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Zehntes Kapitel.
Gefangen und wieder befreit

Im Gefängnis. – Nachrichten vom Triefestollen. – Unter der Wucht der Verdachtsgründe. – Das Verhör. – Eine verfängliche Frage. – In der Nacht vor der Folterung. – Die Preisgabe des Geheimnisses. – Der Auszug. – Eine Kletterpartie und ihr Ende.

 

Lange, qualvolle Tage waren vergangen, und Jörg wußte noch nichts über sein Schicksal. Denn der Herr Landrichter war mit dem Pfleger und dessen welschen Gästen zur Jagd, und wenn sie einmal ins Falkenieren kamen, vergingen leicht die Tage, ehe sie an die Heimkehr dachten. Ihr Aufpasser, der Fuggersche Syndikus, war in den Gruben am Goldberg und kehrte nicht vor einer Woche wieder. Da hatten die Malefikanten im Turm gut zu warten.

Es war nicht das ärgste Gefängnis, in das man Jörg geworfen. In seiner fränkischen Heimat hatte er schrecklichere gesehen, so niedrig und eng, daß man darin nicht stehen noch gerade liegen konnte, sondern kauern mußte in steter Angst zu ersticken. Hier in den Gewölben des Berggerichts war wenigstens Licht, wenn auch nicht genügend Platz für die vielen Gefangenen, mit denen zusammen er schmachtete. Eine gewölbte Halle, halb in die Erde eingebaut, war es, aus der Kellerfenster, gerade so groß, daß ein Mann den Kopf durchstecken konnte, auf einen stillen Hof gingen, in dem Gras sproß und ein paar grüne Sträucher einen schmerzlichen Gegensatz zwischen dem Innen und Außen schufen. Aber die Fenster waren schwer vergittert und so verglast, daß sie nie geöffnet werden konnten.

Innen war es fürchterlich. Der mit Stroh und Unrat bedeckte Boden beherbergte an zwanzig Menschen, Männer und Frauen. Sie mußten alle liegen, denn alle waren mit den Füßen eingeschlossen in einen Schragen, der geöffnet das Durchstecken des Fußes gestattete und dann in seinen schweren eisernen Bändern zugeschlagen wurde: eine sinnreiche und einfache Vorrichtung, die Gefangenen festzuhalten. Freilich verursachte ihnen das unaussprechliche Martern, mit dem bald anschwellenden Knöchel immer still im Eisen liegen zu müssen und sich nur mühsam am Boden wälzen zu können, wenn die Lage zu unerträglich wurde.

Es fehlte auch nicht an Seufzern und Klagen, an Ausbrüchen rasendster Wut, an Verzweiflungsschreien, stillem Weinen, an Zank und Toben und gegenseitiger Tröstung. Fast alle, die da waren, galten als Sektierer und Aufrührer. Nur wenige waren »einfache« Diebe oder sonst Widersetzliche. Es war ja auch nur das Gefängnis für die Untersuchungsgefangenen, die leichterer Dinge angeklagt, vielfach überhaupt nur verdächtig waren. Und sie ließ man gern ein paar Tage zuwarten, bevor sie zum erstenmal verhört wurden, denn da konnten sie sich besinnen und wurden »weichen Gemüts« und des Zuspruchs zugänglich. So hatte es Herr Nikolaus Capeller angeordnet als mildherziger und menschlicher Richter, der eben deshalb immer heimlich verklagt wurde zu Innsbruck wegen »uneifriger und unachtsamer Gerichtsführung«.

Da lag denn auch Jörg am faulenden Stroh und sah in eine graue und unbestimmte Zukunft. Nach dem ersten Toben über das ihm angetane Unrecht wurde er ruhiger und zuversichtlich. Sein gutes Gewissen war ihm das beste Schlummerkissen. Man brauchte nur nachzufragen bei seinen Grubengenossen, auf die er sich berufen wollte, beim Schwabenhans und Batzentoni, beim Blaurock und Linhart, die würden es bezeugen, daß er nie bei der Geschwistrigkeit und den Aufrührern war und nie gemeinsame Sache mit ihnen machte. In seiner Unschuld dachte er, solches Zeugnis werde gegeben werden und auch genügen, ihn zu befreien. Das sah er wohl ein, daß er sich verdächtig machen mußte, wenn er des Nachts einsam durch die Wälder schlich. Es war ihm auch bald klar, daß er einer nach Sektierern fahndenden Streifrotte in die Hände gefallen war. Aber wer konnte ihm irgend eine schlechte Tat oder auch nur ein unrechtes Wort nachweisen? Kein Richter der Welt konnte ohne solchen Nachweis einen Menschen verurteilen. Er war also ruhig und wartete nur voll Ungeduld, daß er vor den Richter geführt werde.

Da sagte ihm sein ihm zunächst liegender Schicksalsgenosse, ein ganz junges Bürschchen mit einem sehr unangenehmen und verschlagenen Gesicht, der ihn ausfragte um sein Woher und Warum: »Im Triefestollen hast gearbeit'? Gerad' wie d' Anspeninger kommen san, war dort a Mordsrumor. Soll ersoffen sein, der ganze Triefestollen. Schlenkst mi' net? Bist z'wegen dem im Turm!« Und er kniff das Auge zu und lachte recht impertinent.

Mit Jörg drehte sich alles. Der Triefestollen unter Wasser gesetzt! Das war nicht möglich. Er selbst hatte die Wasserseigen noch vorvorgestern gesehen. Alles war in Ordnung gewesen. Sollte der Hans in seinem wahnsinnigen Haß gegen die Fuggers –? Er war in unbeschreiblicher Aufregung, und hundert wirre Gedanken peinigten ihn. Wenn nur bald wieder ein Unglücksgefährte käme, der Neues wußte von den Ereignissen in dem Stollen! Aber es kam keiner.

Die Nacht sank nieder. Einige der Gefangenen sangen zusammen ein geistliches Lied, eine Frau in der Ecke wollte nicht aufhören zu schluchzen, und ein alter Mann, der offenbar krank war, stöhnte die ganze Nacht und fuhr mit schrecklichen abgerissenen Schreien auf an diesem Ort des Jammers und menschlicher Leiden.

Am Morgen kam der Wächter mit einem neuen Inkulpaten, und zur maßlosen Freude Jörgs war es ein Bergmann, den er schon öfters gesehen. Wie hier fast alle beteuerte auch er, unschuldig und nur infolge eines Mißverständnisses ergriffen worden zu sein. So gut es von einer Ecke zur andern in dem Lärm ging, bestürmte ihn Jörg mit Fragen nach dem Stollen und seinen Kameraden. Da erfuhr er denn schreckliche Dinge.

Alle Leute auf dem Triefestollen habe man aufheben wollen, denn die gelten vor der Obrigkeit als die ärgsten Aufrührer, seien aber alle wie weggeblasen gewesen, als die Häscher kamen. Am Morgen danach aber sei der Triefestollen eingestürzt gewesen, auch sei Wasser herausgeflossen, wahrscheinlich sei er ersoffen. Jörg war niedergeschmettert. Alles verschwor sich gegen ihn. Daran hatte er keinen Zweifel: der unvermutete Einsturz des Stollens war ein Racheakt seiner Kameraden, die sich geflüchtet hatten. Auf wen werde er sich aber nun berufen? Mit schrecklicher Klarheit sah er, wie sich die Verdachtsgründe gegen ihn häuften. Natürlich mußte man glauben, auch er sei in die Wälder geflüchtet. Wer sollte ihm eine so unwahrscheinliche Geschichte glauben, daß ihm ein bergkundiger Gelehrter gesagt habe, im Vomperloch gebe es Blenden, und daß er nach dieser Angabe wirklich eine Silberader entdeckt habe!

