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Zweites Kapitel.
An Bord des Feuerschiffs

Paul hatte sich heute nicht in seiner gewöhnlichen Stimmung zum Schlaf niedergelegt. Es war Etwas vorhanden, was ihn mit einer seltsamen und nie gefühlten Unruhe erfüllte. Er konnte das Grabgewölbe nicht wieder aus dem Gedächtniß verbannen, in dem er heute Nachmittag mit Betty gesessen und – so kam es ihm wenigstens jetzt vor – ein wunderbares Gespräch geführt hatte, ein Gespräch, welches ganz gegen seinen Willen eine Richtung genommen, die seinem von festen Grundsätzen getragenen Character eigentlich widersprach und ihm fast verhängnißvoll geworden, wenn jener unberufene Störenfried nicht dazwischen getreten wäre und es kurz abgebrochen hätte. Und doch war dies Gespräch so traulich und süß gewesen, viel traulicher und süßer sogar, als es für seine Ruhe gut war, als es den jetzt bestehenden Verhältnissen nach hätte sein sollen. Er glaubte dabei in Betty's innerstes Wesen einen tieferen Blick geworfen zu haben als zuvor, und was dieser Blick ihm verrathen oder vielmehr ihn hatte ahnen lassen, das war wirklich sonnige Frühlingsluft, das war ein in weiter Ferne schwach aufdämmernder Hoffnungsstern gewesen, und auf einen solchen Stern hatte er schon lange nicht mehr gehofft, gerechnet, er konnte ihm ja unter den jetzigen Umständen nicht leuchten, und so war es vielleicht gut, daß Uscan Hummer mit seinem tiefen Schatten gekommen war und den trügerischen Schimmer wieder in das nächtliche Dunkel ungewisser Zukunft zurückgedrängt hatte.

Aber dieser Uscan Hummer, warum war ihm der Mann mit einem Mal so feindselig, so dämonisch, so widerwärtig erschienen? Wie kam es, daß er heute in der Miene desselben etwas ganz Anderes gelesen als früher, etwas, was mit der Meinung Frau Dralling's viel mehr übereinstimmte, als er sich selber zugestehen mochte? Hatte dies Gefühl vielleicht schon lange unbewußt in ihm geschlummert oder war es erst jetzt aus dem Contrast der Stimmungen hervorgegangen, die so schnell auf einander folgten und weil gerade Uscan Hummer es war, der das süße Gespräch mit dem ihm so theuren Wesen so plötzlich abriß, um seine rohe Warnung an dessen Stelle zu setzen? Was und wie dies war, er wußte es nicht, aber er war aufmerksam geworden, auf die Vorgänge in seinem eigenen Innern und auf diesen Mann – und so sah er mit Sehnsucht dem kommenden Tage entgegen, der ihm vielleicht noch klareren Aufschluß über denselben und alle mit ihm verbundenen Verhältnisse geben sollte, die ihm bis jetzt noch dunkel waren.

Mit dieser Hoffnung im Herzen schlief er endlich ein und mit ihr wachte er auch wieder auf, und wie er sich durch einen tiefen Schlaf erfrischt fühlte, so sah er auch froh und heiter dem neugeborenen Tage entgegen, durch dessen Nebel schon wieder die ersten Strahlen der Sonne zitterten, und wenn die Jugend noch die Sonne am Himmel blitzen sieht, dann wachsen ihrer Rüstigkeit schnell Flügel und sie schwingt sich mit elastischer Schnellkraft zu neuen Thaten empor und beginnt ihr Tagewerk mit einer so glückseligen Lust, als gäbe es nur Sieg und Triumph auf der Welt und als wären alle Sorgen und Kümmernisse derselben nur trügerische Schatten, vorüberschwebende Phantome, die uns wohl auf einen Augenblick hemmen und berücken, aber nie auf die Dauer in Fesseln schlagen und den Drang unsrer Seele – die wie die Psyche ewig nach Oben strebt – im Staube der Erde zurückhalten können.

Um sieben Uhr Morgens stellte sich heute zum ersten Mal Friedrich ein, um die Kleider der beiden Herren behufs der Reinigung herauszuholen, welches Geschäft er von jetzt an übernommen hatte. Als er sie wieder hereinbrachte und Paul am Fenster eine Zeitung lesend fand, während der Professor schon wieder mathematische Figuren zeichnete, sagte er bescheiden zu Ersterem:

»Es ist günstiges Wetter, Herr van der Bosch. Beliebt es Ihnen vielleicht einen Morgenproberitt zu machen? Die Pferde sind an starke Bewegung gewöhnt und ich pflege sie jeden Morgen eine Stunde zu reiten.«

»Ja!« rief Paul schon vom Stuhle aufspringend, und alsbald gab er die Stunde an, wo er dazu bereit sein werde.

Der Professor hatte diese Unterhaltung zufällig gehört und stand nun von seinem Stuhle auf. »Also Du willst reiten?« fragte er. »Nun, dann nimm Dich in Acht, die Baronin hat nur sehr muntere Thiere im Stall.«

»Besorge nichts, lieber Onkel, ich kann schon lange reiten und bin nur ein wenig aus der Uebung gekommen. Es wird sich bald besser machen. Doch, da wir eben von diesem Morgenritt reden, will ich Dir sagen, daß ich auch heute Nachmittag einen ähnlichen vorhabe und daß ich wahrscheinlich erst morgen Abend spät nach Hause kommen werde.

Der Professor machte große Augen. »Wo willst Du denn hin?« fragte er.

»Ich will es Dir ehrlich sagen, Capitain Hardegge, der Bräutigam Friede Whistrup's, den Du ja kennst, hat mich auf sein Feuerschiff eingeladen, auf dem er jetzt Dienst hat, und da will ich die Nacht verbringen und den Lauf der Sterne beobachten, was ich mir am Bord eines Schiffes höchst interessant denke.«

»Das ist nicht übel, o nein, und ich verdenke Dir gar nicht, daß Du Alles kennen lernen willst, zu Wasser und zu Lande. Aber wie denn – das ist ja eine Seefahrt, und die kannst Du doch nicht zu Pferde antreten?«

»Ich reite nur bis zur Kugelbaake, von da bringt Friedrich die Pferde wieder zurück.«

»Ach, die Kugelbaake, wie lange bin ich da nicht gewesen! Aber nun merke ich schon, Deine Fußwanderungen werden jetzt wohl zu Ende sein und ich werde meine Spaziergänge wieder allein unternehmen müssen.«

»Das glaube nicht, ich gehe sehr gern. Laß uns nur erst in vollkommener Ruhe und Ordnung sein, dann wird unsre Lebensweise sich schon regeln und Du sollst Dich nicht über einsame Wanderungen zu beklagen haben.«

