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Eine zu späte Erkenntnis. – »Hans im Glück.« – Der unheimliche Italiener. – Was Lampadius beim Besuch seines Laboratoriums entdeckte. – Eine Beratung bei verschlossenen Türen. – Vereitelte Pläne. – Der »gute Geist« im Hause.
Freilich mochte er dableiben. Er fühlte sich so wohlgeborgen in des Alchimisten behaglichem und friedlichem Haus. So ruhig und sorgenlos gingen nun die Tage, nachdem er so viel gelitten und gebangt in der steten Aufregung, wie er durchs flache Land komme, ohne von den Häschern, die man von Augsburg auf Willen der mächtigen Fugger ihm sicher nachgesandt, ergriffen zu werden. Als er in jener Unglücksnacht seinen klaren Verstand wiedererhielt, wurde es ihm bald offenbar, welch schändliches Spiel man mit ihm getrieben hatte, daß man ihn übertölpelt, wie einen Jungen in das Bockshorn gejagt habe, um ungestört den Raub in Sicherheit zu bringen; denn an ihm, dem Unschuldigen, haftete nun der Makel des Diebstahls. Oh, über die Schurken! Das war ein fein abgekartet Spiel! Und er ballte die Hände in ohnmächtiger Wut, und es wollte ihm schier das Herz abdrücken, das Gefühl, nun unrecht leiden zu müssen und es nicht hindern, noch rächen zu können. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Wo hatte er nur seinen Verstand gehabt? Möfli, dieser abgefeimte Spitzbube mit der Maske des Biedermannes, war ja im Einverständnis gewesen mit den Bettlern, die in Wirklichkeit eine Diebsbande waren und darum so lichtscheues Wesen trieben. Und dem Schlaffer, diesem obersten Schelm mit dem Heuchlergesicht, hatte er ihn zugeführt, weil dieser einen Helfershelfer brauchte für den Hauptstreich, den er gewiß schon längst plante. Wirklich, gut ersonnen war es, ihn in eine Stellung zu bringen, bis er durch seine Arbeit und seine Ehrlichkeit sich Vertrauen erwarb, und ihn dann zu überlisten, daß er davonrannte und den Bock als Gärtner zurückließ. Das war natürlich erfunden mit dem Sterben des alten Möfli; wahrscheinlich wartete der schon unter der Tür und stahl dann wie ein Rabe mit Schlaffer zusammen.
Und wie geschickt hatte ihn diese alte Hexe hinausgeworfen, und er war ihr noch dankbar dafür gewesen! Die mögen sich jetzt alle ins Fäustchen lachen! Aber das soll ihnen teuer zu stehen kommen. Sowie der Tag graut, werde er sofort zu dem Bannrichter gehen und alles aufdecken. Er habe ja nichts getan. Es könne ihm nichts geschehen. So dachte er.
Doch bis zum Morgen hatte er sich doch wieder anders besonnen. Wie, wenn man ihm nicht glaubte? Wie soll er sich ausweisen? Schlaffer wird sicher alles leugnen und ist ein angesehener Mann. War er denn nicht wirklich von dem ihm anvertrauten Hab und Gut davongelaufen? Seine Stellung war und blieb verscherzt, und wenn er nichts beweisen konnte, kam noch der Anschuldiger selbst in den Turm. Schon seine Flucht zeugte gegen ihn. Und dann kamen auch Zweifel. Verhielt sich wirklich alles so? Täuschte er sich nicht?
Und so blieb nichts übrig, als mit ohnmächtiger Wut im Herzen, unschuldig als Dieb verfolgt, wieder zum Wanderstabe zu greifen. Ein Ziel schwebte ihm ja deutlich vor. Die Erzählungen der Bergknappen von Schwaz hatten ihn mächtig erregt. Wenn man dort so leicht in der Menge untertauchen und zu Geld kommen konnte, wäre er ja ein Narr, nicht nach Schwaz als Bergmann zu gehen.