Er verfiel in eine wahre Verzweiflung. Erst jetzt wurde ihm so recht der Ernst seiner Lage bewußt. Es fiel ihm die Sache mit der Koflerin und all das Viele ein, was er von den über die Wiedertäufer verhängten Verfolgungen gehört hatte. Wenn er nun auch für einen galt, bangte ihm um sein junges Leben. Würde man nicht mit der Folter das aus ihm herauspressen, was er nicht zu gestehen hatte? Im Turm lag einer, den sie gefoltert hatten, und es war ein schaudervoller Anblick, den früher kräftigen und stattlichen Mann zu sehen, wie er jetzt in Schmerzen dalag, an allen Gliedern verrenkt und geschunden, ein gebrochener, nie wieder zu ernstlicher Arbeit tauglicher Mensch. Das harrte vielleicht auch seiner.

Und eine wahnsinnige Angst begann ihn zu ergreifen; des Nachts schrak er aus gräßlichen Träumen auf, des Tages marterte er sein Hirn ab im Ausspinnen seiner Zukunft und im Ersinnen von Auswegen, von Flucht- und Rettungsmitteln, die er alle wieder verwarf.

Die Richter waren inzwischen zurückgekommen, und jeden Tag lichteten sich die Reihen der Unglücklichen, die gleich ihm dem Tage ihrer Vernehmung entgegenbangten. Keiner von ihnen kam zurück. Was wurde aus ihnen? Er malte es sich mit Schaudern aus. Er fragte seine Genossen, die aber schwiegen. Er fragte den Wärter darum; der zuckte nur die Achseln und meinte spöttisch: »Wirst schon sehen, Bürschel, wann'st d'Rabensprach lernst auf der Malstatt.«

Eines Morgens kam der Wärter und rief: »Welcher ist der Jost vom Triefestollen?« Er hatte zur Vorsicht, seitdem er wieder in Fuggersche Dienste getreten war, seinen im Waldhaus angenommenen Namen beibehalten.

Nun war der große Moment gekommen. Er nahm alle seine Kraft zur Beherrschung zusammen; trotzdem klapperten ihm die Zähne vor Aufregung. Jetzt wurde er losgelöst vom Schragen. Seit mehr denn acht Tagen stand er wieder zum erstenmal auf den Beinen. Das war so ungewohnt, daß ihm schwindlig wurde wie einem Kranken, der vom Bette aufsteht. Und die Beine waren arg geschwollen und fast unbrauchbar. Wie ein Krüppel wankte er einher, als er vor den Untersuchungsrichter geführt wurde.

Das war niemand anders als der Herr Capeller selbst. Und mit ihm saß der Bergschreiber beim Tische und ein kleines, altes Schreiberlein, das ihn so merkwürdig gut, beinahe tröstend ansah. Auch der Bergrichter hatte ein freundliches Gesicht. Das alles belebte seinen Mut; es schien ihm nicht so schrecklich, wie er es gefürchtet hatte.

»Du nennst dich Jost, den Bergmann?« begann der Bergrichter, nachdem er in viele Papiere geblickt.

»Bist von der Rotte aufgebracht worden, am Tag unseres heiligen Bergpatrons, im Vomperloch. Was war dort dein Tun?«

Die Antwort auf die Frage hatte er sich schon hundertmal zurechtgelegt. Er hatte beschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben. Eine Erzader wollte er finden, darum streife er jeden Sonntag im Gebirge; die Ochsentreiberin, seine Wirtin, könne es bezeugen und auch der Pfannenschmied, der ihn öfters gesehen des Samstags abends.

»Das ist nicht wahr,« sagte darauf mit unfreundlicherem Gesicht der Richter. »Die Ochsentreiberin nennt dich einen verdächtigen Gesellen und heimlichen Menschen, der Freundschaft gehalten mit dem Erzrebellen, dem Andreas Kofler, der seitdem schon gerichtet worden vom Leben zum Tode.«

Jörg begann vor Aufregung zu zittern; wie konnte seine Wirtin solches nur aufbringen?

»Kennst du den Hans Schlaffer?« fragte ihn nun unvermittelt der Richter und sah ihn scharf an.

Jörg brach fast zusammen. Nun war es aus – diese alles ausspionierenden Gerichtsherren wußten um den Verdacht, in den er in Augsburg geraten. In seiner Angst und Überraschung rief er: »Der Schlaffer selbst hat's getan! Ich bin unschuldig!«

»Ei, ei, du Vogel, du weißt ja mehr, als du sagen willst. Muß man dir erst die Zunge lösen?« Der Richter sagte es mit steigendem Unmut. Diese Knappen waren wirklich im Begriff, ihn von seiner Güte zu heilen und zu der Ansicht des Syndikus zu bekehren. Das war ja eine heillose Gesellschaft! Soeben wollte er mit neuen Fragen beginnen, da öffnete sich die Türe, und hochrot vor Eile trat der Syndikus ein.

»Entschuldigt nur,« sagte er pustend, »die Verspätung, hab' was mitgebracht.« Nach einigen geflüsterten Worten wurde Jörg in den Vorraum geführt.

»Ihr wißt doch,« begann der Bergwerksanwalt, als sie allein waren, »daß ich es nie glauben konnte, der Schlaffer sei auf und davon. Er hat mir alle Zeit treu und redlich gedient. Nun hab' ich sichere Nachricht. Im Triefestollen haben ihn die Kerle umgebracht! Eine Frau hat ihn gesehen vom Fenster – in der Unglücksnacht, als der Schacht ersoffen ist, war er kurz zwei Stunden vor Mitternacht vorm Triefestollen. Der ist nicht davon, das ist ein greulicher Mord an einem Fuggerschen Vertrauensmann!«

»Herr Syndikus,« sagte triumphierend der Richter, »auch wir haben nicht geruht, hab' jeden Inkulpaten um den Schlaffer befragt. Wir haben den Vogel auch schon. Gerade hab' ich ihn verhört. Ein Bergknappe aus dem Triefestollen ist's, der in die Erde sinken wollt' vor Angst, als er den Namen des Schlaffer auch nur hörte. Wir haben ihn aufgetrieben bei dem Tauferkonventikel im Vomperloch.«

Der Syndikus strahlte vor Vergnügen. »Gebt Ihr mir nun recht?« quiekte er. »Wie lang lieg' ich dem Berggericht in den Ohren! Mordbuben sind sie und nicht ›Fromme im Land‹, das Tauffergesindel alle miteinander, und nicht eher wird Ruh' sein am Berg und im Land, bis nicht der letzte vertilgt ist von dem Ungeziefer.«

Der Bergrichter widersprach nicht mehr; achselzuckend mußte er sich gestehen, daß wenigstens diesmal der Eiferer recht behielt.

Und nun kam eine schwere Stunde für Jörg. Die zwei Rechtskundigen wußten ihn in die Enge zu treiben mit Kreuz- und Querfragen, daß er schließlich völlig irr redete und in immer ärgere Verwirrung geriet.

»Woher kennst du den Schlaffer?« hieß es.

»Hab' ihn in Augsburg gesehen.«

Die beiden Frager wechselten einen Blick der Befriedigung.

»Warum bist ihm nicht gut gesinnt?« Jörg zauderte. Das wurde als verstocktes Schweigen aufgefaßt.

»Hast es selbst getan, oder warst nur dabei? Wenn du die Wahrheit sagst, soll es dich nicht gereuen.«

»Der Schlaffer hat es getan. Er selbst hat mich ja weggeschickt, sollt' den Juden noch versehen.«

Die Richter sahen sich verdutzt an. Was kam denn da alles zutage? Was für ein Jude war da verwickelt in den Mord? Sogar der Schreiber, der das Protokoll aufnahm, war vor maßlosem Erstaunen sprachlos.

»Jost,« sprach eindringlich der Richter, »gesteh' den Mord. Bei Gott und deinem Gewissen, sag' die Wahrheit!«

Der Inkulpat trat vor Schrecken und Staunen einen Schritt zurück. »Ich, ein Mörder?« schrie er. »Ja ist denn der Schlaffer tot?«

Der Ton war so echt, daß die Richter gleichzeitig die Überzeugung gewannen, dieser arme Teufel habe den Späher wirklich nicht getötet. Aber er wußte von ihm und hatte ein böses Gewissen, auch das sah man ihm an.