Der Professor ging langsam auf und nieder und schien sich Etwas zu überlegen. »Dann bin ich ja heute Nachmittag und Abend allein,« sagte er. »Hm! Es ist seltsam, wie schnell man sich an Gesellschaft gewöhnt. Ich werde am Ende nach Tische nach Wollkendorf fahren müssen, wie?«

Paul lächelte. »Schon wieder?« fragte er scherzend. »Du bist ja sehr eifrig in Deinen Bewerbungen um – die schöne Frau!«

»Ist das ein Wunder, Junge? Ich finde es sehr natürlich und – und die Dralling wird es auch so finden. Haha! Aber diesmal zieht mich, unter uns gesagt, die Wissenschaft hin, ich muß ihr doch einmal wieder eine mathematische Stunde geben, sonst bleibt sie mir zu weit zurück.«

»Da hast Du auch Recht. Ja, fahre nach Wollkendorf, grüße es herzlich von mir und gieb eine mathematische Stunde. Das vertreibt zwei Menschen die Zeit und so werden wir Alle das Unsrige zu thun haben.«

Der Morgenproberitt fiel günstig aus und Paul fand selbst, daß er nicht viel verlernt, aber bei diesem ersten Ritt schon viel Neues dazu gelernt habe. Friedrich war ein guter Lehrer in seiner Kunst und bezeigte sich mit seinem Schüler zufrieden. Auch der Fuchs ging und lief vortrefflich, seine Bewegungen waren leicht und bequem, und Paul fand Betty's Ausspruch bestätigt, daß die Welt sich ganz anders vom Sattel ausnehme und daß man zu Pferde große Strecken rasch und ohne Beschwerde zurücklegen könne. –

So kam der Nachmittag heran und bald nach dem Essen empfahl sich der Professor seinen Hausgenossen und stieg in den Wagen, um nach Wollkendorf zu fahren, zu nicht geringer Freude der Dralling, die durch diesen raschen Gegenbesuch nur die Meinung bestätigt fand, die sie am Abend vorher gegen den Professor ausgesprochen, aber freilich dabei auch eine kaum verschmerzte Niederlage erlitten hatte.

Gegen fünf Uhr machte sich auch Paul reisefertig. Friedrich nahm einen warmen Rock für seinen Herrn mit und so setzte man sich zu Pferde und ritt nach der Kugelbaake, wobei diesmal ein anderer Weg als über die Deiche gewählt wurde, da es bessere Reitwege dahin gab, obwohl sie ein wenig weiter waren. Als Paul vor Whistrup's Hause anlangte, wurde er von Vater und Tochter mit großer Herzlichkeit empfangen und hatte schon wieder Neues von ihnen zu hören. Whistrup war am Morgen beim Amtmann in Ritzebüttel gewesen und hatte seinen bisherigen Dienst gekündigt, wobei er dem edlen Manne im Vertrauen mitgetheilt, daß sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen und er an die Stelle des bisherigen Pächters auf Betty's Ruh treten werde.

»Will denn der Rentmeister Hummer fort?« hatte der Amtmann mit etwas betroffener Miene gefragt. Whistrup hatte ihm erzählt, daß dieser gekündigt und der Professor die Kündigung angenommen habe.

»So, so,« hatte der Amtmann gesagt, »also es scheint jetzt Alles auf Betty's Ruh in Ordnung zu sein?«

»Das glaube ich nicht,« lautete Whistrup's vorsichtige Antwort, »aber so viel ist gewiß, daß der Besitzer und Pächter vom Gute mit diesem Wechsel einverstanden sind.«

»Sie Beide haben ja nur allein darüber zu entscheiden, Whistrup; und was die Entlassung aus Ihrem Dienst betrifft, so können Sie jeden Monat abkommen, ich habe schon einen Stellvertreter für Sie in Bereitschaft und freue mich, daß außer Ihnen noch ein Anderer eine Verbesserung findet. Es ist Rehm, Der in dortiger Gegend jetzt allgemein bekannte Laternenwärter auf der Kugelbaake. aus Cuxhafen, der Ihr Nachfolger werden wird.«

Als Whistrup Herrn van der Bosch diese Unterhaltung mit strahlendem Gesicht berichtet, mischte sich auch Friede in's Gespräch und Paul verplauderte ein Viertelstündchen mit ihr, bis Friedrich kam und die Meldung brachte, der Schiffer aus Döse sei gekommen, und erwarte den Herrn.

Paul nahm Abschied von den guten Leuten und Friede trug ihm die herzlichsten Grüße an ihren Philipp auf, mit der Bitte, das verheißene neue Signalbuch baldigst nach ihrem Hause zu senden. Vater und Tochter, wie auch Friedrich, begleiteten Paul bis zu dem kleinen Kutter, der ihn nach dem Feuerschiff bringen sollte, und Friede übergab dem Schiffer noch frisches Brod und Fleisch, damit die Herren, wie sie sagte, auch morgen ein gutes Frühstück fänden.

Erst als Paul schon längst an Bord war und der Kutter mit allen Segeln, die er tragen konnte, in die See hinaussteuerte, verließen Whistrup, Friede und Friedrich die Kugelbaake, Erstere, um in ihr Haus, und Letzterer, um nach Betty's Ruh zurückzukehren.

Es wehte ein frischer Südostwind an diesem Tage, der die Wogen der Elbe da, wo sie sich in die Nordsee ergießt, zu kleinen beweglichen Hügeln aufwühlte und diese mit weißen Schaumkronen schmückte, die entstanden und verschwanden, flüchtig wie der Wind und die Wellen selber. Das ungeheure Wasserbecken war reich mit Schiffen aller Nationen und von jeder Größe bedeckt, die kamen und gingen, wie alle Tage, und es herrschte ein munteres Leben nach allen Richtungen, so daß der einzelne Mensch, der mitten zwischen ihnen auf sicherem Kiele schwamm, sich nicht allein fühlen und aus den gemeinsamen Bestrebungen Aller Nahrung für seinen Geist ziehen konnte, wie sie das große Meer, die Nähe eines Welthafens und der ewig regsame Handel auf den belebtesten Wasserstraßen der Erde so reichlich bieten.

Paul saß auf einer großen Taurolle neben dem Steuermann seines kleinen Kutters, den außer jenem noch zwei Männer bedienten, und schaute mit frohem Behagen auf das ihn umgebende Leben hin. Spielende und sich neckende Delphine, hier Tümmler genannt, tanzten lustig um das kleine Schiff, schwangen sich mit ihren glatten schwarzen Leibern oft fußhoch über die schäumenden Fluthen und versanken dann jählings in den heimatlichen Schooß, um gleich darauf an einer andern Stelle springend und Wasserstrahlen von sich spritzend wieder emporzutauchen. Unmittelbar in der Nähe des Schiffes aber kreisten Schaaren ächzender Möwen, flatterten mit silbernem Fittig bald langsamer, bald schneller heran und hinweg, als wollten sie dem ihrer Heimat fremden Gaste das Geleit zu seinem heutigen nahen Ziele geben.

