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II.
Andernach.

Koblenz und Ehrenbreitstein. Gefangene daselbst. Ungenähtes Hemde Christi. Lederfabriken. Neuwied. Herrnhuter. Seelenunzucht. Menschenrasse des Niederrheins.

An einem milden Sommermorgen bei Sonnenaufgang müßte es köstlich sein, sich mitten auf dem See zu befinden, den der Rhein bei Boppard, weil er ringsum von hohen Gebirgen eingeschlossen ist, zu bilden scheint; denn ungeachtet der feuchten Kälte, womit uns der Ostwind die aufsteigenden Nebel entgegenwehte, konnten wir uns doch nicht entschließen, in unserer Kajüte zu bleiben. Die schöngewölbten Berggipfel erheben sich hier mit reichlicher Waldung, welche das Malerische der Gegend, sobald sie mit frischem Laube geschmückt sein wird, um vieles erhöhen muß.

Die Nähe von Koblenz rief uns bald zum zweiten mal hervor. Hier öffnet sich ein Reichthum der Natur und der Verzierung, den das Ufer des Rheins seit der Gegend, wo der Fluß die Schweiz verläßt, nirgends zeigt. Schöne Formen von Gebirgsrücken, Baumgruppen und Gebäuden wechseln hier miteinander ab; die Hügel tragen eine dichte Krone von Wäldern; das neue kurfürstliche Schloß prangt am Ufer, und der Ehrenbreitstein hängt herrlich und erhaben auf dem jenseitigen Gebirge. Beleuchtung wäre hier wieder ein willkommenes Geschenk gewesen, allein auch heute ward uns diese Spende versagt; unser Morgenhimmel war mit dünnem grauem Gewölk durchstreift und uns dämmerte nur ein halbes Licht.