»So läßt sich nicht reden,« begann der Syndikus von neuem. »Wir müssen dich peinlich befragen.«

Es war Vorschrift der Halsgerichtsordnung des glorreichen Kaisers Karolus V., daß jedem vor der Folter eine Bedenkzeit gegeben werde, um freiwillig zu gestehen. Und diese Frist wurde auch Jörg zugebilligt. Erst am nächsten Morgen sollte er die Bekanntschaft des Meister Hansen und seiner Henkersknechte machen.

Man brachte ihn nicht mehr in sein altes Gefängnis zurück. Durch einen tiefen, langen Gang über viele Stufen hinab und hinauf wurde er in ein Gemach ohne Fenster gebracht, in dem ein armselig Talglichtlein brannte. In seinem ersten Schrecken hielt er es schon für die Armesünderzelle.

Der Wächter nahm das Licht mit. »Sei net verstockt,« meinte er bieder mit einem bedauernden Blick auf den wohlgestalteten jungen Menschen, »hat no jeder gestanden, wenn's ihm d'Seel aus dem Leib haspeln. Geh in dich, d'Straff is milder für solche, die freiwillig gestehen. Wenn's dem Peinrichter bekennen willst, brauchst nur an der Tür z'pumpern. 's hörn ma schon.« …

Jörg und der Aufseher

Krachend fiel die schwere Eichentüre in das Schloß – völlige Finsternis umfing ihn – er war allein. Als sich seine Augen an die große Finsternis etwas gewöhnt hatten, erspähte er einen matten Lichtschimmer, der aus der Wand drang. Da war eine Luftlücke, die dann mit Steinen zugemacht war. Es gelang ihm, einen zu lockern, und er konnte hinausspähen. Nichts sah er als regengrauen Himmel. Offenbar war er hoch über der Erde. Ein Vöglein hörte er zwitschern. Wo konnte er sein? Nirgends anders als im Turm zu Freundsberg. Dort war ja das peinliche Gericht mit der Folterkammer.

Ein Schauder lief ihm über den Leib. Morgen früh … Er erinnerte sich, gehört zu haben, daß man meist um fünf Uhr morgens beginne – mit der Marter. Jetzt war es wohl Mittag. Also noch siebzehn Stunden.

Er ging auf und ab in seinem dunklen Käfig wie ein wildes Tier. Er war noch vom Verhör und seinen Aufregungen erschöpft, und doch peitschte ihn die Angst vor dem Bevorstehenden ruhelos auf.

Der Schlaffer war tot, er war hier gewesen? Und er sollte ihn ermordet haben? Und das sollte er morgen auf der Folter gestehen? Träumte er? War er wahnsinnig? Solche Unmöglichkeiten, derartigen Widersinn konnte sein Kopf gar nicht fassen.

Er war keines klaren Gedankens fähig, er warf sich in die Ecke und schluchzte krampfhaft, um sich von der ungeheuren Aufregung zu befreien. Lange lag er so. Dann ward er ruhiger und konnte wenigstens darüber nachdenken. Klang, klang! Mit scharfem Schlag ertönte ganz in der Nähe die Turmuhr. Schon zwei Uhr! Also nur noch fünfzehn Stunden!

Seine Phantasie arbeitete, und er malte sich die Szene von morgen aus. Er hatte schon Einrichtungen gesehen, und das schaudervollste waren ihm damals die mit schwarzgeronnenem Blut besudelten Schürzen der Knechte gewesen. So eine würde der Meister Knecht morgen wohl auch haben …

Aber das war ja nicht möglich! Und in sinnlosem Wutparoxysmus sprang er auf, kratzte an den Wänden, als ob er dadurch einen Ausweg erzwingen könnte, und schlug sich die Faust blutig an den Mauern.

Dabei fiel ihm, als er nach dem Tuch suchte, um die blutende Hand zu umwickeln, sein Galmeistück in die Hände, das er vom Suntiger mitgenommen hatte. Er stöhnte tief auf bei der Erinnerung. Heute mußte Montag sein. Vor einer Woche und einem Tag um diese Zeit, wie hatte er da vor Glück gejubelt! Und jetzt? Wie konnte doch ein Mensch so tief fallen von des Glückes Leiter!

Sein Glückstern fiel ihm ein. Wie trügerisch waren die Sterne! Wie in Fieberträumen zog sein Leben an ihm vorbei: sein Elend, die Augsburger Oase, das Waldhaus, sein Glück und Sibylle. Blickten da nicht ihre blauen, guten Augen so liebevoll ihn an? Was hatte er doch nur getan? Wie oft hatte er es schon bereut, jenes bescheidene Glück verlassen zu haben, aber nie lag es ihm so brennend auf der Brust wie heute.

Das Gefängnis in Schwaz

Und wie er so dalag in seinen Seelenqualen und Herzensnöten, da trat es ihm klar vor die Augen, daß er gefehlt habe, und daß sein Unglück nun die Buße sei dafür. Vom Silberfieber, vom Traum von den silbernen Bergen hatte er sich verblenden lassen, und dafür wurde er bestraft. Das wahre Glück, die friedliche Arbeit und das bescheidene Leben, das man durch sie erwirbt, hatte er geringgeschätzt. Reich wollte er werden, mühelos, durch einen Glückszufall, mißachtet hatte er die Arbeit, darum war er dem Waldhaus entlaufen. Und jetzt sah er, was das Los der Abenteurer war. Er war ja jetzt reich, aber welcher Fluch haftete an dem unglückseligen Silber! Um die Freiheit hatte es ihn gebracht, und in grauenvolle Marter und Tod wird es ihn noch bringen.

Jetzt war es zu spät, abzuschwören dem Teufel der Habsucht, der Gier nach Geld und Reichtum. Wie gern hätte er verzichtet auf sein Silberbergwerk, auf alle Reichtümer, wenn er nur wieder Laborant hätte sein können dort am Fuße des Demeljoches, wo man keine Ahnung hatte von dem Elend, in das ihn die Sucht nach Reichtümern gebracht.

Jetzt war es zu spät. Die Blende in der Tasche brannte ihn wie Feuer. Das war der Dämon … jawohl, das Geld ist der Teufel, der die Menschen verdirbt und ihnen schon die Erde zur Hölle macht. Er zog den silberhaltigen Stein hervor und warf ihn voll Ekel weit weg.

Es war ihm wie eine symbolische Handlung. Jetzt war er befreit von dem Wahn, der ihn verblendet hatte. Sollte ihn irgend ein Engel erretten vor dem sicheren Tod, den er vor Augen hatte, nie wieder würde er nach Reichtum trachten. Jetzt, wo es zu spät war, wußte er, wie man es anfangen müsse, glücklich zu werden.

Und in dem Augenblick, da er sein Herz befreite von der Schuld, die er auf sich geladen hatte, da er dem abschwor, was ihn so lange verblendete, da nahte ihm auch ein Engel der Rettung und zeigte ihm den Weg aus dem Labyrinth seiner Not.

Mit dem Fuß stieß er an die Blende, die auf dem Boden lag. Und da durchzuckte ihn der Gedanke, daß er mit dem Reichtum, den er in der Hand hielt, sein Leben erkaufen könne. Wenn er die Entdeckung der Erzader den Fuggers überließ, würde der allmächtige Syndikus ihm sicher sein Leben auswirken.

Und mit übermenschlicher Kraft schlug er auf die Türe, um den Wächter zu rufen.