»Es geht heute rasch,« sagte der Steuermann zu Paul, als er denselben lächeln und über die Erscheinungen ringsum sich freuen sah. »Der Wind ist frisch und wir werden nicht viel Zeit gebrauchen, bis wir bei dem alten ›Jacob Hinnerich‹ sind. Werden Sie lange an seinem Bord bleiben, Herr, oder darf ich darauf hoffen, Sie wieder mit zurückzunehmen?«

»Nein, mein Freund, ich bleibe die Nacht an Bord und morgen Mittag kehre ich mit dem Dampfkutter des Lootsencommandeurs nach Cuxhafen zurück. Indessen werde ich Eure Gefälligkeit vielleicht noch öfter in Anspruch nehmen und ich hoffe, Ihr werdet mich immer gern nach dem Schiffe hinausbringen.«

»Wohin Sie wollen, Herr. Ich bin stets bereit, Tag und Nacht stehe ich Ihnen zu Diensten. – Aber sehen Sie, die Hälfte haben wir beinahe zurückgelegt, da liegt der große Leuchtthurm auf Neuwerk schon ganz deutlich. Auch können Sie das rothe, von der Sonne beschienene Schiff mit den bloßen Augen bestreichen. Ich glaube sogar, daß man schon nach uns auslugt, denn die Mannschaft ist vollzählig auf dem Bug versammelt.«

»Die sehe ich noch nicht,« bemerkte Paul nach längerem scharfen Hinblick.

»Das glaube ich wohl. Ihr Auge ist nicht so geübt wie das meine. – Doch hier geht der Tanz etwas heftiger los, der Kutter fängt ein wenig an zu rollen. Sie werden doch nicht seekrank werden?«

»Auf der kurzen Strecke?« O nein, ich denke nicht und befinde mich ganz wohl.«

Der Steuermann lächelte und betrachtete seinen Passagier aufmerksam; nach einer Weile aber sagte er: »Ich glaube auch, daß Sie nicht krank werden, Sie sehen noch zu frisch aus und man kann es den Leuten vom Lande immer an der Nase anmerken, ob sie seefest sind oder nicht. Nun, das wäre gut für Sie, denn wenn der Wind so fortbläst, wird der alte ›Jacob‹ heute Nacht recht artige Sprünge machen.«

»Vielleicht beruhigt sich der Wind bis zur Nacht,« entgegnete Paul.

»Sie können Recht haben,« sagte der Seemann in Folge eines Blickes nach dem Wolkenzuge. »Die Sonne wird klar untergehen und Sie werden einen schönen Sternenhimmel haben. Schade, daß der Mond noch nicht voll genug ist, wir haben gestern erst das erste Viertel gehabt.«

Bei solchem Gespräch kam man dem Feuerschiffe näher und näher und nun sah auch Paul mit seinen guten Augen die Männer an Bord desselben, die der Schiffer neben ihm schon lange wahrgenommen hatte. Endlich war man dicht bei dem Feuerschiff angelangt, als plötzlich wie von einer Stimme aus den Wolken der laute Ruf über die Wellen schallte: »Willkommen auf dem ›Jacob Hinnerich‹!«

»Aha!« sagte der Steuermann, mit beiden Backen lachend, »das ist der Capitain Hardegge mit seinem Sprachrohr. Der hat eine wahre Orkanstimme. Da, nehmen Sie einmal das Ding hier setzen Sie es an die Lippen und schreien Sie aus Leibeskräften: ›Grüß Gott den ›Jacob Hinnerich‹!‹ Dann freut er sich.«

Paul that, wie ihm geheißen, und gleich darauf schmetterte auch sein Ruf über die tanzenden Wogen, als der Kutter schon eine starke Wendung machte, die Segel back gebraßt wurden und er beilegte, worauf sogleich ein bereit gemachter Anker in die Tiefe rasselte, der Kutter noch eine Weile zitterte wie ein vom Sturm geschüttelter Baum und gleich darauf still stand, indem sein Spiegel sich langsam dem Feuerschiff zudrehte.

In diesem Augenblick schoß eine kleine Jolle von der Seite des Feuerschiffs über die Wellen, welche der ernst blickende Bootsmann desselben steuerte. Als er am Backbord des Kutters angelegt hatte, nahm er zuerst das Brod und Fleisch in Empfang, reichte dem Steuermann ein versiegeltes Packet und bat ihn, dasselbe sogleich an Fräulein Whistrup an der Kugelbaake abzugeben. Jetzt empfing der Kutterführer von Paul seinen preußischen Thaler und einen Handschlag dazu und dann kletterte dieser behutsam in die schwankende Jolle, die mit ein paar Ruderschlägen wieder am Feuerschiff anlangte, dessen hoher Bord nun mit Hülfe zweier Taue erklettert werden mußte. Als Paul aber mit seinen Schultern über dem Bord des großen Schiffes auftauchte, erfaßten ihn zwei kräftige Hände und gleich darauf lag des Capitain Hardegge's Hand in der seinigen und eine freundliche, bekannte Stimme sagte zu ihm:

»Nun noch einmal recht herzlich willkommen auf dem ›Jacob Hinnerich‹! So, da sind Sie und nun sind Sie mein, ich habe Sie gekapert. Jetzt kann Sie Nichts von meinem Schiffe fortbringen, wenn ich es nicht will.«

Paul nickte beifällig und begrüßte die wohlgekleidete Mannschaft, die ihn mit ihren wettergrauen Gesichtern auf seemännische Art freundlich bewillkommnete, dann aber gleich bei Seite trat, um den Capitain, wie es Gebrauch ist, mit seinem Gaste allein zu lassen.

»Kommen Sie,« sagte der Capitain, ohne sich für jetzt noch eines Namens bei der Anrede seines Gastes zu bedienen. »Sie sind neugierig, das sehe ich; so will ich Ihnen denn zuerst mein kleines Reich zeigen.«

Paul schaute sich verwundert ringsum. So sauber und fast zierlich hatte er noch kein Schiff gesehen. Alles war blank und klar, vom Steuerbord bis zum Bugspriet, vom Deck bis zum äußersten Mastende, und nirgends war ein Gegenstand zu bemerken, der nicht an den Ort, wo er lag, hingehört hätte, und zum augenblicklichen Gebrauch bereit gewesen wäre.