Wir erstiegen den Ehrenbreitstein. Nicht die unwichtige Kostbarkeit dieser Festung; nicht der Vogel Greif, jene ungeheuere Kanone, die eine Kugel von hundertundsechzig Pfunden bis nach Andernach schießen soll, aber doch wol nie geschossen hat; nicht alle Mörser, Haubitzen, Feldschlangen, Zwölf- und Vierundzwanzigpfünder, lange gezogene Röhre, Kartätschenbüchsen, Graupen und was sonst im Zeughause oder auf den Wällen zu bewundern ist; nicht die weite Aussicht von dem höchsten Gipfel des Bergs, wo Koblenz mit dem Rhein und der Mosel landkartenähnlich unter den Füßen liegt – nichts von dem allen konnte mich für den abscheulichen Eindruck entschädigen, den die Gefangenen dort auf mich machten, als sie mit ihren Ketten rasselten und zu ihren räucherigen Gitterfenstern hinaus einen Löffel steckten, um dem Mitleiden der Vorübergehenden ein Almosen abzugewinnen. Wäre es nicht billig, fiel mir dabei aufs Herz, daß ein jeder, der Menschen zum Gefängniß verurtheilt, wenigstens Einen Tag im Jahre mit eigenen Ohren ihr Gewinsel, ihre himmelstürmende Klage vernehmen müßte, damit ihn nicht der todte Buchstabe des Gesetzes, sondern eigenes Gefühl und lebendiges Gewissen von der Rechtmäßigkeit seiner Urtheile überzeugte? Wir bedauern den unsittlichen Menschen, wenn die Natur ihn straft und physisches Uebel über ihn verhängt; wir suchen sein Leid zu mildern und ihn von seinen Schmerzen zu befreien: warum darf nicht Mitleid den Elenden erquicken, dessen Unsittlichkeit den Arm der beleidigten Bürgerordnung reizte? Ist der Verlust der Freiheit kein hinreichendes Sühnopfer, und fordert die strenge Gerechtigkeit noch die Marter des Eingekerkerten? Mich dünkt, die Abschaffung der Todesstrafen hat uns nur noch grausamer gemacht. Ich will hier nicht untersuchen, ob ein Mensch befugt sein könne, einem andern das Leben zu nehmen; aber wenn es Gitter gibt, die unantastbar und allen heilig sein sollen, so ist das Leben gewiß nicht das einzige, welches unter diese Rubrik gehört; auch diejenigen Zwecke des Lebens gehören hierher, ohne welche der Mensch seinen Rang auf der Leiter der Wesen nicht behaupten kann, ohne welche er Mensch zu sein aufhören muß. Die Freiheit der Person ist unstreitig ein solches von der Bestimmung des Menschen unzertrennliches und folglich unveräußerliches Gut. Wenn also der bürgerliche Vertrag ein so schreckliches Uebel wie die gewaltsame Beraubung eines unveräußerlichen Gutes über einen Menschen um der Sicherheit aller willen verhängen muß, so bleibt zu entscheiden übrig, ob es nicht zwecklose Grausamkeit sei, das Leben durch ewige Gefängnißstrafe in fortwährende Qual zu verwandeln, wobei es schlechterdings zu keiner andern Absicht als zum Leiden erhalten wird, anstatt es durch ein Todesurtheil auf einmal zu enden? Die fromme Täuschung, die man sich zu machen pflegt, als ob ein Delinquent während seiner lebenslänglichen Gefangenschaft Zeit gewönne, in sich zu gehen, eine sittliche Besserung anzufangen, sich durch seine Reue mit Gott zu versöhnen und für ein künftiges Leben zu bereiten, würde schnell verschwinden, wenn man sich die Mühe gäbe, die Erfahrung um Rath zu fragen, ob dergleichen Bekehrungen die gewöhnlichen Folgen der ewigen Marter sind. Die finstern modernden Gewölbe der Gefängnisse und die Ruderbänke der Galeren würden, wie ich fürchte, hierüber schauderhafte Wahrheiten verrathen, wenn man auch nicht, durch richtiges Nachdenken geleitet, schon im voraus überzeugt werden könnte, daß die Bekehrung im Kerker zwecklos sein müsse, weil sie unfruchtbar bleibt, und daß ein Augenblick wahrer Reue so viel werth sei als ein in Thränen und Büßungen hingeschmachtetes halbes Jahrhundert. Allein die Furcht vor dem Tode, die nur durch eine der Würde des Menschen angemessene Erziehung gemildert und in Schranken gehalten wird, lehrt den Richter das Leben in immerwährender Gefangenschaft als eine Begnadigung schenken, und den Verbrecher es unter dieser Bedingung dankbar hinnehmen. Auch hier wirkt also die Furcht, wie sie sonst immer zu wirken pflegt: sie macht grausam und niederträchtig. Doch den Gesetzen will ich hierin weniger Schuld beimessen als der allgemeinen Stimmung des Menschengeschlechts. Solange es Menschen gibt, die das Leben ohne Freiheit, an der Kette und im Kerker, noch für ein Gut achten können, solange bedauere ich den Richter, der vielleicht nicht weiß, welch ein schreckliches Geschenk er dem unglücklichen Verbrecher mit der Verlängerung eines elenden Lebens macht; aber verdenken kann ich es ihm nicht, dass er sich von dem Geiste seines Zeitalters hinreißen läßt.

Unter den Merkwürdigkeiten des Ehrenbreitsteins zeigte man uns auch das ungenähte Kleid des Heilands Es ist dieses derselbe ungenähte heilige Rock, welcher gegenwärtig in Trier aufbewahrt wird und dessen Ausstellung im Jahre 1844 zur Entstehung des Deutschkatholicismus Anlaß gab. Dieser heilige Rock ist wol unter der zu Beginn des vorstehenden Absatzes angeführten »unwichtigen Kostbarkeit« der Festung Ehrenbreitstein zu verstehen. Anmerkung d. Hg.. Der ungeziemende Scherz, den ein unvorsichtiger Zuschauer sich darüber erlaubte, erregte bei einem unserer Führer solchen Abscheu, daß er seine heftigen Aeußerungen nicht ohne ein krampfhaftes Zucken unterdrücken konnte. War es echte Frömmigkeit, war es der verzeihliche Aberglaube des Pöbels, was diese Wirkung hervorbrachte? Ich vermuthe, diesmal keins von beiden. Es gibt Menschen, deren Seele die Vorstellung eines schuldigen Respects so ganz erfüllt, daß sie bei einer Spötterei über den geschmacklosen Galarock eines Ministers genau dieselbe Angst empfinden würden.