»Gel', habt Euch besonnen. Besinnen sich viele am Tag vor der Pein,« sagte dieser freundlich, als er öffnete. Doch als er von dem verstört dreinsehenden Gefangenen hörte, daß er nicht nach dem Bekenntnisrichter verlange, sondern nach dem Syndikus der Fugger, dem er eine hochwichtige Mitteilung zu machen habe, da schüttelte er den Kopf und meinte, das ginge wohl nicht gut an. Er wolle aber, setzte er gutmütig hinzu, als er die Verzweiflung des armen Burschen sah, den Herrn Landrichter darob befragen.

Dem war es gleich. Und binnen einer halben Stunde, die dem angstvoll harrenden Jörg wie eine lange Nacht erschien, stand er mit Ketten beladen als Mordverdächtiger inmitten zweier Wächter im Flur des Fuggerhauses und wartete darauf, vorgelassen zu werden.

Der Syndikus war äußerst schlechter Laune. War doch soeben der Schichtmeister vom Pirchanger bei ihm gewesen und hatte ihm im Vertrauen gesagt, mit den Erzadern in den dortigen Stollen sei es ein übel Ding. Sie würden immer magerer, und bald werde man den Pirchanger schließen müssen.

Was war denn nur mit diesem vertrackten Berg? Seit einigen Monaten ging alles schief. Fünf Stollen hatte man schon auflassen müssen, da stürzte einer ein, dann ersoff der andere, neulich erst wieder der Triefestollen, jetzt soll wieder der Pirchanger gar sein! Und dazu die wachsende Gärung in der Knappschaft! Er kannte wohl die unheimliche Mär, die diese boshaften und halsstarrigen Knechte aufgebracht. Am Kirchplatz, – so erzählten sie, – habe ihr Vorsteher, als er wegen der Wiedertauf im Brand auf dem Scheiterhaufen stand, den Herren geflucht. Schwinden sollen die Erze in den Bergen und in Flammen aufgehen die Häuser, habe er gerufen, und Gott erfülle seinen Fluch, denn jener Prediger war ein Heiliger und von untadelhaftem Leben.

Es ruhte wirklich wie ein Fluch auf dem Bergwerk, und während früher fast jedes Jahr eine neue Ader die Herren im Fuggerhaus erfreut hatte, konnte jetzt, gerade wo man es so brauchte, um den Ausfall zu decken, auch der beste Kenner des Berges, nicht einmal der gewiegteste Rutengänger mehr ein Quentchen Silber neu finden. Das Erlöschen der Schwazer Bergwerke ist bis heutigen Tages ungeklärt. Tatsache ist, daß die Ausbeute an Silber im Laufe des 16. Jahrhunderts derartig nachließ, daß fast alle Gruben eingingen und auch die Fuggerschen, soweit sie noch betrieben wurden, nur durch bedeutende Zubußen aufrecht erhalten werden konnten. Die Hypothese, daß die Gruben teilweise von den Knappen selbst aus Rache zugrunde gerichtet wurden, findet ihre Stütze in den unerhört heftigen Lohnkämpfen, die seit 1523 in Schwaz einsetzten und sich dem Geiste der Zeit gemäß in das Gewand der Wiedertäuferbewegung kleideten. 1523 soll es in Schwaz bereits 800 Wiedertäufer gegeben haben; 1530 brach ein Streik der Erzknappen aus, die nach Innsbruck zogen, um ihre Beschwerden dem Landesfürsten vorzubringen. Es kam zwar ein Friede zustande, zugleich begann jedoch die heftigste Verfolgung der wiedertäuferischen Anführer, die bis 1540 dazu führte, daß ein großer Teil der Knappen hingerichtet wurde, ein noch größerer jedoch auswanderte, um der furchtbaren Verfolgung zu entgehen. Hand in Hand damit ging der Verfall der Gruben, von denen die meisten durch das eindringende Wasser versoffen.

Da meldete man ihm, der Mörder seines Dieners Schlaffer, der zu Freundsberg im Turm liege, habe begehrt, ihm etwas überaus Wichtiges anzuvertrauen. Was mochte der wollen von ihm? – Er ließ ihn kommen.

Nicht wie ein Bittsteller, sondern wie einer, der etwas Gewichtiges zu sagen hat, trat ihm dieser Bursche entgegen, und auf die barsche Frage nach seinem Begehr wollte er gar noch allein bleiben mit ihm.

Aber er verzieh ihm diese »Ungehörigkeiten« gern, als er erfuhr, worum es sich handle. Es war ihm wirklich schwer, seine freudige Erregung zu meistern, als ihm der Bergmann den Fund vorwies und er ihn mit dem gewiegten Blick des Kenners sofort als bestes Rotgülterz erkannte.

»Wo hast du das gefunden?« schrie er den Mann an.

»Ich kann es nicht beschreiben, es ist weit im hinteren Gebirg, aber ich kann den Platz zeigen,« sagte klugerweise dieser.

Die daran geknüpfte Bedingung machte den Syndikus stutzig; das ging natürlich keinesfalls, das Blutrecht so zu verkaufen, wie es dieses Bürschchen glaubte. Sein schlaues Advokatenhirn hatte aber sofort einen Ausweg entdeckt, und so nahm er eine gleichgültige Miene an, als er den endgültigen Bescheid gab: »Wenn du uns den Platz so weisen kannst, daß man gleich mit dem Hacken beginnen kann und eine ergiebige Ader daraus wird, so will ich's dem Landesherrn berichten, und wir wollen sehen, was der sagt. Kannst morgen uns hinführen.«

Damit war ja nichts versprochen und doch alles erreicht für die Fugger, und dem alten Schlaukopf hüpfte das Herz vor Freude. Denn er war ein »treuer Diener« seiner Herren, und wenn er denen hunderttausend Goldgulden zubringen konnte, so blieben ein paar tausend auch in seiner Tasche hängen.

Sofort lief er zu dem Pfleger hinüber nach Freundsberg und traf dort glücklicherweise auch den Landrichter. Die Herren waren sehr mißvergnügt über den Besuch, denn sie hatten sich in eine köstliche neue Schrift, die »Ragionamenti« des Aretino, Pietro Aretino (1492-1556) italienischer Dichter und Satiriker, teils in päpstlichem, teils in medizeischem Dienst. Man schätzte ihn bei Lebzeiten so, daß er den Beinamen » il Divino« (der Göttliche) erhielt. Er schrieb zahlreiche Komödien, Erbauungsbücher und leichtfertige Satiren, deren berüchtigste die » Ragionamenti« sind. vertieft, die Donna Isabel als Geschenk hier gelassen, – davon durfte dieser Schnüffler schon gar nichts merken, denn eigentlich war es ja eine Erzketzerei, dieses Buch.

Aber die Mächtigen der Erde werden immer freundlich empfangen, und so erkundigte sich denn auch Herr Chrysanth artig nach des Gastes Begehr.

»Hab' eine kuriose Sach' mitgebracht,« begann dieser. »Wißt Ihr noch, der Kerl, der meinen armen Hans umgebracht hat,« Herr Capeller schluckte verächtlich bei der Erinnerung an den Hans, fiel aber gleich in das Wort: »Entschuldigt, ich glaub' nicht, daß er ihn umgebracht hat.«

»Das ist ja jetzt gleich,« meinte der Sprecher etwas scharf, »es ist nur, damit ihr wißt, wen ich meine. Der Bursch also gibt vor, er habe im hinteren Gebirg eine reiche Erzader entdeckt und hat mir auch Stufen davon gewiesen. Ich bitt' Euch um Befehl, daß er uns an den Ort morgen führen kann.«

Die Herren nickten bedenklich zu dem Vorschlag. Das war wider die Berechtungsordnung, auf der sonst gerade immer der Syndikus die Tüpfelchen auf den i nachzählte.