»Dies ist unser Laternenmast,« sagte der Capitain, auf den mittleren großen Mast deutend, »Sie werden ihn heute Abend in Function sehen. Dort ist unsere Signalkanone und hier die Signalglocke, mittelst deren wir, wenn es Noth thut, unsere Anwesenheit kund geben. Doch, hier oben haben wir nachher genug Zeit, Alles zu betrachten, kommen Sie also zuerst hinunter, damit Sie die Wohnung in Augenschein nehmen, in der Sie heute Ihre Nacht zubringen werden.«

Der Capitain schritt voran und stieg eine gewundene, mit Messingplatten belegte Treppe in die Capitainscajüte hinab, einen großen Raum von ziemlicher Höhe, der sein Licht durch ein breites Fenster im Deck erhielt, woran auch an metallenen Ketten eine messingene Lampe hing, daneben ein Barometer und ein Thermometer, ein Compaß und verschiedene andere nautische Instrumente. Alle diese Gegenstände waren Nachts durch die Lampe, bei Tage durch das hereinfallende Tageslicht so hell erleuchtet, daß man sie und sogar den Wolkenzug und die Färbung des Himmels von einem Sopha in der Nähe aus bequem beobachten konnte, ohne sich von demselben zu erheben. Außer diesem Sopha stand noch ein zweites an der entgegengesetzten Wand; vor jedem ein festgeschraubter Tisch, von denen der eine bereits gedeckt und zur Einnahme einer Mahlzeit hergerichtet war. In den Seitenwandungen der Cajüte befanden sich Schränke und das Bett des Capitains, das so sauber und einladend aussah, wie man es nur in einem gemüthlichen Hause am Lande wünschen konnte. In einem der Schränke lagen zahllose Signalflaggen, alle geordnet und fest zusammengerollt, in einem anderen Wäsche und Kleider, in einem dritten war die Vorrathskammer des Capitains enthalten, die reichlich genug bestellt schien, und ein vierter war ganz mit Büchern angefüllt, die auch den Geist mit guter Nahrung zu versorgen geeignet waren. Dicht neben dieser Cajüte lag die noch größere für die Mannschaft. Die Betten, immer zwei übereinander, waren in den Wandungen angebracht, in Schränken auf der andern Seite Tau- und Segelwerk und was sonst zur Schifffahrt nothwendig ist, denn der ›Jacob Hinnerich‹ war ausgerüstet wie jeder andere Seedreimaster, da er jederzeit zum Segeln geschickt sein mußte, wenn der Sturm ihn einmal von seinen Ankern riß. In einem sorgsam verschlossenen Raume sah man hier auch die dreizehn Laternen, die er Nachts aufsteckte, und noch vielerlei andere Dinge, die der Capitain wohlgefällig dem Gaste erklärte, wobei er sich über das Erstaunen desselben, daß hier Alles so weislich vorbedacht und so zierlich geordnet sei, herzlich freute.

»So,« sagte Philipp Hardegge, »nun haben Sie Alles wenigstens oberflächlich gesehen und das Besondere wird sich später finden. Wenn es Ihnen gefällig, so nehmen wir jetzt erst einen Imbiß, wie es sich gebührt, wenn man zur See geht, und dann gehen wir an die Geschäfte, denn Sie werden wohl einige mit mir abzuwickeln haben, nicht wahr? Nun, was zunächst das Signalbuch betrifft, welches Friede in Ihrem Interesse verlangte, so habe ich seit gestern ein ganz neues ausgearbeitet, und sie wird mit mir zufrieden sein, ich habe an alle möglichen Fälle gedacht. Ihr Kutterführer hat es bereits mit nach der Kugelbaake genommen. Doch jetzt kommen Sie.«

Sie kehrten in die Capitainscajüte zurück und Capitain Hardegge zog an einer Glockenschnur. Ein Matrose, der Stewardsdienste bei ihm versah, kam herein und erhielt den Befehl, das Essen aufzutragen.

Paul nahm behaglich auf dem Sopha Platz, unter dem sich ein weicher Teppich ausbreitete, und bald saß der Capitain ihm gegenüber. Der Steward brachte zuerst eine herrliche, heute erst bei Helgoland gefangene Steinbutte, und dann ein saftiges Beefsteak mit kleinen gebratenen Kartoffeln, was Alles vortrefflich zubereitet war. Endlich trug er auch einen Krug Bier und zwei Gläser herbei.

»Haha!« lachte der Capitain fröhlich auf. »Da sehen Sie, was ich Ihnen schon in der Kugelbaake gesagt: dies Bier ist das einzige Getränk, was ich Ihnen vorsetzen kann. Ein anderes giebt es nicht auf Feuerschiffen.«

»Ich bin auch damit zufrieden und genieße gern Ihre Gastfreundschaft, in der Hoffnung, sie Ihnen einmal erwidern zu können.«

»Davon nachher. Und hier, auf diesem Sopha, werden Sie schlafen. Wenn Sie morgen früh um vier Uhr geweckt werden, haben Sie gleich das Wetterglas und den Himmel vor sich und können sich einen guten Tag voraussagen. Ich kann es schon jetzt. Sogar der Wind wird sich in der Nacht legen.«

Er schellte wieder. Als der Matrose erschien,« sagte er: »Helms, wie ist der Wind? Nimmt er zu – oder ab?«

»Er nimmt ab, Capitain, wie gewöhnlich.«

»Da haben Sie es – es ist gut, Helms. Nun trage ab, lüfte die Cajüte und dann mache das Lager zurecht, wir bleiben bis zur Nacht auf Deck. – Wenn es Ihnen jetzt gefällig ist,« wandte er sich an Paul, »so steigen wir hinauf und machen einen kleinen Spaziergang bis Sonnenuntergang und dabei handeln wir unsere Geschäfte ab. Ist es Ihnen recht?«

»Mir ist Alles recht, Sie haben über meine Zeiteintheilung zu gebieten.«

Die beiden Männer verließen die Cajüte und betraten das Deck wieder, das leer war, da die Mannschaft theils im Buge mit Nähen und Waschen, theils in der großen Cajüte beschäftigt war, um die Vorkehrungen zur nächtlichen Erleuchtung des Schiffes zu treffen. Hier, als der Capitain schweigsam neben Paul auf- und abwandelte, glaubte Letzterer wahrzunehmen, daß seines Wirthes Miene einen ernsteren Ausdruck angenommen habe als vorher und er erwartete nun mit einer leicht begreiflichen Spannung den Beginn der geschäftlichen Unterhaltung, der auch nicht lange ausbleiben sollte.