So dachte er und zog fort nach Tirol, als Bettler und Vagant, bald in Gesellschaft solcher Straßentrapperl, in ihrer verdorbenen und verderbenden Atmosphäre. Er lernte ihre Sprache und ihre Denkungsart, ihren Leitspruch: »Erhält man nichts, so nimmt man, denn die Erde ist frei für alle.« Allerdings scheute er sich, zu stehlen oder gar zu rauben, aber die Verachtung der bürgerlichen Menschen, wie sie bei dem fahrenden Volk üblich war, haftete auch ihm schon an, ebenso dessen verbitterter Haß gegen jeden seßhaften Gauch, dessen Reichtum ja doch nur ein Diebstahl an ihnen, den Enterbten und Elenden, war. Und nun bot ihm das Glück wieder die Hand, verhalf ihm, dem Entgleisten, von Stufe zu Stufe Sinkenden wieder hinauf. Mit beiden Händen griff er zu, und ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte ihn, als er zum erstenmal wieder in reinlichen und anständigen Kleidern, eingeordnet in die kleine Wirtschaft eines ehrbaren und angesehenen Hauses, gewissermaßen ein Glied der Familie, geachtet und geehrt ob seiner Tat, seinen Dienst antrat. Denn das war doch natürlich, nur als Diener konnte er hierbleiben, und in seinem Herzen stand der Entschluß fest, sich in allem nützlich zu machen, das treue Faktotum des Hauses, einer jener Diener zu sein, die mit ihrer Herrschaft ergrauen und sterben.
Diese guten Leute wußten ja gar nicht, was sie an ihm getan. Und dieser Gedanke warf einen dunklen Schatten in den Glücksschein, der sein Inneres erhellte. Unter einem falschen Namen hatte er sich eingeschlichen, für einen Bergmann hatte er sich ausgegeben, er, der noch niemals in einem Bergwerk gewesen; den Makel falschen Verdachtes, der ihm anhaftete, hatte er verschwiegen. Mußte das nicht eines Tages herauskommen, und würde man ihn dann nicht wieder auf die Straße setzen?
Sein Glück war also nicht ungetrübt, und auch äußere Umstände sorgten dafür, daß er sich nicht wieder überhebe als »Hans im Glück«. Der schwarze Italiener im Hause gab ihm deutlich zu verstehen, daß er ihn als Eindringling betrachte, als eine Art Rivalen. Vielleicht fürchtete er, daß ihr Herr es bald überflüssig finden würde, zwei Diener zu haben, und daß er dann jenen behalten könnte, dem er sein Leben verdankte. Und so wurde er denn in dem Maße mürrisch und eifersüchtig, als sich Jost-Jörg beliebt zu machen suchte durch Fleiß und Anstelligkeit, woran es ihm nicht mangelte.
Er versah alle Dienste eines Kammerdieners. Bei den Landstreichern hatte er mancherlei Handgriffe gelernt, um Wunden zu heilen, denn diese, zumeist gewesene Landsknechte, bedurften solcher Heilkunst gar oft. Das kam ihm jetzt zustatten bei der Pflege seines Herrn, der in seinem Alter ohnedies nur zu langsam genas. Der alten Urschel, die mit ihm nach dem ersten Mißtrauen bald Freundschaft geschlossen hatte, nicht zum mindesten infolge der begeisterten Erzählungen Sibyllens von dem Heldenmut und der Aufopferung ihres Retters, der alten Urschel nahm er die Botengänge nach Tegernsee und Kreuth ab, und das kam dem ganzen Haus zugute, da er mit seinen jungen Beinen nur die halbe Zeit dazu brauchte. Er trug Holz ein für den Winter, er besserte das Hausdach aus, er leitete den Bach am Hause ab, der die vorliegende Wiese sumpfig machte, er arbeitete von früh morgens bis abends spät, ja er hatte für einen Mann ganz absonderliche Neigungen, denn eines Tages überraschte ihn die Urschel, wie er mit vorgebundener Schürze die Kupferkessel und Zinnbecher putzte, und er tat das mit so glühender Begeisterung und solcher Sachkenntnis, wie es für einen Bergmann geradezu ungewöhnlich war.