»Der Jost, den Ihr meint,« antwortete endlich Herr Capeller, indem er unauffällig ein Kissen auf den Aretin legte, »ist arger Ketzerei und Rebellion halber in Verwahr und soll morgen peinlich befragt werden. Der kann natürlich morgen nicht mit Euch.«

»Deshalb komme ich ja heute noch zu Euch, Landrichter, daß Ihr es aufschiebt! Nach der Folter kann der Kerl nicht mehr ins Gebirg.«

Der Pfleger, der auf der gerunzelten Stirn des Advokaten schon die nahende Drohung mit der Fuggerschen Macht las, mischte sich vermittelnd ein. »Aufschieben könnt Ihr es ja, Herr Capeller,« wandte er sich an diesen.

»Der Bursch verlangt natürlich, daß man ihn freiläßt für die Entdeckung der Silberader,« meinte nach erteilter Erlaubnis besänftigt der Syndikus.

»Das gibt's nicht,« fuhr der Landrichter auf. »Würde der Obrigkeit in der Knappschaft schwer schaden, wenn so einer dann frei laufen könnte! Ist auch ohne Beispiel.«

Ihm mußte der Syndikus stets opponieren, das gehörte nun einmal zum täglichen Brot der beiden. Er beeilte sich denn auch jetzt, zu entgegnen: »Ist nicht ohne Beispiel, mit Verlaub. Im Hauptjahr der Ketzerei, anno 1533, hat man den rückfälligen Peter Groß, der schon zum Brand verurteilt war, nicht nur losgelassen, weil er zwölf Vorsteher der Tauffergemeinden in die verdiente Straf' gebracht hat, sondern er hat sogar noch eingezogene Güter erhalten. Historisch. Conf. Loserth, J. v. Beck. Aber mir ist's gleich, verlang' gar nicht, daß man dem Jost zu Willen ist. Hab' es ihm auch nicht versprochen. Nur so lang sollt Ihr ihn nicht berechten, als er bei der neuen Grube nützlich sein kann.«

So war die Einigkeit wieder hergestellt, und der dicke Herr Syndikus, der es sich nicht nehmen ließ, in Augsburg in seinem Bericht seinerzeit selbst als Entdecker der neuen Erzader zu gelten, gab Befehl, man solle ihn morgen um fünf Uhr wecken, denn der Jost hatte gesagt, es sei gut acht bis zehn Wegstunden, und man müsse in das verrufene Vomperloch. Da wär' es gut, zeitlich aufzubrechen, auch sollte man heimlich, ohne Aufsehen ausziehen.

Des Morgens um fünf jedoch regnete es in Strömen, und es war ihm schon, als er herumfragte um das völlig unbekannte Vompertal, viel Warnendes und Abschreckendes gesagt worden. So galt es Gott zu versuchen, wenn man bei solchem Wetter in die Berge eindringen wollte.

Es war überhaupt ein Wagestück für ihn, den behäbigen, bergungewandten Mann, sich an solch einem Zug zu beteiligen. Der Bursche, der ihn dazu verlockte, behauptete zwar kecklich, es sei fast eine Art Pfad vorhanden, so oft habe er den Weg gemacht, auch sei es nirgends zu arg. Immerhin hatte er auf die Frage, ob der Herr Syndikus die Reise in einer Sänfte oder auf einem Maultier machen könne, fast lachen müssen und gesagt, das gehe nicht, und man müsse schon Hände und Füße selber brauchen.

Es war auch nicht so sehr Mut und Abenteuerlust, die den kleinen, dicken Mann anspornten, sondern ein rein praktischer Umstand. Dem, der eine Erzader entdeckte, stand ein Drittel des Erzes zu, und er hoffte, nach dem Prozeß wider den Bergmann gewissermaßen als dessen Erbe und als der eigentliche Entdecker auftreten zu können. War die Ader wirklich so großartig, wie jener fabelte, dann hatte er damit genug und konnte aus den Fuggerschen Diensten ausscheiden.

Vergnügt sah er daher aus dem Fenster seiner behaglichen Stube im Fuggerhaus. Wenn der Regen aufhörte, dann kam die vielleicht letzte Plage, der er sich in diesem Leben noch unterziehen wollte.

Aber der Regen wollte nicht aufhören. Unablässig rann und rieselte und tropfte es aller Enden, und das schlechte Wetter wollte, wie stets nachdem es sich eingenistet hatte in den Bergen, gar nicht mehr weichen. Immer wieder rollten neue, schwere, wie ein Schwamm mit Wasser vollgesogene Wolken daher aus Westen, wie ein weißer Rauch stiegen sie aus den Schlünden des Vomperloches auf, immer wieder verdüsterte sich der Himmel von neuem mit unheimlichem Grau, und wütend peitschte dann der vor den Wolken herziehende Wind die schweren Tropfen gegen die Fenster. Wolkenbrüche gingen mit heiseren Gewittern nieder, daß ganze Bäche der schmutziggelben Flut auf den Gassen gurgelten und der Inn, von zahllosen Wildbächen genährt, bedrohlich anschwoll und pfeilschnell reißend, mit geheimnisvollem Glucksen und Brausen dahinschoß.

Fast eine Woche war vergangen, und noch war das schlechte Wetter nicht zu Ende. Der Syndikus und auch Jörg verzehrten sich vor Ungeduld. Denn war dem nun seine Lage erleichtert und er in ein anständiges, wenigstens lichtes Gemach gebracht worden, so setzte ihm doch die Einzelhaft zu und noch mehr als das die nagende Ungewißheit seiner Lage. Vom Berggericht war ihm nichts eröffnet worden, er hatte nichts in der Hand als ein sehr allgemeines und nichtssagendes Versprechen des Syndikus unter vier Augen. Eigentlich, das fühlte er nach dem ersten Jubel über die abgesagte Folterung ganz deutlich, war sein Schicksal nicht gewendet, sondern nur aufgeschoben. Ohne einen bestimmten Anhaltspunkt zu haben, merkte er doch mit allen Nerven das Zweideutige und Unredliche im Verhalten des Syndikus, und damit tauchten neue Sorgen und Befürchtungen auf. Vielleicht begnadigte man ihn vom Tode und ließ ihn lebenslänglich in einem Turm verfaulen. Dann wieder erstand ihm als Schreckgespenst der Gedanke, daß die Erzader vielleicht wirklich nicht reich sei. Was war dann? Er wagte es sich gar nicht auszumalen, und doch standen ängstigende Bilder unablässig vor seiner Seele.

Überhaupt, auch im günstigsten Fall, was würde aus ihm werden? Seine Ersparnisse waren mit dem Triefestollen verschüttet, er stand ohne einen roten Heller in der Welt. In Schwaz, diesem Ort, vor dem ihm jetzt schon graute, wollte er nicht bleiben. Am liebsten wäre er reumütig in das Waldhaus zurückgekehrt. Aber würde man den Treulosen dort aufnehmen?

So verzehrte er sich in Gedanken, Sorgen, Angst und Hoffnung und sah ungeduldig tausendmal zu dem Himmel, von dem ein Stückchen in sein Gefängnis hineinblickte, ob er denn noch nicht blau und sonnig werden wolle.

Auszug am Morgen

Eines Morgens früh schrak er aus einem gräßlichen Traum auf, und – eine viereckige Tafel voll Sonnenlicht malte sich auf dem Estrich. Unmittelbar danach kam der Kerkermeister und rief ihm zu, flink zu sein, der Syndikus verlange nach ihm.

Schon eine halbe Stunde später zog ein kleiner Trupp in aller Stille durchs Tor und marschierte gegen Vomp. Zwei Knechte waren es mit Hauen und Schaufeln, die sollten graben; dann zwei Bewaffnete, die zwischen sich an einem Strick den »Führer« führten, und hoch zu Roß der Herr Syndikus hinterdrein. Die Knechte waren schwer beladen mit Mundvorrat aller Art, mit Stricken und Säcken und Beilen, sogar ein Fäßchen Wein führte der Herr Syndikus mit sich, denn er war nicht gewohnt zu darben, und wenn er nach der Welt vorgeschriebener Ordnung von den Knechten harte Arbeit verlangte, so ziemte sich für ihn gar keine. Darum hatte auch Jörg einen Sack umgeschnallt. Nur die Bewaffneten waren aller Beschwer ledig; ihnen war es auf die Seele gebunden, den Mann in ihrer Mitte nicht außer acht zu lassen, keinen Augenblick. Denn der Herr Syndikus war ein welterfahrener Mann, der sich sagte: Vielleicht nasführt mich dieser Bursche nur und sucht auf dem weiten Weg Gelegenheit zu entspringen. Und gegen das hatte er sich ein schlaues Mittel ausgedacht und freute sich schon auf das verdutzte Gesicht des Gefangenen, wenn es so weit wäre.