Der Capitain blieb einen Augenblick stehen, betrachtete mit seinem ehrlichen Seemannsauge den still neben ihm herschreitenden Gast lächelnd und sagte dann:

»Das Incognito Ihrer Person hat also jetzt aufgehört und ich muß Sie nun wohl endlich als Herrn Paul van der Bosch und als den Neffen und Erben des so reichen Herrn van der Bosch aus Betty's Ruh begrüßen, nicht wahr? Nun freilich, die Friede hat mir ja mit Ihrer Erlaubniß Alles geschrieben und ich habe mich seit gestern doppelt gefreut, Sie heute als meinen Gast hier an Bord willkommen zu heißen. Ja, Herr van der Bosch, so unerwartet gestern Abend diese Nachricht – und manche andere mit ihr auch kam, so hat sie mich doch eigentlich nicht zu sehr überrascht Ich habe Sie von Anfang an für keinen gewöhnlichen Baumeister gehalten, der auf Betty's Ruh einen neuen Stall bauen sollte, denn es lag etwas an und in Ihnen, was mir die Augen öffnete, so daß ich mir gleich sagte: Hardegge, aufgepaßt! Hier haben wir einen Mann vor uns, der wahrscheinlich mehr Bedeutung hat, als er zeigt.«

Paul lächelte. »Da haben Sie sich doch wohl in mir getäuscht,« erwiderte er, »denn ich bin wirklich nur ein gewöhnlicher, einfacher Baumeister –«

»Ha, ja, das mögen Sie sein,« unterbrach ihn der Capitain mit nickendem Kopfe, »aber außerdem sind Sie noch etwas Anderes, eben der Neffe des Herrn Quentin van der Bosch. Der Tausend, Herr, das will schon an sich Etwas bedeuten. Hätte ich das neulich gewußt, als wir uns so zufällig bei Whistrup trafen, so hätte ich mich schon damals in seiner und Friede's Gegenwart ganz anders und viel bestimmter über Personen und Dinge geäußert, als ich es that, denn es ist einmal meine Natur, daß ich frei von der Leber weg spreche, was ich meiner Menschenpflicht gemäß sprechen zu müssen glaube. Mit jener meiner Unbestimmtheit habe ich also etwas versäumt und das muß ich nun nothwendig heute nachzuholen suchen. Das soll auch sogleich geschehen. Für's Erste will ich mich nur für alles Gute bedanken, was Sie bereits meinem künftigen Schwiegervater gethan haben. Dadurch haben Sie auch mich verpflichtet und mir den Weg angewiesen, den ich Ihnen gegenüber wandeln muß. Uebrigens haben Sie an diesem Whistrup keinen Mißgriff gethan, das will ich beschwören. Er ist eben so verständig, bieder, ordnungsliebend und fleißig, wie er ein gewiegter Oekonom ist, der leider ohne seine Schuld und allein durch das Unglück seinem eigentlichen Beruf entzogen ward. Sie werden mit ihm zufrieden sein, und die Ländereien des Herrn Professors werden in wenigen Jahren ein noch besseres Ansehen haben als jetzt. – Doch diesen Punct halte ich nun für abgemacht und wende mich einem wichtigeren zu, der Sie auf mein Schiff und von diesem nach Neuwerk führt. Mit einem Wort: Sie wollen Laurentius Selkirk aufsuchen und ihn in Bezug auf sein seltsames Benehmen ausforschen, wobei ja wohl noch einige andere Fragen mit unterlaufen werden. Das ist recht, das müssen Sie thun, und Sie müssen ihm mit Ihren Fragen recht scharf zu Leibe gehen, denn der alte Mann ist in seiner seltsamen Art von Hypochondrie etwas dickhäutig und wird Ihnen nicht sogleich Rede stehen. Ich kenne ihn zwar auch, aber mein Bootsmann, ein Neuwerker, der ihn gestern in Folge der bewußten Depesche besuchte, kennt ihn noch besser und ist sogar ein weitläufiger Verwandter von ihm, wie der Vogt drüben. Heute Morgen ist er schon wieder aus eigenem Antriebe bei ihm gewesen und hat ihn auf etwas Neues und Angenehmes vorbereitet, denn Sie müssen nur wissen, der Bootsmann ist ein pfiffiger Kerl, der das Pulver riecht, ehe es abgeblitzt ist, und ohne daß ich ihn danach fragte, hat er mir erzählt: seiner Meinung nach habe der Laurentius ein Geheimniß auf dem Herzen, und das sei seine ganze Krankheit. Er habe ihn darüber ausforschen wollen, aber das sei ihm bis jetzt nicht gelungen und er wisse nur so viel, daß dem Laurentius etwas ganz Merkwürdiges passirt sein müsse, über was er sich selbst nicht ganz klar sei, und damit sei eine dunkle Furcht verbunden, die ihm Tag und Nacht keine Ruhe lasse.

So viel für jetzt über den Laurentius. Nun wende ich mich zu einer andern Hauptperson, und diese heißt Uscan Hummer. Sehen Sie, Herr van der Bosch, dadurch, daß Sie der Neffe des Herrn Professors und als solcher bei der Erbschaft desselben persönlich betheiligt sind, hat dieser Mann, dieser Uscan Hummer, eine ganz andere Bedeutung in meinen Augen gewonnen, so gut wie Sie, nur gerade in entgegengesetzter Richtung. Er ist mir viel wichtiger, aber zugleich auch viel gefährlicher und bedenklicher in Bezug auf Ihre Verhältnisse erschienen. Neulich habe ich mit Ihnen mir verblümt über ihn gesprochen, heute aber werde ich offen reden, wie ein ehrlicher Kerl es muß. Ich komme nun auf diese seltsame Erbschaft, Herr van der Bosch, die Ihrem Herrn Onkel und Ihnen so viel Kopfzerbrechen und Herzweh verursacht hat – na, das ist ja natürlich, wenn Sie es auch nicht offen eingestehen – und da muß ich Ihnen sagen, daß mir das Fehlen fast allen baaren Geldes in dem Geldschrank – denn die Lumperei von einundvierzigtausend Thalern ist in diesem Fall gar nicht zu rechnen, und darin liegt eben die Dummheit des habgierigen Spitzbuben – fast unbegreiflich vorkommen würde, wenn eben dieser Uscan Hummer – und das ist der Hauptpunct – es mir nicht viel begreiflicher machte. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß hier ein unerhörter, nichtswürdiger Betrug vorliegt und eben so schlau verdeckt wie ersonnen und ausgeführt ist. Eben so wenig aber bezweifle ich auch, daß dieser Hummer um diesen Betrug weiß, ja vielleicht einzig und allein weiß, ihn also auch – ganz allein ausgeführt hat, wobei uns unbekannte Umstände und Verhältnisse seiner Absicht gedient und ihm das sonst so schwere Unternehmen erleichtert und möglich gemacht haben. Ja, Sie sehen mich groß und bedeutsam an, aber ich bleibe bei meiner Aussage und spreche meinen Verdacht ehrlich gegen Sie, natürlich aber nur gegen Sie allein aus. Sie dürfen indessen nicht glauben, daß ich das thue, weil ich von jeher ein Antipode von diesem Hummer gewesen bin, denn, wie Sie wissen, hat er mir in Bezug auf Friede und deren Vater schon manchen krausen Streich gespielt; nein, sondern weil ich die bestimmte persönliche Ueberzeugung habe, daß dieser Mann ein verkappter Schurke ist, der schon lange im Trüben gefischt hat und, wie er seinen früheren Herrn getäuscht und im Kleinen bestohlen hat, so seinen jetzigen im Großen täuscht und bestiehlt. Das sind arge Ausdrücke, nicht wahr? Aber sie müssen einmal stehen bleiben und ich nehme keinen einzigen davon zurück. Verlassen Sie sich darauf, der Hummer weiß, wo das Geld seines verstorbenen Herrn geblieben ist. Er sichert sich seinen Raub, bis er am ersten October Betty's Ruh Lebewohl sagt; dann nimmt er ihn und geht damit über alle Berge, um sich in irgendeinem Erdwinkel niederzulassen, wo ihn kein Mensch kennt und erreichen kann. Haha! das hat er sich recht hübsch und fein auscalculirt, hoffentlich aber wird er noch lange vor dem ersten October entlarvt und gefaßt sein, und was ich dazu beitragen kann, daß es geschieht, das soll beigetragen werden, verlassen Sie sich darauf.«