Nur an einem Ort war er untätig, und gerade dort hätte man erwartet, ihn eifrig zu sehen. Nämlich in der Esse. Die war jetzt, solange der Meister noch bettlägerig war, das alleinige Reich Peppos, und der sann darin verschlossen und geheimnisvoll, als sei er ein Goldmacher. Im Laufe der Wochen hatte er noch immer kein freundlicheres Verhältnis zum Neuankömmling gefunden und beschränkte sich auf den notwendigsten Verkehr. Jörg wich ihm auch gerne aus, denn der sauertöpfische Mann, der immer eine leidende Miene aufsetzte, war nicht nach seinem Geschmack, auch wenn jener ihm freundlich entgegengekommen wäre, um so weniger, als er rasch bemerkte, daß Peppo zwei Gesichter hatte, das grämliche für die Welt und ein katzenfreundliches für Sibylle, der er auf Schritt und Tritt nachschlich. Mit dem jungen Mädchen verband aber Jörg bald eine ehrliche und herzenswarme Freundschaft. Wie eine Art natürliche Gespielen hatten sie sich zusammengefunden, waren sie doch beide die einzigen jungen Menschen im alten Hause. Gar oft schallte ihr fröhliches Lachen hinüber zur Esse, und dann verzog sich des Italieners düstere Miene zur wütenden Fratze voll Eifersucht und Ingrimm.
Peppo hatte jeden Tag seinem Meister Bericht zu erstatten über den Fortgang der Arbeiten, die nun ihm allein anvertraut waren, und er tat es mit großer Wichtigtuerei, bis eines Tages – es war inzwischen schon der Winter hereingebrochen – Lampadius unvermutet im Laboratorium erschien, beim ersten Ausgang allerdings noch mit Hilfe von zwei Krücken. Wohl suchte der Einäugige rasch zu verhüllen, womit er soeben beschäftigt war, und die Aufmerksamkeit des alten Herrn auf Nebensächliches zu lenken. Diesem aber war es nicht entgangen, was der Famulus machte, nur zuckte er mit keiner Miene im Gesicht und tat ganz harmlos. Erst als er mühsam in seine Stube zurückhumpelte und allein war, ließ er diese Maske der Harmlosigkeit fallen. »Der Schurke!« murmelte er ingrimmig. »Ich ahnte es ja, was er macht. Er glaubt, er hat es mir abgeguckt …« Und er versank in brütendes Nachdenken. Es mochten unbehagliche Gedanken und Pläne sein, die er da auf ihre Ausführbarkeit prüfte, denn er ließ sich von Jörg die Karten reichen, auf denen »des Landes Configuratio konterfeyet« war, wie mit schnörkeliger Schrift darauf ruhmredig verzeichnet stand, er rechnete, er versuchte zu gehen mit dem schlecht verheilten und steifgebliebenen Bein, und er sank seufzend wieder in seinen Lehnstuhl. Er hatte offenbar seine so lange geplante Übersiedlung geprüft und war zu dem niederdrückenden Ergebnis gekommen, daß sie sich jetzt nicht ausführen lasse bei seinem elenden und gebrechlichen Zustand.
An diesem Abend saß er mit Sibyllen am Kamin, in dem mächtige Blöcke flammten, denn ein kalter Winterregen, der jeden Augenblick in den ersten großen Schneefall umzuschlagen drohte, ging hernieder, und mit Seufzen und unheimlichem Winseln rumorte der Wind im Haus und rauschte voll und seltsam in den schwarzen Tannen vor den Fenstern.