In dem alten, leeren, geräumigen Dikasterialgebäude zu Ehrenbreitstein hat der Kaufmann Gerhardi eine neue Lederfabrik angelegt, wozu ihm der Kurfürst von Trier auf fünf oder sechs Jahre Befreiung von allen Abgaben bewilligt hat. In einiger Entfernung von diesem Orte, zu Vallendar, zieht eine große Lederfabrik ihre Häute unmittelbar aus Buenos Ayres in Südamerika. So knüpfen der Handel und die Industrie das Band zwischen den entferntesten Welttheilen!

Von Koblenz fuhren wir nach Neuwied und besahen dort das Brüderhaus der Herrnhuter nebst den mancherlei Werkstätten dieser fleißigen und geschickten Gesellschaft. Ihre Kirche ist ein einfaches, helles Gebäude, das mir recht gut gefiel. An die Stelle der Agapen oder Liebesmahle der ersten Christen ist hier ein gemeinschaftliches Theetrinken in der Kirche eingeführt, wozu sich die ganze Gemeinde von Zeit zu Zeit versammelt. Meine Vorliebe zum Thee ist es nicht allein, die mich mit diesem Gebrauche versöhnt. Wenn ich schon nicht mitschwärmen mag, so ist mir doch eine Schwärmerei ehrwürdig, sobald sie auf Geselligkeit und frohen Genuß des Daseins führt. Diese Stimmung läßt sich, wie Du leicht denken kannst, mit der herrnhutischen Einrichtung, welche die unverheiratheten Männer und Weiber mit klösterlicher Strenge voneinander trennt, schon nicht so leicht in eine Gleichung bringen. Ich glaube in meiner Erfahrung hinlänglichen Grund zu der Ueberzeugung zu finden, daß man in der Welt nie stärker gegen das Böse und seine Anfechtungen ist, als wenn man ihm mit offener Stirne und edelm Trotz entgegengeht; wer vor ihm flieht, ist überwunden. Wer steht uns auch dafür, daß, wo der gebundene Wille mit der erkannten Pflicht im Kampfe liegt, die Sünden der Einbildungskraft nicht unheilbarer und zerrüttender sein können als die etwaigen Folgen eines gemischten und durch freiwillige Sittsamkeit gezügelten Umgangs? Gibt es nicht wollüstige Ausschweifungen der Seele, welche strafbarer als physische Wollüste sind, da sie den Menschen im wesentlichsten Theile seines Daseins entnerven? Die lehrreichen Schriften der berühmten Guyon Jeanne Marie Bouvier de la Motte-Guyon (1648-1717), berühmte mystische Schriftstellerin. Anmerkung d. Hg., die freilich wol in einer ganz andern Absicht gedruckt worden sind, und die Bekenntnisse des wackern Jameray Duval Valentin Jameray Duval, geb. 1695 zu Arthonnay in der Champagne, nach abenteuerlichem Jugendleben Director der kaiserlichen Bibliothek und des Münzcabinets zu Wien, wo er 1775 starb. Vgl. sein Leben in Duval, » Oeuvres«, herausgegeben von Koch 1784, gesondert übersetzt von Kayser 1784, wo Duval die religiöse Schwärmerei seiner Jugendzeit offen und kindlich erzählt. Anmerkung d. Hg. schildern die Krankheit der Entzückten durch alle ihre verschiedenen Stadien als eine metaphysische Selbstschändung. Bei einem eingeschränkten Erkenntnißvermögen und einer armen Einbildungskraft sind die Symptome nicht gefährlich und das Uebel bleibt in den Schranken, die ihm die Unerheblichkeit des Individuums anweist. Wenn hingegen diese Seelenepidemie ein gebildetes, edles Wesen ergreift, dann äußern sich Wirkungen, welche Völker vergiften, die bürgerlichen Verhältnisse stören und die Sicherheit des Staats untergraben können. Die Täuschung, womit man sich über den Gegenstand dieser Entzückungen hintergeht, ist so vollkommen, daß die tiefste Tiefe, wohin der menschliche Geist sinken kann, dem Verblendeten die höchste Stufe der Tugend, der Läuterung und der Entwickelung zum seligen Genusse scheint. Genau wie die Entartung des physischen Triebes die Gesetze der Natur beleidigt, ebenso muß in einem noch ungleich höhern Grade der Seelenraub strafbar sein, den man durch jene unnatürliche Vereinigung mit einer Idee am ganzen Menschengeschlechte begeht. Geistesarmuth ist der gewöhnliche, jedoch von allen gewiß der unzulässigste Vorwand zu dieser Theopornie Buhlerei mit Gott. Anmerkung d. Hg., die erst in der Einsamkeit und Heimlichkeit angefangen und dann ohne Scheu öffentlich fortgesetzt wird. Zuerst ist es Trägheit, hernach Egoismus, was den Einfältigen über die natürlichsten Mittel, seinem Mangel abzuhelfen, irreführt. Ist hingegen eine Seele reich und groß: o, dann suche sie ein Wesen ihrer Art, das Empfänglichkeit genug besitzt, sie ganz zu fassen, und ergieße sich in ihr! Selten oder nie wird es sich ereignen, daß ein Geist dieser endlichen Erde einzeln und ohnegleichen steht; und bliebe nicht diesem Erhabenen selbst, der kein Maß für seine Größe fände, der göttliche Genuß noch übrig, sich mehrern theilweise hinzugeben und allen alles zu werden? Die Weisheit der Natur ist zum Glück noch mächtiger und consequenter als die Thorheit der Menschen, und ehe man es sich versieht, führt sie auch den Schwärmer wieder in das Gebiet des Wirklichen zurück. Bei den Herrnhutern ist überdies dafür gesorgt, daß man sich nicht zu weit aus demselben verlieren kann. Fleiß und Arbeitsamkeit sind kräftige Verwahrungsmittel gegen das Ueberhandnehmen der Seelenkrankheiten, die sie nur dann begünstigen, wenn allzu große Anstrengung, allzu langes Einsitzen, allzu strenge Diät die Kräfte des Körpers untergraben. Ein Kennzeichen, woran wir deutlich sahen, daß die Schwärmerei hier sehr erträglich sein müsse und daß die guten Leute auf die Weisheit der Kinder dieser Welt nicht ganz und gar Verzicht gethan hätten, war der hohe Preis, den sie auf alle ihre Fabrikate setzten. Ich weiß in der That nicht, wie ich diesen mit ihrem unstreitig sehr musterhaften Fleiße reimen und wie ich mir die Möglichkeit eines hinlänglichen Debits dabei denken soll.