Paul hatte den ruhig und ohne alle Leidenschaft gesprochenen Worten des Capitains mit wachsender Spannung zugehört und dabei immer den Ausdruck des ehrlichen Auges desselben beobachtet. Als er nun einen Augenblick schwieg, sagte er: »Sie öffnen mir da mit einem Mal eine Thür weit und breit, durch deren Spalte ich bisher nur einen flüchtigen Blick geworfen habe. Sie sind also fest überzeugt, daß Hummer den Betrug verübt hat?«

»Fest und ganz überzeugt, Herr van der Bosch, auf ehrlichen Seemannes Wort. Nun aber weg mit dem Hummer; lassen Sie uns lieber noch einmal auf den Laurentius kommen. Dieser Laurentius ist, darin stimmen alle Meinungen überein, wohl ein guter, aber auch ein dummer und einfältiger Mensch, den ein kluger und schlauer, wie der Hummer einer ist, leicht in's Garn jagen und darin festlegen kann. So wird es auch höchst wahrscheinlichgeschehen sein. Wie und wodurch er sich des armen Menschen bemächtigt hat, und mit welches Teufels Hülfe er ihn am Faden hält, weiß ich freilich nicht, aber ich bin ihm doch bereits auf der Spur. Mein Bootsmann hat mir gesagt, der Laurentius habe zwar eine große Erbschaft von seinem verstorbenen Herrn gemacht, aber er besitze nicht den Muth, sie zu genießen, vielleicht weil – und diese Erklärung rührt von mir her – weil er weiß oder ahnt, daß diese große Erbschaft nicht mit rechten Dingen in seine Hände gekommen ist. Wahrscheinlich hat Hummer ihm durch irgend eine noch unentdeckte Fälschung ein größeres Legat zugeschrieben, als ihm gebührte, und das weiß der Laurentius und dieses Wissen ist die Angel, womit der Hummer ihn am Boden hält. Ist das nicht wenigstens denkbar?«

»Denkbar wohl, aber keineswegs gewiß,« erwiderte Paul nachdenklich.

»Na, Herr van der Bosch, was denn nun? Daß es eine Gewißheit werde, dafür müssen Sie morgen sorgen. Sie müssen ihm in's Gewissen reden und dabei im Auge behalten, daß der Hummer der böse Dämon des Laurentius ist. Daß zwischen Beiden irgend ein dunkler Faden gesponnen ist, an dem der Eine den Andern hält, ist mir so klar, wie das Licht der da eben untersinkenden Sonne. Eben so klar aber ist mir auch, daß der Hummer irgend ein Interesse haben muß, den Laurentius von Neuwerk fortzubringen und ihn so weit aus dem Wege zu schaffen, daß man seiner von Betty's Ruh aus nie wieder habhaft werden kann. Darauf laufen alle seine Besuche bei ihm hinaus, und daß der Laurentius nicht darauf eingehen will, hat er ganz ehrlich meinem Bootsmann gesagt, wie dieser auch weiß, daß der Laurentius den Hummer haßt und ihn fürchtet wie den Tod, denn so oft er kommt, ist er außer sich, weint wie ein Schulknabe, der Prügel bekommen hat, und ist mehrere Tage trübselig und menschenscheu, weshalb er auch immer allein sitzt in seiner dunklen Kammer.

Hiermit nun habe ich Ihnen Alles mitgetheilt, was ich über den vorliegenden Fall weiß oder mir über ihn denke. Ich habe Ihnen den Weg gewiesen, den Sie wandeln müssen, und Sie mögen ihn betreten und bis zum Ende verfolgen. Vor allen Dingen versprechen Sie dem Laurentius Schutz gegen Hummer, sagen Sie ihm, daß dieser weggeht und daß er dann wieder nach Betty's Ruh kommen soll, um seine letzten Tage daselbst in Frieden zu verleben, denn dahin steht, seine ganze Sehnsucht, das weiß ich ebenfalls von dem Bootsmann. Will er sich nun von Neuwerk entfernen und einen ihn schützenden Ort suchen, bis er nach Betty's Ruh geht, so machen Sie ihn auf mein Schiff aufmerksam, wo ich ihn sicher bergen will. Denn daß der Herr Hummer nicht zu mir kommt, darauf verlassen Sie sich. So, nun habe ich Ihnen Alles gesagt, was ich sagen kann und Gott verzeihe mir die Sünde, wenn ich einen Unschuldigen bezüchtigt habe – aber das habe ich nicht gethan. Doch entschuldigen Sie – nachher wollen wir über Einzelnheiten noch genauer reden, jetzt habe ich meine Pflicht zu thun – die Sonne ist dicht am Horizont und das ist ein Augenblick, wo ich mich als Commandeur benehmen muß.«