In Jörg tobten auch wirklich, als er wieder voll Behagen zum erstenmal seit langer Zeit frische Luft einsog, ähnliche Gedanken. Wäre es nicht sicherer als alle zweideutigen Versprechungen, wenn er im Vomperloch sich einfach in die freien Berge schlug? Er kannte dort jeden Felsen; wie leicht war es ihm da an einem schwierigeren Punkt, etwa an der Bettelwurfwand, wo sie ihn doch losbinden mußten, zu entspringen! Er war in diesem Sommer ein guter Kletterer geworden; bis die aus dem Vomperloch herausfanden, war er längst über alle Berge. Unablässig bohrten diese Gedanken in ihm, und er gab ihnen nach, als er erklärte, nachdem sie die Melanseralm passiert, man müsse hier an die rechte Seite des Baches setzen, drüben sei es ungangbar. Das Gegenteil davon war wahr. Gerade an dieser Seite mußte man in das schwierige Gewände der Bettelwurfabstürze kommen. Doch das wußten ja seine Begleiter nicht, die alle zum erstenmal in dem verrufenen Loch weilten.

Am Bach war es Zeit für den Herrn Syndikus, vom Pferde zu steigen. Gerade hier war eine geeignete kleine Wiese. Da wurde ein Pflock eingerammt und an langem Strick das Tier festgebunden. Da mochte es grasen, bis sie morgen wiederkämen. Verloren konnte es nicht gehen.

Der Herr Syndikus blickte voll Mißbehagen die Berge an, in die er nun auf eigenen Beinen klettern sollte. Wozu doch nur der Herrgott solch greuliche Felsklötze geschaffen hat, dachte er in seinem Sinn. Aber vielleicht hat die der Satan gemacht, um der Christenheit einen Possen zu spielen. So hoch stiegen die glatten Mauern empor, daß man schon den Kopf ordentlich zurücklegen mußte, um ihren Scheitel zu erblicken. In was für einem Trümmerwerk floß nur der Bach dahin! Da waren hausgroße Blöcke, die einmal von diesen Wänden herabgefallen sein mußten, von den kleineren und dem unendlichen widrigen Geröll gar nicht zu reden.

In solchem Schutt, in dem man bei jedem Schritt einen halben zurückrutschte, stapften sie nun schräg bergauf, gleich so steil, daß es ihm aus Luftmangel die Kehle zuschnürte. Da hatte er sich auf ein schönes Abenteuer eingelassen!

Nun standen sie an einer durch Grasbänder und Krummholz in Absätze gegliederten, fast senkrechten Terrasse, und ihr Führer bedeutete ihnen, da müsse man hinauf, die Grasbänder zögen sich den ganzen Berg entlang, und nur auf ihnen komme man weiter. Dazu aber müsse man ihn losbinden, denn mit gebundenen Händen könne er nicht klettern.

Im Herzen des Advokaten wurde der Verdacht rege; es erschien ihm unwahrscheinlich, daß man auf so halsbrecherischen Pfaden einen Weg finde.

»Jost,« sagte er drohend, »wenn du uns irre führst, hat dein letztes Stündlein geschlagen!« Aber der beteuerte, nicht anders zu können, und auch die Knappen meinten, das sehe nur von unten so böse und senkrecht aus; auf den Bändern erkenne man erst, daß sie oft breit und ganz gefahrlos seien. Die Grasbänder der Felswände sind Anzeichen des Schichtenbaues der Bergwände, finden sich daher gut ausgebildet nur in den Kalkalpen. Sie entstehen durch die Verwitterung (s. Anmerkung 54), indem sich von den Felsen abfallender Schutt auf ihnen anhäuft und sich langsam zu fruchtbarer Dammerde umwandelt. Besonders gut ausgebildete Grasbänder finden sich dann, wenn die Schichten senkrecht oder nahezu senkrecht aufgefaltet sind. Es muß dann naturgemäß jeder abgewitterte Steinblock an seiner gewesenen Ansatzstelle eine mehr oder minder wagerechte Terrasse hinterlassen; diese vereinigen sich zu ganzen Gesimsen, die in vielfachem Stockwerk oft den ganzen Berg umziehen und die Ersteigung auch völlig unnahbar erscheinender Bergkolosse ermöglichen.

So band man denn den Gefangenen los. Aber nun kam die Überraschung für ihn. Das lange Seil wurde hervorgeholt und ihm so um die Brust unter die Arme geschlungen, daß er nicht entrinnen konnte. Vor ihm ging einer der bergkundigen Bewaffneten, der das vordere Ende des Seiles um sich band, hinter ihm kam am Seil der zweite, und so war er wieder festgebunden, konnte zwar klettern, aber seinen Wächtern nicht entfliehen. Das war teuflisch schlau eingefädelt, und zähneknirschend nahm er es hin. Der Syndikus grinste, als ob er der Teufel selbst wäre. Sicherlich hatte er ihn durchschaut.

Auch der Advokat ließ sich anseilen und von den zwei Knechten in die Mitte nehmen. Für sich tat er es freilich nur zur Vorsicht gegen das Abstürzen.

So kletterten sie in zwei Partien: der Vordermann einige Schritte voraus, bis er festen Halt gefunden hatte, dann hielt er sich fest, der mittlere folgte, bis er beim ersten war, schließlich kam der Hintermann nach. Dieses Kriechen des Zuges nach Art einer Spannerraupe ging sehr langsam, war aber namentlich für den mittleren Mann sehr sicher. Stets hielten ihn zwei am Seil fest. Und der Herr Syndikus fand das bald so behaglich, daß er wohlgemut wurde und den Scherz machte, wie trefflich »gesichert« sie doch beide seien, er und Jost. Freilich lachte nur er allein über seinen Scherz.

Der Weg war wirklich auch nicht allzu beschwerlich, solange es in den Zundern und über Gras dahinging, denn die Absätze waren nicht stark nach außen geneigt, auch konnte man jedenorts zur Sicherung nach den unübertrefflich zähen Ästen des Krummholzes, das die Knechte Zundern nannten, greifen. An denen hing man sicher, und wäre es auch ein peitschendünnes Zweiglein gewesen. Das käme von dem Schneedruck im Winter, sagten die darum befragten Knechte, denn die Zundern mußten doch sechs oder auch acht Monate im Jahr fünf und auch mehr Fuß Schnee ertragen, das stärkte ihr Holz und mache sie so unzerreißlich und zäh. Als Latschen (in Bayern) oder Zundern (in Tirol) bezeichnet man im Volksmund das Krummholz, einen mit der gemeinen Kiefer verwandten Baum, der über der Waldgrenze in den Alpen, auch im Riesengebirge, die Länge mit fast undurchdringlichen Dickichten besiedelt. Dem Baum prägen die klimatischen Verhältnisse, namentlich der Schneedruck und die Winterstürme, nur Buschgestalt auf, auch wenn er, wie das meist der Fall ist, mehrere hundert Jahre alt ist. Schlangengleich kriecht sein gewundener Stamm am Boden und bildet mit dem duftenden, dichten, tiefgrünen Nadelwerk und den mächtig in die Erde eingreifenden Wurzeln einen vortrefflichen Schutz gegen Lawinen und Bergstürze.