»Bella,« sagte der alte, mißtrauische Mann, »sieh nach, ob niemand vor der Türe ist!« Das Mädchen gehorchte. »Sieh auch beim Fenster nach!« gebot er dann. Erstaunt und unruhig ob solch ungewöhnlichen Verlangens erhob sie sich von neuem. »Aber Vater, was fürchtet Ihr denn?« fragte sie voll Bangen. Doch der Alte war noch nicht beruhigt. »Sei klug, Bella,« meinte er, »schau unauffällig nach, wo Peppo und Jost sind, dann komm herauf, ich will dir etwas sagen und will keinen Zeugen dabei.«
Aufs höchste beunruhigt durch die geheimnisvolle Einleitung, führte sie den Auftrag aus. Sie kannte zwar das stete Mißtrauen ihres Vaters, aber diesmal mußte doch offenbar etwas ganz Besonderes mit im Spiele sein. Sie kam mit der Nachricht, daß Jost in der Küche sei, Peppo aber offenbar in seiner Kammer, da dort Licht brenne. Der Alte nickte befriedigt.
»Du weißt doch,« begann er hierauf, »ich wollte weg von hier, bevor ich den unglücklichen Fall tat. Wir können es nicht mehr. Wenigstens so bald nicht. Wer soll mir mein Vergrabenes holen? Ich komm' in meinem Leben nicht mehr auf den Berg,« setzte er mit einem Seufzer hinzu.
»Dem Peppo kann ich nicht trauen, der betrügt mich. Hab' ihm schon lang' nicht mehr getraut, heute aber hab' ich's gesehen. Was er bei mir gelernt, jetzt möchte er's anwenden gegen mich.«
Sibylles Herz pochte vor Freude. Vielleicht kam jetzt dieser abscheuliche Mensch weg. Sie war nahe daran, dem Vater zu gestehen, wie er sie belästige. Aber Scham hielt sie wieder zurück, und sie sagte nur rasch: »Ja, warum gebt Ihr ihn denn nicht aus dem Hause?«
»Kann nicht so rasch, mein Kind,« versetzte der Vater. »Mein Ofen darf nicht erkalten, sonst ist's um mein vieljährig Mühen geschehen. Ich bin jetzt ein Krüppel, und tu' ich den Peppo weg, wer setzt meine Arbeit fort? – Was hältst du von dem Jost, das wollt' ich dich fragen?« sagte er nach einer Pause unvermittelt.
Sibylle fühlte, wie sie bis unter die Haarwurzeln errötete. Da ihr so plötzlich die Frage vorgelegt wurde, merkte sie erst selbst, daß ihr Jost nicht gleichgültig war. Eine Hoffnung stieg in ihr auf: Vielleicht wollte der Vater Jost in Peppos Vertrauensstellung setzen. Und sie sagte mit besonderer Wärme: »Jost ist der redlichste und geschickteste Mensch. Die Urschel kann ihn nicht genug loben. Sie sagt, seit der im Hause ist, haben wir einen guten Geist. Freilich, der Peppo kann ihn nicht leiden, den dürft Ihr nicht fragen um ihn, Vater!«
Der Alte nickte befriedigt. »Werd' ich auch nicht, Bella,« sagte er. Der ungewöhnliche Eifer seiner Tochter war ihm entgangen, denn er wälzte große Entschlüsse in seinem Kopf. »Bring' mir den Jost herauf!« schloß er dann die Unterredung.
Und Sibylle flog in die Küche. Warum war sie nur so aufgeregt, so froh und glücklich, daß sie nun den Jost holte? Sie wußte es nicht und hatte auch keine Erklärung für das Glücksgefühl, mit dem sie an diesem Abend zur Ruhe ging, an dem der Vater dem Jost eröffnete, daß, da er als früherer Bergmann wohl lieber an der Esse bei der Zubereitung der Mineralien und Berggewächse arbeiten werde, er nun in Zukunft jeden Nachmittag an seiner Hand und mit Peppo in die Geheimnisse der Alchimie eingeführt werden solle und damit schon in den nächsten Tagen beginnen könne, sobald es nur der Zustand des Vaters erlaube.
Er war aber doch wirklich ein merkwürdiger Bursche, der Jost. Statt sich zu freuen über diese Auszeichnung, machte er fast ein ängstliches Gesicht, und er schien sogar ganz verlegen, als er daran erinnert wurde, daß Geschirrputzen und Holzeinfahren doch nicht die richtige Beschäftigung sei für einen gewesenen Bergmann.