Bei diesen Worten schritt er rasch nach dem Quarterdeck und schaute scharf über das Schiff hin. Die Mannschaft stand mit abgezogenen Hüten und sah mit ehrfurchtsvollem, fast andächtigem Schweigen dem erhabenen Schauspiel am westlichen Himmel zu. Endlich gab der Capitain einem Maat einen Wink mit der Hand, und in dem Augenblick, wo der letzte kleine Goldpunct der Sonne in das Meer sank, donnerte ein Kanonenschuß über die schäumenden Wasser und verklang allmälig ohne Widerhall in der dämmernden Ferne. Ein seltsames Licht war in diesem Moment über die bewegliche See gebreitet. Der ganze Westen schwamm in dunkler Purpurgluth und sein allmälig verblassender Reflex vergoldete ringsum die silbernen Wellenkronen. Feierliche Stille herrschte dabei, nur das Rauschen der nimmer ruhenden Wogen erfüllte den unermeßlichen Raum und von Zeit zu Zeit unterbrach das Aechzen einer Möwe das tiefe Schweigen, welches etwas unsäglich Ergreifendes hatte. Und seltsam, kaum war die Sonne unsichtbar geworden, so ging ein wunderbares Phaenomen in der Wellenbewegung vor. Noch einige Augenblicke, nachdem der Sonnenstrahl sie verlassen, tanzten und sprangen sie lebhaft auf, dann aber beruhigten sie sich plötzlich, als ob sie ihr Spiel aufgeben müßten, da das Auge des Himmels es doch nicht mehr sah. In demselben Moment auch traten vier Matrosen mit ihren bereit gehaltenen brennenden Laternen an den großen Mast und hinauf schwankte das künstliche Licht, um die Stelle des natürlichen zu vertreten und so weit wie möglich seinen wohlthätigen Schimmer zu verbreiten, nach dem bald vieler Menschen Augen sehnsüchtig aufblicken sollten, um ihren Weg nicht zu verfehlen und das schmale Thor zu finden, durch welches sie allein in den schützenden Hafen gelangen konnten.

Paul van der Bosch war durch die eben geschilderten Vorgänge auf dem Wasser und am Himmel und durch die kurz vorher erhaltenen Mittheilungen in eine eigenthümlich ernste und nachdenkliche Stimmung versetzt worden, und wie es in seinem Kopfe gährte und kreiste, so schwoll auch sein Herz von unbeschreiblich peinlichen und doch auch wieder wohlthuenden Gefühlen über. Immer lauter und lauter machte sich eine Stimme in ihm bemerklich, die zu sagen schien:

»Wenn nicht Alles trügt, so bist Du jetzt an den Anfang des Endes gelangt, Paul. Sei wachsam und hebe die Augen auf. Es kann jeden Augenblick etwas Wichtiges geschehen, was Deine ganze Existenz umwandelt und Dir am Ende doch noch zu einer Art Bedeutung verhilft, wie sie Dir jener einfache Naturmensch, der Capitain Hardegge, schon lange angemerkt haben will.«

Ach, und damit war trotz der in ihm tobenden Unruhe eine unaussprechliche, von aller Ueberhebung weit entfernte Freude verbunden, eine Freude, der er noch keinen Namen, kein Ziel zu geben wußte, daß sie aber in ihm vorhanden war und wirkte, das fühlte er selbst an jenem unerklärlichen inneren Mahner, der immer in bedeutungsvollen Momenten mit ihm und zu ihm gesprochen hatte und dem er auch jetzt willig sein Ohr lieh, zumal er ihm diesmal nur Erfreuliches und Erhebendes verkündete. Allein er sollte nicht lange in dieser Stimmung bleiben, denn man ließ ihn nur wenige Minuten allein, bald wieder trat der Capitain zu ihm heran und machte ihn auf das Schauspiel aufmerksam, das seine verschiedenen Phasen nun allmälig ringsum zu entwickeln begann.

Die abendliche Dämmerung war herabgesunken, langsam und schwer, als ob eine schattenreiche Wolke sich über die Erde und das Meer breitete, um beide zur Ruhe und zum Frieden einzuschläfern. Der weiße Schaum, der noch kurz vorher den Wellen einen leuchtenden Schimmer verliehen, war verschwunden und die See nahm ihre tiefe, unbeschreiblich unheimliche Farbe an, in die sie sich Nachts zu hüllen liebt. In einem meilenweiten ungeheuren Umkreise rings um das Feuerschiff aber zeigte sich ein magisch leuchtender Kranz, der von den hochschwebenden Laternen herrührte, die ihr schimmerndes Licht in unabsehbare Ferne ergossen. Es gewährte unserm Freunde einen seltsamen, noch nie erlebten Genuß, bei diesem gespenstischen Licht die Wasserwogen zu betrachten, die mit der immer noch heranströmenden Fluth um das Schiff tanzten und quirlten, es in einer sanften auf- und absteigenden Bewegung erhielten und seine Stellung je nach der Strömung des Windes oder der Wellen änderten. O, was mochte in dieser geheimnißvollen, unergründlichen Tiefe schlafen! Wieviel Lebendes, wie viel Todtes! Wie viel sich immer neu Gebärendes und wie viel nimmer zum Leben Erwachendes!

Weit jenseits dieses magischen Lichtkreises, der sich nach allen Seiten gleich stark ergoß, tauchten die großen Leuchtfeuer von Cuxhafen und Neuwerk, und, vor ersterem das grelle Baakenlicht der Kugelbaake auf, und Capitain Hardegge wollte sogar behaupten, daß er von Zeit zu Zeit den funkelnden Strahl des Leuchtthurms auf Helgoland wahrnehme, der freilich Paul's Augen entzogen blieb, da sie nicht so geübt im Fernsehen waren wie die seines Gefährten. Ueber allen irdischen Lichtern aber flammten die himmlischen Sterne mit ihrem wunderbaren funkelnden Glanz, und die kleine Scheibe des Mondes segelte lustig von Osten heran, um das Ihrige zu der allgemeinen Erleuchtung beizutragen.

