

»Ja, wo ist er?«

»Auf und davon!« rief der Vogt athemlos und mit ziemlich verständlichen Gesticulationen seine Worte begleitend. »So eben ist er auf das Watt hinausgesprengt – aber der Thor! Er entgeht Ihnen oder seinem Schicksal nicht, Herr Senator, denn er hat nicht mehr Zeit genug, um vor der Fluth den Strand drüben zu erreichen; wenn er seinen Weg auch noch so gut kennt oder sein abgehetztes Pferd Kraft und Athem genug behält – sie sind Beide verloren!«

Der Amtmann blieb bestürzt mitten auf der Treppe stehen und schaute Paul, der ihm zunächst stand, mit fast starren Augen an. »Haben Sie gehört?« fragte er hastig. »Die Canaille ist entsprungen – ha, listig ist er – aber dumm. Doch nun kommen Sie hinauf – die Flucht wollen wir mit ansehen. – Der Vogt hat Recht, er kann vor der Fluth nicht mehr hinüber.«

Die drei Männer stiegen mit dem ihnen voranspringenden Vogt, rasch die Treppe bis zur Galerie empor und fanden hier etwa ein Dutzend Männer: Lootsen, Fischer und Bauern, die zufällig im Thurm gewesen, die rothe Flagge in Duhnen bemerkt hatten und von ihr auf die Galerie gelockt worden waren. Alle schauten jetzt voller Spannung nach dem einzelnen Reiter aus, den man auf seinem weißen Pferde noch mit bloßen Augen ganz genau erkennen konnte.

»Er ist verloren,« rief ein stämmiger Lootse, »ich gebe keinen Schilling für sein Leben, und es wäre Unsinn von des Strandvogt's Lootsen gewesen, wenn er, wie er erst wollte, dem Kerl nachgeritten wäre. In einer halben Stunde hat ihn die Springfluth eingeholt, und dann hat er noch nicht die Hälfte seiner Reise zurückgelegt. Glück auf den Weg, Hummer, diesmal können Sie beweisen, ob Sie so gut wie Ihre Namensvettern auf dem Grunde der See leben können!«

Als die drei Männer auf die vom Winde umbrauste Galerie des Thurmes traten, hatten sie ein großartiges, aber düsteres Bild vor sich. Der sonst so weite Horizont war heute bei dem schwarzen Himmel und dem schwachen Licht beschränkt und innerhalb desselben wogte nach Nordwesten hin das schäumende Meer, das sich bereits anschickte, einen Theil seiner Ueberfülle über das jetzt noch trockene Land als Fluth auszugießen. In der äußersten Elbmündung sah man ganz in der Ferne nahe bei der rothen Tonne, das dritte Feuerschiff, den ›Caspar‹, und nicht weit davon die beiden Lootsengallioten auf ihrem schwankenden Grunde hin und her geschüttelt. Näher heran kam das Feuerschiff ›Neptun‹, und endlich der ›Jacob Hinnerich‹, der Insel gegenüber, der hoch- und niedergeworfen wurde und sich verzweifelt tanzlustig geberdete. Ueber sein blankes Deck rollten von Zeit zu Zeit weiße Schaumwellen und ihr sprühender Gischt stäubte bis in seine knarrenden Maste hinein. Nach Osten hin tauchte der Leuchtthurm von Cuxhafen auf, zu dem eben eilfertig einige Schiffe strebten, die vor dem vollen Ausbruch des Sturmes noch den Hafen zu erreichen suchten, da sie einmal innerhalb des gefährlichen und engen Fahrwassers sich befanden. Sonst war das Wasser nach dieser Seite hin leer von Schiffen, und eben so das auf der Weserseite, wo die Wogen in gleicher Bewegung Berge auf Berge häuften.

Wenn aber der Sturm bisher noch nicht zum vollen Ausbruch gekommen war, jetzt endlich brach er mit seiner ganzen Gewalt und Wildheit los. Und mit ihm, wie von ihm getragen, gehoben oder gestoßen, stürzte die Fluth heran, mit zehnfach stärkerer Macht und Hast als sonst sich über die sandigen Strecken wälzend, die noch so eben trocken und ruhig dagelegen hatten.

Athemlos standen fast alle Männer auf der Galerie, durch den Thurm selbst, den sie im Rücken hatten, gegen den Anprall des Sturmes geschützt, und blickten mit starren Augen dem Reiter nach, als erwarteten sie jeden Augenblick, er werde umkehren und sich den seiner harrenden Bütteln lieber in die Arme werfen, als dem unbarmherzigen Meere.