Der Weg gefiel dem Herrn, und schon in Zukunftsplänen schwelgend, sagte er: »Hier wird man wohl am besten den Knappensteig erbauen, wenn die neuen Stollen hinten eröffnet sind.« Und so malte auch er sich in Gedanken den Reichtum aus, den die Knappen demnächst hier nach Schwaz herausschleppen würden.

Nur eines trübte seine Stimmung. Das Stück Himmelsblau und der Sonnenschein, der ihn des Morgens verlockt hatte, seiner Ungeduld die Zügel schießen zu lassen, sie waren wieder verschwunden, und ein gleichmäßig grauer Himmel spannte sein Zelt über die Berge, auf deren Spitzen sich wieder Nebelballen senkten. Auch rasten am Firmament tiefer hängende graue Wolken dahin, von einem hier unten gar nicht wahrnehmbaren Wind getrieben, so daß ein wahres Wolkenziehen entstand. So oft eine dunklere Schicht über ihnen hing, sandte sie auch einen Regenschauer nieder, und es war zu befürchten, daß sich das Wetter neuerdings verschlechtere.

Auch der Weg wurde ernster und rauher. Was er schon für die ganze Bergesflanke gehalten, war nur eine vorspringende Rippe gewesen, und mit Unmut erkannte er, als man um die Kante bog, daß der Berg noch viele solcher Rippen herabsandte. Das war die Art aller Hochberge hier im Kalkgebirge, und in der innersten Linie jeder solchen Mulde floß ein Bach herab oder, wenn er versiegt war, ein Steinstrom, dessen Überquerung im rollenden, beweglichen Bergschutt sehr unangenehm werden konnte. Runsen nannten die Knechte solche Stellen, die er immer mit einem Fluch begrüßte.

Jenseits einer solchen Runse hörte das Band auf, und man mußte am steilen, grasigen Abhang höher klettern, um ein neues Band zu suchen. Das war sehr mißlich, denn das Gras war kurz und glatt, dazu vom Regen feucht, daß man leicht ausgleiten konnte. Die Knechte hieben ihre Pickel in die Bergesflanke, hielten sich daran fest und zogen sich empor. Er konnte das nicht und mußte am Seil wie ein Mehlsack hinaufgeschleift werden. Wie kam man denn da wieder herunter? dachte er voll Schrecken, und die Bergangst nahm immer mehr von ihm Besitz.

Weiter oben kam es noch ärger. Groß und schaurig, abschreckend totengrau stand nun der Berg über ihnen, oder vielmehr er hing fast über ihnen mit den furchtbar prallen Wänden, an denen lange, schwarze Streifen wie geronnenes Blut herabzogen. Solche schwarze, wie abgeflossene Farbe aussehende, senkrecht verlaufende Flecken an den Felsen bezeichnet man als Tintenstriche. Sie sind nichts anderes als ein lebendiger Überzug von allerlei Kleinlebewesen, Algen, Flechten und manchmal auch Moosen, die sich zu besonderer Üppigkeit dort entwickeln, wo herabsickerndes Wasser das Gestein von Zeit zu Zeit oder dauernd feucht erhält. Walderkamm nannten die Knappen den Berg, und mit maßlosem Schrecken hörte er seine Begleiter in unverfälschter Tiroler Sprache sagen: »'s is a sakrisch böser Kampel, der Walderkamm … dö Luaderwänd' san ja plattig wie a Harnisch.«

Und da kamen sie auch schon, diese Platten. Als Platten bezeichnet man in der Alpinistensprache vollkommen glatte Felspartien, deren Ersteigung fast unmöglich oder, namentlich bei feuchtem Wetter, nur mit großer Gefahr möglich ist. Platten kommen ausschließlich auf Bergen von Schichtgesteinen, also in den Kalkalpen vor. Sie entstehen, wenn bei wechselnder Beschaffenheit, namentlich Festigkeit, der Schichten solche von lockerer Konsistenz weggewittert sind und nur die harten Kalkbänke, die durch die das Gebirge erzeugenden Faltungen mehr oder minder senkrecht gestellt sind, zurückbleiben. Glatt wie der Estrich im Fuggerhaus strichen sie dahin und glänzten nun im Regen wie ein tückisch schielendes Auge. Sie waren nach abwärts und nach außen geneigt, und wirklich, wie die Schuppen eines Riesenpanzers legten sie sich übereinander, so daß der Berg eine wahre Steinrüstung anhatte.

Man blieb stehen und beratschlagte. Der Syndikus wäre am liebsten umgekehrt oder hätte die Knappen allein weiter ziehen lassen. Er befreundete sich auch schon mit dem Gedanken, aber da fiel ihm ein: wie kam er denn über die bösen grasigen Absätze herunter? Allein hätte er sich das niemals zugetraut, wenn er aber die zwei Knappen mitnahm, so blieben für den Gefangenen nur zwei Mann zur Bewachung. Das war nicht gut angebracht in dieser Umgebung, in der jener offenbar am besten heimisch war. Auch war dann am Ort niemand da zum Graben. Da verfiel er auf den Ausweg, sich von den zwei Knappen hinunterbegleiten zu lassen. So lange sollte die erste Partie warten, bis die Männer wieder zurückgekommen seien. Und er gab auch in diesem Sinne Befehl. Unverzüglich, ohne Rast wollte er aufbrechen, denn es drängte ihn hinaus aus dieser greulichen Felsenwüste, umsomehr, als nun das Wetter wirklich schlecht geworden war. Ein feiner, grämlicher Regen hatte eingesetzt, nur eine Art Nebelsprühen, das aber gerade bis auf die Haut durch die Kleider drang.

Da zuckten aber die Männer die Achseln und erklärten, sie wollten sich nicht getrauen, allein die richtigen Tritte und Bänder zu finden. Der dicke Mann schäumte auf vor Ärger. Er gestikulierte so komisch, daß Jörg trotz seiner nicht heiteren Lage heimlich lächeln mußte. Er war ja selbst noch nie hier herumgeklettert und mußte sich zugestehen, daß sie recht gründlich verstiegen waren. Auch ihm sah der Rückweg ziemlich abschreckend aus, nach Querung der Platten dagegen kamen wieder leichtere zundernbesetzte Schrofen, Unter Schrofen versteht man in der Bergsteigersprache einen in Absätze gegliederten Felsabhang, der zumeist nicht nur aus nacktem Gestein besteht, sondern stellenweise auch mit Gras und Krummholz durchwachsen ist. Die Entstehung der Schrofen ist die gleiche wie die der Grasbänder und Gesimse, und beide Erscheinungen leiten gewöhnlich in einander über. Siehe auch Anmerk. 45. also machte er bescheiden den Vorschlag, doch weiter zu gehen. Die schlechte Stelle sei in fünf Minuten überwunden.

Man mußte ihm recht geben, und so hieß es denn endlich vorwärts. Der erste Häscher suchte nach einem Griff, woran er sich halten konnte, als Sicherung auf der ersten Platte, doch er fand keinen. Glatt wie ein gehobeltes Brett, nur da und dort mit einem Moospäckchen besetzt, lag der Fels da und zog etwa zwei Manneslängen nach abwärts, dann brach er ab, und da es dann einwärts ging, sah man über ihn hinweg in die Tiefe, in eine dunkelblaue Tiefe, aus der alte, große Tannen klein wie Kinderspielzeug heraufsahen. Der Häscher versuchte verschiedentlich Fuß zu fassen, endlich sagte er: »Herr, ich kann net.« Es war offenbar, daß man Jörg als den besten Bergsteiger im ganzen Trupp voraus lassen sollte. Doch der Syndikus wollte das nicht. Er beschimpfte seine Leute, nannte sie Feiglinge, obwohl er selbst vor Aufregung und Angst am ganzen Leibe zitterte, er tobte und wütete, bis ihm die gerunzelten Stirnen und bösen Mienen der Leute auffielen. Da verstummte er und empfand, daß der Bogen sehr straff gespannt war. Er gab nach. Mühsam zerteilten sich die ersten drei, und Jörg trat vor und studierte das Terrain. Hier war wirklich kein Weiterkommen. Aber wenn man sich von dieser Platte um etwa zehn Meter am Seile herabließ, mußte man auf einem Vorsprung Fuß fassen können; von dort war, zwar auf ganz schmalen Schichtköpfen, doch immerhin ein Quergang möglich.