Andernach erreichten wir noch vor Sonnenuntergang. Ich bemerkte hier jetzt zum zweiten mal eine Nuance im Menschengeschlecht, welche gegen die Bewohner oberhalb dieses Orts merklich absticht; und da meine Reisegefährten die Bemerkung einstimmig bestätigten, so ist es vielleicht minder keck, daß ich sie Dir vorzulegen wage. Unter dem gemeinen Volke nämlich trifft man hier und weiter hinabwärts am Rhein etwas regelmäßigere, blondere Gesichter an, wiewol sich etwas Plumpes, Materielles in die Züge mischt, das dem Niederrhein eigen ist und dem Phlegma im Charakter vollkommen entspricht. Ich will hier nur im Vorbeigehen und ohne eine bestimmte Anwendung zu machen den Gedanken äußern, daß die Art der Beschäftigung in der Länge der Zeit wenigstens mittelbaren Einfluß auf die Verschiedenheit der körperlichen Bildung und folglich auch des Charakters hat. Armuth zum Beispiel ist unzertrennlich von dem Landvolke, das den Weinstock zu seiner einzigen Stütze wählte, und Armuth wirkt nachtheilig zurück auf die Gestalt. Um Andernach und weiter hinabwärts steht der Weinbau in keinem bedeutenden Verhältnisse zu den übrigen Erzeugnissen des Bodens. Wie aber, wenn, noch ehe Wein in Deutschland gebaut ward, bereits in Sprache, Farbe und Gestalt eine Abschattung zwischen den ober- und niederrheinischen Stämmen bemerkbar gewesen wäre? Dann könnte sie durch die Länge der Zeit und die Verschiedenheit der Lebensart nur noch schneidender geworden sein. Die weichere, plattere Mundart fällt indeß erst auf, wenn man sich der Gegend von Köln zu nähern anfängt.



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