Aber daran dachte der tollkühne, wagehalsige oder vielleicht auch verzweifelnde Mann nicht, der allerdings nichts mehr als sein Leben zu verlieren hatte, denn alles Uebrige hatte er in seinen eigenen Augen schon in dem Moment eingebüßt, als er den Amtmann von Ritzebüttel mit Paul van der Bosch und den Häschern auf sein Haus zukommen sah. Und lieber wollte er sterben, hülflos, unrettbar, als lebendig in die Hände seiner Verfolger gerathen, und in ihren triumphirenden Mienen die für ihn unerträgliche Schmach lesen, daß sie stärker, klüger gewesen und – sicherer gegangen seien als er. Immer jagte er noch auf seinem wackeren Thiere vorwärts und seine hellen Haare flatterten im Winde, da er seinen Hut schon lange verloren hatte.

»Er reitet langsamer!« rief da der eine Lootse, der eben sein großes Glas vor das Auge gesetzt hatte.

»Das scheint nur so,« erwiderte der Amtmann, der ebenfalls durch ein Glas sah. »Die Entfernung täuscht Sie. Im Gegentheil, er wird sich nur noch mehr sputen müssen, die Fluth leckt schon über den Sand und hüpft und springt wie unklug auf seinen Fersen einher.«

Eine Weile schwieg der alte Lootse aus Bescheidenheit, dann rief er lauter: »Nein, Herr Amtmann, Sie haben Unrecht. Das Pferd geht wirklich langsamer, als ob der Reiter den Weg verloren hätte. Vielleicht kann das arme Thier auch nicht mehr fort oder ist scheu vor dem Gebraus um sich herum, denn es watet schon im Schaum.«

Es folgte eine athem- und wortlose Spannung bei den Zuschauenden, die beinahe eine Viertelstunde dauerte, während Jeder sich bemühte, durch sein Glas zu erkennen, was der Flüchtige beginne, den nun Niemand mehr für rettbar hielt. Da schrie der Lootse auf:

»Ich habe Recht, Herr Senator. Der Mann ist verloren, in weniger als zehn Minuten. Sein Pferd scheut, – er bringt es nicht mehr vorwärts. Ha, was in das? Es verschwindet – es ist in eine Priele gefallen – da – wo ist es?«

»Ich sehe noch seinen Kopf,« rief der Amtmann, – »es taucht auf – aber den Reiter sehe ich nicht mehr –«

»Ha – doch, Herr Amtmann – das Pferd stürzt im vollen Lauf dem Lande zu – ich habe es wieder – aber schon bis zum Buge im Wasser –«

»Aber der Reiter, der Reiter – den sehe ich nicht –«

»Nein, ich auch nicht – er ist aus dem Sattel –«

»Dann ist er auch auf dem Grunde der See –« das ist dasselbe!« –

Es erfolgte ein tiefes Schweigen unter den Männern auf der Galerie. Noch eine Viertelstunde standen sie unbeweglich und starrten in die schäumende Wasserwüste vor sich, die das ganze Watt jetzt verschlungen hatte. Aber sie sahen nichts mehr. Die Fluth war jählings gekommen und hatte den Schimmel und seinen Reiter – in ihren wilden Wellen begraben.

»Kommen Sie,« sagte der Amtmann endlich mit gepreßter Stimme zu Paul und Fritz Ebeling, »der Sturm wird zu heftig und wir sehen doch nichts mehr. Einen Rentmeister Hummer giebt es nicht mehr auf der Welt, aber auch einen großen Schurken weniger. Unsere Macht hat ihn nicht erreichen können, aber eine andere hat ihn erreicht, die unbarmherziger ist, als wir. Er hat seinen Richter gefunden und Sie müssen sich damit zufrieden geben. Das geraubte Gut kann er nicht bei sich tragen, und so haben Sie durch seinen unerwarteten Tod nichts verloren, vielleicht sogar viel gewonnen, denn Ihr Proceß hat nun mit einem Schlag sein Ende erreicht. Kommen Sie hinab, und fügen Sie sich in das, was Gott schickt. Er hielt es wahrscheinlich so für besser. Allerdings haben wir jetzt einen langen Abend und eine trübe Nacht vor uns, der Sturm wird uns zu keiner Ruhe kommen lassen – ich kenne das. Aber wir sind ja beisammen und wollen uns treulich den Abend und die Nacht überstehen helfen. – Herr Vogt, schließen Sie mir meine Zimmer auf und lassen Sie zwei Betten in das Cabinet bringen. Diese Herren sind meine Gäste. Unser kleiner Dampfer wird bei dem Wetter gar nicht auslaufen und wir müssen uns also bis zum Morgen gedulden. – Gut, da sind wir ja schon. Bitte, treten Sie ein, meine Herren – hier bin ich zu Hause und ich heiße Sie also bei mir willkommen!«


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