Man schrie den Feldzugsplan zum Syndikus hinüber. Erneuter Protest, denn der befürchtete Flucht. Aber die erschien unter diesen Umständen als Selbstmord, und auf vieles Zureden wurde unter dem Zwange der Lage nachgegeben.

Aus dem Seil wurde eine Schlinge gemacht und diese um einen hervorstehenden Zacken gelegt. Aus dem andern Ende wurde ebenfalls eine Schlinge bereitet, in die Jörg den Schenkel tat, daß er darin sitzen konnte, den übrigen Teil des Strickes schlang er locker um den andern Fuß und hielt sich mit der einen Hand am straffen Teil, den losen dagegen ließ er durch die andere Hand laufen. So konnte er sich Ruck für Ruck tiefer lassen, und die lange Reibefläche verhinderte ein allzu rasches Durchlaufen des Seiles. So hatte er es gelernt von Peppo, wenn sie zum Vergnügen an Sonntagen an den nächst gelegenen Felsen kletterten. Auch lag er ja mit dem Körper zur Hälfte auf der Platte. So schwankte er hinaus über den Abgrund, jetzt verschwand er an der Kante der Platte, eine bange Minute, dann flatterte das Seil. Er hatte offenbar Fuß gefaßt und sich losgebunden. Der zweite Mann zog den Strick hinauf und kam auf dem gleichen Wege nach. Währenddem aber stand der andere mit geladener Flinte und zielte auf Jörg, den man nun unten ganz gut sah. Er hatte Weisung vom Syndikus, den Gefangenen niederzuschießen, wenn der allein den Quergang versuchen würde. Jörg sah die ihm drohende Muskete und ballte die Hände.

Als die Bewaffneten bei ihm angelangt waren, wurde er wieder an das Seil genommen, und die von ihm erhoffte Fluchtgelegenheit war vorbei. Das war nur eine geringe Genugtuung, seinen Peiniger in Todesangst in der Luft baumeln zu sehen. Der Syndikus wagte es nicht, sich so frei abzuseilen wie die andern. Er wurde einfach an zwei Seilen unter den Schultern festgebunden, und die handfesten Männer ließen ihn an der Platte herabrutschen wie ein Möbelstück. Er schloß dabei die Augen, fühlte aber, wie seine Haare sich sträubten. Endlich stand er auf festem Boden. Er war totenblaß, und es war ihm ernstlich unwohl. Der letzte Mann beging einen verhängnisvollen Fehler; er hob nämlich die Seilschlinge vom Felszacken ab und hätte sie doch darauflassen sollen für den Rückweg. Zu spät erst merkten sie es, und dem Syndikus wankten die Knie. Nun war jeder Rückweg versperrt, wenn es nicht mehr vorwärts gehen sollte.

Aber er wagte nicht mehr, seiner gewohnten Brutalität Lauf zu lassen, er war vielmehr äußerst kleinlaut, und die Rollen schienen wie vertauscht. Ihn führte man am Seil wie einen Gefangenen, und der eigentliche Häftling schritt fast frei voraus.

Bei dem schmalen Quergang stand der Syndikus Höllenqualen aus. Da konnte man nicht die Augen schließen, man mußte sie vielmehr besonders gut aufmachen, um die nicht einmal vier Finger breiten »Tritte« zu finden, an denen der Fuß haften sollte. Und als »Griffe« dienten kleine Spalten des nassen Gesteins, in die sich die Finger kaum einkrallen konnten.

Die Abseilstelle

Er mußte hinuntersehen und sah zwischen seinen Füßen die schaurige Tiefe. Er hing an der freien Felsenwand, und sie schien zu wanken, zurückzuweichen, sich über ihn zu neigen. In den Füßen fühlte er, wie die Kraft wich, er hatte das Gefühl, er könne nicht mehr stehen, er müsse loslassen und hinausfliegen in den gähnenden Rachen da unten. Das war der Schwindel. Und nun begann sich auf einmal leise, dann schneller die Landschaft um ihn zu drehen, die Bergspitzen tanzten auf und nieder, und er konnte keinen Schritt mehr tun.

Doch auch diese Pein, in der er betete und der Kirche und den Heiligen alles mögliche gelobte, ging vorüber, und sie kamen wieder auf besseren Boden auf eine steile, aber schon wieder übergrünte »Reiße«, einen Schuttstrom, der noch hoch über ihnen sich an den Wänden anlegte und fast bis zum Bach hinunterging. Er war gut eine Viertelstunde breit, und nach ihm kam wieder Wald und, wie Jörg wußte, eine lange gute Strecke. Er schritt noch immer voraus und war gedrückter Stimmung, denn alle Hoffnung auf Flucht war ihm verflogen.

Da riß der Boden ab vor ihm. In einer tiefen Spalte war er abgerutscht und dort wieder. Der Schutt hatte sich trotz der zahllosen Wurzeln, die ihn durchspannen, ein Stückchen weit von seinem Untergrund, der glatter Fels war, abgelöst und war an ihm den Hang entlang abgeglitten. Jörg hatte so etwas noch nie gesehen und wußte es sich nicht zu deuten.

Horch! Hatte da nicht jemand geschossen? Und jetzt wieder! In der unermeßlichen Stille wirkte dieses dumpfe Krachen besonders unheimlich. Sie blieben erschrocken stehen. Es war ihnen, als ob der Boden zu ihren Füßen leise zittere, und wenn man aufmerksam lauschte, hörte man ein feines, unbegreifliches Singen und Knirschen. Was war das? Die Landschaft war schreckhaft in ihrem erhabenen Düster, das Gewölk hing tief vom Berg herunter, schon brauten und wogten die Nebel in ihrer Nähe. Der Regen hatte aufgehört, und die bange, erwartungsvolle Ruhe der Natur legte sich schwer auf das Herz. Da auf einmal flog es heran, krächzend, mit schwerem Flügelrauschen, eine Schar Bergdohlen, und in ihrem heiseren Geschrei war es wie Entsetzen und Warnung vor etwas nie Erlebtem.

Sie waren fast in der Mitte der Reiße. Zurück war es schier noch weiter als vorwärts, also eilten sie geradeaus, aber da hemmten wieder Spalten ihren Fuß und zwangen sie zu Umwegen. »Da seht!« schrie der eine Bergknappe und deutete entsetzt nach aufwärts. Dort sahen sie mit unsagbarem Grauen, wie sich der Rasen aufwarf und übereinander schob. Es war, wie wenn sich Gräber öffnen würden. War der jüngste Tag angebrochen? Mit dumpfem Tosen lösten sich jetzt die Felsen aus der Erde, anzusehen wie bleiche Schädel irgendwelcher begraben gewesener Riesen; sie kollerten bergab, begleitet von hundert kleineren hüpfenden und springenden Erdschollen und Steinen, in mächtigen Sprüngen sausten sie jetzt dahin. Auf einmal erscholl ein nie gehörtes Krachen, eine rote Wolke stieg aus der Erde, die sich am ganzen Bergabhang in Bewegung setzte, der Boden wallte und wogte, Felsblöcke flogen wie Vögel durch die Luft, ein Zischen, Donnern, Knirschen und Brausen war von betäubender Gewalt, – dann war es totenstill, der Staub wogte wie ein Nebel über dem unglücklichen Ort, und für den Augenblick von den vom Sturm weggefegten Wolken entblößt, ragte hoch und bleich der Bettelwurf über dem Tal wie ein Bergdämon mit eisgrauem Haar.

Felsblöcke

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