Lange schauten die beiden Männer zu diesen erhabenen und räthselhaften Sternbildern empor, dann aber, von seinem lebhaften Gefühl übermannt, sagte Paul, indem er seine rechte Hand auf die Schulter des Capitains legte:

»In der That, lieber Capitain, es ist doch schön an Bord Ihres Feuerschiffes. Sie sind nicht allein in dieser endlosen Wasserwüste; das irdische Licht, welches Sie ausstreuen, wird auch vom himmlischen begleitet, und auf allen Seiten ringsum haben Sie treue und, zuverlässige Nachbarn, die Ihnen helfen, das Dunkel zu lichten, welches die unwirthliche Nacht auf die nassen Pfade streut.«

»Hm, ja!« erwiderte Philipp Hardegge. »Es ist wohl schön hier zu Zeiten, und obgleich mein Leben einsam und oft gefährdet ist, so bietet es einem beschaulichen und empfänglichen Menschenherzen doch manche Reize dar. Aber das muß auch so sein, denn woher käme wohl sonst der Trieb und die Lust bei den Menschen, den großen Gefahren zu trotzen, denen sie auf dem trügerischen Elemente entgegengehen? Doch diese Reize sind es nicht allein, die den Seemann zu seinem Berufe anfeuern; für mich wenigstens liegt noch ein anderer süßer Trost in meinem schönen und schweren Berufe, lieber Herr, und das ist das Gefühl, nein, das Bewußtsein, daß man in seiner abgeschiedenen, bescheidenen Lage auch eine kleine Leuchte ist oder sie wenigstens aufsteckt und unterhält, um irrenden Nebenmenschen den rechten Weg zu weisen, und das sage ich mir jedesmal in einer stürmischen Regen- oder Nebelnacht, wenn ich frierend und halb erstarrt von hier aus in die wogenden Wasserwirbel blicke und ein Schiff an mir vorübergleiten sehe. Dem hast Du auch geholfen, sage ich mir dann, es geht jetzt sicher in den Hafen der Ruhe ein, wo es noch so eben voll bangen Zweifels war, – und dieser Trost versüßt mir die kurze Ruhe, der ich mich in so trüben Nächten hingeben darf, wo der Tod jeden Augenblick an meine Koje pocht, als wollte er fragen, ob ich auch da und bereit zum Sterben sei. Ja, Herr, wir Seeleute und namentlich wir auf diesen Feuerschiffen, müssen jeden Augenblick zu sterben bereit sein und – das sind wir, und ich – bin es auch. Doch still jetzt vom Sterben, wir wollen ja noch leben, und hoffen, daß uns noch lange die grüne Welle verschont, die gierig nach allem Lebendigen schnappt. Kommen Sie, ich will einmal die Runde machen und sehen, ob meine Leute auf ihren Posten sind.«

Schweigend und Arm in Arm, damit Paul nicht etwa über irgend einen Gegenstand strauchele, schritten sie über das lange, schwankende Deck. Vorn am Buge stand ein Mann im dichten Regenwamms, den Südwester auf dem Kopf, und lehnte sich, in die Ferne spähend, über die Brüstung hinaus. Eben so wie diese Vorderwache traf man die am Hinterdeck aufgestellte an, und nachdem der Capitain mit Jedem einige Worte gewechselt, begann er mit seinem Gaste den nächtlichen Spaziergang wieder, wobei sich aber ihr Gespräch diesmal in angenehmeren Kreisen als vorher bewegte, denn Capitain Hardegge erzählte Paul seine Liebesgeschichte mit Friede, theilte ihm seine Hoffnungen für die Zukunft mit und entwickelte dem jungen Landbewohner seinen ganzen Lebensgang, der daraus entnehmen konnte, daß er nicht allein auf Schwierigkeiten im Leben gestoßen sei, sondern daß es auch andere wackere Kämpfer gebe, die sich hatten durchringen müssen, bis sie eine Stellung gefunden, die ihren Wünschen entsprach und die den edlen Ehrgeiz befriedigen konnte, der in jedem männlichen Herzen oft unbewußt aber immer arbeitend und nie rastend, wohnt, so lange das Blut noch feurig in den Adern kreist und die Muskeln Kraft haben, ihre Schuldigkeit zu thun.

Um elf Uhr endlich, als eine merkliche Kühle sich über die See ausbreitete, forderte der Capitain seinen Gast auf, mit ihm hinabzusteigen und sein Lager zu suchen, und dieser folgte ihm willig, da er wußte, daß er um vier Uhr schon wieder geweckt werden würde.

»Um sechs Uhr,« sagte der Capitain, als sie in die Cajüte traten und sich sogleich entkleidete, beginnt morgen die Fluth ihr Spiel zu treiben. Eine Stunde später können wir schon mit der Schaluppe nach Neuwerk hinüber und dann sollen Sie einmal ein merkwürdiges und wenig bekanntes Stück Land sehen, welches Gott der Herr gleich Helgoland wie zum Spaß mitten in die Wogen geworfen hat. Aber Neuwerk ist noch merkwürdiger als Helgoland. Es besteht nicht aus hartem, trotzigem Fels, sondern aus reiner Muttererde. Bei der Ebbe liegt es ziemlich trocken und öde da, bei der Fluth aber ist es eine vollkommene Insel. Wir haben vier Stunden Zeit darauf. In einer haben Sie das ganze Eiland besichtigt und dann müssen Sie mit Gott an die Arbeit bei Laurentius gehen. Ich werde die Zeit schon im Auge behalten, also reden Sie ruhig und gemächlich mit ihm. Und nun gute Nacht! Die Lampe lasse ich wie immer brennen, weil man nie wissen kann, was vorfällt. Hoffentlich schlafen Sie bald; die Bewegungen des Schiffes werden Sie wie eine von sorgsamer Mutterhand geschaukelte Wiege einschläfern. So – ich liege vortrefflich – Sie auch?«

»Ja,« sagte Paul, »ich auch. Gute Nacht!« Und er dehnte sich lang auf dem breiten bequemen Lager aus und hüllte sich nur leicht mit einer Decke ein, da die Luft in der Cajüte ziemlich warm war.

Die Lage, in der unser Freund sich hier befand, war ihm völlig neu, und ehe er einschlief, stellte er noch seltsame Betrachtungen darüber an. Zuerst blickte er sich rings in dem fest verschlossenen Raume um und prägte jeden wahrnehmbaren Gegenstand seinem Gedächtniß ein. Sodann haftete sein Auge an der leise hin und her schwingenden Lampe, die jede Bewegung des Schiffes im Kleinen wiederholte. Endlich aber lieh er sein Ohr dem wunderbaren Gemurmel an seiner Seite, das sich bisweilen fast unheimlich in unmittelbarer Nähe vernehmen ließ. Wie die Wellen kamen und gingen, große und kleine, so trugen sie ein eigenthümliches, bald lauteres, bald leiseres Geräusch mit heran und davon, und als die erste Besorgniß verschwunden war, welche die Nachbarschaft des feindseligen Elementes erweckte, begann die Wirkung der mütterlichen Wiege, und ohne daß er wußte, wie es geschah, schlossen sich plötzlich seine ermüdenden Augen und er sank in einen tiefen und erquicklichen Schlaf, aus dem er nicht eher erwachte, als bis eine befreundete Hand sich auf seine Schulter legte und eine kräftige Stimme sagte:

»Stehen Sie auf, Herr van der Bosch. Ihre Uhr zeigt die vierte Morgenstunde an und wir müssen unser neues Tagewerk mit Gott beginnen. Guten Morgen und ich wünsche Ihnen einen an Glück reichen Tag!«


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